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Das schmiedeeiserne Eingangstor fällt ins Schloss, Ellen betritt den Mittelweg. Ihre Schuhe klappern auf dem Pflaster, der Wind heult, Vögel zwitschern. Gelegentlich fahren Autos auf der Stadtstraße neben dem Friedhof vorbei. Die junge Frau mit dem brauen mittellangen Haar und der kastanienfarbenen Jacke hält nach einem der Gräber Ausschau.
In einem Nebengang zupft ein Rentner verdorrte Blumen aus einem Gesteck und beobachtet sie.
Kurze Zeit später hat Ellen die gesuchte Ruhestätte gefunden. Sie zittert, als sie mit gesenktem Blick das Grab anstarrt. Ihre Augen sind voller Kummer.
Der Mann nähert sich ihr, sie nimmt noch immer keine Notiz von ihm.
»Verzeihung.«
Ellen zuckt zusammen. Verstört wendet sie ihren Blick.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Ein Lächeln. »Schon in Ordnung.« Ellens warme Stimme hört sich traurig an.
Der Rentner mustert die Begräbnisstätte und liest die Inschrift. Sie wurde erst vor kurzem angelegt, es wurde noch kein Grabstein gesetzt. Nur zwei Kränze schmücken das Einzelgrab.
»Sie kannten Herrn Fraier?«
Ellen zögert. »Nicht wirklich.«
Der Rentner nickt. »Das dachte ich mir. Wissen Sie, ich bin oft hier und kümmere mich um verwahrloste Gräber von Verstorbenen, die keine Angehörigen haben. Oder die, um die sich niemand kümmern möchte. Dieses könnte dazu gehören, wenn ich an die Beerdigung von neulich denke. Das war die kleinste Trauergemeinde, die ich je beobachtet habe!«
Ellen denkt darüber nach. »Dann sind Sie also Gärtner?«, vermutet sie.
»Im Ruhestand«, berichtigt der Mann. »Aber es kümmert sich ja sonst keiner.«
»Ihre Frau muss stolz auf Sie sein.«
Der Friedhofsgärtner lächelt wehmütig. »Sehen Sie die Trauerweiden dort drüben? Der Grabstein mit dem messingfarbenen Kreuz in der Mitte.«
»Das tut mir leid.«
»Sie war eine gute Seele. Aber reden wir über ihn, Frau ...«
»Ellen.« Sie gibt dem Gärtner die Hand. »Nennen Sie mich Ellen.«
»Ich heiße Jonathan. Da wir uns nun kennen: Was bedrückt Sie so stark?«
Ellen zögert. Sie bleibt lange unschlüssig, ob sie es dem Fremden erzählen soll.
»Waren Sie schon mal in einer so absurden Situation, dass Sie am eigenen Verstand gezweifelt haben und am Ende nicht wussten, was Sie tun sollen? Ich mache mir Vorwürfe ...«
Jonathan zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf.
»Der Abend vor anderthalb Jahren bleibt mir wohl immer ein Rätsel ...«

Ich war alleine zu Hause und wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen. Also ging ich in meine Stammkneipe.
Das Lokal war gut besucht. Ich hängte meinen Mantel an die Garderobe, schaute mich um und näherte mich einem der freien Barhocker direkt an der Theke. Kaum jemand beachtete mich. Die meisten Gäste tranken, rauchten, redeten oder hörten zu. Es lief Rockmusik, die Stimmung war fröhlich. In meinem Gefühlszustand kam sie mir beinahe zu ausgelassen vor.
Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich schon dasaß, als mich mein Sitznachbar, ein älterer Herr, ansprach.
»Der Typ dort hinten«, er deutete in die hintere Ecke des Lokals, »kennen Sie den?«
Ich drehte den Kopf und sah einen Mann in meinem Alter, der alleine an einem Tisch hockte. Als er meinen Blick bemerkte, schaute er hastig weg.
Ich verneinte.
»Er beobachtet Sie schon eine ganze Weile. Er scheint ein Auge auf Sie geworfen zu haben.« Der Herr zwinkerte mir zu, dann war das Gespräch für ihn beendet, er stand auf und ging weg.
Ich wurde neugierig. Je länger ich über den jungen Mann nachdachte, desto öfters ertappte ich mich dabei, wie ich mich unwillkürlich umdrehte. Ich war mir unschlüssig, was ich von ihm halten sollte. Vermutlich wollte er wirklich bloß flirten, aber die vertraute Art, wie er mich ansah, war mir irgendwie unheimlich. Verwirrt wandte ich meinen Blick von ihm ab und starrte auf die Gläser hinter dem Tresen.
Später zahlte der Mann und ich dachte, er würde das Lokal verlassen. Aber ich irrte mich. Er kam direkt auf mich zu. Ich trank hastig und verschluckte mich.
Zuerst setzte er sich nur schweigend neben mich. Er hoffte wohl, ich würde ihn ansprechen. Darauf hätte er lange warten können! Er war gut aussehend – keine Frage –, aber ich war getrennt lebend und nicht bereit für eine neue Beziehung. Außerdem, wer sagte denn, dass er das wirklich wollte?
»Hallo.« Mehr brachte er im ersten Moment nicht hervor. Er versuchte lässig zu wirken, doch es gelang ihm nur mäßig. »Erkennst du mich nicht?«
Verwundert musterte ich den Mann. Er klang erkältet, hatte eine stattliche Figur, kurze Haare und einen Dreitagebart. Vielleicht stand ich ja auf der Leitung. Aber ich wusste nicht, wo ich ihn einordnen sollte.
»Ich glaube, Sie verwechseln mich«, sagte ich. Wieso war der Typ nicht gleich auf mich zugekommen, wenn wir uns seiner Ansicht nach kannten?
Er schüttelte beharrlich den Kopf. »Nein, Ellen. Du irrst dich.«
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich meinen Namen hörte. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Missfällig registrierte ich, wie der Rauch in meine Richtung zog.
»Und woher kennen wir uns?«
Daraufhin lächelte er traurig.
Er machte keinen unsympathischen Eindruck auf mich. Doch in dieser irgendwie merkwürdigen Situation konnte ich mich nur schwer mit ihm anfreunden.
»Du würdest mir ja doch nicht glauben«, erklärte er bekümmert und zog erneut an der Zigarette. Ich denke, er musste von vornherein geahnt haben, dass ich so argwöhnisch reagieren würde. »Trotzdem bist du meine einzige Hoffnung.«
Ich blinzelte mehrmals. »Wenn Sie Geld brauchen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse«, machte ich ihm begreiflich.
Wieder schüttelte er nur heftig den Kopf. »Nein, das will ich nicht.« Er sah mir in die Augen. »Hör zu, Ellen! Ich weiß, ich mache nicht gerade den besten Eindruck auf dich, aber ...«, absurder Weise lächelte er, »ich konnte doch nicht ahnen, dass ich dir heute Abend hier begegne, verstehst du? Ich war so lange auf der Suche nach dir, und heute tauchst du direkt vor meiner Nase auf! Ist das nicht wunderbar?« Er gluckste leise und unser Gespräch kam mir immer verschrobener vor. Vielleicht hatte der Fremde ja doch tiefer ins Glas gesehen, als es zunächst den Anschein auf mich gemacht hatte.
Da ich spürte, dass ich ihn nicht abwimmeln konnte, fragte ich: »Was wollen Sie von mir?«
»Ich will mit dir reden.« Seine Stirn legte sich in Falten, sein Lächeln war verschwunden. »Bitte, hör dir an, was ich zu sagen habe, okay? Ich weiß, du wirst mir nicht glauben. Ich kann es dir nicht mal verübeln. Aber ich brauche Hilfe, ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«
Wie wär's mit einem der zig anderen Gäste, die dich vermutlich auch nicht kennen?, kam mir in den Sinn, doch ich sprach es nicht aus. »Na schön«, gab ich stattdessen nach. »Fangen Sie an.«
»Mein Name ist Tom«, stellte er sich zunächst vor. »Tom Fraier.« Er wartete bei der Erwähnung seines Namens auf irgendeine Reaktion von mir. Als ich ihn aber nur verständnislos anblickte, verschwand der Hoffnungsschimmer aus seinen Augen und er fuhr enttäuscht fort. »Du weißt wirklich nicht, wer ich bin. Dabei kennen wir uns schon seit drei Jahren! Verdammt, Ellen, wir sind verheiratet!«
Jetzt verschlug es mir endgültig die Sprache. Mittlerweile bestand kein Zweifel mehr – er war verrückt!
Ich schüttelte überzeugt den Kopf. »Nein! Das wüsste ich doch!«
»Vielleicht nicht.« Er hatte wohl mit einer abweisenden Reaktion gerechnet. »Du wurdest am vierten Februar 1976 in Mannheim geboren, lebst seit gut fünf Jahren hier in München, arbeitest als Verkäuferin, ...«
»Woher wissen Sie das?«, unterbrach ich ihn vollkommen überrumpelt.
Er grinste. »Ich weiß alles über dich. Den Job hat dir dein Vater besorgt. Deine Mutter starb 1999 an Herzversagen ...«
»Hören Sie auf!« Das Entsetzen musste mir deutlich im Gesicht gestanden sein. Ich war fassungslos. Gut, den Job im Supermarkt hatte ich vor einiger Zeit aufgegeben. Aber der Rest stimmte. Das alles war mir unbegreiflich.
»Ich denke, Sie sind mir einige Erklärungen schuldig«, sagte ich verdattert. Bisher war er mir eher suspekt vorgekommen – jetzt war er mir unheimlich.
»Verdammt, Ellen! Wir hatten eine tolle Beziehung, viele Freunde, ...«, Tom war der Verzweiflung nahe, »und plötzlich war alles aus.« Er wirkte traurig, hoffnungslos und deprimiert. »Ich hab alles verloren. Von einem Tag auf den anderen ... Ich wachte auf, meine Wohnung war leer, ich lag auf dem nackten Boden. Zuerst dachte ich an einem Traum, aber es war alles so real. Ich rief mit dem Handy meine Freunde und Bekannte an, doch es war niemand zu erreichen. Weder du noch sonst jemand. Keine einzige Nummer stimmte mehr.«
»Wie soll das möglich sein?«
»Ich hab lange vergeblich nach einer Erklärung gesucht und mich umgesehen. Ich war sogar für die Versicherung, für die ich zehn Jahre gearbeitet habe, ein Unbekannter. Zehn Jahre, Ellen. Überleg dir das mal!«
Tom war so überzeugt von dem, was er sagte, dass es fast wahr sein musste. Trotzdem konnte ich das alles nicht glauben.
»Irgendwann habe ich dann aufgehört, die Tage zu zählen«, fuhr er frustriert fort. »Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, Ellen, wenn man jeden Morgen einsam erwacht. Keiner kennt dich, keiner vermisst dich. Der Bankautomat hat sogar meine Karte eingezogen. Seitdem versuche ich, mit Gelegenheitsjobs über die Runden zu kommen. Es ist, als würde man nicht existieren.«
»Das hört sich schrecklich an«, sagte ich. »Haben Sie denn wirklich keinen einzigen Menschen getroffen, der Sie kennt?«
»Nein. Die meisten hab ich nicht mal mehr ausfindig machen können. Alle beteuern, mir noch nie zuvor begegnet zu sein.«
Langsam verstand ich, weshalb er zuerst gezögert hatte, mich anzusprechen. Er hatte wohl Angst vor der nächsten Abfuhr gehabt.
»Ich bin gerade mal dreißig Jahre alt, Ellen – soll das mein ganzes Leben so weitergehen? Mir sind die verrücktesten Ideen durch den Kopf geschossen. Dass ein Geheimdienst meine Identität ausgelöscht hat und ich Teil eines Experiments bin. Dass ich unter Droge stehe – bloß ständig? Oder die simpelste Erklärung: Ich bilde mir alles nur ein und bin verrückt.« Er zündete sich entmutigt eine weitere Zigarette an. »Was hältst du davon? Ich weiß nicht mehr weiter. Ich begreif das nicht! Ich brauche Unterstützung, verstehst du? Jemanden, dem ich vertrauen kann. Ich brauche dich!«
Einerseits wollte ich ihm helfen, andererseits behagte mir die Vorstellung nicht, weiter mit ihm Kontakt zu pflegen. Ich meine, da könnte ja jeder kommen! Und überhaupt: Wie sollte ich ihm helfen? Das war zu viel für mich! In diesem Moment wollte ich einfach nur noch fort. Verdrängen, was er mir erzählt hatte.
»Nein!«, sagte ich kopfschüttelnd, kramte meine Geldbörse hervor, legte hastig das Geld für die Getränke auf die Theke und stand auf. »Tut mir leid, aber ich gehe jetzt. Das ist mir alles zu absurd!«
»Ellen, warte!« Er war kurz davor, in Panik auszubrechen. »Ich will dir was zeigen! Dann musst du mir glauben!«
Entsetzt drehte ich mich um und noch ehe er ein weiteres Wort hervorbringen konnte, verließ ich fluchtartig das Lokal. Ich spürte seine Blicke hinter mir, doch ich dachte nicht im Traum daran, umzukehren. So schnell wie meine Beine mich tragen konnten, machte ich mich aus dem Staub. Ich rannte, bis ich zu Hause war und die Apartmenttür diese Nacht zweimal abgeschlossen hatte.
Seitdem bin ich Tom nie wieder begegnet.

Jonathan blickt gedankenversunken ins Leere. Er hat Ellen während ihrer Erzählung kein einziges Mal unterbrochen.
»Vorletzte Woche ...«, ihre Stimme klingt brüchig und ihre Augen haben einen schillernden Glanz angenommen, »da sah ich eine Suchanzeige in der Zeitung. Es ging um einen Mann, der sich in seiner Wohnung erhängt hat. Niemand kannte ihn. Auf dem Hochzeitsfoto sah ich mich selbst. Das war es wohl, was Tom mir zeigen wollte ... Wir sahen glücklich aus.« Ellen wischt sich eine Träne beiseite. »Ich meine, ich kenne den Mann doch überhaupt nicht! Ich hab ihn nie zuvor in meinem Leben gesehen! Wie kann ich auf diesem Foto sein?!«
»Das ist wirklich seltsam«, stimmt Jonathan zu.
»Nächtelang lag ich wach und hab nach einer Erklärung gegrübelt. Vergeblich. Bloß eine Theorie habe ich ... nicht gerade sehr überzeugend.«
»Lassen Sie ruhig hören«, ermutigt Jonathan sie.
»Glauben Sie, dass es neben unserer Gegenwart noch eine weitere geben könnte?«
Jonathan denkt darüber nach. Er zuckt die Achseln.
Ellen blickt dem Gärtner mutlos entgegen. »Bis heute frage ich mich, ob ich das richtig getan hab. Verstehen Sie, Tom hatte so viel Hoffnung auf mich gesetzt, und ich hab ihn einfach im Stich gelassen. Nicht einmal zur Beerdigung bin ich erschienen.«
»Sie stehen heute an seinem Grab«, meint Jonathan warmherzig. »Ich glaube, ich hätte genauso gehandelt wie Sie. Geben Sie sich nicht die Schuld an seinem Tod. Sie können nichts für das, was geschehen ist.«
Ellens Gesicht hellt sich ein wenig auf. Sie ist froh, ihre Geschichte jemandem anvertraut zu haben.
Der Wind hat sich verzogen und gemächlich legt sich die Dämmerung über den friedvollen Ort.
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, sagt Ellen, »Tom war mein Ehemann, ja. Das Foto beweist es wohl. Daher brauchen Sie sich um sein Grab nicht zu kümmern, Jonathan. Das ist jetzt meine Aufgabe.« Sie wendet ihren Blick und starrt auf den Namen des Holzkreuzes. Thomas Fraier. »Er war mein Mann«, wiederholt sie. »Doch ich kannte ihn nicht.«

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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

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