Es scheint mittlerweile in Mode gekommen zu sein, angestaubte oder aktuelle Prosawerke für die Theaterbühne zu adaptieren. Dabei kann man zunächst festhalten, dass die literarischen Grundformen sich grundlegend unterscheiden, einer anderen Dramaturgie folgen, szenisch sowie dialogisch anderen Intentionen folgen, sowie bezüglich der Gesamtkomposition einem anderen Weberschiffchen entspringen. Grundsätzlich kann man natürlich Inhalt und Form dahingehend modifizieren, dass eine neue Einheit auf der Bühne entsteht. Damit würde man sich von der ursprünglichen Form des Stückes lösen und eine Bühnenchimäre erschaffen, die in ihrer Ausgestaltung neuartig, in ihren Wesenszügen jedoch identisch ist.
Dieses Hybridwesen läuft jedoch Gefahr, sich als Totgeburt zu entpuppen, bevor sie je das Licht der Bühnenwelt erblickte.
Wie müsste ein Dorian Gray atmosphärisch und szenisch gestaltet werden, um den Sprung in eine neue Existenzform zu überleben? Oscar Wilde hatte sein einziges Prosastück als moralischen Keulenschlag mit Augenzwinkern konzipiert und dabei ein Werk geschaffen, das aus den Dialogen zu uns spricht und durch die Dialoge verständlich wird. Jeder Leser findet im Dorian Gray eine Projektionsfläche seiner selbst, einer weißen Leinwand gleich, die er mit seinen Charakterzügen füllen kann. Der Protagonist repräsentiert einen Allgemeintypus, in dem jedwede Facette des menschlichen Seins kulminiert und vor den Augen des Lesers in farblichem Glanz erstrahlt. Es ist zugleich ein zeitgebundenes und zeitloses Stück, ein literarischer Erguss des Fin de siècle, eine Offenlegung gesellschaftlicher Missstände, eine Abrechnung mit der Oberflächlichkeit der besseren englischen Gesellschaft und zugleich ein Meisterwerk der geistreichen Charakterbeschreibung. Lord Henry Wotton repräsentiert den Typus des zynischen Adligen, der sich der Maskerade und aufgesetzten Prüderie seiner Zeit wohl bewusst ist und jegliche Konvention durch die freie Kombination pseudophilosophischer Halbweisheiten mit vorder- und hintergründiger Doppeldeutigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Sein zynischer Wortschwall, gespickt mit aufrichtiger Ironie ermöglicht dem Leser oder Zuschauer ein ungefährdetes Lachen unter Wahrung der, wenn auch unter anderen Vorzeichen, weiterhin gültigen Etikette.
Wilde hätte die Idee einer Bühnenadaption sicherlich gefallen, denn seine Werke sind für den Dialog geschrieben. Die Literaturkritik hat ihm dabei des öfteren Oberflächlichkeit und mäßiges literarisches Talent attestiert, wenn es um den dramaturgischen Verlauf seiner Stücke geht. Sie mokieren speziell, dass die brillant geschliffenen Wortdiamanten, Satzfetzen, Aphorismen und Dialoge seine eigentliche Schwäche überdecken würden: die Handlung und deren szenisch dramaturgische Gestaltung. Unabhängig davon, dass diese Kritiken genauso oberflächlich sind wie die angebliche literarische Oberflächlichkeit des Salonlöwen Wildes, müsste doch gerade die Bühne die ideale Konstellation für den dialogischen Charakter des Werks bieten. Zumindest hätte dies gelingen sollen.
Die American Drama Group hat aus ihrer (englischsprachigen) Interpretation des Stückes eine Adaption für Schulversager und Legastheniker gemacht. Ihre Darstellung würde den Kritikern Wildes wunderbar zupass kommen, wenn es um Oberflächlichkeit und Affektiertheit in ihrer größtmöglichen Ausprägung geht. Zunächst einmal muss man fragen, welcher Intention diese Darbietung folgt und welche Erwartung ein Publikum an dieses Stück hegen kann. Die aristotelische Grundform des Dramas mit ihren charakteristischen Eigenschaften kann hierbei nur bedingt als Maßstab angenommen werden. Ging es um die originalgetreue Vermittlung eines zeitlosen Stoffes? Wollte man den kulturellen Austausch fördern, der in der Institution des „Amerikahauses“ begründet ist? Hatte man die Anziehungskraft des Wildeschen Niedergangs in einer damals verständnislosen Gesellschaft, also die Skandalträchtigkeit der Person und des Werkes, im Sinn? Ging es um seelische Läuterung oder pure Unterhaltung? An sich liefert das Stück für jeden dieser Aspekte gleich mehrere Gründe, selbst für den kulturellen Austausch, da man die zeitlose Dynamik der Charaktere in einem etablierten Gesellschaftssystem von ihrem Handlungsort lösen, entwurzeln und beliebig neu verpflanzen kann. Die Konfliktlinien zwischen Gesellschaft und Individuum, sowie auf persönlicher Ebene zwischen Hedonismus oder Selbstverwirklichung auf der einen und Altruismus oder Verantwortung auf der anderen Seite entsprechen dem Grundproblem einer kumulierten und organisierten Menge von Personen, die sich innerhalb dieser personalen Abhängigkeit wieder finden. Gerade deshalb, weil Dorian Gray auf vielfältige Weise die persönlichen und gesellschaftlichen Probleme der Moderne widerspiegelt, ist dieses Stück zeitlos. Wilde gelingt dabei das Kunststück, seine Zeitgenossen zu amüsieren während er belehrt und dies – paradoxerweise – ohne zu belehren. Es handelt sich also doch um eine seelische Läuterung, um karthatische Unterhaltung, um zeitliche Transzendenz, um die Spiegelung menschlicher Abgründe im Jungbrunnen überschäumender Wünsche und um die Frage nach der menschlichen Selbstdefinition, seinen Werten, Einstellungen, Vorstellungen, Wünschen und Trieben, die er auf sich selbst und auf andere beziehen muss.
Diesen Konflikt versucht die Theatergruppe originalgetreu, skandalträchtig und unterhaltsam zu inszenieren, wobei ihnen nichts davon wirklich gelingt.
Der Verweis in der Ankündigung des Stückes auf die damalige Rezeption und Kritik des Stückes ist ein kläglicher Versuch, die Aufmerksamkeit gelangweilter Schulklassen zu erheischen. Leider birgt das Stück keinen gesellschaftlichen Sprengstoff mehr, wirkt sprachlich mal blumig, mal pathetisch und dann wieder affektiert. Es ist also gefährlich mit dem Etikett des Skandals zu werben, wenn sich die eigentlichen Skandale nur schemenhaft zwischen den Zeilen verbergen. Darüber hinaus wirkt der Skandal nicht, wenn man eine klassische Variante spielen möchte, die in sich selbst völlig inkonsistent konzipiert wurde. Der Skandal wirkt nur im Original und ist gleichzeitig längst überholt, wohingegen die Charaktere, Konflikte und zerspringenden Weltbilder hochaktuell sind. Das Thema der versteckten Homosexualität in der Kunst wie im Leben hat als Skandal zuweilen ausgedient. Gerade deshalb wäre eine klassische Variante in latenter Ausprägung eigentlich ideal gewesen, da sie dem Zuschauer einen gewissen Interpretationsspielraum gewährt. Doch gerade die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Stück wurde dem Zuschauer durch dramaturgisch kontraproduktive Monologeinschübe der Darsteller abgenommen, die jeweils erklärten, was gerade innerlich wie äußerlich auf der Bühne passierte, als ob man den Zuschauer am Gängelband durch den Zoo führen wollte.
Das klassische Interieur, die Intonation, die Requisite und auf Tradition bedachte Atmosphäre wurden allein dadurch zerstört, dass Dorian Gray vom einzig Farbigen Darsteller des Ensembles verkörpert wurde. Dabei stellt sich natürlich die Frage, weshalb dieser bewusste Bruch in der adaptiven Komposition des Stückes? Wenn man klassisch an dieses Stück herangeht, dann mutet es schon mehr als anachronistisch an, wenn Dorian Gray, der ewig schöne Jüngling in der britischen High-Society von einem Farbigen verkörpert wird und man wird intuitiv verneinen, dass dieses Szenario damals realistisch gewesen wäre. Andererseits hätte das Stück natürlich eine neue Dimension erfahren, wenn diese Besetzung mit einer modernen, zeitgemäßen oder verfremdeten Komposition einhergegangen wäre.
Wenn die Besetzung allerdings als augenscheinliches Distinktionsmerkmal gelten sollte, ergo als besonderer Kontrasteffekt für einen besonders kontrastiven Charakter, dann würde dies einen gewissen interpretatorischen Kontext nahe legen. Aber genau darin besteht das Problem. Dorian Gray ist zwar äußerlich durch seine hervorstechende Schönheit und ewige Jugend kontrastiv gekennzeichnet, aber das eigentliche Distinktionsmerkmal liegt in seinem persönlichen Geheimnis, seinem hermetisch abgeriegelten Dachkämmerchen und folglich in seiner unsichtbaren Seele. Der Kontrast in der Besetzung wird dadurch erneut zur bevormundenden Erklärung und wirkt im Umfeld des Stückes und in der Erwartungshaltung des Zuschauers eher seltsam.
Darüber hinaus kann man eventuelle schauspielerische Defizite seitens des Hauptdarstellers nicht übersehen. Die Vielfalt der charakterlichen Entwicklungslinien und wechselnden Gemütszustände von Dorian Gray, ja sein gesamter wechselhafter Reifeprozess über die Dauer der zweistündigen Darbietung, werden durch die monotone Interpretation des Protagonisten zerstört. Der ewige Jüngling, der seine Seele für bleibende Schönheit verkauft und ein hedonistisches, selbstsüchtiges Leben losgelöst von den Narben der Zeit führt, wird als verführter Naivling mit gelegentlichen Gefühlsausbrüchen gespielt und bleibt das ganze Stück über ein Spielball fremder Mächte. Diese Farblosigkeit im Charakter wird der Prosafigur nicht annähernd gerecht, da gerade die Selbständigkeit, die persönliche Verantwortung, der innere Konflikt, die Einsamkeit und Gebrochenheit des Charakters dadurch verloren gehen, dass Dorian als Objekt auf die Interessenskonflikte von Lord Henry und Basil Hallward reduziert wird. Genau dieser Eindruck entsteht durch die schauspielerische Leistung des Protagonisten im Vergleich zum restlichen, besser agierenden Ensemble und kann natürlich nicht in der Intention des Autors liegen. Alle drei Charaktere, zumindest nach der anfänglichen hedonistischen Verführung Dorians durch Lord Wotton, sind im Stück selbst fast ebenbürtig angelegt und repräsentieren unterschiedliche Weltbilder, die Dorian durch seinen inneren Konflikt zu vereinen sucht.
Positiv hervorzuheben wäre allgemein die interaktive Ausrichtung des Stückes. Frei nach Shakespeare ist das Leben eine Theaterbühne und so wird der Zuschauer vom passiven Genießer zum aktiven Verantwortlichen. Das Stück beginnt mit der Aufforderung, den Saal doch bitte gleich zu verlassen und kulminiert darin, dass man nicht nur Zuschauer des Stücks ist, sondern gleichzeitig Zuschauer im Stück, nämlich in der Schlüsselszene des Treffens zwischen Dorian und Syibil, das bezeichnenderweise im (fiktiven) Theater stattfindet. Somit gelingt dem Regisseur zumindest andeutungsweise eine erfrischende persönliche Note, die allerdings von der mäßigen schauspielerischen Leistung mehr als kompensiert wird. Ganz zu Schweigen von den störenden Erklärungen, dem oberflächlichen szenischen Arrangement, der affektierten Unterhaltungsausrichtung, den offensichtlichen Anbiederungsversuchen und der anachronistischen Besetzung. Das schimmernde Prosawerk eines genialen Autors wird zum sentimentalen Fast-Food Häppchen – der Diamant verliert deutlich an Karat.
Möglicherweise ist „Das Bildnis des Dorian Gray“ doch kein Stück für die Bühne, im Gegensatz zu meiner anfänglichen Bemerkung. Das Stück lebt von der Sprache, ist plastisch, farbenfroh und lebendig, aber wohl ausschließlich in der Fantasie. Dorian Gray dient als individuelle Projektionsfläche, dessen explizite Darstellung wohl nur als Imaginationsverlust aufgefasst werden kann. Trotz der Plastizität des Charakters bleibt er gleichzeitig unnahbar, ist wohl eher kollektives Ideal statt realer Körper, gedankliche Abstraktion, statt materialisierter Konflikt und ganz sicher ein zeitloses Mysterium.
Nach dieser Theatervorstellung weiß man wenigstens, was man nicht sehen wollte und stattdessen lieber gesehen oder gar nicht gesehen hätte.
Texte: Illustration by mercuralis (verfremdet)
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
...and the Oscar goes to...