Effi Briest - die Vorläuferin der Emanzipation?
Hohencremmen ist ein ruhiger und andachtsvoller Ort, dessen herrschaftliche Ausstrahlung in der Eingangsszene von Theodor Fontanes „Effi Briest“
das ganze Konfliktpotential der folgenden Romanseiten in sich trägt. Diese strukturimmanente Komposition kann eine Filmadaption natürlich nicht liefern.
Es stellt sich überhaupt die Frage, wie ein verdichtetes Bilderspektakel den manifesten Handlungskomplex eines literarischen Werkes inklusive dessen latenter Anspielungen und Auslassungen in eine neue Gussform bringen soll und bringen kann?
Die Antwort liegt in diesem Fall nahe: durch eine Gratwanderung zwischen literarischer Vorlage und cineastisch, künstlerischer Freiheit. Gerade bei
Fontanes Effi Briest, das paradoxerweise angestaubt antiquiert und gesellschaftlich aktuell erscheint, liegt dieser Spagat nahe. Die literarische Protagonistin ist eine zum Scheitern verurteilte Fiktion, die gleichsam als Kristallisationspunkt der gesellschaftlichen Umstände angesehen werden kann. Effi wird durch den Ehebruch mit Major Crampas zum einsamen, verlassenen und entehrten Schandfleck einer biederen Gesellschaft, die an ihren eigenen
moralischen Etiketten zugrunde zu gehen scheint. Fontane hat seine Effi dabei als Sühneopfer konzipiert, die an einem fremdsozialisierten und selbstprojizierten Schuldkomplex, also einer etikettierenden Inkorporation von umfassenden
Maßregelungen, zerbricht und ihre Rekonvaleszenz dabei in einer erneuten Hinwendung zu dieser großinquisitorischen Instanz namens Gesellschaft sucht, um letztlich in einem schwebenden Zwischenstadium zu sterben.
Generationen von Altabiturienten mussten diese Schuldfrage, deren Ingredienzen, eventuelle Kausalbeziehungen, individuelle oder kollektive Schuldmuster und deren makroperspektivische Verankerungen in der umgebenden Gesellschaft analysieren und interpretieren, wobei jede Schulklasse gemäß der jeweilig verwendeten Lektürehilfe zu anderen Einschätzungen und Ansätzen gelangte.
Dieser Film stellt gar keine Schuldfrage. Er geht auch nur marginal auf die umfassende Motivgebung Fontanes, wie z.B. des Heliotropen, der Sonnenuhr,
des Chinesen, der Fahrt durch den Schloon, das Theaterstück im Stück, die Narbenbildung bei der Tochter Anni etc. ein, sondern arrangiert ein glänzendes Porträt einer von den Umständen gefangenen Frau, deren individuelle Wünsche
an den kollektiven Normen scheitern müssen. Obwohl der Zuschauer phasenweise hoffen möchte, dass das unabwendbare Ende nicht eintreffen möge, kennt er doch das Schicksal der literarischen Vorlage. Der Film wagt jedoch eine minimale Modifikation, die den gesamten Film stillschweigend in einen neuen interpretatorischen Rahmen drängt. Effi, die durch das schauspielerische Talent von Julia Jentsch eine unglaubliche Präsenz auf den feinen Abstufungen
der emotionalen Tonleiter bekommt, deutet den ganzen Film über ein leidendes, stillschweigendes und dennoch kraftvolles Widerstreben an und entflieht dadurch für den Zuschauer sichtbar ihrem engmaschigen Normenkorsett. Sie blickt wehmütig zurück auf ihr verflossenes altes Leben, sie erträgt stumm und ruhig die nächtlichen ehelichen Verpflichtungen, sie zeigt offenkundig ihre Verachtung
für das heuchlerische Theater ihrer echauffierten Mutter und raucht dazu in einem prallgefüllten Salon. Diese Effi scheitert genauso wie ihre literarische
Vorlage, was natürlich bei einer Adaption nicht anders zu erwarten war. Der feine Unterschied, die Verschiebung des Interpretationsrahmens findet sich erst in der letzten Szene.
Bis dahin war der Film eine solide erzählte und sicher arrangierte Literaturadaption, die kommenden Schülergenerationen das Verständnis für die
gesellschaftlichen Umstände der Bismarck-Ära, die inneren Konflikte der Protagonisten und vor allem den dramaturgischen Spannungsbogen des fragmentarisch wirkenden Romans in einer wohldosierten und balancierten Dynamik vermitteln konnte.
Da Fontane oftmals durch das Nichterzählen etwas
erzählt und trotz offensichtlicher Gesellschaftskritik in seinem Buch den malerisch artifiziellen Ton einer entrückten Gesellschaftsschicht genauso enigmatisch
beschreibt, müssen demzufolge viele Puzzleteile des literarischen Werkes decodiert werden. Die Sprache als Medium fungiert bei Fontane nur teilweise als
Äquivalent zu realen Handlungen, sondern eher als beschreibendes und etikettierendes Beiwerk. Gerade deshalb vermag der Film diese codierten, literarischen Negative in ein zusammenhängendes, farblich schillerndes und ehrlich aufrichtiges Ganzes zu integrieren, das dem Zuschauer genügend Raum
für eigene Interpretationen hinterlässt.
Mancher Kritiker wird voraussichtlich unzufrieden sein, mit der teilweise expliziten Darstellung sexueller Handlungen innerhalb der Ehe oder außerhalb bei der ekstatischen Erkenntnis der eigenen lustvollen Freiheit, die den Keim des Scheiterns in sich bürgt. Allerdings kommt hier der Unterschied zwischen Literatur und Film gerade im Hinblick auf die
Intention der Darstellung zum Tragen. Während Fontane das Unaussprechliche zwischen den Zeilen, durch doppeldeutige Motive und erhellende Szenenwechsel andeuten möchte und dadurch den Kommunikationsbarrieren des 19. Jahrhundert Rechnung trägt und gleichzeitig die Fallhöhe einer ausgegrenzten Protagonistin aus dem Gravitationszentrum der Prüderie intensiviert, sucht der moderne Film eine Gratwanderung zu meistern. Das Ausblenden der sexuellen Handlungen oder allgemeiner intimer Augenblicke müsste zweifelsohne als antiquiert und unglaubwürdig aufgefasst werden. Andererseits sollte die Darstellung natürlich ebenso wenig von expliziten Bildern überschattet werden
und dadurch die charakterliche Vielfalt auf oberflächliche Reize reduzieren. Diese natürlich sichtbare Intimität gelingt dem Film mit fast keusch wirkenden und doch reizvollen Bildern, die das Vorstellungsvermögen der Zuschauer bezüglich der
historischen Umstände und des persönlich intimen Umgangs positiv unterstützt und den unaussprechlichen Lücken im Werk von Fontane ein Gesicht geben kann. In dieser Hinsicht ist der Film solide, angemessen und erfrischend.
Die letzte Szene allerdings verändert das Bild von Effi schlagartig. Sie verweigert die verspätete und mitleidige Aufnahme durch ihre Eltern in Hohencremmen, sondern bleibt weiterhin alleine in Berlin. Dabei begegnet sie Innstetten letztmalig, während dieser gerade neben seiner Droschke auf das Töchterchen Anni wartet. Effi geht tillschweigend, aufrecht und geradeaus blickend an dem
verdutzt dreinblickenden Innstetten vorbei und lässt ihn und ihre Vergangenheit würdevoll zurück. Ihr Ableben wird nicht thematisiert. Diese Variation am Ende scheint zunächst das ganze Stück Fontanes zu
konterkarieren. Wie kann die gebrochene, einsame und von Schuldvorwürfen geplagte Protagonistin das Selbstvertrauen einer modernen Frau des
ausgehenden 20. Jahrhunderts verkörpern? Wie kann die Regisseurin ihrer Interpretation von Effi einen Hauch von Simone de Beauvoir und emanzipatorischer Bestrebung verleihen? Weil sich die moderne Effi als erstes stillschweigendes Opfer einer geschlechterspezifisch diskriminierenden und
heuchlerischen Gesellschaft eignet und 100 Jahre nach Fontane gleichzeitig als deren erste Überwindung inszeniert werden sollte?
Natürlich nicht.
Dieses Ende scheint im Hinblick auf den gesamten Film als einzig würdevoller Ausweg einer gesellschaftlich Ausgegrenzten, die sich , wenn sie
nicht wie bei Fontane artifiziell aus dem Leben scheidet, einen letzten Funken Selbstachtung im Angesicht des persönlichen und familiären Ruins bewahren möchte.
Sie möge leben…
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Zu Ehren des Heliotropen