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Die Reise der Kraniche

…oder ein Wiedersehen mit Johansson




In diesem feuchtkalten Spätherbst vermisste ich Johansson schon sehr, die langen dunklen Abende erinnerten mich an die verträumten Reisen durch sein uralte Heimat.

Die Ahnung des nahenden Winters hielt bereits die Tore nach innen weit offen und ...

eine neue Geschichte wollte geschrieben und gehört werden. Der Ruf der Anderswelt klang
immer öfter leise durch die grauen Tage, manchmal wie ein sanftes Glöcklein und dann

wieder wie ein Windbrausen mitten im Alltag. Es war höchste Zeit für den jährlichen Besuch.




Ich betrachtete stumm den endlos grauen Himmel, der schon die spätherbstliche Morgendämmerung ahnen ließ. Mein Blick fiel auf das dunkelrote Weinlaub, das sich am Rand kräuselnd wölbte, um in ein paar Tagen trocken und raschelnd auf den feuchten Erdboden zu fallen.
Vergänglichkeit, die Schönheit des Sterbens mitten im Leben, vergänglich wie unsere Sorgen und unsere Hoffnungen, vergeblich wie unsere Wünsche und Vorstellungen.

„Vergänglich, vergeblich“ hallte es in meinem morgendlich leicht benommenen Kopf und das Grau des Morgens schien sich in mir breit zu machen. Dehnte sich aus wie ein Ozean, der sich vertrauensvoll in sein uraltes Bett aus Bergen und Tälern schmiegt.
Grau und vergänglich, ewig und vergeblich
– die Worte durchfluteten mich mit lockender Bestimmtheit und sanft flutete ich zu den graulichten Wolken am Morgenhimmel, löste mich auf im Nichts des beginnenden Herbsttages,
schälte mich aus meiner müden abgetragenen Haut und begann in einem neuen Traum zu versinken.

Der Himmel berührte mich zärtlich mit duftendem Morgentau und mit einem Mal leuchtete mir tiefblaues Gewölbe entgegen und ich hörte eine leise Stimme, die rief und in der Tiefe meiner Erinnerung etwas aufblitzen ließ, aber was war es nur?
Ich versuchte diesen Klang einzuordnen, wünschte einen Körper oder zumindest eine Gestalt dazu zu erkennen und so flog ich in Richtung der Stimme, tiefer und tiefer hinein in das unendliche Blau.
Es vergingen Stunden, Monate, Jahre und das Grau des Morgens, das mich ausgefüllt hatte bis in die letzte Zelle, wurde vom Blau umspült.

Die leuchtende Farbe legte sich über meine ganze Welt bis ich selbst vollends Teil des Himmelsgewölbes war, in ewigem Rhythmus der Welt schaukelte und mich ganz und gar vergaß.
All die Worte und Begriffe waren weit hinten in der grauen Welt zurückgeblieben, ebenso wie die Hoffnungen, Wünsche und Träume.
Es gab kein Denken mehr und kein Sehnen. Endlich. Ruhe. Nichts. Leere.

„Hallo, aufwachen“ rief da ungeduldig eine helle Stimme aus dem Nirgendwo, „willkommen in der Anderswelt meine Liebe. Ist ja höchste Zeit, dass du mich mal besuchen kommst, dachte schon du findest nie mehr hierher zurück.
Mhmpf, und überhaupt, ba babalata baltata blatl taba ba..“. Ich verstand den Rest der Worte nicht aber mir dämmerte langsam und sicher zu wem diese Stimme gehörte, JA endlich. Johansson, ich war bei Johansson angekommen! .
Aber was heißt schon angekommen?, durchzuckte mich da eine Frage, ich bin ja gar nicht aufgebrochen um irgendwo anzukommen, hab mich einfach nur nach dem alten knorrigen Wildelf gesehnt, irgendwo da draussen und eher zufällig….

„Hey, du verspannst schon wieder deine Kopfmuskeln“ lächelte mich Johansson aus den strahlenden Augen in der Farbe wilder Erdbeeren an. Sein erdbraunes sanftes Gesicht schien in tausend winzige Fältchen zu zerspringen, „das solltest du inzwischen schon gelernt haben, so viel zu denken hilft dir nicht weiter und
– hmm, es ändert ja nicht wirklich etwas an deiner Situation.
Komm, versuch doch mal den Elfentanz, der entspannt dich jedesmal“ und schon hüpfte er in Form einer grossen runden Kugel vor mir auf und ab, drehte sich dann wie ein Kreisel und jauchzte aus voller Kehle. Dann formte er seine Gestalt zu einer Wunderblume in Regenbogenfarben und sang wie eine alte heisere Diva, worauf er sich vor lauter Lachen umfallen liess und als knorriger Ast vor mir hin und her schwankte.

Ich war verzaubert und bemühte mich nach Leibeskräften eine halbwegs gute Figur zu machen, was ihn noch mehr erheiterte. Dann umarmte er mich behutsam und blickte mir ernst in die Augen, die nun ein tiefblauer See waren in dem ich ohne Zögern ertrunken wäre.
„Du bist jetzt mal hier bei mir eingetroffen anstatt umgekehrt und das wird schon einen Grund haben, wer weiß, oder auch nicht, was soll´s!“
Die Elf gluckste und dabei wackelten der runde Bauch und die zerzausten Haare. „Ich freue mich auf jeden Fall sehr über deinen Besuch in meinem Reich, also komm schon herein.“

Er, also der Wildef - denn ihr solltet wissen, dass sie ja eigentlich eine weibliche Elfin aus dem hohen Norden ist - stakste vor mir in Richtung eines grasgrünen Hügels und öffnete dort eine hölzerne, schön geschnitzte Tür mit allerlei geheimnisvollen Zeichen im alten Holz. Schon wunderte ich mich nicht mehr über den plötzlichen Ortswechsel, erfreute mich an diesem wunderschönen Flecken Erde hier und atmete tief ein, es roch nach blühendem Flieder und Vorgestern.

Ich spürte den beweglichen Boden unter den Füssen, war das wirklich Erde und Gras und ..? Ich bückte mich und zerrieb vorsichtig ein welkes Blatt zwischen den Fingern.
Leises Rascheln und zurück blieb eine winzige Erinnerung an Weinlaub und Wolkengrau, die mich mitten ins Herz traf.
Ja, da war es auf einen Schlag wieder da - all das Fühlen und Sehnen und Fragen. All dieses voll und ganz Menschsein an einem dunklen Herbstmorgen, mittendrin im Leben und doch gefangen ohne Eingang und Ausgang.

„Erzählerin, hallo, du hast doch nicht etwa vergessen, dass es sehr wohl einen Eingang gibt und natürlich auch zahlreiche Ausgänge in deiner Welt dort draußen? Gerade du solltest doch wissen, dass in den bunten alten Geschichten und Märchen der Völker das Wissen darum enthalten ist.
Du bist dir doch hoffentlich im Klaren darüber, dass es deine Aufgabe ist, die Menschen daran zu erinnern, hmmm?“

Die Wildelf kratzte sich nachdenklich das moosgeschmückte Haar und blies die Backen auf, dass sie wie zwei kugelrunde Lederbälle aussahen. „Wozu solltest du sonst wohl umher reisen und Geschichten erzählen?! Das wäre doch zu viel Aufwand nur für ein paar nette Worte, oder wie siehst du das neuerdings?“
Sie blicke mich ausnahmsweise streng an, wobei ihre Augen brombeerfarben leuchteten und führte mich in einen halbdunklen Raum, der nach frischen Kräutern duftete, servierte mir ein honiggoldenes warmes Getränk, das meine Unsicherheit mit einem Schluck wegfegte und ich lachte vor lauter Freude.


„Johansson, endlich finde ich dich wieder, ich habe dich vermisst in all diesen Monaten des Blühens, in all diesen Wochen des Erntens und in all diesem Wirrwarr des alltäglichen Lebens.
Manchmal habe ich von dir geträumt, manchmal habe ich gesehen, wie du mir zuzwinkerst, immer gerade kurz vor dem Einschlafen und manchmal habe ich so sehr gewünscht, du wärst bei mir und könntest mir ein Rat geben.“ Weisst du, so ein Menschenleben ist hin und wieder recht verzwickt, ob du´s glaubst oder nicht..“

Der alte Elf schmunzelte freundlich wobei seine Haut einen silbernen Schimmer bekam und meinte: „Ja, ja aber meine Ansicht ist ja schon seit jeher, dass Ratschläge auch Schläge sind und damit hätte ich dir sowieso nicht unter die Arme gegriffen.“
Diese Worte erinnerten mich augenblicklich an einen alten Freund, mit dem ich viele Jahre lang schöne und besondere Wege gekreuzt hatte und im selben Augenblick schickte ich ihm einen tiefen Herzensgruß aus der Anderswelt.
„Merkst du jetzt, wie leicht es geht!? Du öffnest dein Herz und denkst dabei an einen lieben Menschen - flugs seid ihr miteinander verbunden und die Liebe fließt wie ein Strom zwischen euch“ mischte sich da Johansson selbstverständlich wie immer in meine Gedanken ein.
Für sie gab es keinen großen Unterschied zwischen ausgesprochenen und gedachten Worten.
Sie verstand so viele Sprachen, die ich nicht einmal kannte und wenn sie mich necken wollte, dann murmelte sie in der uralten Waldsprache, die so fremd und so vertraut klang wie Blütenrauschen, Bäumeflüstern und Regentropfen singen.

Der Elf stupste mich sanft am Arm und blies mir glitzernde Tauperlen in die Hände, dann fuhr er eindringlich fort: „Das ist es wert den Leuten zu erzählen, immer und immer wieder, vergiss das bloß niemals. Denn wenn es auch einfach und altbekannt in euren Ohren klingen mag, es ist ein tiefes Geheimnis.

Ihr Menschen könnt damit euer Leben nähren und lichter machen. Verbindet euch mit liebevollen Gedanken untereinander und ganze Ströme voller Herzensenergie weben ein Netz in eurem Leben.
Sie weben Teppiche auf denen ihr reisen, lieben träumen und ausruhen könnt. Besonders dann wenn das irdische Leben gar zu anstrengend ist.“

Tief berührt von ihren Worten und ihrem harzigen Duft weinte ich ein bisschen und legte mich auf den farnbedeckten Boden, der mich weich und warm empfing.

Johansson indes rumorte in einer schattigen Ecke umher, schüttelte Decken aus, verdampfte wilde Minze und ordnete später Steine und Wurzeln sorgfältig zu einem Kreis und sang eine stille wehmütige Melodie, die Bilder von ziehenden Kranichen bei mir hervorrief.

Ich hörte ihren wilden Trompetenruf, spürte ihre starken Schwingen und flugs war ich schon auf einer Reise mit den majestätischen Vögeln.
„Das Leben ist eine Reise“ riefen sie mit den dunklen Vogelstimmen, „eine lange und unbeständige Reise.
Wir leben, weil wir ziehen.
Weit hinunter in den Süden und dann wieder zurück in den hohen Norden. Wir fressen, was wir finden und ruhen aus, wenn die Kräfte schwinden.
Nur als Gruppe können wir leben, so stehen wir die Nächte eng im Wasser, Vogel an Vogel und warten gemeinsam auf das erste Tageslicht um aufzubrechen.

Die Winde sind unsere Freunde, denn sie tragen uns durch die Welt, hoch oben über den Menschen, sodass sie uns die Himmelsboten nennen.

Wisse du, wir reisen mit dem Wind, aber wenn wir starten oder landen, so geht es nur gegen den Wind, sonst blieben wir für immer auf dem Boden und müssten sterben.
Eines unserer größten Geheimnisse sollst du jetzt hören: Wenn wir uns paaren und lieben, dann finden wir uns durch den Tanz und singen gemeinsam unsere Lieder.

Die Erde und die Sterne leiten uns auf unseren langen Wegen und nur wenige von uns suchen eigene Routen, lassen sich an unbekannten Gewässern oder in fremden Ländern nieder.
Merke dies und höre auf den Ruf der Kraniche.

Grus, grus, grus…“ klang es noch lange in mir nach, während ich bemerkte, dass ich neben Johansson auf dem Farnbett lag und sie mich aufmerksam beobachtete und mit den ledrigen Händen behutsam über meinen Kopf streichelte.
“Nun, hast du alles verstanden was die Kraniche dir erzählten, kannst du es in dein kleines Leben einordnen?“
Mir schwirrte noch der Kopf vom Flug über den Wolken und den Erklärungen und Einsichten und - Nein, ich konnte ihr noch keine richtige Antwort geben.
Zu viele Fragen tauchten auf und so schwieg ich vor mich hin, bis ich in einen traumlosen Schlaf fiel, den ich vom Elf und seinem stillen Atem, der nach Sternchenmoos roch, gut beschützt wusste.

Nachdem ich erwachte, mich wunderte und vorsichtig die Augen öffnete, strahlte mich die Sonne durch die ovale Öffnung in der Lehmwand an.
Ich war ganz allein, räkelte und streckte mich und fand einen irdenen Becher mit schneeweißer Milch und eine Schale mit tiefblauen Beeren auf dem kleinen hölzernen Dreibein neben meiner Liege zur Stärkung.

Daneben entdeckte ich ein wolkiges braunes Federchen, das nur aus der Brust eines jungen Kranichs stammen konnte und mir mit einem Schlag das Erlebnis des Vorabends zurück brachte.
Ein Feengeschenk!, ich freute mich so sehr, dass ich einen Luftsprung machte und prompt an der niederen Decke anstieß.

Ja, tatsächlich, ich war mit den Kranichen gezogen und sie hatten mich ihre Weisheit gelehrt.
Was aber ist der Wind, der mich durch mein Leben trägt, was ist mit meinen Gesängen, wo sind meine Gefährten? schoss es durch Kopf, Gefühl und Zehen.
„Gut, gut so Menschenfrau, genau das sind die richtigen Fragen, denn es gibt nicht die eine Antwort.
Jede Frau und jeder Mann kann nur die eigenen Antworten finden, jeden Tag aufs Neue, tief in ihrer Seele liegen sie und warten darauf ans Tageslicht geholt zu werden.
Aber fließen kann es nur dann, wenn ihr euch tragen lasst von den Winden des Lebens, wenn ihr darauf vertraut Nahrung zu finden und gemeinsame Rastplätze zu entdecken.
Vor allem dann, wenn ihr mutig genug seid zu tanzen und zu lieben,“ hörte ich Johansson bedächtig murmeln, während er leise in den verborgenen Hügel eingetreten war.
„Nimm dieses Federchen mit in deine Welt als Zeichen der Erinnerung, als Reiseleiter durch den Alltag. Übe deine Schwingen weit zu öffnen für die Winde,
Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr und erzähle auch diese Geschichte zu Hause.
Erinnere die Menschen daran: Das Leben ist eine Reise durch die Zeit, aufbrechen und ausrasten. In der Schar fliegen oder für manche alleine neue Routensuchen. Wenn ihr starten wollt, so könnt ihr euch nur gegen das Wehen des Windes erheben oder wenn ihr wieder zur Ruhe kommen wollt, so stellt euch gegen den Wind der Zeit.
Dazu braucht es Vertrauen in eure Flügel und das Wissen vom richtigen Zeitpunkt, sonst werdet ihr zu viele Federn verlieren oder am Boden kleben bleiben.

Lasst euch leiten von den Sternen und von der Erde, denn ihr Menschen habt Wurzeln in beiden Welten.
Höre du auf deinen inneren Ruf, den wilden Schrei der Freiheit, folge deinem Sehnen und es wird gut sein, werde wie die Kranichfrau, eine Himmelsbotin.“

Danach wurde es ganz still, ich hörte nur noch in der Ferne sein vertrautes uraltes Lachen und spürte das weiche Federchen in meinen Händen tanzen, es trug mich hinaus aus dem Hügel, über grüne Wiesen mit bunten raschelnden Herbstblättern und hindurch endloses tiefes Blau.
Ruhe. Nichts. Ewigkeit. Sein.

Es zogen Wochen, Monate Jahre an mir vorüber, schälten mich aus meiner müden abgetragenen Haut und mit einem Male war ich wieder in meiner kleinen Wohnung am Fenster gelandet, auf meinen Lippen noch den Geschmack vom süßen Saft der Blaubeeren.

Das Nichts des beginnenden Herbsttages wurde mit Schatten und Licht gefüllt, ich begann aus einem langen Traum aufzuwachen, spürte tief innen die Schwingen der Kranichflügel und sehe wie die Lichtfäden meines Lebensteppichs weben und weben und weben.

Ja, da ist es wieder, all das Fühlen und Sehnen und Fragen. All dieses voll und ganz Menschsein an einem dunklen Herbstmorgen, mittendrin im Leben und doch – jetzt weiß ich wieder um die vielen verschiedenen Eingänge und Ausgänge.

Nein, wir sind keine Gefangenen. Vergänglichkeit, die Schönheit des Sterbens mitten im Leben.
Ja die Vögel sind vergänglich, wir sind vergänglich, der Himmel ist vergänglich und auch die Erde. Aber vergänglich ist nicht vergeblich, es ist einfach ein Weg durch die Zeit.
Vom alten Baum im Garten her höre ich einen alten irischen Segensgruß rauschen, den uns die alte Elf noch schickt:
„Möge Göttin dich segnen und in ihrer Hand halten, aber nicht zerdrücken“ und in mir schwingt tiefe Ruhe.

Ich erinnere euch daran und lade euch ein, weben wir und fliegen wir als Himmelsboten und Erdenmenschen, damit wir alle das Lachen des alten Johansson hören können, die Anderswelt nicht vergessen und in Vollmondnächten tanzen und uns lieben.




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.10.2011

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