Sie konnte es kaum erwarten, endlich gegessen zu werden! Dabei war sich Elvira ihrer Herkunft und den an sie gestellten Ansprüchen sehr wohl bewusst - ihre Familie war bekannt für ihren guten Geschmack. Wie ihre Verwandten auch, war sie aus feinsten Zutaten hergestellt, aufwändige Handarbeit. Und wenn alles glatt lief, würde sie in einer vorzüglichen Suppe landen. Im allerbesten Falle schaffte Elvira es womöglich auf den Teller eines Kindes, das atemlos und mit strahlendem Gesicht in seiner Suppe ganze Geschichten fand.
Elviras ganzer Stolz war ihre Figur. Sie sah fast ein wenig mitleidig auf andere Nudelfamilien herab, die es nur zu banalen hohlen Stangen in unterschiedlichen Längen brachten oder allenfalls ein wenig gedreht waren. Sie dagegen hatte mehr zu bieten, nämlich ein "E". In ihrer Familie gab es seit Jahrhunderten nur Buchstaben, weltweit. Entsprechend hatten ihre Verwandten kyrillische, arabische, unzählige asiatische, sogar hebräische Figuren. Da sie selbst für den deutschen Esser bestimmt war, musste es eine Lateinfigur sein; das für sie verwendete "E" gefiel ihr außerordentlich gut. Insgeheim hatte sie ohnehin gehofft, dass sie einen Vokal bekam, die sahen nicht nur besser aus, sie schmeckten auch viel besser als Konsonanten.
Während ihrer Trockenzeit hatte sie herrlichen Geschichten gelauscht. Diese wurden von Nudelgeneration zu Nudelgeneration weiter gegeben und vermittelten allen Nudelneulingen ein Gefühl für die große Aufgabe, die es zu erfüllen galt. Mit Buchstabennudelhilfe waren schon Heiratsanträge gemacht worden oder kranke Kinder aufgemuntert, es waren aber auch heftige Streitereien ausgebrochen, weil auf dem einen Teller das gesamte Nudelalphabet lag, auf dem anderen aber nicht. Elvira war ob dieser Verantwortung von tiefer Ehrfurcht erfüllt und träumte von einer großen Zukunft...
Diese sah zunächst vor, dass sie zusammen mit knapp 500 Gramm Verwandten in eine wunderschöne Tüte kam, dann ging die Reise los. Es war unglaublich kuschelig und bislang die schönste Zeit in Elviras Nudelleben. Man konnte prima mit den anderen tuscheln. Und wenn genug Platz war, spielten sie Scrabble. Eine Cousine zweiten Grades konnte Italienisch und sie verbrachten Stunde um Stunde damit, italienische Wörter zu legen und der Cousine zu lauschen, wenn diese sie aussprach. Wie "Pasta" schon klang...mhm.
Die Reise endete in Norddeutschland in einem Biohotel, was Elvira sehr schmeichelte, denn wohlschmeckende und gesunde Begleitung in der Suppe war ihr herzlich willkommen. Vom Biogemüse erzählte man sich in Nudelkreisen, dass es die Crème de la Crème einer wirklich guten Suppe sei - das Aroma, das Aussehen, die geballte Ladung wertvollster Inhaltsstoffe, all das würde die Suppe aufs Vorzüglichste adeln. Das glaubte Elvira bei der Ankunft im Hotel sofort, denn das Gemüse, das hier zubereitet wurde, wuchs direkt hinter dem Haus, in einer wunderschönen Landschaft und mit einem phantastischen Ausblick. Das Meer war auch nicht weit, sie meinte, es riechen zu können.
Die erste Nacht verbrachte Elvira in einem kleinen Raum auf einem Regalbrett. Immer, wenn sich die Tür öffnete, konnte sie in die Küche linsen. Und was sie da erblickte, war großartig: knackiges Gemüse, pralles Obst, gut ausgesuchte Hülsenfrüchte, Bilderbuchgetreide, Kräuter in allen Grünschattierungen, Eier noch und noch. Über all dem ein unglaublicher Duft. Und dann die phantastischen Geräusche, wenn die Zutaten zu dem heißen Fett in die Pfanne kamen, die Suppen gemächlich vor sich hinblubberten und Wasser auf den heißen Herdplatten geheimnisvoll verzischte. Auch von den Menschen unter den weißen Hüten hatte sie in den Geschichten während der Trockenzeit gehört. Letztlich bestimmten diese, wer mit wem in einem Essen zusammen kam und die Köche hier gingen dieser Bestimmung eindeutig mit aufrichtiger Liebe nach. Jede Zutat wurde mit einer freundlichen Geste zu den anderen getan, ein friedliches und äußerst appetitanregendes Bild. Zumal die Köche selbst auch alle so schmuck waren, die reinste Augenweide.
Elvira wurde nun wirklich unruhig und wollte immer dringender in die Suppe und ihr wohlschmeckendes Amt vollbringen. Auf dem Regalbrett träumte sie von einem Huhn, das stundenlang ausgekocht wurde, dazu zogen an ihrem inneren Auge Sellerie, Möhren und Porree vorbei, alles bio - ein Traum. Das zarte Hühnerfleisch war zum richtigen Zeitpunkt gerettet worden und kam am Ende des Kochens, zusammen mit Elvira und ihren Verwandten aus der Tüte, wieder hinzu. Zwölf Minuten in heißem Wasser tanzen und dann ab auf den Teller. Das wäre perfekt, aber...irgendwas war falsch, irgendwas fehlte, hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
Eine Weile musste Elvira grübeln, aber dann erschloss sich ihr, was sie stutzig gemacht hatte. Und gleichzeitig konnte sie es nicht glauben – es gab hier gar keine Hühner. Das konnte doch nicht wahr sein, dass hier zwar auf höchstem Niveau gekocht wurde, aber ihr, Elvira, zugemutet wurde, in einer vegetarischen Suppe zu landen! Eine Buchstabennudelsuppe ohne Huhn! Das Biogemüse mochte ja mittlerweile derart weichgekocht sein, dass es daran keinen Anstoß mehr nahm. Vielleicht gab es ja sogar Biogemüsepflanzen, denen man rausgezüchtet hatte, sich gegen vegetarisches Kochen aufzulehnen. Aber eine Nudel aus der Familie der Buchstabennudeln wusste sehr wohl, wo sie hingehörte. Und vegetarische Suppen gehörten definitiv nicht dazu! Biohotel hin oder her, für Elvira war das einfach nur eins: un-er-hört!
Sofort trommelte Elvira die Tütenfamilie zusammen und berichtete von der Ungeheuerlichkeit, die sie da entdeckt hatte. In der Tüte brach sofort ein Tumult los, der einigen Nudeln die Figur kostete. Manches T endete als L, aus den E's wurde gelegentlich ein F und einige D's ähnelten nun mehr einem C. Einige Nudeln weinten hemmungslos und ihr Schluchzen waberte durch die Tüte. Wieder andere versuchten panisch, möglichst schnell aus der Tüte herauszukommen, was natürlich nicht gelang.
Elvira schrie mit ganzer Kraft in die aufgebrachte Tüte, woraufhin sich die Nudeln allmählich beruhigten; sie begannen, über ihre Möglichkeiten nachzudenken und waren sich schnell einig, dass sie eine vegetarische Suppe nicht dulden würden und dringend etwas getan werden musste. Allerdings sah sich keine einzige Nudel imstande, ein Hühnchen zu beschaffen oder gar in den Topf zu hieven.
Der Weg zum Huhn, das wurde bald klar, ging nur über einen Appell an die Suppenesser. Die Nudeln machten sich gegenseitig Mut, dass gerade die Gäste in einem Biohotel Verständnis haben würden, wenn es um korrektes Verhalten ging. Und eine Nudelsuppe ohne Huhn war sowas von nicht korrekt, schlimmer ging es in den Augen von Buchstabennudeln nicht.
Der Schlachtplan sah vor, dass die Nudeln sich im Topf in Grüppchen zusammenfinden würden, die dann versuchen sollten, sich gemeinsam auf einen Suppenteller zu drängen, um ihre Botschaft an die Esser zu bringen. Sie mussten zwar dabei ihr Leben opfern, aber es war ihre einzige Chance, auf den offensichtlichen Missstand aufmerksam zu machen. Und sie hofften, dass ihren Nachfahren durch ihre Aktion das gleiche Schicksal erspart bleiben würde.
Als die Hotelgäste zum Abendessen ihre Suppen serviert bekamen, ging ein erstauntes Raunen durch den Speisesaal, denn auf allen Tellern war der Teufel los. Die Zutaten sprangen wild durcheinander und als sich der Suppensturm gelegt hatte, konnte jeder deutlich in seinem Teller lesen: "Suppe ohne Huhn? Nein Danke!"
Die Hotelchefin sah sich am nächsten Tag zahlreichen Gästen gegenüber, die schlüssig und engagiert argumentierten, warum der gelegentliche Verzehr eines Huhns auch in einem Biohotel denkbar wäre, ja geradezu erforderlich.
Der gute Ruf der Hotelküche hatte sich bis in die nächstgelegenen Großstädte verbreitet; es gab mittlerweile sogar eigene Kochbücher der gewagten, aber immer sehr schmackhaften Kompositionen der Hotelköche, die aber ausschließlich vegetarisch kochten. Das, dachte sich die Hotelchefin, ist ja aber nicht in Stein gemeißelt.
Der Telleraufstand der Buchstabennudeln hatte sie beeindruckt. In ihrem Hotel sollte sich jeder wohlfühlen, auch das Essen. So beschloss sie, dass es in Zukunft, als einzige Ausnahme von der vegetarischen Küche, auch Hühnersuppe geben würde, mit echtem Biohuhn und Buchstabennudeln aus Elviras Familie. Sie griff zum Telefon und übertrug dem Hausmeister den Auftrag für Bauarbeiten - hinter dem Haus sollte ein Hühnerstall und ein Auslauf für die zukünftigen Suppenhühner entstehen.
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2011
Alle Rechte vorbehalten