Kimberly
Wie kleine Propeller drehten sich die blutroten Blätter, als sie aus meiner Hand glitten. Ich beobachtete wehmütig, wie sie sich mit den anderen Blüten zu einem wunderschönen Mosaik verbanden, welches den Sarg schmückte. Dabei dachte ich an die Person, die darunter lag. Ein Bachlauf heißer Tränen floss an meiner Wange hinab und erhitzte meinen Körper, der ansonsten von Wut und Trauer erschüttert wurde.
Erst lange nach meiner Verwandlung in einen Wolf und meinen Versuchen, Liam aus seiner Ohnmacht zurückzuholen, hatte ich von all denen erfahren, die in dem Kampf gefallen waren. Rufus, Luna und Emile hatten ihre Leben für das von Liam gelassen. Zwei von ihnen waren bereits vollständig unter Erde und Blumen begraben worden. Lunas Sarg wurde bisher nur von den Blüten bedeckt, die unentwegt aus traurigen Fingern nachgeworfen wurden. Mit ihr war nicht nur eine treue Seele, sondern auch eine starke magische Fähigkeit von uns gegangen, was mir ein schuldiges Gefühl auferlegte, obwohl ich wusste, dass sie alle freiwillig mit in den Kampf gezogen waren.
»Wir hätten ihre Visionen in dieser Zeit gut gebrauchen können«, hatte ich Chiel sagen hören, als er mit seiner Truppe von der Suche nach Jerome und Chart zurückgekommen war. Sie waren noch in derselben Nacht losgezogen, um die Fährte unserer Feinde aufzunehmen, hatten dann aber erfolglos in die Werwolfsvilla in Wheeler zurückkehren müssen, da sich die Spur schon nach wenigen Kilometern verloren hatte.
Ich erinnerte mich gut an die steinernen Gesichter in den Räumlichkeiten des kleinen Hauses im Wald. Sie hatten mich angestarrt wie verlorene Seelen, welche noch in den toten Körpern steckten, weil sie bei all dem Leid um sie herum nicht dazu in der Lage gewesen waren, hinfort zu fliegen. Leere Augen hatten von jedem Winkel aus in mein Gesicht geblickt. Sie hingen auch jetzt in meiner Erinnerung, während ich die letzten Blütenblätter aus meinen Fingern gleiten ließ und mich seufzend von dem Grab abwandte.
Zwei warme Hände griffen nach den meinen und zogen mich vorsichtig ein paar Schritte weiter, wo ich vor Marlon verharrte und mich mit nassen Wangen an seinen dunklen Mantel lehnte. Dabei konnte ich gut beobachten, wie die Werwölfe mit traurig hängenden Schultern um das offene Grab herumschlichen, hier und da bedauernde Worte murmelten, Blüten in das Loch warfen und sich dann bekümmert zurückzogen. Keiner von den schwarzen Gestalten wirkte lebendig. Es war, als hätte der Tod unserer Mitbewohner ein tiefes Loch in unsere Gemeinschaft gerissen, das noch einige Zeit brauchen würde, um wieder zuzuwachsen.
So ähnlich musste es auch in Wheeler sein, wo wir noch gestern der Beerdigung zweier mir unbekannter Werwölfe beigewohnt hatten. Marlon hatte sie gekannt, weshalb ich mir das Leid der kleinen Werwolfsgemeinde überhaupt angetan hatte. Danach war unsere Gruppe zurück nach Silver Bay gefahren, damit wir hier die vielen Verletzten versorgen konnten. Auch heute, zwei Tage nach dem Massensterben im Wheeler-Wald, lagen noch einige Werwölfe im Koma, gequält von dem Werwolfsgift. Es hatte viele von uns erwischt, wobei eine erste Auswertung gezeigt hatte, dass deutlich mehr Gegner gestorben waren als Werwölfe unserer Seite. Diese Erkenntnis tröstete mich keineswegs.
»Komm«, hauchte Marlon in die kalte Luft um uns herum, sodass weiße Wölkchen vor meinem Gesicht entstanden, »wir gehen nachhause«.
Ich wusste nicht, ob ich wirklich schon gehen wollte, aber die Wärme seiner Hand ließ mich auf Gleiches im Golfhouse hoffen, daher drängte ich mich Halt suchend an seine Seite, als er losging. Mir kam es so vor, als wäre es schon längst zu einer traurigen Tradition geworden, dass wir nach einer Beerdigung nicht als Wolf zurück ins Haus liefen, sondern den Weg als Mensch antraten. Unter all den schneebedeckten Tannenzweigen hindurch hatte dieser Marsch sogar etwas Anmutiges.
Im Golfhouse trennten Marlon und ich uns. Er wollte eine Kleinigkeit zu essen holen, während mich mein Weg nach rechts, zur Tür des Krankenzimmers, führte. Einen Moment zögerte ich, als mein Blick weiter den Gang runter fiel, hin zu der anderen Tür, die zum Wasch- und Chemieraum führte. Dort unten in dem provisorischen Lazarett warteten etliche Verletzte aufs Erwachen. Den gefangengenommenen Werwolf, der schon seit Monaten im Keller vor sich hin lebte, hatten Nagur und Lucas weggebracht. Wohin wusste ich nicht.
Ich seufzte, als ich ins Krankenzimmer eintrat, in das Liam verlegt worden war, weil uns seine Krankheit lange nicht so bekannt war wie die der unten verweilenden Werwölfe. Eine leise Melodie strömte mir entgegen, als ich die Tür hinter mir zumachte und unschlüssig mit den Augen durch den Raum fuhr.
Dass Eve hier neben Liam gewartet hatte und scheinbar noch immer unbewegt auf ihrem Platz saß, war mir schlüssig. Nicht aber der Fernseher, der plötzlich vor Clarus‘ Schränken auf dem Boden stand; angeschlossen an eine Steckdose über dem kleinen Waschbecken, die ihm Strom zusteuerte, damit er einen Radiokanal abspielen konnte. Von seinen Lautsprechern aus drangen in einer angenehmen Lautstärke Melodien in den Raum.
Eves türkise Augen wirkten müde, als ich sie verwundert anblickte. Vielleicht erkannte sie das Rot, welches noch immer meine Iris zierte oder sie sah die Rückstände der Tränen. Jedenfalls veranlasste sie irgendwas dazu, die Situation herab zu spielen: »Ich denke, er kann uns vielleicht hören, wenn wir mit ihm reden. Aber ich wusste irgendwann nicht mehr, was ich ihm noch erzählen sollte. Also wollte ich ein Radio holen. Es war aber keiner hier, der mir sagen konnte, wo eins ist.«
»Ist das der Fernseher aus seinem Zimmer?«
Sie nickte ein bisschen verunsichert.
Mit gerunzelter Stirn schob ich mich auf die Matratze zu meinem Sohn und zupfte seine Decke zurecht, die ihm über der Brust lag. »Ist er zwischendurch aufgewacht?«
»Einmal ganz kurz«, erwiderte sie. »Aber da war er kaum ansprechbar. Ich glaube nicht, dass er überhaupt bemerkt hat, dass ich hier bin, bevor er wieder ohnmächtig wurde.«
Mein Mund verzog sich leidvoll, als ich mir erneut vorstellte, wie es für ihn sein musste. Immer wieder erwachte er kurz aus seinem komaartigen Schlaf, nur um orientierungslos in die Luft zu starren. Manchmal erkannte er uns und schien zu verstehen, was mit ihm passierte, und manchmal konnte er sogar ein paar Wörter sagen. Doch immer endeten diese kurzen Augenblicke mit dem schwachen Zufallen seiner Augenlider, woraufhin er sich wieder in seiner Hilflosigkeit verlor.
»Habt ihr schon mit Jeff geredet?«, wollte Eve wissen. Sie zog sich ihre Beine auf die Sitzfläche des Stuhls, was ihrer Größe nach kein Platzproblem darstellte.
Ich nickte leicht, während ich meinen Blick auf Liams Gesicht heftete. Es war von Schweißperlen behaftet, wohingegen seine Hand eine Eiseskälte aufwies, die nicht zu der Hitze seines Kopfes passte. »Ja. Er sucht etwas, mit dem er Liam helfen kann. Einen Trank oder sowas, der ihm seine Magie zurückgibt und ihm Energie spendet.«
»Er soll sich lieber beeilen«
Ich seufzte und hob Liams Hand zu meinen Lippen, um einen wehmütigen Kuss darauf zu hinterlassen. »Ja, ich weiß.«
Keiner wusste, wie lange er diesen Zustand noch durchstehen konnte. Laut Clarus waren seine körperlichen Werte so weit in Ordnung, dass er aus medizinischer Sicht schon längst wieder auf den Beinen sein müsste. Allerdings hatte er ganz offensichtlich nicht die Kraft, seine Augen länger als ein paar Sekunden offen zu lassen und so lange bei Bewusstsein zu bleiben, bis er uns erzählen konnte, was in seinem Innern vorging. Solange er ohnmächtig war und kein Essen zu sich nehmen konnte, würde ihm das Erwachen mit der Zeit immer schwerer fallen. Clarus tippte auf einen Mangel an Magie, welche ihm bei Charts Auferstehung massenhaft entzogen worden war. Liam war nun wie eine Pflanze, der man all‘ ihr Wasser verwehrt hatte. Nur besaßen wir keine passende Gießkanne, um welches nachzuschütten und sie zu retten.
Weil ich meinen Blick unentwegt auf seinem Gesicht liegen hatte, bemerkte ich das zaghafte Zucken seiner Lider sofort. Die Augäpfel darunter bewegten sich ein paar Mal hin und her, bevor ein schmaler Spalt der Wolken zu sehen war, die ein paar Sekunden später vollständig zum Vorschein kamen.
»Hey«, stieß ich mit einem ganzen Schwung an Liebe hervor und drückte schnell seine eiskalte Hand, damit mehr Reize auf ihn einströmten. Vielleicht würde er dann ganz bei uns bleiben können. Eve rückte sofort an das Bett heran und ihre schmalen Finger platzierten sich unmittelbar über meinen an seinem Handgelenk.
Liams Augen zuckten einige Male umher, bis sie mich erfassten. Danach flogen sie zu Eve und wieder zurück, ehe sie sich schlossen. Ich dachte schon, dieser kurze Anflug von Bewusstsein wäre alles, was ich heute von ihm sehen würde, doch auch mit geschlossenen Augen wirkte sein Atem viel lebendiger als zuvor. »Hey«, kam schließlich rau aus seinem Mund, obgleich die Lider verschlossen blieben.
»Wie geht’s dir?«, fragten Eve und ich im selben Moment die gleiche Frage.
Er bewegte sich etwas, so als würde er eine bequemere Position im Bett suchen, woraufhin ein paar Millimeter der blauen Iris wieder sichtbar wurden. Dann kippte sein Kopf jedoch zur Seite weg und Liam wurde wieder zu einer schlafenden Hülle.
Seufzend ließ ich seine Finger los, woraufhin ich mir durch die Haare fuhr. Wieder strömte dieses enttäuschte Gefühl durch meinen Körper, das mich wünschen ließ, das alles hier wäre vorbei.
Die Augen des kleinen Mädchens hefteten sich verzweifelt auf meine, wobei ihre Finger weiterhin an Liams Handgelenk festhingen, als hoffte sie darauf, dass ihn das zurückholen würde. Mich erinnerte diese klammernde Haltung an die beiden, als sie noch kleiner gewesen waren und gemeinsam Hand in Hand durch das große Golfhouse getrappelt waren. Jung und unschuldig waren sie da gewesen. Unwissend und glücklich.
»Hör mal, Eve«, begann ich, wobei ich mir alle Mühe gab, gefasst zu klingen. »Ich kann die Anrufe deiner Eltern nicht mehr ewig ignorieren.«
Ihr Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. »Nur noch so lange, bis er wieder auf den Beinen ist.«
Der Atem verließ geräuschvoll meinen Mund, als ich mich auf dem Bett so drehte, dass ich frontal zu ihr saß. Natürlich tat sie mir leid und natürlich verstand ich, dass sie bei Liam bleiben wollte. Aber genauso konnte ich die Sorgen ihrer Eltern nachvollziehen. »Wir wissen doch gar nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird. Vielleicht wird er morgen gesund, vielleicht erst in ein paar Monaten. Du kannst hier nicht so lange warten, ohne nicht wenigstens einmal mit ihnen gesprochen zu haben.«
»Wenn es mit einer einfachen Aussprache getan wäre, wäre ja alles gut«, seufzte sie niedergeschlagen. Ihre Finger schlossen sich fester um Liams Handgelenk, als wollte sie sich an ihm festschrauben, damit ich sie nicht fortschicken konnte. »Aber du weißt nicht, wie sie sein können, wenn sie sauer sind. Und das sind sie ganz sicher.«
»Vielleicht wären sie auch einfach froh, dich wiederzuhaben.«
Ich wäre ganz sicher froh darüber, wenn Liam zu mir zurückkäme, mal ganz abgesehen davon, dass Marlon und ich ein ganz anderes Verhältnis zu ihm hatten als Eve zu ihren Eltern.
Sie bestätigte mir das mit einem verächtlichen Schnauben. »Ganz sicher nicht.«
Gerade wollte ich meinen Mund öffnen, um ihr Hoffnung zu machen, dass es doch so war, da klopfte es an der Tür. Allerdings wartete niemand ab, ob ich ihn hereinbat. Stattdessen wurde die Tür direkt aufgeschoben und ein unsicher dreinschauender Kopf streckte sich durch den Spalt. »Kim? Evelynn?«, fragte Jude, der seine Augen suchend durch den Raum kreisen ließ, bis sie an uns hängen blieben. »Da ist jemand, der …«
Weiter kam er nicht, da drang vom Flur aus schon Steffens Stimme durch den Türspalt: »Evelynn!«
Unsere Augen trafen sich und in Eves Blick entflammte sofort pures Entsetzen. Glaubte sie etwa, ich hätte ihren Eltern Bescheid gesagt? Zu mehr Gedanken kam ich gar nicht, da wurde die Tür schon aufgestoßen. Steffen schubste Jude beiseite und eilte wie ein wütender Stier auf seine Tochter zu, um diese am Arm zu packen. Er wollte sie mit sich hinausziehen.
»Was fällt dir eigentlich ein? Glaubst du, du kannst dich ewig vor uns verstecken?«, brüllte er sie an, sodass ich trotz meiner Schockstarre zusammenzuckte.
Eve selbst war zu einem winzigen Bündel aus Kleidung geworden, das sich am Bettrand zusammenkauerte. Nur ihre zwei kleinen Hände waren noch zu sehen. Sie klammerten sich hilflos an Liams Handgelenk und blieben dort selbst dann hängen, als Steffen an dem Arm zerrte und das Bündel vom Stuhl ziehen wollte. »Lass mich«, drangen zwei verzweifelte Worte unter Eves Haaren hervor.
»Du kommst jetzt auf der Stelle mit uns nachhause, Madame.«
Der zwiegespaltene Ausdruck in Charinas Gesicht, welche jetzt im Türrahmen erschien, drückte irgendwas zwischen wütender Entrüstung und unsicherer Scham aus. Sie verharrte dort und betrachtete unschlüssig, wie ihr Mann an Eves Körper zerrte, der weiterhin an Liam hing. Eve stürzte sich auf darauf, um mehr Halt zu haben und begann zu wimmern, als Steffen knurrte: »Was soll das hier werden?«
Ich brauchte noch ein paar Sekunden, um zu verstehen, was ich tun musste. »Steffen«, stieß ich dann endlich hervor. »Lass sie los. Wir klären das in Ruhe.«
Sein Kopf fuhr schnaubend zu mir herum, doch die starken Finger lösten sich keinen Millimeter von seiner Tochter. »Du hast schon genug getan. Halt‘ dich gefälligst aus unseren Familienangelegenheiten raus.«
Überrascht über den forschen Ton stockte ich. Das letzte Mal, als ich mit ihm und Charina gesprochen hatte, war am Telefon gewesen. Wir hatten uns darüber ausgetauscht, wie wir unsere Kinder am besten und sichersten nach Birmingham schicken konnten. Zwar war mir auch da schon aufgefallen, dass die beiden dieser ganzen Schul-Idee nicht sehr offen gegenüberstanden, doch unser Gespräch war freundlich und vertrauensvoll gewesen. Immerhin hatten unsere Kinder im Mittelpunkt gestanden. Jetzt gerade hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass Eve im Mittelpunkt stand. Vielmehr schien es um eine persönliche Ehrensache zu gehen, die zwischen mir und den beiden entstanden war.
»Dad, bitte«, wimmerte die Kleine, als sich ihre zarten Finger nicht mehr fest genug an Liam halten konnten und sich dem brutalen Ziehen ihres Vaters nachgaben. Sie rutschte vom Stuhl und landete wackelig auf ihren Beinen, nur um noch in derselben Sekunde mitgezogen zu werden.
Entgegen ihres ziemlich böswilligen Gesichtsausdrucks war Charinas Stimme ein bisschen empört, als ihr Mann Evelynn derart grob aus dem Krankenzimmer zog. »Steffen«, mahnte sie ihn leise, aber dieser Einwand war nur ein zarter Windhauch gegen einen großen Berg.
»Ich will nicht«, jammerte Eve, wobei ihre Tränen alles waren, was im Krankenzimmer von ihr übrig blieb. Sie tropften hinab auf den Boden und blieben dort glitzernd liegen, bis ich kam und sie mit meinem Fuß verwischte, als ich der Familie folgte. »Lass mich los, Dad. Lass mich hier. Ich will nicht gehen.«
»Glaubst du etwa, das hier basiert auf Verhandlungsbasis? Du hast schon zu viele Entscheidungen allein getroffen.«
Ich ließ Liam allein im Zimmer zurück, als ich auf den Flur stürmte und nach Steffens Arm griff. Er war, mit Evelynn im Schlepptau, unmittelbar auf dem Weg zur Eingangstür.
Jude war der Einzige in der Eingangshalle und beobachtete vom Treppenrand aus die prekäre Situation. Seine Anwesenheit hinderte mich nicht, auf den wütenden Vater einzureden: »Hey, jetzt warte doch mal bitte.« Charina lief mit einem Autoschlüssel in der Hand vor, sodass meine Vermutung bestätigt wurde, sie würden auf der Stelle wieder ins Auto steigen und wegfahren. Mit Evelynn. »Ihr könnt sie jetzt nicht so einfach mitnehmen.«
»Aber ihr könnt es?« Ich war überrascht, dass Steffen meine Worte tatsächlich aufnahm, ehe er zu mir herumfuhr. »Sie ist unsere Tochter und damit hat sie uns zu gehorchen. Nicht euch.«
Eve wimmerte unter dem Druck der Hand ihres Vaters und ihr Blick hängte sich verzweifelt an mich, so als hoffte sie, dass ich mehr Argumente auf Lager hatte. Aber irgendwie hatte Steffen nun mal recht. Immerhin war sie von Zuhause abgehauen und hatte sich mit uns in höchste Gefahr begeben. Doch war das nicht alles freiwillig geschehen? Und waren Marlon und ich der Kleinen nicht manchmal doch viel näher als ihre wahren Eltern?
Der Gedanke, sie jetzt einfach so zu verlieren und erst Monate später – wenn überhaupt -wiederzusehen, juckte mir in den Fingern. Mal ganz abgesehen von Liams Gefühlen, die sicherlich von Eves Verlassen getrübt werden würden, wenn er sein Bewusstsein wiedererlangte. Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht zulassen konnte, dass Steffen und Charina Eve jetzt mitnahmen. Jedenfalls würde ich sie nicht kampflos gehen lassen.
Ehe ich mich versah, hatte sich mein Körper der Ressourcen bedient, die so lange irgendwo in ihm verschlossen geblieben waren: Mein Schutzschild fuhr aus und schob sich zwischen Evelynn und ihren Dad. Er ließ das Mädchen vor seine gelb glitzernde Wand laufen und stülpte es in einen Kasten, der es Steffen unmöglich machte, seine Finger erneut zu dem Arm auszustrecken. Dahingegen konnte ich selbst leichtfertig mit in ihn hinein gleiten und ihn so erweitern, dass mir und Eve darin genug Platz blieb. Durch die schillernde Magie um mich herum, fühlte ich mich so mächtig, wie es lange nicht der Fall gewesen war.
»Was soll das?« Der Mann fuchtelte wild mit seinen Händen herum, doch er stieß immer nur gegen den Kasten, hinter dem seine Tochter verschanzt war.
Eves glasige Augen glitten für einen kurzen Moment zu mir, sodass ich sehen konnte, wie dankbar sie für diese Wand zwischen ihr und ihren Eltern war. Als sie dann wieder zu Steffen schaute, war die Angst unverkennbar in ihr Gesicht gemalt.
»Ich sagte, ihr könnt sie nicht einfach so mitnehmen«, wiederholte ich mit einer Stärke in der Stimme, die lange Zeit verborgen geblieben war. Es fühlte sich gut an, sie in meinem Innern wiederfinden zu können. Der neu erwachte Werwolf reckte dort wohlig seinen Pelz und schmiegte sich an mein Selbstbewusstsein, das sich vor Charina und Steffen keineswegs verstecken wollte.
In dessen Gesichtern erkannte ich, dass sie das mit Entsetzen bemerkten. »Was fällt dir ein?«, war es diesmal die junge Mutter, die mich mit großen Augen anstarrte.
»Ich weiß, dass ihr euch Sorgen gemacht habt. Es war nicht okay, was passiert ist. Aber wir können darüber sprechen und ihr werdet verstehen, wie das alles gekommen ist.«
Dass meine Worte sie nicht wirklich beeindruckten, konnte jeder leicht in ihren Gesichtern erkennen. Aber immerhin brachte ich damit eine gewisse Ruhe in die Situation, denn plötzlich tigerte Steffens Hand nicht mehr so penetrant an meinem Schutzschild herum und Charina blieb endlich auf beiden Beinen stehen, statt immer nervös vom Einen auf das Andere zu treten. Ihre Blicke hingen dennoch säuerlich auf ihrer Tochter, als könnten sie sie damit aus meiner Magie befreien.
»Na bitte«, stieß Steffen wütend hervor. »Dann erklär’s uns. Oder besser du, junge Dame.«
Eves Kopf zog sich schutzsuchend zwischen ihre Schultern, wodurch fast nur noch ihre bronzefarbenen Haare zu sehen waren. In diesem Augenblick tauchte Marlon aus dem Flur zum Speisesaal auf. Auf den Händen balancierte er ein Tablett, worauf sich einige Köstlichkeiten tummelten. Neben ihm kam eine ganze Gruppe Werwölfe aus dem Speisesaal, die mir das Gefühl gaben, nicht laut reden zu können.
»Nicht hier«, klärte ich mit gesenkter Stimme und beobachtete, wie auch die Blicke meiner zwei Gegenüber missmutig die Ankömmlinge streiften. »Lasst uns hoch gehen.«
Marlon runzelte wissend seine Stirn, als er bei uns ankam, aber er sagte kein Wort zu den Zweien, da er vermutlich spüren konnte, welche Stimmung in der Luft schwebte. Zu meiner Verwunderung gliederten sie sich auf meine Aufforderung hin ziemlich willentlich in den Strom der Wölfe ein, welche die Treppe zu den Wohntrakten erklommen. Vielleicht wollten sie sich nicht vollkommen vor ihnen bloßstellen.
Mein Schutzschild fiel in sich zusammen, als wir die beiden vor uns her schoben und ich die Gewissheit hatte, dass sie Evelynn nicht gleich packen und mit sich ziehen würden. Ihr Blick traf meinen mit einer Spur aus Unsicherheit und Scheu, ehe er für einen kurzen Augenblick zurück zu der Tür des Krankenzimmers fiel, hinter der Liam einsam in seinem Bett lag.
»Wir wollen mit Evelynn allein sprechen«, stellte Charina klar, als die Beiden vor den Türen zu Liams und Marlons Zimmern hielten.
Unsicher reckte ich meinen Kopf zu der Kleinen, welche ausdruckslos in die Gesichter ihrer Eltern schaute. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, sie alleine zu lassen. Marlon hingegen schritt einfach an ihnen vorbei und öffnete – das Tablett auf einer Hand balancierend - die Tür zu Liams Zimmer, als würde er sie freundlich dazu einladen, dort zu nächtigen. Noch immer hatte kein Wort seinen Mund verlassen und das würde auch nicht geschehen. Ob Steffen ihm das negativ anrechnete oder nicht, konnte ich nicht anhand seines Blickes deuten, doch auch er sagte nichts zu meinem Mann, als er mit säuerlichem Gesichtsausdruck an ihm vorbei in das Zimmer schritt. Der Rest der kleinen Familie folgte ihm, sodass letztlich nur Marlon und ich auf dem Flur zurückblieben.
Nicht sicher, was ich fühlen sollte, schloss ich hinter ihm und mir die Tür zu seinem Zimmer, während ich darüber nachdachte, ob die Gefahr bestand, dass Eves Eltern sie jetzt gleich wieder aus dem Golfhouse zerrten.
»Sie sind sauer, he?«, fragte Marlon, während er das Tablett auf dem Schreibtisch abstellte.
Ich betrachtete missmutig, wie das Weißbrot durch die Bewegung rutschte, bevor es knapp am Rande des Tellers zum Liegen kam. »Stocksauer. Und das Schlimme ist, dass ich es irgendwie verstehen kann.«
»Klar«, stimmte er mir zu und streckte seine Hand nach meiner aus. Sie fühlte sich warm auf meiner Haut an, als sie meine Finger umschloss. »Aber Eve will nicht gehen. Und wir wollen nicht, dass sie geht. Liam erst recht nicht.«
Mein Blick senkte sich hinab auf den Boden, als ich mich an seinen warmen Körper lehnte. Dabei konnte ich mich nicht zurückhalten und ließ meinen Schutzschild heimlich ausfahren. Er schlängelte sich durch die Wände hinaus auf den Flur und setzte sich genau vor die Tür von Liams Zimmer, obwohl ich wusste, dass ich nicht das Recht dazu hatte, die Familie darin festzuhalten. »Ich hab’ irgendwie das Gefühl, dass sie ihn nicht mehr leiden können. Eve hat zwar nicht viel davon erzählt, warum sie sie aus der Schule rausgeholt haben, aber offenbar hatte es auch mit Liam zu tun.«
Marlon schnaubte leise, während er seine Arme um meinen Körper schlang. »Wahrscheinlich denken sie, dass er kein guter Umgang ist - bei all dem Blödsinn, den sie in Birmingham angestellt haben. Und dann ist er auch noch derjenige, der Chart zum Leben erweckt hat.«
»Wahrscheinlich wissen sie das nicht mal«, mutmaßte ich. Woher auch? Weder Evelynn noch wir hatten zu ihnen Kontakt aufgenommen, seit sie von Zuhause weggelaufen war, sodass lediglich die Möglichkeit bestand, dass Clarus mit Jonathan gesprochen hatte. Allerdings hätte er davon sicherlich erzählt.
Marlon schwieg eine Weile und ich atmete tief durch, während ich versuchte, meine Gefühle zu beruhigen. Schließlich schaffte ich es sogar, meine Fähigkeit wieder zurückzurufen, sodass der Kasten vor Liams Tür verschwand. Als mein Mann wieder den Mund öffnete, hatte ich sofort ein ungutes Gefühl. Es schwebte bereits in der Luft, als würde das, was er sagen wollte, seinen Worten in einer schwarzen Rauchwolke vorausschweben: »Ich muss dir was zeigen.«
Alarmiert hob sich mein Kopf, damit ich in sein Gesicht blicken konnte. Er war ein bisschen verunsichert und zugleich hoffnungsvoll erwartend, was ich nicht verstehen konnte. »Was denn?«
Er schluckte und seine blauen Augen hängten sich unterwürfig an meine. »Versprich mir, dass du nicht sauer wirst.«
Ungeduldig runzelte ich die Stirn. »Was musst du mir zeigen?«
Er seufzte und löste seine Hände aus der Verschränkung hinter meinem Rücken, was mich regelrecht in ein Loch fallen ließ. In seiner Hosentasche kramten seine Finger nach dem Handy, welches aufleuchtete, als er auf einen Knopf drückte. Es zeigte sich zunächst nichts weiter als das Hintergrundbild von mir und dem kleinen Baby-Liam, der schlafend in meinen Armen lag.
Als Marlon dann ein Chatfenster öffnete, in dem ich Kates Namen ganz oben lesen konnte, rutschte mein Herz schon in die Hose. Ich befürchtete eine anzügliche Nachricht, sexistische Worte oder auch nur ein einfaches Hey, das mein Gemüt zum Glühen gebracht hätte. Doch entgegen all dieser Annahmen überraschte mich die letzte Nachricht, die sich im Chat finden ließ, total: Bist du das im Fernsehen?, hatte sie ihm geschrieben und ein scheinbar sorgenvolles Geht es dir gut? hinten dran gehangen.
Verständnislos blickte ich zu ihm auf: »Was meint sie?«
Er schluckte erneut. »Ich wusste es auch nicht, als ich die Nachricht das erste Mal gelesen habe. Aber vorhin im Speisesaal hat es schon jemand erwähnt. Sie sind deswegen alle total panisch.«
Diese Worte brachten mir keine Erkenntnis darüber, was wirklich los war. Marlon schritt zum Fernseher und schaltete ihn ein, woraufhin mir augenblicklich alarmierende Worte entgegenschallten. Worte wie übernatürlich, abartig, unmöglich, verstörend, brutal. Gleich darauf sah ich die Bilder, welche die Erklärung dazu lieferten: bekannte Gestalten, die von einer Explosion der Felswand zerfetzt wurden, jedoch aufstanden und sich in den Kampf stürzten. Wunden, die heilten. Andere Werwölfe, die zwischen engen Wänden mit Pistolen um sich feuerten und weitere Wölfe zu Fall brachten. Marlon, der mitten unter diesen Schützen, wie in Trance, seine Munition in die Köpfe der Gegner schleuderte. Große, furchteinflößende Wölfe, die sich mit reißenden Zähnen und tödlich scharfen Krallen bekämpften. Blut, das an die Wände spritzte. Schnee, der durch die Tür herein wirbelte. Die Welt der Werwölfe, die sich vor den Menschen entblößte.
Marlon
Erschrocken von einem Gesicht, das nicht wirklich zu mir gehörte, eilte ich mit Kim durch die Flure. Ich war mir nicht sicher, was mich mehr schockierte: Die Tatsache, dass dieses verhängnisvolle Video im öffentlichen Fernseher lief, oder die Bilder selbst. Die Brutalität, mit der wir und unsere Gegner gekämpft hatten; die Kälte, mit der wir gewonnen hatten. Oder die erschreckende Entblößung dieser dunklen Kehrseite unseres Werwolfdaseins vor der Menschheit.
Als wir unaufgefordert in Clarus‘ Büro stürmten, war es leer. Die aufgeregten Stimmen auf dem Flur waren allerdings laut genug, um uns sofort mitzuteilen, wo wir hin mussten, damit wir ihn antrafen. Im Besprechungsraum nebenan herrschte ein unüberschaubares Chaos, das mich in meiner Aufgeregtheit stocken ließ. Etliche Werwölfe standen um den großen Tisch herum und redeten wild durcheinander. Clarus hockte wie ein Häufchen Elend auf einem der Stühle vor dem laufenden Fernseher, auf dem Lucas ständig einen anderen Kanal einschaltete. Doch egal, wo er auch landete – die schrecklichen Bilder von vorletzter Nacht verließen den Bildschirm nicht.
»Clarus«, sprach Kim ihn an, die neben mir in unsicherer Aufregung den Saum ihres Pullovers zwischen den Fingern zwirbelte.
Der alte Werwolf fuhr energisch herum. »Herrgott nochmal – ich weiß es doch.«
Mit dieser genervten Reaktion hatten wir beide nicht gerechnet. Genauso wenig wie der Rest der Werwölfe, die daraufhin viel leiser wurden. So konnte sich sogar eine Stille in den Raum legen, die es zuließ, dass der Fernseher mit seinen Nachrichten zu unseren Ohren durchdrang. »Das Videomaterial wurde sehr aufwändig manipuliert«, sagte ein Sprecher, der meine Aufmerksamkeit zu den Bildern zog, die hinter dem Wissenschaftler eingeblendet wurden und noch immer von dem Massaker geprägt waren. »Die Tiere darin sind sehr lebensnah dargestellt. Es muss ein Profi gewesen sein, der mit diesem Clou seine Meisterprüfung absolviert hat. Die Frage ist nur, warum er uns glauben lassen will, dass solche Kreaturen Realität sein sollen.«
»Sie denken, es wäre ein Fake«, murmelte jemand im Raum, dem ich nur allzu gerne glauben wollte.
Keiner antwortete ihm, denn im Fernsehen wurde jetzt eine zweite Person eingeblendet, die klar machte, dass wir gerade ein Interview zwischen einer unschuldig aussehenden Nachrichtensprecherin und einem Medienwissenschaftler verfolgten.
»Was denken Sie wird die Regierung unternehmen, wenn sich herausstellt, dass es keine Fälschung ist? Würde das die Bevölkerung nicht in Panik versetzen?«
»In der Tat wäre es eine sehr befremdliche Vorstellung. Die aufgezeichneten Szenen deuten auf eine sehr brutale Kultur hin, von der hier berichtet wird. Wenn sie wahr wäre, müssten die Politiker drastische Maßnahmen ergreifen. Aber es ist doch komisch, dass wir bisher nie davon gehört haben, oder?«
»Sie glauben also nicht daran, dass dieses Video die Realität zeigt. Uns erreicht dagegen eine Vielzahl von Zuschauerstimmen, die mutmaßen, dass hier eine lang begrabene Verschwörung vorliegt. Viele wollen schon seit Jahren Indizien darauf gefunden haben, dass unter uns solche Kreaturen leben. Sie berichten von Wölfen in diesem Ausmaß. Werwölfe wie aus einem Gruselmärchen.«
Die Sprecherin verzog bei ihren eigenen Worten derart ihr Gesicht, dass uns allen klar war, dass sie selbst nicht an das glaubte, was sie wiedergab. Der Wissenschaftler behielt hingegen sein Pokerface bei, als die Kamera sich wieder auf sein Gesicht fokussierte und er die Frage seiner Kollegin abwartete:
»Können Sie allein anhand des Videos beweisen, dass es sich um bearbeitetes Material handelt?«
Der Mann stockte ein bisschen und rückte schließlich mit einer erschütternden Wahrheit raus:
»Nein, leider nicht. Da wir nur diese eine Datei des Videos haben, kann ich nicht vollends ausschließen, dass es sich um keine Fälschung handelt. Aber ich bin Wissenschaftler. Ich glaube nicht an Märchen. Meiner Meinung nach ist das hier die Nachstellung eines Horrorfilms in brutalstem Ausmaß. Die Zuschauer sollten sich nicht verrückt machen lassen.«
»Was sagen Sie zu den beigelieferten Informationen, dass derartige Kreaturen in der Gegend Minnesotas und Wisconsins leben sollen?«
Ein weiterer Schock durchfuhr mich und alle Werwölfe in diesem Raum. Hatte Jerome der Öffentlichkeit wirklich von unseren Clans in Silver Bay und Wheeler erzählt? Das erschrockene Aussetzen der Atemzüge legte eine tödliche Stille in die Redepause der Interviewpartner.
»In der Tat gab es auch schon vor dem Einsenden dieses Videos Hinweise aus der Bevölkerung, dass in diesen Gebieten Wölfe entsprechender Größe gesichtet worden seien. Es ist ganz klar, dass jene Leute, die solche Tiere gesehen haben wollen, in Anbetracht dieses Videos noch akribischer an ihrer Theorie festhalten.«
Obwohl der Interviewerin deutlich anzusehen war, dass sie nicht an Übernatürliches glaubte, hakte sie hartnäckig weiter nach:
»Herr McCoutney, nun sind wir ja nicht der einzige Sender, der von diesem Video berichtet. Der Macher hat das Material vielen Sendern zukommen lassen. Wie erklären Sie sich diese Vorgehensweise?«
Der Wissenschaftler zuckte mit den Schultern, was für ihn eine sehr herablassende Geste zu sein schien. Sie ließ seine Fassade eines kühlen, einfältig gestrickten Mannes bröckeln. »Scheinbar will er um jeden Preis, dass wir alle zu sehen bekommen, was er da aufgezeichnet hat.«
Damit gab sich die Sprecherin zufrieden.
»Vielen Dank für das Gespräch.«
Nach der verabschiedenden Geste der beiden, hielten die Werwölfe um mich herum beunruhigt den Atem an. Mein Blick glitt durch den Raum und blieb an unzähligen aufgewühlten Gesichtern hängen. Letztlich an dem meiner Frau, welche sich ungläubig durch die Haare fuhr und dabei seufzend die Luft aus ihren Lungen presste.
»Wir haben ein großes Problem«, murmelte jemand, der die Stille damit brach.
Danke für diese überraschende Information, dachte ich sarkastisch, blieb aber still und ließ den hohen Tieren den Vorrang: »Zumindest gibt es einen Teil der Bevölkerung, der skeptisch ist.«
»Aber auch genug Verrückte, die es glauben.«
»Jerome hat sie auf unsere Clans angesetzt. Wer weiß, wie präzise seine Angaben über unseren Standort waren. Vielleicht stehen sie morgen schon vor unserem Zaun.«
»Das tun sie jetzt schon«, durchschnitten Clarus‘ fassungslose Worte die Mutmaßungen der anderen. Alle Augen richteten sich auf ihn, doch seine eigene Aufmerksamkeit ruhte auf dem Handy, das er in der Hand hielt. Erst nach etlichen Sekunden der fragenden Stille, hob er es hoch und richtete es so aus, dass zumindest ein Teil der anwesenden Werwölfe das Foto sehen konnte, das darauf abgebildet war. Zu erkennen war das große Eingangstor vor der Wheeler-Villa, hinter dem einige Menschen auf der Straße standen. Ihre Gesichter starrten wütend in die Kamera, die versteckt hinter einem Fenster des großen Gebäudes gehalten wurde.
»Chris hat es mir gerade eben geschickt«, erklärte Clarus.
Entsetztes Aufschnappen und fassungsloses Murmeln ging durch den Raum, nur ich blieb in meiner Schockstarre still. Mir kam es so vor, als steckte ich mitten in einem Horrorfilm fest, in dem all die Wände um den Hauptdarsteller herum zusammenbrachen. Er wurde schreiend darunter begraben. Und mit ihm das oberste Gebot der Werwölfe.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Kim mit vor Schock verzerrter Stimme.
Eine gute Frage. Lohnte es sich denn überhaupt noch, dafür zu kämpfen, unsere Existenz im Schatten zu halten? War das Licht nicht schon vollends darauf gefallen? Nagur verneinte meine unausgesprochene Frage, als er murmelte: »Noch ist nicht alles verloren. Solange es genug Leute gibt, die nicht an das glauben, was im Video gezeigt wird, haben wir eine Chance.«
Ich ging das im Kopf durch und korrigierte meine Gedanken: Das Licht war bisher maximal zur Hälfte auf unsere Existenz gefallen. Der große Rest davon war noch verborgen, was uns die unerschütterliche Pflicht auferlegte, um den bestehenden Schatten zu kämpfen.
»Aber es gibt ja auch zwei Videos«, warf jemand bedenkend ein.
Clarus zog mit seinem Nicken alle anderen Wörter wieder in die Münder der Leute zurück, die zum Sprechen angesetzt hatten, denn sie wollten ihm den Vorrang überlassen: »Mich wundert es, dass Chart nicht klüger vorgegangen ist. Für ihn wäre es viel effektiver gewesen, erst das Video von seiner Auferstehung zu zeigen, dann das andere. Denn in dem Ersten sind weitaus mehr Informationen über Werwölfe zu finden als in dem Gemetzel, das die Welt jetzt zu sehen bekommen hat.«
»Vielleicht haben sie es verwechselt«, mutmaßte Chiel.
Unser Chef schüttelte den Kopf. »Das würde Chart nicht passieren. Es muss einen Grund haben, dass er es so gewählt hat.«
Nun wagte ich es, mich in ihre Diskussion einzumischen: »Aber es ist ja gar nicht Chart, der die Videos verschickt. Das alles hat Jerome geplant. Sonst wäre ja kein Video von Charts Auferstehung entstanden.«
Lucas stimmte mir nickend zu. »Und Jerome ist lange nicht so gut durchdacht wie Chart.«
Was das anging, war ich mir nicht so sicher, doch diesen Einwand äußerte ich nicht. Stattdessen versuchte ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: »Eigentlich kann es uns doch egal sein, aus welchem Grund sie es so gestrickt haben. Klar ist doch, dass mit dem zweiten Video viel mehr von uns aufgedeckt wird. Also müssen wir verhindern, dass sie es veröffentlichen.«
Gemurmel ging durch den Raum, das mich zunächst im Ungewissen darüber ließ, was sie von meiner Aussage hielten. Letztlich schlug sich Lucas erneut auf meine Seite, als er sagte: »Richtig. Wir müssen herausfinden, wo wir es herbekommen und wie wir es zerstören können. Und den Rest biegen wir dann mittels unserer Kontakte wieder hin.«
Clarus gab ein Schnauben ab, das ein wenig skeptisch, aber durchaus milde, klang. »Wenn das mal so einfach wird, wie du es sagst.« Er stand nun von seinem Stuhl auf und blickte einmal durch den großen Raum, als hätte er noch gar nicht bemerkt, wie viele seiner Schützlinge sich hier aufhielten, um Rat zu suchen. »Doch letztendlich bleibt uns keine andere Möglichkeit. Wir machen es so.«
»Und woher wissen wir, wo wir anfangen sollen zu suchen?«, fragte jemand kleinlaut.
Clarus deutete auf den Fernseher. »Die Medien liefern uns die aktuellsten Informationen. Vielleicht lassen sie zwischendurch heraushören, von welcher Adresse aus das Video geschickt worden ist.«
Veits leiser Einwurf fand in der großen Runde keine Beachtung: »Wenn sie überhaupt eine haben.« Meine Hoffnung auf einen Hinweis aus den Medien verschwand daraufhin schnell im dunklen Jenseits.
»Schaut so viel Fernsehen, wie ihr könnt und hört so viel Radio wie nur möglich. Wir brauchen jede neue Information.« Nachdem Clarus seine Arbeitsanweisung ausgesprochen hatte, löste sich die Versammlung auf.
Ein ganzer Strom von Werwölfen riss Kim und mich mit aus dem Besprechungsraum, in den Flur hinein und durch die Gänge, bis hin zu unserem Zimmer, wo wir ratlos und frustriert voreinander stehen blieben. Erst ein dumpf durch die Wand dringender Laut erinnerte mich daran, dass wir Eve und ihre Eltern ganz allein gelassen hatten, als wir, erschrocken von den Nachrichten, aus dem Fernseher zu Clarus gestürmt waren. Offenbar herrschte nebenan eine lautstarke Diskussion, die mir ein schlechtes Gewissen auferlegte.
Kims grüne Augen blitzten wissend zu meinen rauf und schlossen sich dann, als erneut eine tiefe Stimme gegen die Wände dröhnte. Steffen. Seine Worte waren nicht zu verstehen, aber die Lautstärke seiner Stimme brachte mir eine vage Vorstellung davon, wie klein und hilflos Eve ihren Eltern gerade gegenüberstehen musste. »Sollen wir rüber gehen?«, fragte ich leise.
Meine Frau öffnete ihre Lider und schüttelte sofort den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es das besser machen würde. Sie finden, dass wir uns zu sehr einmischen. Vielleicht haben sie recht.«
Mit gerunzelter Stirn dachte ich darüber nach. »Wenn sie für Eve keine vernünftigen Eltern sein können …« Den Satz ließ ich so stehen, denn die Konsequenz war uns beiden klar: wir hatten die Kleine so lieb gewonnen, dass sie für uns schon ein zweites Kind geworden war. Ob aus Mitleid oder nicht – wir würden sie nicht mehr so einfach hergeben.
Kim verzog den Mund. »Ich weiß«, hauchte sie. Ihre zahlreichen Gedanken spiegelten sich abwechselnd auf ihrem Gesicht wider, das sie mit ihren Händen abfuhr, woraufhin sie verzweifelt seufzte. »Vielleicht sollten wir uns erst mal um unser eigenes Kind kümmern. Ich … ich wollte noch mit Jeff sprechen, wegen eines Tranks oder … keine Ahnung.«
Das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche sandte eine leise Nachricht durch den Raum. Verunsichert, ob ich sie jetzt gleich lesen sollte, sah ich in Kims Augen, welche mir jedoch keine Antwort lieferten. Sie wirkte genauso unschlüssig, also holte ich das Handy heraus und las, was Clarus geschrieben hatte.
»Du kannst ja die Medien im Auge behalten und … und Kate beruhigen«, murmelte Kim in diesem Augenblick. Sie wandte sich schon zur Tür.
Ein schlechtes Gewissen durchzuckte mich, obwohl ich bis jetzt nicht mehr an Kates Nachricht gedacht hatte. Trotzdem kribbelten meine Finger vor Reue, als ich sie um Kims Handgelenk legte, um sie aufzuhalten. »Clarus hat mir geschrieben«, beharrte ich, kurz bevor ich das Vibrieren eines zweiten Handys vernahm, welches nur Kims sein konnte. Ihr Blick klarte sich daraufhin auf. »Heute Abend wird es eine Versammlung im Speisesaal geben.«
Einen kurzen Moment lang pressten sich ihre Lippen aufeinander. »Bis dahin werde ich Jeff wohl gefunden haben«, sagte sie, ehe sie sich aus meinem Griff befreite und durch die Tür verschwand.
Ich verharrte mit gerunzelter Stirn im Raum; unsicher, was ich von ihrer Laune halten sollte. Nebenan wüteten die sauren Stimmen und unser Fernseher brabbelte noch immer leise vor sich hin, aber ich fühlte mich durch Kims Verlassen mutterseelenallein. Gesellschaft leistete mir nur das Tablett voll Leckereien, die wir ganz außer Acht gelassen hatten, als wir zu Clarus gestürmt waren. Ich wandte mich ihnen jetzt zu, indem ich beherzt danach griff. Essen soll doch glücklich machen, dachte ich und hoffte seufzend darauf, dass es mir Trost spenden würde.
Evelynn
Ich konnte ihre Worte nicht mehr hören. Konnte nicht mehr nur dastehen und unterwürfig meinen Kopf einziehen, damit so viele Wörter wie möglich über mir hinweg schwebten. Konnte ihre Vorwürfe nicht mehr in mich aufnehmen, nur um sie mir selbst auf meine Schuldkarte zu schreiben, welche mir im Herzen wehtat. Natürlich wusste ich, dass es nicht richtig gewesen war wegzulaufen, aber nun warfen mir meine Eltern nicht nur das vor, sondern jede einzelne Sekunde in meinem kurzen Leben, in der ich nicht gehandelt hatte, wie sie es gerne gewollt hätten.
Irgendwann tat ich es einfach wieder: Ich lief vor ihnen weg. Ich stürmte aus Liams Zimmer und knallte die Tür zu, als könnte ich meine Eltern dadurch wegsperren. Natürlich kam ich keine zwei Meter weit, da flog sie schon wieder auf, als mir die beiden folgten.
Liams Zimmertür war aber nicht die Einzige, die sich öffnete. Ich sah aus meinen verweinten Augenwinkeln, wie Marlon meine Eltern aufhielt, und hörte mit meinen rauschenden Ohren dumpf, dass er sie beschwichtigen wollte. Mehr brauchte ich nicht zu wissen, als ich den Flur weiter entlang stürmte, um mich von ihnen zu entfernen.
In diesem Augenblick kam mir das Golfhouse fremd vor, obwohl ich hier lange, intensive Wochen verbracht hatte. Die Bilder an den Wänden schienen mir fremd ins Gesicht zu starren und jede kleine Macke an den Fußläufern, die ich sonst so gut kannte, war jetzt nur ein unscheinbarer Makel in langen, weiß strahlenden Fluren, die mich in die Irre führten. Ohne Liam würde ich mich hier nie zurechtfinden.
Es war ganz klar, dass ich wieder bei ihm landete. Kein anderer Ort wäre eine Zuflucht gewesen, wenn er dort nicht auf mich warten würde. Nur dass er bei meiner Ankunft regungslos in seinem Bett lag und nicht den Anschein erweckte, als wäre er zwischendurch bei Bewusstsein gewesen.
Ich rettete mich auf den Stuhl neben seinem Bett und ließ dabei meinen Tränen freien Lauf. Neben ihm fühlte ich mich gleich ein Stück besser, so als würde seine Fähigkeit auch auf mich wirken, obwohl immer klar gewesen war, dass sie es nicht tat. Haltsuchend griff ich nach seinen kalten Fingern, die meinen Druck nicht erwiderten und mir dadurch leblos vorkamen. Es wäre so schön gewesen, wenn er jetzt aufgewacht wäre.
Stattdessen stürmte das unfaire Leben, in Form meiner Mutter, durch die Tür herein und zerriss meine liebliche Illusion der Ruhe. Sie stockte hinter der Tür, als diese ins Schloss fiel, und begutachtete mit misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen, wie ich neben Liam hockte. »Klar, dass du zu ihm rennst«, sagte sie vorwurfsvoll.
Wut durchflutete augenblicklich mein Inneres, als hätte sie nie aufgehört zu pulsieren. »Was habt ihr gegen ihn?«, schrie ich sie an und zuckte selbst zusammen, erschrocken von meiner lauten Stimme. Die nächsten Worte brachte ich etwas leiser - jedoch nicht weniger wütend - hervor: »Er ist verletzt und hilflos und trotzdem hackt ihr noch auf ihm herum.«
»Wir hacken doch nicht auf ihm herum, Eve.« Sie kam jetzt näher, was mir bedrohlich erschien, weshalb ich das Gefühl bekam, zurückweichen zu müssen. Allerdings war hinter meinem Rücken die Lehne des Stuhls, sodass mir nur die Möglichkeit blieb, näher an Liams Bett zu rutschen. »Er ist ein Kind. So wie du. Aber –«
»Wir sind keine Kinder mehr«, murmelte ich verbissen in ihre Worte hinein.
Sie überging das einfach: »Er ist nicht gut für dich.«
Liams kalte Finger zitterten mit meinen mit, als diese vor säuerlich kochender Wut zu Beben begannen. »Was soll das heißen? Er hat mich immer beschützt.«
Mom schnaubte, als sie noch näher an sein Bett trat, bis sie unmittelbar daneben stand - und damit direkt vor mir. Ihr Blick wanderte mit einer fröstelnden Kälte über Liams Körper und hing sich dann bitter an meine Finger, die seine hielten. »Das ist auch nötig, weil er dich immer wieder in Gefahr bringt. Wer hat die Tür in Birmingham eingetreten? Und wer hatte die tolle Idee, in den Zoo einzubrechen? Ihr hättet von der Polizei gefangen genommen werden können und dann wäre vielleicht sogar raus gekommen, was ihr seid.«
»Das ist doch jetzt sowieso rausgekommen …«, setzte ich an.
Dass sie mich unterbrach und mir meine Worte im Mund umdrehte, hatte ich nicht erwartet: »Ja – wegen ihm!« Sie stieß mit den Fingern verächtlich gegen sein Bein, das unter der hellen Krankenzimmerdecke verborgen war.
Mir schossen die Tränen in die Augen, als sie ihn verurteilte. Nicht wegen der Unfairness oder der Verachtung, sondern weil keines meiner Worte etwas gegen Moms zerstörerische Haltung unternehmen konnte. »Er hat Chart nur zurückgeholt, damit sie mich nicht umbringen«, versuchte ich es trotzdem.
»Und warum bist du überhaupt erst in diese Gefahr geraten?«, stocherte sie unerbittlich weiter, was mir erneut Tränen über die Wangen strömen ließ.
Die aggressive Sprechpause nach ihrer Frage quälte mich. Was konnte ich schon sagen, das Liam aus der Affäre zog? Nichts – also sagte ich kein Wort, sondern suchte mit dem Blick Halt in seinem ausdruckslosen Gesicht. Es fühlte sich schlecht an, unmittelbar vor ihm über all‘ das zu diskutieren, was er falsch gemacht hatte.
»Da hast du’s«, sagte meine Mutter laut. »Und deswegen kommst du auf der Stelle mit uns nachhause. Du wirst mit den Leuten hier nichts mehr zu tun haben.«
Geschockt fuhr mein Kopf zu ihr hoch. »Was?«
»Du hast schon richtig gehört.«
»Mom, das könnt ihr nicht machen. Da habt ihr überhaupt keinen Grund für.« Ich merkte kaum, wie ich mich auf meinem Stuhl aufrichtete, während ich mit ihr sprach. Es fiel mir erst dann auf, als ich ganz aufrecht saß, sodass ich meine Mutter beinahe mit der Nase berühren konnte.
»Ich habe dir gerade die besten Gründe genannt«, fauchte sie wütend. »Diese Leute hier sind zu gefährlich. Sie bringen nicht nur dich und sich selbst ständig in Schwierigkeiten, sondern die gesamten Werwölfe.«
»Sie haben das Video nicht veröffentlicht.« Wieder glichen meine Worte einem Schreien, das laut durch meinen aufgerichteten Körper hallte. Er hatte sich nun vollends vom Stuhl gelöst, sodass ich bebend vor meiner Mutter stand und ihr mit meinen verweinten Augen ins Gesicht starrte.
Darin regte sich kein Muskel. In ihren Augen prangten die Entschlossenheit und das Wissen, mir überlegen zu sein, während sie erwiderte: »Aber sie werden darin gezeigt. Damit sind sie die ersten, die von den Menschen erwischt werden.«
Meine Wut kochte über. Sie sprudelte aus mir heraus wie pulsierendes Wasser, das sich heiß um mich herum ergoss. »Immerhin sind sie irgendwer«, schrie ich Mom an. »Sie tun wenigstens was. Ihr versteckt euch nur Zuhause und hört auf Jonathan, der Angst vor jeder Konfrontation hat. Was soll denn das für ein Leben sein? Ihr seid so feige.«
Endlich zeigte sich eine Regung in dem Gesicht meiner Mom. Jedoch war diese Emotion so grauenhaft zerstörerisch, dass sich meine Angst über die Wut hinweg nach oben katapultierte. So hoch, dass meine Sinne vollkommen abgestumpft wurden, wodurch ich nicht kommen sah, was dann passierte: Mom holte aus und ihre Hand landete keine Sekunde später mit einem lauten Klatschen auf meiner Wange. Mein Kopf flog zur Seite, ehe er von dem brennenden Ziehen erfasst wurde, das sich, von der Wange angefangen, pochend durch ihn hindurch zog. Ich sog geschockt die Luft ein.
»Wie kannst du es wagen?«, fauchte Mom und zog damit meine tränennassen Augen wieder zu sich. Fremd blickten mir ihre entgegen. »Wir geben dir alles, was du brauchst, und du fällst uns so in den Rücken?«
Mein Gehirn war ganz leer. Es fühlte sich an, als hätte ihr Schlag all meine Gedanken aus den Ohren herausgehauen, sodass ich jetzt nur noch eine leere Hülle war. Der Schmerz des Schlages verschwand schnell, jedoch blieb die Hitze meiner Wange und der Schock, welcher mit der Leere um Sieg oder Niederlage kämpfte. »Wir sind keine richtige Familie«, kam gedankenlos und leise aus meinem Mund.
»Vielleicht waren wir es nicht«, stimmte sie mir zu, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, warum sie es sagte. Dann fuhr sie schon von selbst fort: »Aber jetzt können wir es endlich sein, Evelynn. Also spiel dich hier nicht so auf und lass uns nach Hause fahren.«
Fassungslos starrte ich in ihr Gesicht und fühlte dabei, wie eine gigantische Welle über mich hinweg rollte. Sie war gespickt von Enttäuschung, Trauer, Einsamkeit und Entsetzen.
In Liams Zimmer hatte ich meinen Eltern alles erklären müssen, was im Wald von Wheeler passiert war. So auch, wie ich endlich gelernt hatte, meine Fähigkeit zu nutzen und wie dadurch das laute Hinausschicken meiner Gefühle ein Ende gefunden hatte. Und nun gestand mir meine eigene Mutter ganz ohne Scheu und Pein, dass sie und mein Dad sich wegen dieser Gefühle während meiner gesamten Kindheit derart kaltblütig von mir distanziert hatten. Ich meinte – ich hatte es ja gewusst. Doch da war ein großer Unterschied zwischen Es wissen und Es aus erster Hand hören. Ein enttäuschender, selbstzerstörerischer Unterschied.
Lange starrte ich sie nur an und versuchte mir dabei einzureden, dass sie es nicht auf diese Weise gemeint hatte. Doch das war sinnlos, denn genau so war es gewesen. Der Schmerz darüber fraß sich bereits durch meinen Bauch. Ich hätte es mir durchaus zugetraut, vollkommen auszurasten, indem ich meine Mutter schreiend aus dem Raum schickte. Stattdessen überraschte ich mich selbst, als ich sie mit schweigenden Schritten zurückdrängte. Vielleicht war sie von dieser Reaktion verwundert genug, dass sie sich von mir lenken ließ. So weit, bis sie die Schwelle der Tür erreichte, über die ich sie schob, bis ich die Tür endlich zuknallen konnte. Moms entsetze Rufe und ihr Poltern gegen das isolierte Material bildeten ein dumpfes Hintergrundgeräusch, das sich mit dem rauschenden Blut in meinen Ohren verband.
Gegen die verschlossene Tür würde sie nicht ankommen, sodass ich keinerlei Kraft mehr aufbringen musste, als ich den Schlüssel umgedreht hatte. Er landete klirrend auf dem Boden, während ich von dem reißenden Schmerz in meinem Bauch niedergezwungen wurde. An der Tür zog er mich hinab und am Boden hielt er mich fest. Dort erfasste mich die Kälte, die ihre bestialisch langen, spitzen Krallen in meiner Seele vergrub. Es fraß mich von innen heraus auf.
Irgendwann war der Krach vor der Tür verschwunden. Übrig blieben nur meine schmerzerfüllten Schluchzer und Liams ruhiges Atmen. Letzteres eroberte meine Konzentration bald so sehr, dass ich für einige Sekunden vergaß, was mir wohl oder übel bald bevorstand: Ich musste ihn hier zurücklassen.
Ich helfe dir, wann immer du möchtest. Und gemeinsam wird das alles leichter, oder?, hatte er einmal zu mir gesagt. Seine Stimme hallte wie ein wohltuender Balsam durch meine Erinnerung. Sie spickte meine Emotionen mit Sehnsucht. Wäre er jetzt nur wach und könnte mich so fest in den Arm nehmen, wie er es an jenem Morgen getan hatte. Gemeinsam mit ihm war der Schmerz leichter geworden. Seine starken Arme hatten ihn einfach davongetragen, während sie mich in ihrer Mitte eingeschlossen hatten. Ich erinnerte mich gut an den wohligen Geruch von Liams Kleidung nah an meinem Gesicht und dem Gefühl seines warmen Atems auf meiner Haut.
Mir war nicht ganz klar, was ich vorhatte, als ich mich von der kalten Tür abstieß und wankend zu ihm rüber ging. Es war ein tief sitzender Drang, der mich antrieb, meine Beine auf das Krankenbett zu schieben, wohin ihnen der Rest meines Körpers folgte. Ich nahm Liams Arm und legte ihn um meine Schultern, als ich mich an seine Seite drückte. Schon dieser leichte Druck gab mir ein Gefühl von Geborgenheit, das mich in der Erinnerung unserer innigen, vertrauensvollen Umarmung des Morgens in Birmingham schwelgen ließ. Sie konnte den Schmerz über alles, was meine Mutter zu mir gesagt hatte, ein wenig nach hinten schieben. Es wurde besser.
Also dachte ich weiter an Liam. Dachte an all die Male, in denen er mich unterstützt hatte. Dachte daran, wie wir Arm in Arm eingeschlafen waren – ich ziemlich betrunken und er als mein wohlwollender Beschützer. Dachte daran, wie er als Einziger zu mir gestanden hatte, als sich die Anderen über meine Fähigkeit lustig gemacht hatten. Dachte an unseren Abschied. Dachte an seine Lippen. An den Kuss. An unseren Streit. Dieser kam mir nun ziemlich bescheuert vor, wo mir doch der Gedanke an den Kuss in diesem Moment so viel Trost spendete. Wie hatte ich Liam am Telefon nur so anfahren können?
Mein Blick glitt zu seinem Gesicht, das reglos ein paar Zentimeter höher als meines auf dem Kissen lag. Es sah ganz ruhig aus. Friedlich. Seine Lippen waren geschlossen und wirkten angesichts der Bleiche seiner Wangen roter als sonst. Ich versuchte mich bei ihrem Anblick daran zu erinnern, wie sie sich auf meinem Mund angefühlt hatten, aber die perplexe Wut über unseren Kuss hatte mir alle Erinnerung an ihren Geschmack entzogen. Dahingegen war der zarte Druck seiner Hände auf meinen Wangen noch ganz präsent, so als hielte Liam sie jetzt gerade zwischen seinen Fingern, um nicht zu riskieren, dass ich mich von ihm entfernte.
Ich stellte mir diese Berührung so gut es ging vor, als ich mit den Augen fünf Mal überprüfte, ob er nicht doch einen Anflug von Bewusstsein hatte. Dabei näherte sich mein Gesicht seinem immer weiter an, bis ich so nah davor war, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. Ein wohliger Hauch von Sehnsucht erfüllte mich, der den letzten Rest des Schmerzes davontrug und mich plötzlich unfassbar aufgeregt werden ließ. Konnte ich ihn denn einfach so küssen, ohne dass er überhaupt etwas davon mitbekam?
Ich dachte nicht länger darüber nach, sondern gab mich dem Drang nach und tat es: Ich legte meine Lippen vorsichtig auf seine. Es war lediglich ein sachtes Streifen seines Mundes. Der Druck, den ich daraufhin aufzubauen versuchte, verlor sich in der festen Unnachgiebigkeit der leblosen Lippen. Nur die stumme Sehnsucht nach einer solchen Liebe, wie er sie mir bei unserer Verabschiedung in Birmingham gezeigt hatte, trieb mich an, es noch einen weiteren Moment zu versuchen. Ich wollte ihm eine ebensolche Liebe zurückgeben.
Plötzlich wurde der Druck erwidert. Liams Lippen gaben nach wie eine Blume, auf welche die morgendliche Sonne fiel, sodass sich ihre Blüten öffneten und ihre Pracht in die Welt hinaus strahlten. Kein Geräusch drang durch den Raum, doch in dieser Sekunde wusste ich, dass er erwacht war. Davon war ich so überrumpelt, dass ich sekundenlang nichts anderes tat, als ihn weiter zu küssen; nur um nicht die Augen öffnen und ihm in seine sehen zu müssen. Was sollte ich tun? Was dachte er jetzt über mich? Hatte ich ihn wachgeküsst, wie der Prinz sein Dornröschen?
Diese Fragen ließen meine Angst hochschnellen wie eine lodernde Wasserfontäne. Sie riss unsere Lippen letztlich auseinander, sodass mein Kopf einige Millimeter nach hinten rückte. Von dort aus berührten sich unsere Nasenspitzen zwar noch immer, der Blick in Liams Augen war allerdings unvermeidbar. Zuerst fürchtete ich mich davor, doch dann übten die hellglänzenden Wolken eine solche Faszination auf mich aus, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Stillschweigend sah ich in seine halb geöffneten Augen und fragte mich, was er empfand. Dachte er nun schlecht von mir? Was sollte ich tun? Wie konnte ich mich aus dieser Sache rausreden? Wollte ich das überhaupt?
In Liams Blick lag keine Antwort auf irgendeine meiner Fragen, oder ich war zu aufgeregt, um sie zu erkennen. Klarer wurde es, als er von sich aus den Abstand zwischen unseren Gesichtern wieder schloss. Hingabevoll – beinahe untertänig – küsste er mich. Vielleicht dachte er, ich wäre Jessy. Möglicherweise hatte er mich gar nicht erkannt, weil seine Gedanken doch nicht so klar waren, wie seine Augen hatten vermuten lassen. Es wäre auch möglich, dass er glaubte, er würde träumen.
Erst die sanfte Bewegung seiner Lippen, welche meine ehrfürchtig zum Tanz aufforderten, stoppte meine Hirngespinste. Sie setzte in mir eine solch freudige Aufregung frei, dass ich mich plötzlich nur noch darauf konzentrieren konnte, Liam nicht zu enttäuschen, indem meine – aus wenigen Erfahrungen bestehenden – Kuss-Fähigkeiten versagten.
Eine Ewigkeit lang, und doch nur wenige Sekunden, vergingen, bis wir uns voneinander lösten. Diesmal blieben seine Augen geschlossen, sodass ich unbeobachtet in sein Gesicht starren und mich fragen konnte, was ich tun sollte. Seine leicht geöffneten Lippen sogen ein bisschen schwerfällig Luft ein und stießen sie wieder aus, nur damit ich sie aufnehmen und wieder freigeben konnte. Ich wagte es nicht, mich weiter von ihm zu entfernen. Zu schön war die wärmende Enge zwischen uns, die mir den Eindruck verlieh, wir zwei wären vollkommen allein auf dieser Welt.
»Hol mich zurück, Eve«, brachte Liam hervor.
Der Ton war nichts weiter als ein raues Hauchen, das nicht mal ansatzweise an den sonst so schönen Klang seiner Stimme herankam. Trotzdem begann mein Herz wie wild zu klopfen, wobei ich mir nicht sicher war, woran es lag. Entweder daran, dass er mich zweifellos als seine beste Freundin – nicht als Jessy – erkannt hatte, oder an dem Leid, das sich unverkennbar in seiner Stimme abzeichnete. Es schlich sich dabei auch in sein Gesicht hinein. Ein paar Mal blinzelte er mit den Augen, aber es kam mir nicht so vor, als hätte er noch die Kraft, mich dahinter zu entdecken.
Seine nächsten Worte waren noch leiser als die Vorigen, sodass es selbst meinen Wolfsohren schwerfiel, sie zu verstehen. »Bitte hol mich zurück.« Danach kippte sein Kopf hinab auf das Kissen und der leiderfüllte Ausdruck in seinem Gesicht wich der leeren Hülle von Junge, die sich wohl nicht mehr an ihn und mich erinnern konnte.
Mein Aufschluchzen durchzog den Raum wie ein schneidendes Band, welches sich von einer Ecke zur anderen spannte. Daran hingen sich meine Gedanken auf, als seien sie Kleidung, welche in Folge einer zu heißen Wäsche eingelaufen und unbrauchbar geworden waren. Die salzigen Tränen tropften hinab. Sie benässten den Stoff von Liams Krankenhaushemd. So gerne wollten sie ihn zu mir zurückholen. Doch weder die Nässe noch meine lauten Schluchzer drangen tief genug zu ihm durch.
Gerade als ich es mit einem weiteren Kuss versuchen wollte, ließ mich ein Klopfen an der Tür erschrocken zusammenfahren. Mein Kopf fuhr in panischer Erwartung dorthin, bis mir wieder einfiel, dass ich abgeschlossen hatte. Auch die Person vor der Tür merkte dies sogleich, als sich der Weg ins Zimmer trotz herabgedrückter Klinkte nicht frei machte. »Evelynn?«, konnte ich dumpf meinen Namen erahnen.
Die Stimme gehörte weder zu meiner Mom noch zu Dad, weswegen ich ein tiefes Durchatmen riskierte. Es war Marlon. Noch einmal glitt mein Blick zu Liams leerem Gesicht, ehe ich mich aus der wärmenden Umklammerung löste und seine Gestalt einsam auf dem Bett zurückließ. Die Luft kam mir danach unfassbar kalt vor, während ich den Schlüssel vom Boden aufhob und damit die Tür entriegelte. Dahinter kam Marlons unsicher verzogenes Gesicht zum Vorschein, das mir mit einem Hauch von Mitleid entgegenblickte.
»Alles okay?«, fragte er leise. Natürlich konnte er die Tränen und die aufgequollenen Wangen erkennen.
Ich nickte stumm, ehe ich die Tür so weit öffnete, dass er eintreten konnte. Mir kam es vor, als müsste ich überaus gut prüfen, wen ich in mein empfindliches Reich eintreten ließ, doch Marlon schien dafür eine gute Wahl zu sein. Er machte ein paar Schritte auf Liam zu und begutachtete ihn mit einer Spur aus Hoffnung, ehe er sich – von der Enttäuschung übermannt - wieder zu mir wandte.
»War er wach?«
Ich schluckte, doch der Kloß saß zu fest, als dass er dadurch verschwinden könnte. »Nein«, log ich, obwohl es sich schlecht anfühlte. Ich war zu feige, um zu gestehen, was wirklich passiert war.
Marlon ließ die Luft schwerfällig ein- und ausströmen, ehe er sich durch die Haare fuhr. »Ich habe mit deinen Eltern geredet«, sagte er dann und ich erkannte, wie er versuchte, Liam aus seinen Gedanken auszublenden.
Meine Stirn runzelte sich leicht. Neben all den verwirrenden Gefühlen über Liams und meinen Kuss, zwängte sich durch Marlons Worte auch ein Stück des Schmerzes wieder in den Vordergrund meiner Emotionen. Er erinnerte mich daran, dass ich Liam vielleicht das letzte Mal bei Bewusstsein erlebt hatte, bevor mich meine Eltern von hier wegbringen würden. Mir brach es jetzt schon das Herz. »Und?«, hauchte ich beunruhigt, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich hören wollte, was bei dem Gespräch herausgekommen war.
Ein leichtes Lächeln zuckte über Marlons Lippen. »Sie sind ziemlich stur«, sagte er, was mich keinesfalls zum Lachen bringen konnte. Ihre Sturheit war es schließlich, die mich in all meinem jugendlichen Tun einschränkte. »Aber letztendlich konnte ich deinen Dad davon überzeugen, dass du bleiben kannst, bis es Liam besser geht. Was auch immer besser in seinem Zustand heißen mag.«
Unwillkürlich vergrößerten sich meine Augen zu ungläubigen Glaskugeln, die Marlon erstaunt anstarrten. »Du … ich … ich darf so lange bleiben?«
Jetzt war sein Lächeln breiter. »Ja.«
Ein ganzer Schwall an Freude durchlief meinen Körper, als mir klar wurde, was das bedeutete: Es hieß mehr Zeit mit Liam, mehr Hoffnung auf Besserung, mehr Frieden in einem Haus, das mir eigentlich komplett fremd war. Ich konnte nicht anders, als diese Freude durch mich hindurch strömen zu lassen und damit auf Marlon zuzueilen. Ganz unüberlegt schlossen sich meine Arme um seine Mitte, so dankbar war ich für das, was er getan hatte.
»Oh, danke«, jauchzte ich in einem neu aufkommenden Schwall von Tränen, der plötzlich nicht mehr derart leiderfüllt war wie gerade eben noch.
Das brachte den großen Mann zum Lachen, während er seine Arme um mich legte. Obwohl ich schüchtern war und mir mein Gefühlsausbruch in den nächsten Minuten vielleicht unangenehm werden könnte, war ich in diesem Augenblick glücklich, ihn zu umarmen. Immerhin fühlte er sich ein bisschen so an wie Liam.
Kimberly
Jeff war wie vom Erdboden verschluckt. Er war nicht auf seinem Zimmer, nicht in den Fluren, nicht bei Clarus oder im Speisesaal. Nicht einmal im Chemieraum oder draußen auf dem Gelände fand ich eine Spur von ihm. Irgendwann gab ich die Suche auf und leistete stattdessen meinem reglos daliegenden Liam Gesellschaft.
Erst die verrinnende Zeit zerrte mich wieder von ihm fort. Es war bereits Abend geworden und der sich erweiternde Trubel in der Eingangshalle machte mir klar, dass sich die meisten der Werwölfe schon auf dem Weg in den Speisesaal befanden, um der Versammlung beizuwohnen. Also machte auch ich mich auf.
Zu meiner Überraschung war der Speisesaal bereits sehr voll. Die Stuhlreihen waren von Personen überflutet, die sich schweigend zusammenrafften, als Clarus das Wort erhob: »Danke, dass ihr gekommen seid.« Auf die letzten Werwölfe, die mit mir durch die Tür strömten, nahm er keine Rücksicht.
Das Bild, welches sich mir bot, während ich mich mit leisen Schritten auf dem Weg zu unserem Stammtisch machte, wirkte allzu bizarr: Neben meinen Freunden und Marlon hockten auch Evelynns Eltern, die zwar optisch sehr gut in das jugendliche Bild passten, ihrer Mimik nach zu urteilen jedoch am liebsten ganz weit weg sein wollten. Sie hatten sich eng zusammengeschoben, als fürchteten sie, von den anderen angefallen zu werden. Evelynn selbst saß auf dem Stuhl neben Marlon, das Gesicht relativ entspannt nach vorn gerichtet. Was war passiert, während ich Jeff gesucht hatte? Hatten sie sich ausgesprochen?
Schweigend ergatterte ich den letzten freien Stuhl, welcher unmittelbar neben dem von Monique stand, und richtete meine Aufmerksamkeit nach vorne. »Die meisten von euch werden schon mitbekommen haben, was passiert ist«, sagte Clarus, woraufhin er für alle anderen knapp zusammenfasste, wie groß und unbändig unser Problem tatsächlich war.
Obwohl der Großteil unserer Gemeinschaft zweifellos schon davon gewusst hatte, ging daraufhin ein lautstarkes Murmeln durch den Raum, welches erst ein Ende fand, als Clarus fortfuhr: »In Wheeler stehen bereits die ersten Menschen vor den Toren der Villa unserer Kollegen. Es werden mal mehr, mal weniger. Chris hält mich diesbezüglich auf dem Laufenden.«
»Was können wir dagegen tun?«, fragte jemand von vorne laut genug, damit es Clarus‘ Konzept störte.
Dessen Blick glitt durch die Reihen. »Es gibt zwei Dinge, die ab jetzt absolut im Fokus stehen werden. Erstens müssen wir verhindern, dass das zweite Video an die Öffentlichkeit gerät. Und zweitens setzten wir alles daran, dass die Menschen ihre Ungläubigkeit bewahren. Sie müssen das erste Video als einen geschmacklosen Scherz abtun. Als einen Streich, der die Nation erschrecken sollte.«
Meine Stirn runzelte sich, während ich dem Raunen lauschte, das wieder durch den Saal ging. Mir erschien es nicht so, als hätten wir noch eine Chance, all unsere Probleme auf einen bedeutungslosen Streich zu schieben, und einige Wölfe schienen da meiner Meinung zu sein. Die Gesichter von Lucas, Clarus und Nagur, welche sich vorne als Trio aufgebaut hatten, spiegelten hingegen eine ernsthafte Überzeugung wider.
»Aber diese Dinge sind gar nicht so weit auseinander«, sprach jetzt Lucas weiter, der neben Clarus vor die Stühle der ersten Reihe trat. Er blickte mit finsterer Miene über die Köpfe der vorn Sitzenden hinweg, als suchte er ganz bestimmte Personen im Raum. »Wenn Jerome sich die Medien zum Eigentum macht, werden wir das auch tun. Wir schleusen einige Leute dort ein, die sowohl Informationen über Jerome sammeln als auch die Infos, die die Bevölkerung über uns bekommt, so gut wie nur möglich zu unseren Gunsten verändern sollen.«
»Wir bringen uns in die hohen Positionen«, fügte Clarus hinzu. »Wir horchen alles ab. Wir überzeugen die Menschen davon, dass so etwas wie die Werwölfe nie existiert haben.«
Es kam selten vor, dass Clarus sich so wütend zeigte. Seine Nasenflügel blähten sich auf und seine Augen fixierten die Menge vor ihm, als sei sie der Feind. Vielleicht war es dieser Ausdruck, der uns Werwölfe verstummen ließ. Keiner sagte etwas, denn so wie Clarus es rüberbrachte, hatte plötzlich keiner mehr Zweifel daran, dass es auf diese Weise funktionieren könnte.
Lucas hatte ein bisschen weniger Biss, schien sich seiner Sache aber dennoch sicher zu sein. »Wer zu welchem Institut geht und wie wir das organisieren können, klären wir im Einzelnen.«
»Alle anderen konzentrieren sich bitte darauf, Hinweise aus den Medien abzufangen. Wenn ihr irgendetwas über den Absender des Videos hört oder sich neue Infos ergeben, meldet euch augenblicklich bei mir«, befahl unser Chef.
Mein Blick glitt hinüber zu Evelynns Eltern, die mit unsicheren Gesichtern nach vorne starrten. Es sah so aus, als stünden sie vor dem Weihnachtsmann und ihnen würde gerade klar, dass all‘ die Geschichten von früher wahr sein mussten. Eve wirkte diesbezüglich schon etwas abgehärteter. Sie verzog keine Miene, sondern versteckte sich unter ihrem langen Pony und wurde eins mit dem Stuhl.
»Dann ist da aber noch etwas«, sprach Clarus weiter. »In einigen Fernsehsendern werden die Gesichter im Video verdeckt. Andere aber zeigen das Videomaterial vollkommen offen. Darin sind einige Gesichter von euch zu erkennen. Nicht viele, aber ein paar werden so nah gezeigt, dass Angehörige auf die Idee kommen könnten, dass ihr es seid.«
Obwohl ich sofort wusste, dass mein Gesicht nicht dabei war, schlug mein Herz aufgeregt der Vorstellung entgegen, meine Eltern könnten durch dieses Video erfahren, dass ich noch lebte. Natürlich würde das nichts besser machen, doch die Idee war tröstlich. Von Marlons Gesicht hingegen wusste ich, dass es deutlich zu erkennen war. Immerhin hatte Kate ihn schon darauf angesprochen, was insofern ein Problem darstellte, dass Marlons damaliger Umkreis ja wusste, dass er lebte.
»Mein eigenes ist dabei«, begann Clarus aufzuzählen. »Chiels, Susis, Patricks, Marlons, Cathrins und Macs. Entschuldige, dass ich das so sage, Susi, aber du bist wohl zu alt, als dass sich deine Familie noch mit einer Verschwörungstheorie an die Öffentlichkeit wenden könnte. Chiel und ich genauso. Alle anderen, bei denen die Gefahr besteht, dass sich jemand melden könnte, bitte ich gleich, nach vorne zu kommen.«
Meine Augen trafen die meines Mannes, welcher wohl ganz unwillkürlich herübergesehen hatte. Er verzog kaum merklich den Mund, was mir deutlich machte, dass er ebenfalls an Kates Nachricht dachte. Dann wandte er sich zu Mac.
Auf diesem lasteten, nach Clarus‘ Worten, etliche Blicke, die er mit einem Schulterzucken abzuschütteln versuchte. »Ich glaub kaum, dass mich meine Leute vermissen würden«, murmelte er mit einem Grinsen, von dem ich nicht ganz wusste, ob es ehrlich war.
Marlon verdrehte die Augen, sagte: »Komm schon«, und wollte gerade aufstehen, da hielten Lucas‘ Worte die beiden auf: »Außerdem gilt für uns alle zurzeit ein striktes Verwandlungs-Verbot.«
Damit waren die Stimmen im Speisesaal wieder erwacht, jedoch klangen sie diesmal reichlich empört. Auch in mir rief dieses Verbot eine klägliche Unruhe auf und ich zog meine Augenbrauen noch enger zusammen. »Und was, wenn Jerome uns angreift?«, wollte eine weibliche Stimme wissen.
»Dann kämpfen wir«, erwiderte Clarus bestimmt.
»Das Verbot gilt nur für den Fall, dass auch wir bald Besucher haben, die uns als Werwölfe betiteln. Sie sollen in ihrem Glauben nicht zusätzlich bestärkt werden«, erklärte Lucas parallel. »Danke für eure Aufmerksamkeit.«
Ich seufzte tief, als das Rauschen der Stimmen, Worte und Sätze im Speisesaal explodierte wie eine Wasserbombe, die auf dem Boden zerplatzte. Im gleichen Moment erhoben sich Mac und Marlon, um nach vorn zu gehen. Ich dachte erst, Marlon würde mir keinen Blick mehr zuwerfen, doch stattdessen war es sogar ein ganzer Gegenstand, der von ihm aus auf mich zugeflogen kam. Perplex fing ich das Handy auf. Es leuchtete noch, denn er hatte es nicht gesperrt, sodass mir Kates Name sofort ins Auge sprang. Als ich fragend wieder zu meinem Mann sehen wollte, hatte dieser mir schon den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg zu Clarus.
Mit gerunzelter Stirn wandte ich mich daher dem kleinen Gerät zu und las. Auf Kates zweifelnde Frage über Marlons Fernsehauftritt hatte dieser vor etwa einer Stunde geantwortet: Das bin ich nicht. Das Video ist doch ein Fake.
Er sieht ganz genau so aus wie du, war ihre beteuernde Erwiderung, die mir ein eifersüchtiges Kribbeln in den Bauch legte. Es fraß sich bis in meine Fingerspitzen hinein, die das Handy fest umklammerten.
Daraufhin hatte Marlon geschrieben: Ich bin‘s nicht.
Und sie: Okay. Wie geht’s dir denn?
- Bestens.
- Wo bist du?
- Zuhause.
- Die Werwölfe soll’s da geben, wo du wohnst.
- Du glaubst doch nicht wirklich an sowas.
- Ne … aber das Video sieht schon echt aus.
- Ja.
Darauf hatte sie noch keine Antwort geschickt.
Ich ließ das Telefon auf die Tischplatte fallen und riss meine Finger davon, als hätten sie sich daran verbrannt. Ein unangenehmes Eifersuchtsgefühl, gepaart mit einem komischen Gefühl von Unheil, durchfuhr meinen Bauch, als ich die Arme eng darum schlang und mich unruhig auf meinem Stuhl wiegte.
Am nächsten Morgen waren sie da – die Menschen vor unseren Türen. Ein paar von ihnen trieben sich auf der offiziellen Seite des Golfhouses herum, sodass sie glücklicherweise keinen unmittelbaren Blick auf das große Hauptgebäude hatten. Jedoch reichte das Wissen über ihre Anwesenheit aus, um die Werwölfe ganz nervös zu machen. Es war, als wären nicht wir die Wölfe, vor dessen Käfig schaulustige Schafe warteten, sondern umgekehrt. Die Menschen mutierten zu idealistisch motivierten Jägern, welche sich auf jede Erinnerung stürzten, die jemals einen Ansatz von Anomalie gezeigt hatte. Diese Erinnerungen führten wohl gelegentlich zu unserem Golfhouse, was ich mir als durchaus logisch einredete. Immerhin lebten in diesem Gebäude schon seit Jahren Werwölfe. Wie könnte es da sein, dass in all diesen Jahren nicht ein einziger Hinweis auf unnormale, übernatürliche Wesen nach außen gedrungen war? Gar nicht.
Der Druck auf uns erhöhte sich dadurch. Schon beim Frühstück sah ich ihn förmlich durch die Reihen wabern wie eine dichte, klebrige Masse, die sich bei der ersten Gelegenheit auf ihre nervenschwachen Opfer stürzte. Vielleicht gehörte ich ebenfalls zu diesen Opfern, denn mir war, als würde mir an diesem Morgen bald der Kopf platzen – an derart viele Dinge musste ich denken. Da war nicht nur unsere nackte Entblößung vor den Menschen, sondern auch meine Familie, Jerome und Chart, die Anspannung zwischen Evelynn, ihren Eltern und uns. Und schließlich Liam, der sich in seinem Bett keinen Zentimeter regte. Jeff war noch immer unauffindbar und jeder, den ich nach ihm fragte, hatte zurzeit ganz andere Dinge zu tun.
Bis Nagur auf den Stuhl neben mich rückte. Seine Bewegung brachte den Frühstückstich zum Erzittern und meine Freunde zum Schweigen. Ihre Blicke hefteten sich auf den alten Werwolf, welcher diese mit einem freundlichen »Guten Morgen« abzuwenden versuchte.
Neben mir spannte sich Marlon an. Ich hingegen ließ mir mein ungutes Gefühl nicht anmerken, als mir klar wurde, dass Nagur nicht mit allen Anwesenden sprechen wollte, sondern nur mit mir. »Hey«, sagte ich mit einem Lächeln.
Seine braunen Augen hefteten sich freundlich auf mein Gesicht und er setzte sich schräg auf den Stuhl, um den anderen klarzumachen, dass sie sich für dieses Gespräch nicht zu interessieren hatten. Der herabgesunkene Lärmpegel machte jedoch klar, dass sie das sehr wohl taten. »Hast du gleich einen Augenblick Zeit?«, wollte Nagur von mir wissen.
Mein Mund öffnete sich schon, um zu bejahen, da kam mir Marlon mit einer ungeahnten Schärfe zuvor: »Verzieh dich, Nagur.«
Überrascht und empört zugleich blickte ich zu meinem Mann, welcher den alten Werwolf mit finsterer Miene anblickte. Dass seit meinem Tod eine schier unüberwindbare Differenz zwischen den beiden herrschte, hatte ich gewusst und verstanden – allerdings war Marlon in den letzten Wochen weniger angriffslustig gewesen, weshalb ich nun über die Härte verwundert war, mit der er Nagur anfuhr.
Wenn Nagur auf diese Weise zu mir kam, musste es etwas Wichtiges sein, weshalb ich sofort aufspringen und mit ihm gehen sollte. Aus Loyalität zu Marlon zwang ich mich allerdings zu einer einschränkenden Antwort: »Eigentlich muss ich dringend mit Jeff sprechen, also … ich weiß nicht.«
Nagur blickte zwar nochmal zu Marlon, ignorierte dessen Aufforderung aber völlig, als er antwortete: »Er ist dort, wo ich dich hinbringen will. Du kannst dort gleich mit ihm sprechen.«
Das verunsicherte mich. Wo sollte dieser Ort sein, wenn Nagur ihn nicht vor den anderen benennen wollte? Was hatten sie dort getrieben? Er sah meine Unsicherheit und sprach weiter: »Ich hab‘ da eine Idee und bräuchte dafür deine Hilfe.«
»Deine letzte Idee hat sie das Leben gekostet.«
Es war jetzt ganz still am Tisch, sodass Marlons verachtende Worte in der Luft stehen blieben. Sie wurden beinahe greifbar, so nah schwebten sie vor meinem Gesicht, denn ich saß in der Mitte der beiden Werwölfe, die sich unentwegt in die Augen starrten. Der Stuhl erschien mir plötzlich ganz hart unter meinem Hintern und ich rutschte darauf unbehaglich hin und her.
Dann löste ein Räuspern die Spannung am Tisch. »Geht es um die Menschen vor unseren Toren oder um Jeromes Leute?«, fragte Mac, der mich damit aus dem Bedrängnis rettete.
Nagur riss seinen Blick von Marlon los, um zu dessen bestem Freund zu sehen, und wandte sich damit der Runde am Tisch zu. Stumme Augen lasteten auf seinem Gesicht. »Um Jerome.«
»Habt ihr schon nähere Hinweise, wo er sich befindet?«, fragte er weiter.
»Nein, aber wir können sie bekommen.« Damit blickte er wieder zu mir. »Marlon kann mitkommen, wenn er will.«
Es klang falsch, wie er in der dritten Person von ihm sprach, während er ihm unmittelbar gegenüber saß. Vielleicht tat er es, weil er eingeschnappt war oder weil er ihn eigentlich gar nicht dabei haben wollte – ich konnte es nicht in seinem Gesicht lesen. Alles, was ich sah, war wieder diese Reue, von der ich in den Monaten meiner Menschlichkeit zu viel erblickt hatte, sodass ich sie jetzt am liebsten sofort wieder fortgeschickt hätte. Doch solange Marlon Nagur mit diesem Blick ansah, würde sie nicht verschwinden können.
Ich nickte und erhob mich sogleich, denn ich würde es nicht ertragen, diese schweigsame Anspannung erneut zu fühlen. »Ich komme mit«, sagte ich und war froh, dass Nagur ebenfalls aufstand.
Marlon hingegen blieb auf seinem Platz; die Augenbrauen finster zusammengezogen. Ich fühlte mich schlecht, als ich den Stuhl ordentlich an den Tisch heranschob und mein halb aufgegessenes Brot auf dem Teller liegen ließ. Trotzdem wusste ich, dass es besser war, mit Nagur zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte an diesem Buch gehören der Autorin © Ela Maus.
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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6189-3
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Widmung:
Dieser Band ist für Kathrin, Mike, Jamie, Adrien, Demet, Marvin und Julian. Danke für eure Unterstützung und das schweigsame Belächeln meiner Arbeitszeit-Gestaltung.