Kimberly
Die ganze Zeit fummelte ich nervös an dem Saume meines Sommerkleides herum. Die Kinder sahen es nicht, denn sie waren mit der Aufgabe beschäftigt, die ich ihnen gegeben hatte. Abwechselnd richtete sich mein Blick auf die Uhr und nach draußen durchs Fenster. Hin zu dem Typen, der schon seit Beginn der Schulstunde am Rand des Geländes stand und ununterbrochen hierher starrte. Sein Blick machte mich rasend, ohne dass ich wusste, warum.
Die Sekunden bis zum Schellen der Schulglocke konnte ich exakt an der Uhr ablesen. Diesmal sprang ich genauso schnell auf wie die Kinder, die das Ende des Schultages ebenso herbeisehnten, wie ich es heute tat. »Macht das bitte Zuhause fertig«, sagte ich zur Klasse. »Wir sehen uns ja erst am Donnerstag wieder.«
Sie murrten ein bisschen vor sich hin und packten ein, was ich ihnen gleichtat. Auch für mich war nun der Feierabend angebrochen, sodass ich nur noch schnell all meine Sachen einpackte, kurz durchs Lehrerzimmer huschte, um dort den Rest einzusammeln, bevor ich nach draußen auf den sonnenüberfluteten Schulhof trat. Die sommerlichen Frühlingstage in Kalifornien waren schon immer die schönsten gewesen. Meine Augen glitten über die Schülermassen, die in Richtung Straße strömten, und blieben dabei erschrocken an dem Typen hängen, der nun auf die andere Seite des Geländes gekommen war. Er lehnte an einem der vielen großen Bäume, welche den offengelegten Schulhof von der rar befahrenen Straße abtrennten.
Wieso starrte er so zu mir herüber? War er ein ehemaliger Schüler? Vom Aussehen her würde ich ihn nicht viel älter schätzen als die Schüler der Abschlussklassen, und doch machte er einen unverschämt selbstbewussten, gefährlich attraktiven Eindruck, der sich von dem unbeholfenen Verhalten meiner Abschlussschüler ums Hundertfache abhob.
»Miss Johnsen?«, ertönte hinter mir die Stimme eines Mädchens. Vollkommen perplex drehte ich mich zu der kleinen Lisa um, die meine Gedankenwelt zurück in die Realität riss. Bisher hatte ich mich noch nicht an meinen neuen Nachnamen gewöhnt, zumal ich ohnehin lieber meinen eigenen behalten hätte. Doch Steve – mein Mann – hing sehr an diesem altertümlichen Kram, weshalb es andersherum gelaufen war: Ich hieß nun wie er.
Lisa lächelte etwas verlegen über mein zerstreutes Aussehen. »Für morgen … also ich habe mich gefragt, ob Sie mir vielleicht sagen könnten, welches Thema besonders wichtig ist. Auf welchem der Schwerpunkt liegen wird. Weil – ich will mich gut vorbereiten.«
Morgen? Was war morgen? »Oh …«, stieß ich hervor, als es mir wieder einfiel, und ich schüttelte kaum merklich den Kopf, damit ich wieder klare Gedanken fassen konnte. »Da hättest du aber ein bisschen früher anfangen müssen.« Ich lächelte, um meine Worte abzumildern. »Mach dir keine Sorgen. Schau dir einfach die Arbeitsblätter genau an, die wir im Unterricht gemacht haben. Dann kommst du gut durch die Klausur.«
Sie verzog unsicher den Mund und wollte noch etwas sagen, doch ich schnitt ihr das Wort ab: »Ich bin mir sicher, dass du genug von den Themen weißt. Wir sehen uns morgen.«
»Okay«, sagte sie bedenklich, erwiderte jedoch mein Lächeln. »Bis morgen.«
Ich drehte mich daraufhin um, denn mir war es unangenehm, dermaßen verstreut vor ihr zu stehen. Allerdings änderte es nichts an meinem Zustand, als ich über den Schulhof hinweg zur Straße ging, denn immer wieder zuckte mein Blick rüber zu dem Jungen am Baum. Er hatte sich keinen Millimeter bewegt, sondern lehnte noch immer lässig und scheinbar tiefenentspannt an der Rinde; seine Augen stets auf mich gerichtet. Ich war mir sicher, dass ich ihn nicht kannte, doch mir ließ dieser stechende, heiße Blick auf mir keine Ruhe.
Schließlich änderte ich auf halben Weg die Richtung und schritt mit gerunzelter Stirn genau auf ihn zu. Irgendetwas zog mich zu ihm hin, als würde er mich mit einem unsichtbaren Seil an sich binden. Außerdem wusste ich, dass ich seine Augen nicht würde vergessen können, wenn ich das Schulgelände verließ, um nach Hause zu fahren, wo heute der Rest meiner Familie auf mich wartete. Doch all diese Gedanken verflogen, während ich auf ihn zuschritt. Mir wurde wärmer, je näher ich ihm kam, und ich wurde aufgeregter, umso länger ich den Blickkontakt hielt.
Als ich in seiner unmittelbaren Nähe war, konnte ich vor Nervosität kaum meinen Mund öffnen. Ohne dass er irgendetwas getan hatte, schien er mich an Stellen zu berühren, die noch niemals in meinem Leben berührt worden waren. Mein ganzer Körper war vollkommen außer Kontrolle, wohingegen der Junge die Ruhe in Person zu sein schien. An seiner Haltung hatte sich rein gar nichts geändert, obwohl ich nun direkt vor ihm stand. Lediglich seine tiefblauen Augen funkelten jetzt noch mehr in dem Licht der Sonne, das unter dem Baum fleckenhaft durch die grünen Blätter strahlte.
»K- … kennen wir uns?«, brachte ich stockend hervor und kam mir unfassbar bescheuert vor. Es war jedoch klar, dass er mich schon seit einer Stunde ununterbrochen beobachtete. Oder litt ich unter Verfolgungswahn?
Es brachte mich fast um, als er das erste Mal seinen Mund öffnete und seine samtig weiche Stimme ertönte: »Ich schätze nicht.«
Peinlichkeit durchzuckte meine Brust, während der Rest meines Körpers so heiß geworden war, dass ein Tropfen Wasser darauf sicherlich angefangen hätte zu zischen. »Oh dann … dann warten Sie hier auf jemanden?« Mir erschien es nicht passend, ihn zu duzen, denn er wirkte so viel älter, als er aussah. In diesem Augenblick hatte ich sogar das Gefühl, er sei deutlich älter als ich, obwohl das sicherlich nicht der Fall war.
Seine Augen verkleinerten sich minimal, wobei sich ein Ausdruck auf seine Lippen legte, der mich vor ihm auf dem Boden festnagelte. Das Lächeln darauf machte es unmöglich, wegzugehen, auch wenn er tatsächlich nicht mich gemeint hatte. »Genau.«
Obwohl er mir jeden Grund gab, vor Unwohlsein im Boden zu versinken, fühlte ich nur den zwanghaften Drang dazu, mehr von seiner Stimme zu hören. Etwas fesselte meinen Blick an die ozeanblauen Augen. Was zum Teufel war nur los mit mir? Wieso fühlte ich mich von einem so viel jüngeren Menschen angezogen, den ich niemals zuvor gesehen hatte? Noch dazu, wenn Zuhause mein frisch gebackener Ehemann wartete?
Der Kopf des Jungen legte sich schräg, als er die Hände tief in die Taschen seiner dunklen Jeans steckte. »Macht es Spaß, die Kinder zu unterrichten?« Mir schien, als würde hinter dieser Frage viel mehr stecken als einfacher Small-Talk. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Typ wie er viel Small-Talk betrieb. Trotzdem war ich unfassbar froh, dass er sich mit mir unterhalten wollte - egal, wie komisch es war.
Ich nickte. »Es ist ein erfüllender Job.«
»Für ein erfülltes Leben?« Sein Blick fraß mich auf. Er strich über meinen Körper, als wäre er ein Kunstwerk, das ausführlich betrachtet werden musste, bevor darüber geurteilt werden konnte. Mit dem Blick hangelte sich eine Spur von Hitze in mir entlang, die ich niemals zuvor gefühlt hatte.
»Ich … ich …«, stotterte ich, als ich begann, über die Frage nachzudenken. Hatte ich ein erfülltes Leben? Eigentlich war es das genaue Gegenteil: Ein riesiger Abschnitt davon fehlte. Und obwohl ich dieses Loch mittlerweile Meistzeit verdrängen konnte, hatte ich manchmal doch das Gefühl, dass es nicht nur eine Lücke in meinem Lebenslauf war, sondern auch in meiner Seele. »Ich denke schon«, log ich schließlich.
Im nächsten Augenblick wünschte ich mir sofort, ich wäre ehrlich gewesen, denn ich sah, wie sein Körper auf diese Lüge reagierte. Er verschloss sich vor mir, als der Mann seinen Kopf leicht nach unten neigte, ohne die Augen jedoch von mir zu nehmen. Ich war nicht in der Lage, meine Worte zu korrigieren, denn er machte mich sprachlos.
»Warum die ganze Schminke?«, kam schließlich aus seinem Mund.
Hatte ich vorher angenommen, dass meine Sprachlosigkeit nach seinen Worten besser werden würde, war ich nun eines Besseren belehrt: Kein Ton verließ mehr meinen Mund. Er öffnete sich dennoch, um besser Luft zu kriegen, nachdem es durch die Nase plötzlich schwer geworden war. Nie hatte jemand meine Schminke beurteilt, da sie durchaus dezent war und nur der frischeren, hübscheren Aufmachung diente. Ich konnte mich nicht daran erinnern, das Haus jemals ungeschminkt verlassen zu haben, weshalb sich nie jemand darüber gewundert hatte, warum ich überhaupt Schminke trug. Sie kannten mich alle nur geschminkt. Aber ihm gegenüber kam ich mir in dieser Sekunde jämmerlich vor, weil ich nicht zu meinem natürlichen Aussehen stehen konnte.
Fassungslos glitt mein Blick über die schokoladenbraunen Haare, die ihn unfassbar sexy aussehen ließen. »Ich weiß nicht«, brachte ich schließlich leise hervor.
Er erwiderte nichts mit seinen Worten, doch seine Augen sprachen tausende davon aus, als sie erneut über meinen Körper fuhren. Sie nannten mich eine wunderschöne Frau. Riefen mir unzählige Komplimente zu, die mein Herz erwärmten. Erklärten mir meine Schönheit wie in einem Märchenbuch. Damit gaben sie mir einen Hinweis darauf, warum ich die Schminke trug: Niemand sagte mir, wie schön ich war. Jedenfalls sprach es niemand auf die Art und Weise aus, wie er es in dieser Sekunde getan hatte. Wie sollte ich mich also ohne Schminke wertschätzen, wo doch mein ganzes Leben nichts als Schminke war?
»Stören sich die Kinder an einem ungeschminkten Gesicht?«, fragte er, wobei seine Stimme mysteriös klang. Durch sie wurden all die anderen Geräusche um mich herum ausgeblendet. All das Schreien der Kinder, das Rauschen des warmen Frühlingswindes in den Bäumen, das Brummen der Autos und das Singen der Vögel verschwanden aus meinem Kopf. Ich fragte mich, wie er es nur schaffte, aus so etwas Einfachem wie dem Thema Schminke etwas unfassbar Wichtiges zu machen.
»Sie nicht …«, erwiderte ich diesmal schlagfertiger, obwohl ich mich ihm gegenüber fühlte wie ein unwissender Teenager. Dabei war es doch andersrum: Er dürfte vom Alter her der Teenager sein, während ich heute meinen neunundzwanzigsten Geburtstag feierte. »Aber vielleicht habe ich den Punkt in meinem Leben noch nicht vollends erreicht, wo ich morgens aufwache und zufrieden mit mir bin.«
Sein Mund öffnete sich, um auszuatmen. Dabei sickerte das erste Mal etwas zu mir durch, das auf eine tiefe Emotion in ihm hinwies. »Wie lange willst du darauf warten?«
Die Tatsache, dass er mich respektlos duzte, während ich ihn mit Sie angesprochen hatte, ließ mich sogleich lockerer werden, obwohl sie mich genauso auf dem Boden festnagelte, wie es sein durchdringender Blick tat. Mir kam es plötzlich so vor, als würde ich ihn schon seit Ewigkeiten kennen. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass er vielleicht gelogen hatte. Dass er nicht auf irgendjemanden wartete, sondern auf mich. Dass er möglicherweise mehr von mir wusste, als er es vorgab. Dass er eventuell sogar mit meiner vergessenen Vergangenheit zu tun hatte. Aus welchem anderen Grund könnte ich sonst so intensiv auf ihn reagieren?
»Wie lange wartet man schon auf etwas, das so wichtig ist?«, hauchte ich schließlich vollkommen erstickt von dieser Erkenntnis. Es war jedoch egal, ob und inwiefern er mit meiner ungewissen Vergangenheit in Verbindung stand, denn ich fühlte mich keinesfalls in der Lage dazu, ihn danach zu fragen. Ich wollte nur nicht, dass er ging. Dabei sollte ich allen Grund dazu haben, mich von ihm entfernen zu wollen: Er war respektlos, viel zu jung für mich, und mein Mann würde eifersüchtig sein, wenn er mich an seiner Seite ertappte.
Der Blick des Jungen senkte sich leicht. Das erste Mal streifte er vollkommen von meinem Körper weg und glitt hinter mich, wohingegen ich weiterhin nur in sein makelloses Gesicht starrte und mich fragte, warum er mich so sehr anzog. »Ich habe sechs Jahre lang gewartet«, sagte er langsam und ließ mich erstarren. Sechs Jahre war es her, dass ich aus unerklärlichen Gründen vor meinem Elternhaus aufgetaucht war. Sechs Jahre, in denen ich erfolglos versucht hatte, die jahrelange Lücke meines Lebens mit Erinnerungen zu füllen, die mich nicht mehr erreichen wollten.
»Und es vergeht noch immer kein Tag, ohne dass ich daran denken muss, was sein wird. Und was hätte sein können.« Als sich sein Blick nach diesen Worten wieder auf meine Augen konzentrierte, erschlug er mich mit dem Gefühl darin. Es war ein Schmerz, der von seinen Augen auf meine übersprang und mich quälte – beinahe mehr, als er ihn quälen musste. Ich wurde davon so sehr ergriffen, dass ich jeglichen Gedanken über die wichtige Verknüpfung zu meiner Vergangenheit wieder verlor. Spätestens dann, als ich sah, wie sich seine Hand hob, bis sie mich kaum merklich an meiner Wange berührte, verlor ich all die Kontrolle über meine Gedankenwelt und konnte nur noch dahinschmelzen.
»Doch ich weiß«, hauchte er kaum hörbar, ohne die Berührung zu unterlassen oder sie zu verringern, »dass ich … wenn ich jetzt gehe … mein Leben lang weiter warten werde. Und jeden weiteren Tag werde ich daran denken. Und jeden Tag werde ich hoffen, … dass meine Entscheidung richtig war.«
Ich konnte nur in die blauen Augen starren und fühlen, wie sie mich zum Brennen brachten. Alles in mir war so heiß, dass meine Vernunft verdampfte. Mit offenem Mund beobachtete ich, wie sein Kopf näher kam, bis er seitlich von meinem anhielt. Während seine zweite Hand zaghaft an meiner Hüfte lag, fühlte ich seinen Atem an meinem Ohr, was mich vollkommen verzweifeln ließ. Als sich dann seine Lippen für einen langen, explosiven Moment auf meine Wange pressten, spürte ich plötzlich alles, was der Junge nicht anhand seiner Mimik preisgegeben hatte: Sehnsucht, Schmerz, Angst, Wehleidigkeit, Demut, Hoffnung und doch nur Schmerz. Die Zärtlichkeit des Drucks seiner Hände rührte von der Sehnsucht her, die weder er noch ich hätten kontrollieren können, wenn der Druck fester gewesen wäre. Die Zartheit zeugte von der Selbstbeherrschung in ihm, welche jedoch nicht ausreichte, um den Kuss auf meiner Wange nur eine Sekunde andauern zu lassen. Stattdessen fühlte es sich an wie eine wundervolle Ewigkeit, bis er sich davon löste. Eine Ewigkeit, und doch viel zu kurz.
»Happy Birthday, Kimberly«, hauchte er mir dann ins Ohr, bevor er mir alles entzog und sich abwandte.
Ich konnte nicht glauben, was gerade passierte, sondern starrte einfach nur hinter diesem unfassbaren Typen her, der die Straße entlangging und hinter der nächsten Ecke verschwand. Dabei brannte mein Körper unter der erregten, wallenden Hitze, die er mir hinterlassen hatte. Sie wurde von einer unglaublich intensiven Sehnsucht in mir weiter angeheizt. Ich wünschte ihn mir zurück; wünschte eine klarere Erinnerung an alles, was eben geschehen war, als das, was mein Kopf noch vage zusammenbrachte. Doch das Brennen in mir nahm alles mit sich. Alles, bis auf diese Sehnsucht.
Die Hitze meines Körpers ließ mich aus dem Traum aufschrecken. Vollkommen perplex starrte ich in den leeren Raum hinein, bevor meine Hand von selbst über meine schweißnasse Stirn glitt. Das Gefühl aus dem Traum – der Schmerz und die Sehnsucht – ließen mich nicht los, obwohl ich im Golfhouse saß, wie ich es die letzten Wochen immer getan hatte. Schwer atmend schälte ich mich aus den Decken, die ich um mich gewickelt hatte, bevor ich eingeschlafen war. Mir war so kalt gewesen, dass auch die auf Anschlag hoch gedrehte Heizung nicht geholfen hatte. Jetzt erschien es mir in Marlons Zimmer wie in einer Sauna.
Kraftlos wankte ich ins Bad, wo ich mein Gesicht mit kühlem Wasser wusch, ehe ich in den Spiegel starrte und mir wünschte, jemand anderes sein zu können. Die mir gegenüberstehende Gestalt wirkte noch immer unfassbar müde, gestresst und verzweifelt, obwohl gerade heute – an Heiligabend – die Besinnung mein Gemüt erfassen sollte. Aber alles, was ich fühlte, war Sehnsucht.
Draußen begannen Wölfe zu heulen, was mein Herz zerriss. Ich wusste, ich sollte ein paar Vorbereitungen für den Abend treffen, denn alle Geschenke mussten noch eingepackt werden und das Zimmer sah unordentlich und chaotisch aus. Aber das freudige, erfüllte Jaulen der Wölfe zog mich hinaus aus Marlons einsamem Zimmer, über die Flure, bis hin zur Eingangstür, hinter der mir ein eisiger Wind entgegen blies. Der Boden war von seichten Flocken bedeckt, die sich im Laufe des Tages niedergelassen hatten. Ein paar Meter weiter entdeckte ich die vielen Pfotenabdrücke einer ganzen Wolfsgruppe. Seufzend folgte ich ihnen um das Haus herum, während ich meine Jacke enger um mich schlang und meinen dicken Schal so weit hochzog, dass er beinahe mein Gesicht bedeckte.
Auf der anderen Seite des gigantischen Gebäudes erspähte ich ein paar große Wolfsgestalten zwischen den nächstliegenden Bäumen. Sie tobten umher. Ob Marlon und Liam zusammen draußen waren, wusste ich nicht, denn sie waren unabhängig voneinander aus dem Zimmer gegangen und hatten mich dort alleingelassen, woraufhin mich eine noch viel größere Trägheit erfasst hatte, die mich schließlich in den Schlaf getrieben hatte. Jetzt konnte ich nur meinen kleinen Jungen ausmachen, der auf mich aufmerksam wurde, als ich mich gerade auf die kleine Bank niederließ, die an der Hauswand stand.
Mit fröhlichen, ausgelassenen Sprüngen kam der Liam-Wolf auf mich zu, was mich unwillkürlich zum Lächeln brachte, obwohl es zur gleichen Zeit in meiner Brust schmerzte. Aus den letzten Jahren wusste ich sehr wohl, wie es war, als Wolfsgruppe im Schnee herumzutoben, und ich liebte es, was es unerträglich machte, mich nicht verwandeln zu können. Ein kleiner Trost war die Berührung von Liams weichem Fell, als er seinen gigantischen Kopf auf meine Beine legte und die Schnauze unter der Innenseite meiner Jacke vergrub. Ich kicherte darüber und ließ meine Hände in dem dichten Grau versinken, während sich mein Oberkörper leicht nach vorne schob, damit ich noch mehr von seiner Wärme spüren konnte.
»Habt ihr Spaß?«, fragte ich lächelnd, obwohl ich wusste, dass er mir keine Antwort geben konnte, solange er sich nicht verwandelte. »Ist dir nicht langsam kalt an den Pfoten?«
Er gab ein grunzendes Wolfsgeräusch von sich, das von meiner Jacke verschluckt wurde. Offenbar hielt er es nicht für nötig, sich zurück zu verwandeln, was ich ihm jedoch nicht verübeln konnte. Als Mensch war es hier draußen unfassbar kalt, während ihn sein Wolfsfell vor dem beißenden Wind schützte. Langsam senkten sich ein paar weiße Flöckchen darauf hinab, die ich sachte wegstrich, als ich meine Hand über sein Fellkleid gleiten ließ.
»Wo ist dein Dad? Ist er bei euch oder mit den anderen unterwegs?«, wollte ich wissen.
Daraufhin zog Liam seinen Kopf ein Stück zurück, um mich aus den hellblauen Wolkenaugen anzublinken. Er bewegte ihn hin und her, was meine Antwort war: Marlon war mit dem Rest unserer Clique irgendwo im Wald. Und ich? Ich saß hier auf der eingefrorenen Bank, festgenagelt in meinem menschlichen Körper.
Bevor ich antworten konnte, kamen von links einige Wölfe angelaufen, die sich ausgelassen um Liam schlängelten, als würde er in ihrem Rudel zur Komplettierung fehlen. Amy und Collin strichen fast unauffällig an meinen Beinen entlang. Es war keine unbedeutende Geste. Sie begrüßten mich, hießen mich willkommen und fragten, ob ich nicht mitkommen wollte. Doch dass das nicht ging, wussten sie mittlerweile alle. Mit Amy hatte ich mich vor einigen Wochen ausgesprochen und die Gerüchte über Collin und mich aus der Welt geschafft, sodass all meine Freunde darüber Bescheid wussten, dass da nichts gewesen war. Monique und ich hingegen schwiegen uns seit Monaten nur an.
Mein Lächeln war gequält, aber ich musste es wehleidig hervorbringen, als ich sagte: »Na geht schon.«
Liams und Amys Blicke waren traurig, bevor sie sich alle entfernten und hintereinander her zum Wald schossen, in dem sie röchelnd und jauchzend vor Freude verschwanden. Nur einer blieb. Collin verwandelte sich zurück. Etwas unschlüssig blickte ich ihm entgegen, ehe er sich seufzend neben mir niederließ.
»Ich hab’ Mitleid mit dir«, sprach er es direkt aus.
Mein Blick glitt nach vorne in Richtung des Waldes, welcher unter der dünnen Schneedecke wunderschön aussah. Die Nachmittagssonne glitzerte darauf, als wäre er von Feenstaub bedeckt. »Brauchst du nicht«, murmelte ich, wobei sich meine Stimmung verfinsterte.
Er blieb einen Moment still. »Heute ist Weihnachten«, sagte er danach. »Du solltest nicht alleine sein.«
»Ich bin nicht alleine«, entgegnete ich sofort. Allerdings fühlte ich mich sehr wohl alleine; sogar dann, wenn jemand bei mir war.
»Ja«, erwiderte er wohl wissend, dass ich log. »Genau.«
Meine Lippen pressten sich einen Moment lang aufeinander, als ich mir eingestand, dass es eigentlich schön war, nicht allein auf dieser kalten Bank zu sitzen. Deswegen überwand ich mich und sprach ein ganz anderes Thema an, nur um etwas sagen zu können: »Das ist das erste Weihnachten seit Jahren, das wieder eine Bedeutung hat.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn du ein Werwolf bist, ist es doch bedeutungslos, ob du an diesem Tag Geschenke bekommst oder sie dir an irgendeinem anderen Tag selbst machst«, erklärte ich leise. »Wenn du nicht gerade gläubig bist, ist Weihnachten also unwichtig.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er die Stirn runzelte. »Und dieses Jahr ist es anders, weil?«
Wie hatte ich nur annehmen können, dass er meine Gedanken auf Anhieb verstand, wie Marlon es getan hätte? »Weil Liam dem doch eine Bedeutung zuweist. Er freut sich auf Geschenke, denn er kennt Weihnachten bisher nur als Zeit, in der Kinder beschenkt werden. Er weiß zwar, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, aber die Magie dahinter sieht er glaub ich trotzdem noch.«
»Dabei ist er ja gar kein Kind mehr.«
Ich verdrehte die Augen. »Körperlich nicht.«
»Auch vom Kopf her ist er deutlich darüber hinaus«, widersprach er. »Hörst du ihm mal zu, wenn er redet? Er spricht wie ein Erwachsener. Hat Gedanken wie ein Erwachsener. Bewegt sich wie ein Erwachsener. Ich staune immer wieder, wie schnell er lernt.«
»Evelynn auch«, murmelte ich und lächelte über den Gedanken, dass sie dieses Weihnachtsfest mit uns verbringen würde. Sie war schon seit heute Morgen hier, was ihr Charina und Stefan zu meiner Verwunderung erlaubt hatten. Mit diesen hatte ich noch am Mittag wegen Evelynns Geschenk telefoniert, das Marlon und ich ihr - anstatt ihrer richtigen Eltern - überreichen würden. Manchmal dachte ich, dass diese vielleicht glücklich darüber waren, ein paar Tage lang die herumschwirrenden, lauten Gefühle ihrer Tochter los zu sein, denn Eve - wie wir sie mittlerweile nannten - hatte ihre Fähigkeit bisher noch immer nicht unter Kontrolle bringen können. Lediglich wenn sie hier war, bekamen wir sie nicht mit, denn in Liams Nähe blieben ihre Gefühle stumm.
»Sie auch«, stimmte mir Collin zu. »Und die Campels erst recht.«
Unwohlsein durchzuckte mich, wenn ich an all die geborenen Werwölfe dachte, die zwanghaft eine so große Entwicklung hatten durchmachen müssen. So wie Liam innerhalb einiger Wochen zu einem ausgereiften Teenager geworden war, hatten sich Noah, Lena und Elias zu mittelmäßig alten Erwachsenen ausgebildet, was in meinen Augen noch okay war. Schlimmer hatte es Simon, Pierre und etliche andere geborene Werwölfe aus den anderen Clans getroffen.
Und mich, denn für mich gab es keine Möglichkeit, mein Altern zu stoppen, auch wenn es deutlich langsamer vonstattenging, als es die Entwicklung der geborenen Werwölfe getan hatte. Irgendwann würde auch ich uralt sein; obgleich ich im Stadium einer Siebzehnjährigen angefangen hatte, mich zu entwickeln. Und schließlich würde irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem mich der Tod ereilen würde – inmitten von jung gebliebenen Kreaturen, die sich meine Freunde nannten.
Ansonsten ging das Leben im Golfhouse weiter, wie es das immer getan hatte. Nur dass einige von uns plötzlich viel älter waren als vorher, was vor allem für die Campels einen großen Unterschied machte. Simon war hin- und hergerissen, welcher Gruppe er sich anschließen sollte. Und auch die Zwillinge und Noah blieben meist unter sich, da sie in keine bestehende Altersgruppe zu passen schienen, weil sie körperlich und geistig zwar älter waren als unsere Clique, von unserem Verständnis her jedoch immer jünger bleiben würden. Das passte nicht zusammen.
Liam gruppierte sich komischerweise flexibler ein, als sie es konnten. Vielleicht war es Marlon und mir zu verdanken, dass er sofort Anschluss in unserer Clique gefunden hatte. Aber auch ohne uns gab es da einen Freundeskreis, dem er sich vollständig zugehörig fühlte: andere geborene Werwölfe, die gerade mal ein paar Monate alt waren, so wie er und Evelynn. Er hatte sie kennen und mögen gelernt, als nach Jeromes Zeremonie all die geborenen Werwölfe bei uns im Golfhouse Unterschlupf gefunden hatten, bevor ihre Clans sie abgeholt hatten. Drei von ihnen waren ungefähr so alt wie mein Sohn und stammten aus winzigen Clans, die in den Vereinigten Staaten und Kanada ansässig waren. Sie hatten beschlossen, die Jahreswende zusammen zu feiern, was ich nur für gut verheißen konnte, da ich Liam den Kontakt zu echten Gleichaltrigen gönnte. Da das Golfhouse den meisten Platz bot, würden die jungen Werwölfe schon übermorgen zu uns kommen und für eine Woche hier verweilen.
Ein erneutes Heulen ertönte im Wald und riss mich aus meinen Gedanken. Es klang freudig und verspielt, doch mich packte es mitten im Herzen. Ich erwiderte nichts auf Collins Worte, denn die Sehnsucht schnürte mir die Kehle zu. Stattdessen saß ich nur da und starrte in den Wald hinein, während ich innerlich vom Schmerz zerfressen wurde.
Kimberly
»Oh«, stieß der blonde Werwolf neben mir irgendwann aus und lenkte meine Aufmerksamkeit damit zu sich. Doch sein Blick war nach links gerichtet, wo eine ganze Truppe an Wölfen aus dem Wald kam.
Es waren jene aus meinem Freundeskreis, die allesamt aus den Bäumen heraus auf die Wiese trabten. Marlons braunschwarzes Fell schüttelte ein paar Schneeflocken ab, bevor uns seine Wolfsaugen auf der Bank erfassten. Augenblicklich senkte sich sein Kopf in einer drohenden Geste hinab, während er seine Schritte verlangsamte, als auch die anderen Wölfe es taten.
»Ich räume schon das Feld«, kam von Collin, wobei er keinesfalls eingeschüchtert klang. Offenbar hatte er nur keine Lust auf eine Konfrontation, weshalb er einfach aufstand. Ich sah ihm hinterher, als er die Gestalt wechselte und lockeren Schrittes in den Wald lief, um der anderen Wolfsgruppe zu folgen.
Mein Schlucken war vermutlich für die Werwölfe gut zu hören, zumal diese immer näher kamen. Einige verwandelten sich vor mir zurück und begrüßten mich ganz normal; so als würde ich nicht schon den ganzen Tag allein herumsitzen und darauf warten, dass sich jemand von ihnen dazu erbarmte, mir Gesellschaft zu leisten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie vergaßen, wie angewiesen ich jetzt auf sie war. Wie verletzlich ich sein konnte und wie einsam ich mich fühlte. Sie vergaßen das alles – mein Mann nicht.
Er ließ sich mit finsterer Miene neben mir nieder und starrte Collin hinterher, welcher jedoch schon gar nicht mehr zu sehen war. Seine Hände, die mir Erlösung geboten hätten, blieben fröstelnd in den Taschen seiner Jacke, und der Blick, welcher mir Wärme gebracht hätte, traf nicht meine Augen, sondern strich nur über den Rest meines Körpers. »Warum bist du hier draußen in der Kälte?«, fragte er.
Meine Lippen pressten sich aufeinander, doch es fühlte sich durch die aufgeregten, ausgelassenen Gespräche der anderen zu laut um mich herum an, als dass er meine Worte hätte verstehen können. Deswegen wartete ich, bis das Gelächter ein bisschen leiser geworden war, um zu sagen: »Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen.«
Jetzt trafen sich unsere Blicke, jedoch waren sie nicht warm, sondern nur voller Schmerz. Mir war klar, dass er wusste, wie ich mich fühlte. Nur zog er daraus immer wieder den gleichen Schluss: In Silver Bay war ich nicht mehr gut aufgehoben. Für mich sah er hier keine Zukunft, denn er stellte sie sich so vor wie die letzten Monate: einsam, kränklich, verzweifelt und gelangweilt. Mir machte dieser Gedanke Angst; vor allem, wenn ich mir meinen Traum in Erinnerung rief, der mir realistisch echt vorgekommen war.
Marlon sagte nichts mehr, denn er wusste, dass ich seine Gedanken kannte. »Wollt ihr noch woanders hin?«, fragte ich stattdessen.
Er schüttelte sofort den Kopf, aber es war leicht zu wissen, dass es nicht stimmte, denn aus den Worten der anderen, die sich rund um die Bank wie ein Schwarm Insekten tummelten, hörte ich, dass sie sehr wohl noch in Richtung Magiehöhle laufen wollten.
»Geh ruhig mit ihnen«, beharrte ich deswegen.
Wieder schüttelte er den Kopf. Diesmal entdeckte ich dabei einen Ausdruck in seinen Augen, von dem ich unwillkürlich merkte, dass ich ihn vermisst hatte. Kurz darauf schob er seinen ganzen Körper näher zu mir, bis sich unsere Hüften berührten, bevor sich sein Arm um mich schlang. Sofort wurde mir ein bisschen wärmer – sowohl innen als auch außen – und ich konnte nicht anders, als mit meinen Händen seine freie zu ergreifen, um auch dort Halt zu gewinnen.
Ehe wir jedoch dazu kommen konnten, auch unsere Lippen miteinander zu vereinen, wurde mein Körper durchgeschüttelt, als sich ein Wolf mit Schwung auf den restlichen freien Platz der Bank manövrierte. Erschrocken sah ich zu Matt, welcher mit seinem Wolfslachen das Lachen der anderen untermalte, während er sich auf den dünnen Holzbrettern hin- und herbewegte. Ich fürchtete, dass die Bank uns gleich nicht mehr halten würde, wenn er sich mit seinem Gewicht so hastig darauf bewegte, und wollte gerade etwas sagen, da brachen die Bretter unter uns zusammen und mein Körper stürzte eine Etage tiefer. Geschockt sog ich die Luft ein, als mir das Ende eines zerbrochenen Brettes in den Rücken stieß.
»Matt«, war das erste böse Wort, das ich vernahm, während von den anderen nur Gelächter kam. »Was soll der Scheiß?«, fuhr Marlon den blonden Jungen an, der sich jetzt lachend zurückverwandelte.
Mir war nicht zum Lachen zumute, denn mir war schon in der ersten Sekunde klar, dass der entstandene Schmerz nicht sofort verschwinden. Womöglich würde er mich noch tagelang in Form von blauen Flecken begleiten. Marlon rappelte sich neben mir auf, wozu ich im ersten Moment noch viel zu perplex war, bis ich beim ersten Versuch bemerkte, dass mir auch die Kraft fehlte. Das zersplitterte Bretterwüst hatte sich in meine Jacke gegraben und sich mit der Watte darin verfangen, sodass es mich festhielt, als ich versuchte, hochzukommen.
Marlon beugte sich zu mir herab und ließ seine Hände unter meine Achseln gleiten, damit er mich auf diese Weise aus den Fängen der durchbrochenen Bretter lösen konnte. Er zog mich leichtfertig hoch, bis ich wackelig auf meinen eigenen Füßen stand.
Hinter ihm erschien Matt, der jetzt bemerkt zu haben schien, dass ich nicht ganz so glimpflich davongekommen war wie Marlon und er. Dennoch schien sein Gesicht nicht ernst zu sein, wobei er vermutlich von dem Gekicher der anderen angestachelt wurde, die durch Marlons Körper von mir abgeschirmt wurden. »Sorry Kim. Ich hab’ nicht über dich nachgedacht.«
Ich schluckte und wollte etwas sagen, doch dann spürte ich, wie Marlons Hand das Loch in meinem Jackenrücken ertastete. Er drehte mich um, sodass er es begutachten konnte. »Ist schon gut«, murmelte ich zu Matt.
»Oh Mist, damit hab’ ich nicht gerechnet«, sagte dieser mit großen Augen, als er die Jacke sah.
Unter Marlons Fingern schmerzte es, doch ich verzog nur meinen Mund und wiederholte: »Ist schon okay.«
»Ist es nicht, verdammt«, stieß mein Mann wütend hervor. Die Lautstärke seiner Worte ließ die anderen auf diese Konversation aufmerksam werden, was mir unangenehm war. Obwohl auch ich im ersten Moment sauer gewesen war, dass Matt so wenig Gedanken an meine Zerbrechlichkeit übrig hatte, wollte ich jetzt nicht, dass er zu viel darüber nachdachte. Sie alle sollten am besten einfach weghören, wenn der Schmerz darüber aus Marlon hinausströmte, als er sagte: »Sie steckt solche Kleinigkeiten jetzt nicht mehr so leicht weg wie wir. Schmerzen bleiben länger als nur ein paar Sekunden. Erinnerst du dich daran?«
»Komm mal wieder runter«, verteidigte sich Matt mit säuerlich gekräuselter Stirn.
»Dann denk mal ein bisschen mehr darüber nach«, fuhr Marlon ihn wütend an.
Matt baute sich auf, was er vermutlich nicht mal bewusst tat. »Entspann dich«, sagte er bitter. »Sie lebt ja noch.«
»Noch«, kam hart zurück und ließ endgültig alle verstummen.
Es wurde schwerer zu atmen, zumal ich das Gefühl hatte, jeder konnte es hören, weil es plötzlich so still um uns herum geworden war. Als ich schluckte und einen Schritt nach vorne trat, begegneten mir so viele Blicke, dass ich meinen sofort abwandte. Stattdessen ließ ich ihn meinen Händen folgen, als diese sich beruhigend um Marlons angespannten Arm legten. »Komm«, hauchte ich leise und zog daran, bis er seinen Blick wiederwillig von Matt löste und sich mit mir umdrehte.
Ohne ein weiteres Wort gingen wir von der erstarrten Gruppe weg. Ich wollte nicht länger in ihrer Nähe sein, wenn jetzt ganz sicher die Gespräche über das ausbrechen würden, was sie vorher nie wirklich realisiert zu haben schienen: die Tatsache, dass ich irgendwann nicht mehr bei ihnen sein würde. Dieser Zeitpunkt mochte noch in überaus ferner Zukunft liegen, doch in diesem Augenblick fühlte es sich an, als würde die Zeit nur so dahin rasen.
Wir sprachen nicht darüber, was passiert war, sondern liefen schweigend in Marlons Zimmer und bereiteten dieses auf eine Bescherung vor. Wir hatten keinen Weihnachtsbaum, was mich ein bisschen störte, weshalb ich diesen Mangel mit aufgehängten Lichterketten und haufenweise Kerzen zu bereinigen versuchte. Marlon ließ mich machen und räumte stattdessen den Rest auf, bevor er duschen ging. Wir taten das alles schweigend, denn es fühlte sich nicht so an, als bräuchten wir Wörter, um das auszudrücken, was wir fühlten.
Als wir schließlich mit allem fertig waren, zog ich mir ein winterliches Kleid über. Mit den Jahren hatte es sich merkwürdigerweise so eingespielt, dass an Weihnachten - beim gemeinsamen Essen im Speisesaal - alle sehr schick gekleidet herumliefen, was ich gerne mochte. Zu Weihnachten gefiel mir diese Tradition.
»So langsam müssten die beiden mal auftauchen, wenn sie noch pünktlich zum Essen kommen wollen«, war das erste, was Marlon zu mir sagte, seit wir reingekommen waren. Natürlich sprach er von Liam und Evelynn. Merkwürdigerweise hatten wir nicht mal eine Stunde gebraucht, um die Kleine sofort wieder in unser Kinderrepertoire aufzunehmen.
Ich presste die Lippen einen Momentlang aufeinander und wühlte dabei durch meine Kleidung hindurch. Daraus zog ich ein weiteres Winterkleid heraus, weil ich nicht glaubte, dass Eve so etwas besaß. Ich legte es ihr zusammen mit einer Strumpfhose raus, bevor ich mich endgültig zu Marlon umdrehte und seinen Blick erwiderte. Offenbar hatte er mich die ganze Zeit über beobachtet, denn sonst hätte ich mir das kleine Lächeln nicht erklären können, das kurz darauf auf seinen Lippen erschien und gleich danach wieder verblasste.
Der Moment wurde zerstört, als die Tür polternd aufging. Liam kam hereingestürzt und fuhr sich prompt durch die Haare, als er uns sah. »Wir sind spät dran, oder?«, fragte er sofort. Hinter ihm kam Evelynn weitaus weniger hektisch hereingetreten. Sie schloss bedächtig die Tür und ließ ihre leuchtend türkisen Augen durch den Raum gleiten.
»Nicht später als sonst auch«, sagte ich, musste aber trotzdem lächeln. »Geh hier duschen. Und du drüben, Evelynn«, wies ich die beiden an und hielt der Kleinen die Sachen hin, die ich eben aufs Bett gelegt hatte. »Ich suche dir Kleidung raus, Liam.«
Er grinste mich an und verschwand schon hinter der Tür zu unserem Badezimmer, ehe ich mit Evelynn Marlons Zimmer verließ, um nach nebenan zu gehen. »Muss ich ein Kleid tragen?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
»Es ist angebracht«, erwiderte ich. »Vielleicht ist dieses hier ein bisschen groß, aber du kannst es hinten schnüren, siehst du?« Ich deutete auf den Rücken des Kleides und lächelte sie aufmunternd an.
Sie seufzte nur und verschwand damit im anderen Bad. Daraufhin suchte ich in Liams Kleiderschrank, welchen er mittlerweile von mir übernommen hatte, geeignete Kleidung hinaus. Ihm gehörte jetzt mein komplettes Zimmer, was für mich keine Einbuße war, da ich es sowieso nie genutzt hatte.
Liam
Der Speisesaal sah ganz anders aus als sonst. Irgendjemand hatte viele Kerzen aufgestellt, die gleich eine romantische Atmosphäre schafften. Ansonsten war das große Deckenlicht gedämmt, sodass alle Leute viel hübscher aussahen als sonst, wenn sie in den Kerzenschein eingetaucht wurden. Oder lag es an den Farben, die sie heute alle ausströmten, dass sie so viel schöner wirkten? Das Grün waberte viel einheitlicher durch ihre Reihen als sonst und ließ mich selbst grün fühlen – friedlich, freudig und glücklich.
Auch an unserem Tisch in der hinteren Ecke waren die Gefühle fröhlicher als sonst. Vor allem dann, als Matt sich bei meiner Mom entschuldigte – für etwas, das ich nicht verstand – schienen auch die anderen erleichterter zu sein. Nur aus Mom und Dad wurde ich in letzter Zeit selten schlau. Zwischen ihnen war es ein ständiger Wechsel zwischen einem strahlenden, kräftigen, purpurfarbenen Rot und einem eingegrauten, hässlichen Gelb. Manchmal war auch Blau zu sehen oder ein anteilig graues sehnsüchtiges Orange. Ihre Farben waren für mich so verwirrend, dass ich irgendwann aufgehört hatte, mich zu fragen, was zwischen ihnen los war, denn augenscheinlich schien alles okay zu sein.
Ich wurde ein wenig nervös, während Ethan vorne etwas von der besinnlichen, friedlichen Zeit erzählte, denn bisher hatte ich ihn immer nur mit schlechten Dingen in Verbindung gebracht. Mit Moms Beerdigung zum Beispiel. Dass er heute in den Leuten viel positivere Emotionen auslöste, verwirrte mich. So war ich froh, dass wir irgendwann nach vorne gehen und uns das weitaus festlicher ausfallende Essen holen konnten.
Im Anschluss daran verließen wir den Speisesaal gegen zehn Uhr und gingen gemeinsam zurück zu Dads Zimmer, wo mich eine Überraschung erwartete: Auf dem Teppich vor dem Bett lagen einige Geschenke, verpackt in leuchtend goldenem Papier, das in dem Licht der angeschalteten Lichterketten glänzte, die an den Wänden hingen. Mir erschien es magisch, wie das Zimmer aussah und wie sich der Duft der angezündeten Kerzen zu einer lieblichen Kombination zusammenschloss.
»Am besten, ihr packt sie nacheinander aus«, kam von meiner Mom. »Sonst seid ihr in einer Minute damit fertig.« Ich hörte ihr an, wie gerne sie diesen Moment länger hinauszögern wollte und erfuhr den Grund, als ich meine Augen zu ihr zucken ließ: Auch sie war plötzlich in das friedliche Grün eingehüllt. Nur an manchen Stellen hing noch ein lästig verzweifeltes Quäntchen orangener Sehnsucht an ihr, oder ein violetter Schimmer Schmerz.
Mit einem Lächeln ließ ich mich auf dem weichen Teppich nieder und sah dann zu Eve, die es mir gleich tat. »Ladies first«, gab ich ihr den Vortritt und lächelte sie an.
Ihr Blick erhaschte meinen für ein paar Sekunden und wirkte dabei etwas nervös, doch als sie dann auf die Geschenke hinabsah, die mit unseren Namen gekennzeichnet waren, verflog die Nervosität. Sie wich Faszination. Mir gefiel es, wie sie bedächtig ihre kleinen Finger auf das erste Paket legte und die Enden des Geschenkpapiers aufknibbelte, obwohl mir die Geduld dazu gefehlt hätte. Währenddessen ließen sich meine Eltern neben uns auf der Bettkante nieder.
Als das goldene Papier von seinem Inhalt rutschte, war ich erst verwirrt darüber, was ich sah. Es war ein größerer Pappkarton, aus welchem Eve eine ganz merkwürdig aussehende Maschine herausholte. Sie sah aus wie ein metallischer, unlebendiger Skorpion, der sich selbst mit seinem Stachel ermordete. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, wohingegen Eves türkis leuchtende Augen groß wurden. »Woher wusstet ihr, dass …?«, sie ließ den Satz in der Luft hängen, während sie fasziniert über das silbern glänzende Ding strich.
»Die Nähmaschine ist von deinen Eltern«, erklärte mein Dad, als gerade das Radio eingeschaltet wurde, was im Hintergrund leise weihnachtliche Melodien dudelte.
»Wir wussten nicht, dass du gerne nähst«, fügte Mom hinzu. »Aber als wir es von deinen Eltern erfahren haben, dachten wir, brauchst du vielleicht auch noch etwas, das du mit dem Riesenteil verarbeiten kannst.« Sie schob mit dem ausgestreckten Fuß ein weiteres Päckchen näher an Evelynn, die es mit strahlendem Gesicht ergriff.
Ich konnte mir das Nähen nicht so ganz vorstellen, denn ich hatte noch nie gesehen, wie so etwas vonstattenging, deswegen runzelte ich verwirrt die Stirn und sah nur zu, wie sie das goldene Papier auseinanderfaltete. Darunter kamen einige Schichten Kleidung zum Vorschein. Sollte sie etwa Löcher flicken? Eve sah nicht so aus, als hätte man ihr die Drecksarbeit überlassen, die sonst keiner erledigen wollte, sondern schaute glücklich lächelnd zu meinen Eltern hoch, bevor ihr Blick meinem begegnete.
»Guck nicht so skeptisch«, sagte sie und musste lachen.
Ich versuchte, mein Gesicht zu entspannen, aber mir kam es immer noch zu merkwürdig vor, dass so ein Geschenk Freude bringen sollte. »Was ist das schon?«, meinte ich ehrlich und streckte mich, um an das erste rotfarbene Kleidungsstück zu kommen. Als ich es jedoch hochheben wollte, entfaltete und entpuppte es sich als etwas Langes, Weiches, Deckenartiges.
»Stoff«, sagte Evelynn. Sie strich fasziniert über das dunkle Rot. »Zum Nähen. Ich zeig’s dir, wenn wir die Maschine angeschlossen haben.«
Verblüfft ließ ich meinen Blick über all das gleiten und blieb schließlich an einem anderen Geschenk hängen, auf dem ihr Name stand. Ich schob es zu ihr hin, als ich den roten Stoff fallenließ.
»Das ist von uns«, informierte Mom sie, wobei ich ihr das Lächeln anhören konnte.
Jedoch sah ich nicht zu ihr, sondern blickte hinab auf die kleine Schatulle, die unter dem Gold zum Vorschein kam. Eve öffnete sie vorsichtig und legte damit eine silberne Kette frei, deren rundlicher Anhänger das Herzstück war. Ich rückte ein bisschen näher zu ihr, um besser erkennen zu können, was es war, denn ich war vermutlich genauso neugierig wie sie selbst, als sie die Kette aus der Schatulle holte und sie lang vor sich baumeln ließ. Der Anhänger war mit einigen kleinen Steinchen verziert, die ihn nicht zu prunkvoll aussehen ließen, jedoch auch nicht zu einfältig.
»Es ist ein Amulett«, kam von Mom. »Öffne es.«
Sie tat es, wobei ich vorher nicht bemerkt hatte, dass es diese Funktion gab. Im Inneren des Anhängers kam ein Bild zum Vorschein, auf dem Mom, Dad und ich zu sehen waren. Es war ein paar Tage nach Jeromes Zeremonie entstanden, wirkte aber deutlich glücklicher, als es diese Zeit insgesamt gewesen war. Zwar hatte das Bild nur eine Miniaturgröße, da es in den Anhänger passen musste, aber mit den Wolfsaugen konnte ich alles perfekt erkennen. So auch die lächelnden vertraut wirkenden Gesichter, die nebeneinander in die Kamera strahlten.
Eve wandte sich langsam zu meinen Eltern und streckte ihre Hand ganz ohne Scheu aus, um die meiner Mom zu ergreifen, welche sie glücklich anlächelte. »Danke«, hauchte sie. »Das ist wunderschön.«
»So hast du uns immer bei dir. Selbst wenn du nicht hier bist«, bemerkte ich verblüfft über den Gedanken.
Sie band mich in ihr Lächeln mit ein, bevor sie mir die Kette hinhielt. Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass ich sie ihr umlegen sollte, und ergriff sie dann ganz ohne Scheu. Evelynn zu berühren war keinesfalls mehr ungewohnt, wie es bei anderen Mädchen der Fall wäre, denn Eve war mir - trotz ihrer zwischenzeitig langen Abwesenheit - unheimlich vertraut. Daher verschwendete ich überhaupt keine Gedanken daran, was sie dachte, wenn ich mit meinen Fingern nah an ihrem Hals war und ihr Haar zur Seite strich. Sie war meine beste Freundin.
Als sie sich mit dem Amulett am Hals wieder zu mir drehte, wies sie mich auf meine eigenen Geschenke hin, die ich jetzt mit einem Lächeln ergriff. Anders als sie hielt ich mich nicht damit auf, die zugeklebten Enden des Goldpapiers aufzuknibbeln, sondern riss in einer Bewegung alles auf einmal ab. Darunter befand sich ein Karton, jedoch war er deutlich kleiner als der von der Nähmaschine, was mich positiv stimmte, dass mir meine Eltern keine schenkten. Stattdessen war es ein edel aussehendes Smartphone, das mir glanzvoll entgegen strahlte, als ich einen Knopf berührte. Ich wusste nicht, mit was ich als Geschenk gerechnet hatte, aber dieses Ding überraschte mich positiv.
»Wir wollten, dass du uns immer erreichen kannst, wenn du unterwegs bist«, erklärte Mom. »Deswegen sind alle wichtigen Nummern schon eingespeichert.«
»Danke«, murmelte ich, beeindruckt von der Technik, die auf alles perfekt reagierte, was ich dem kleinen Ding mitteilen wollte. »Das ist super.«
»Pack das nächste aus«, sagte Dad und zeigte an mir vorbei zu dem noch viel kleineren Geschenk.
Ich runzelte die Stirn, als ich es erblickte, und legte das Smartphone bedächtig zurück in den Karton, damit es noch eine Weile geschützt darin auf mich warten konnte. Glücklich riss ich auch das Papier des kleinen Pakets auf und war noch viel überraschter über dessen Inhalt, als ich es eben gewesen war: Darin befand sich nur ein kleiner Schlüssel auf einer genauso winzigen Karte. Und zwar ein Autoschlüssel auf einem Führerschein, der mein Bild trug.
Perplex und überwältigt zugleich fuhr ich zu meinen Eltern herum und starrte sie ungläubig an. Doch ihr Grinsen war Antwort genug: Sie schenkten mir tatsächlich ein Auto; mit passendem Führerschein, den ich nicht erst noch bestehen musste. »Ein etwas unübliches Geschenk für ein fünf Monate altes Kind«, meinte Dad grinsend. »Aber du willst doch gerne ein bisschen unabhängiger sein. Damit bist du es. Und so kannst du auch mal Eve besuchen, ohne dass wir Angst haben müssen, dass du als Wolf irgendwo in Mexiko landest.«
Mit Mac hatte ich schon ein paar Runden im Auto gedreht, deshalb wusste ich, wie es funktionierte. Dass Mom und Dad mir aber einfach so ein eigenes schenken würden, hatte ich nie vermutet. Der Gedanke daran, ganz alleine durch die Gegend fahren zu können, ohne von irgendwem aufgehalten zu werden, machte mich so aufgeregt, dass ich völlig unüberlegt aufsprang. »Können wir rausgehen und es uns ansehen?« Ich beugte mich zu Eve und packte sie am Arm, um sie hochzuziehen, was sie lachend mit sich machen ließ. Ihr fiel dabei der weiche Stoff aus den Händen, den sie gehalten hatte.
Meine Eltern tauschten einen lächelnden Blick, ehe Dad sich erhob. Im ersten Moment dachte ich, Mom würde direkt danach aufstehen, doch sie blieb sitzen, was unwillkürlich eine orange-blaue Färbung in den Raum legte. Deswegen dachte ich gar nicht lange nach, sondern griff auch ihre Hand und zog sie hoch, was trotz ihrer Größe leichter war als bei Eve, weil sie keinen Widerstand leisten konnte. »Komm schon Mom, du auch«, sagte ich zu ihr und schob sie grinsend vor mir aus her.
Sie kicherte über mein stürmisches Verhalten, aber ich war froh, dass sie nicht widersprach. Keiner tat es, als ich sie alle aus dem leuchtenden Zimmer scheuchte, hinaus auf den Flur. Es fühlte sich unglaublich gut an, als wir alle gleichzeitig lachten und diesmal keinen Gedanken an die deprimierende Zukunft verschwendeten, während wir raus zu meinem neuen Auto liefen. Es fühlte sich an wie Glück. Es fühlte sich an wie Familie.
Kimberly
»Glaubst du, er ist zufrieden?«, fragte Marlon, als er sich nur mit Boxershirts und einem T-Shirt bekleidet neben mich auf das Bett setzte.
Ich zog die Decke bis unter meine Achseln, während ich mich gegen mein Kopfkissen lehnte und die Augen zu ihm streifen ließ. »Ich denke schon. Es war zwar mengenmäßig nicht viel, aber …« Den Satz ließ ich so hängen, denn er wusste, was ich meinte. Schließlich waren weder das Handy noch das Auto oder der Führerschein kleine Präsente nebenbei gewesen.
»Er wirkte glücklich«, stimmte Marlon mir schließlich zu.
Unsere Blicke trafen sich und blieben eine Weile aneinander hängen, ohne dass ich erraten konnte, was er dachte. Schließlich sagte er: »Schließ die Augen.«
Überrascht lachte ich auf. »Was?«
»Mach sie zu«, wiederholte er, wobei seine Stimme so liebevoll klang wie sie es seit Ewigkeiten nicht getan hatte.
Verwirrt und belustigt zugleich tat ich es und konnte, sodass ich nur zuhören konnte, wie er sich bewegte. Die Schublade an seinem Nachttisch wurde aufgezogen und er hantierte kurz mit irgendetwas herum, ehe er mein Handgelenk ergriff, das dadurch kribbelte. Es war leicht zu wissen, dass er mir dort etwas Kühles, Hartes umlegte, aber ich war plötzlich zu aufgeregt, um auch fühlen zu können, wie groß es sein musste. »Oh nein, Marlon«, stieß ich hervor. »Wir haben doch gesagt, wir schenken uns nichts.«
»Ich konnte nicht anders«, kam leise zurück. »Mach die Augen auf.«
Ich tat es und blickte sofort hinab auf mein Handgelenk, wo er mir ein silbernes dünnes Kettchen umgelegt hatte, an dem hier und da kleine Perlen baumelten. Es waren winzige Schmuckstücke, die das Armband unglaublich edel und schön zugleich aussehen ließen. In einem davon entdeckte ich einen fein verarbeiteten Schriftzug mit den Worten Für immer.
Marlon fuhr mit seinem Finger über genau diese Perle, als er näher zu mir heranrückte, bis er genau neben mir über der Decke kniete. Ich blickte bewegt hinab auf das Schmuckstück und ließ auch meine Fingerkuppen vorsichtig darüber gleiten, bis sie seine trafen und sich sehnsüchtig ineinander verschränkten. »Du sollst es immer bei dir haben«, hauchte er, ehe er noch viel leiser hinten dranhängte: »Sogar, wenn du nicht hier bist.«
Danach hob sich mein Blick wehleidig an und traf seinen mit einer Qual darin, die in seinem eigenen Blick verdoppelt wurde. Diese Worte waren ähnlich wie die, welche Liam zu Eve gesagt hatte, als sie das Amulett ausgepackt hatte, nur dass sie in diesem Fall nicht von einigen hundert Kilometern Abstand sprachen, sondern von einem ganzen Leben dazwischen.
Mir stockten alle Wörter im Mund, was Marlon sehen musste. Vielleicht beschloss er deswegen, gar nicht auf eine Antwort zu warten, sondern einfach auf mich zuzukommen und mit seinen Lippen alles zu verschließen, das Worte hätte hervorbringen können. Trauer durchzog diesen Kuss, gespickt mit der beißenden Sehnsucht nach ihm und allem, was mit ihm verbunden war. Sie war die gleiche wie die aus dem Traum, nur dass sie sich in echt noch viel schrecklicher anfühlte.
»Was machst du denn hier?«, dröhnte mir die erste Frage entgegen, als ich am nächsten Vormittag in den Gemeinschaftsraum trat. Sie kam von Dave, der mitbekommen hatte, dass ich in den letzten Wochen eigentlich nie hierhergekommen war. Doch heute war Marlon mit Liam und Evelynn schon nach dem Frühstück losgezogen und mir war die Langeweile zu Kopf gestiegen.
»Darf ich nicht reinkommen?«, erwiderte ich, ließ mich aber demonstrativ neben Mac aufs Sofa fallen. Dieser legte ganz selbstverständlich seinen Arm um meine Schultern und drückte mich lächelnd an seine Seite, was mir ein gutes Gefühl bescherte. Wenigstens einer von ihnen war froh, dass ich hier war.
Neben ihm saß Leonie, worauf Dean folgte. Das andere Sofa wurde von Jason, Dave und Monique besetzt, wobei ich den Blick letzterer kurz auffing, bevor meiner zum Fernseher glitt. Dieser lief permanent, ohne dass sie darauf achteten. »Klar«, erwiderte Dave. »Aber es ist ein ungewohntes Bild.«
Ich verzog wegen seiner Aussage den Mund und ließ die Werwölfe dann wieder auf ihr nichtiges Thema zurückkommen, als wäre ich nie in den Raum getreten. Dabei wurde meine Aufmerksamkeit auf das Bild im Fernsehen gelenkt, das einen seriös aussehenden Mann in den Nachrichten zeigte. Vor ihm war eine Überschrift eingeblendet: Das kuriose Erdbeben im September beschäftigt die Wissenschaftler noch immer. Aufgeregt versuchte ich, zu verstehen, was gesagt wurde, weil mir sofort klar war, um welches Erdbeben es sich handeln musste: die Erschütterung durch Jeromes Zeremonie und das Erbeben beim Flughafen, welches Jeff und ich mit dem Gegenzauber ausgelöst hatten. Schon in den Tagen danach hatten sich die Medien darüber zerrissen, was wohl die Ursache für diese unerklärlichen Detonationen gewesen sein könnte.
»Stellt das mal lauter«, sagte ich schließlich, weil sich die anderen so laut unterhielten und der Fernseher im Vergleich dazu leise wie eine Maus war. Sie konnten sicherlich alles gut hören, was mir ihre Blicke bestätigten, aber ich war mit meinen schwachen Menschenohren nicht dazu in der Lage.
Leonie tat mir den Gefallen, sodass auch die Aufmerksamkeit der anderen letztlich auf den Bericht des Wissenschaftlers gelenkt wurde: »Wir gehen inzwischen davon aus, dass das Beben rund um den Flughafen ein Vorbeben der Erschütterung um zwei Uhr sechsundfünfzig war, da es der Stärke nach nicht an die Detonation im Bereich des Superior National Forest herankam. Unklar ist aber weiterhin, warum unsere Radare das Beben nicht im Vorfeld erfasst haben …«
»Warum beschäftigen die sich denn immer noch mit so unwichtigen Sachen?«, redete Matt in die Analyse des Wissenschaftlers hinein.
»Sie sind sowieso kein Stück weitergekommen«, stimmte Dean zu. »Genau das gleiche haben die doch schon vor Monaten gesagt.«
»Gut für uns«, murmelte ich leise und ließ mich langsam wieder entspannter auf meinen Platz sinken.
»Weniger gut sind die vermissten Personen«, warf Mac ein. Seine Hand auf meiner Schulter fühlte sich beruhigend an.
Mein Kopf drehte sich zu ihm. »Sind es schon wieder mehr geworden?«, fragte ich überrascht, denn nach meinem letzten Kenntnisstand waren es fünf vermisste Menschen, deren Verschwinden wir Jerome sofort zugeschrieben hatten, als wir durch die Medien davon erfahren hatten. Die Gegebenheiten waren einfach sehr passend: Die Menschen stammten alle aus derselben Gegend, hatten aber sonst keinerlei Verknüpfungen miteinander und waren vom einen auf den anderen Tag einfach verschwunden, ohne irgendeine Spur hinterlassen zu haben.
Er nickte. »Heute Morgen hab’ ich gehört, dass jetzt auch vier Leute aus Wisconsin vermisst werden. Schau mal, ich glaub da geht’s jetzt schon wieder drum.«
Er hatte recht: Im Fernsehen wurde von vier weiteren Menschen – Männern im Alter zwischen dreißig und vierzig – berichtet, von denen seit einigen Tagen jede Spur fehlte. Sie kamen alle aus Wisconsin, allerdings nicht aus derselben Stadt, was mich beunruhigte.
»Er wandert«, hauchte jemand in den Raum und ließ mich noch kleiner fühlen.
»Das macht es auf jeden Fall total schwer, ihn zu verfolgen«, sagte ein anderer.
Ich schluckte schwermütig. Einige Wochen, nachdem Jerome die Zeremonie durchgeführt hatte, war Lucas mit seiner Gruppe von Werwölfen zurückgekehrt, denn sie hatten seine Spur verloren und keinen Sinn mehr darin gesehen, orientierungslos die Gegend zu durchforsten. Ein paar Tage später waren die ersten Vermisstenmeldungen eingegangen. Seitdem konnten wir nur über die Medien verfolgen, wie er sich durchs Land bewegte und offenbar immer mehr Menschen einsammelte, die er zu einem großen Werwolfsrudel zusammenpferchte.
»Immerhin geht er noch diskret damit um«, sagte Dean. »Die Menschen wissen noch nichts von Werwölfen. Allerdings glaube ich nicht, dass er noch lange so weiterarbeiten wird. Schließlich ist es ja sein Ziel, alle Menschen von uns wissen zu lassen.«
Monique schnaubte, was mich nervös machte. Obwohl es jetzt schon Wochen her war, dass wir uns gestritten hatten, störte mich ihre Anwesenheit noch immer und ich hegte nicht die Absicht, auf sie zuzugehen, um unseren Groll aus dem Weg zu schaffen. »Dafür braucht er aber erst mal noch ein paar Werwölfe«, sagte sie zu Dean. »Wenn er sich jetzt schon outet, nimmt ihn ja keiner ernst. Nicht einmal die Menschen.«
»Ich glaube nicht, dass diese neun Personen die einzigen sind, die er schon auf seiner Seite hat«, murmelte Mac. Unruhig drehte ich meinen Kopf zu ihm hoch, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Er hatte ja schon Hilfe, als er in dem Haus im Wald war, wo er dich umgebracht hat. Das heißt, er hatte schon vor der Zeremonie mindestens drei Gehilfen. Einer davon sitzt immer noch bei uns im Verlies.«
Ich verzog den Mund, als ich darüber nachdachte. Der Werwolf, welcher seit meinem Tod hier gefangen gehalten wurde, tat mir mittlerweile sogar leid. Er hatte – jedenfalls nach meinem Kenntnisstand - all sein Wissen an uns weitergegeben, weshalb wir ihn nicht mehr gebrauchen konnten. Die Gefahr, dass er zu Jerome lief und ihm von uns erzählte, war jedoch zu groß, um ihn freizulassen, also saß er noch immer bei uns fest, weil keiner wusste, was wir mit ihm anfangen sollten.
»Wann hat er das Elixier wohl aufgebraucht?«, fragte Leonie. »Vielleicht könnten wir es einfach zerstören, wenn wir irgendwie an ihn rankommen. Dann war’s das mit den verschwundenen Menschen. Und seine Weltherrschaft kann er sich auch abschminken.«
»Aber vorher nehmen wir ein paar Tropfen raus, damit wir Kim wieder zum Werwolf machen können«, sagte Jason, der diesbezüglich gut aufgepasst hatte.
Jedoch nicht so gut wie Jeff, der mir die Schwierigkeit dieser Angelegenheit schon vor Wochen klargemacht hatte: »Es kann gut sein, dass es mich nicht zum Werwolf macht, sondern mich umbringt, als wäre ich noch einer.«
Er runzelte verwirrt die Stirn, wie es auch Dave, Leonie und Matt taten. Monique hingegen verzog keine Miene und Mac kannte das Problem schon. »Wieso denn das?«, fragte Jason.
Ich schluckte mein Unbehagen so gut es ging runter und verlagerte mein Gewicht, um ihnen zugewandter zu sein, als ich erwiderte: »Ich hab’ noch immer mehr Magie in meinem Körper als ein normaler Mensch. Vielleicht würde es mich schon allein deshalb umbringen. Es kann aber auch sein, dass es mich töten würde, weil es eigentlich schon beim ersten Mal dazu da gewesen wäre. Da war nur der Wiederauferstehungszauber im Weg. Jeff sagt, die Magie im Elixier würde das erkennen. Er weiß nicht, was passieren könnte.«
»Das heißt, das Risiko, es zu versuchen, wäre einfach zu hoch, richtig?«, murmelte Leonie niedergeschlagen.
Missmutig nickte ich, während Mac seufzte, als er sich zurücklehnte. Damit zog er meine Aufmerksamkeit auf sich, woraufhin unsere Augen aneinander hängenblieben. »Zur Zeit hilft dir nichts als das Warten darauf, dass es vielleicht von alleine wieder passiert.«
»An meinem Zustand hat sich aber bis jetzt nichts geändert«, erwiderte ich leise und fühlte mich schlecht, weil sich das Thema jetzt um mich und meine Menschlichkeit drehte. »Es hätte ja sein können, dass mein Schutzschild irgendwann wieder stärker wird, oder meine Sinne irgendwann wieder besser. Aber nichts davon ist der Fall.«
Ein paar bedrückte Seufzer gingen durch unsere Gruppe und ließen mich noch schlechter fühlen. Ich hatte nicht vorgehabt, ihnen die Laune zu verderben, musste aber gestehen, dass meine plötzlich auch wieder ganz unten war.
Mein Blick glitt hinab auf mein Handgelenk, wo ich das neue Armband betrachtete, das sich hübsch um meine blasse Haut schmiegte. Ich war Marlon dankbar, dass er mir ein Geschenk gemacht hatte, freute mich über das schöne Schmuckstück und fand auch Gefallen an dem Gedanken, immer etwas von ihm bei mir zu tragen. Aber dass ich es jetzt schon trug, fühlte sich zugleich so an, als sei es ein Abschiedsgeschenk gewesen. Die anderen wussten nichts von der Idee, zurück nach Arcata zu gehen, denn so weit, dass Simon mir meine Erinnerung nehmen konnte, hatten sie sicherlich nicht gedacht. Außer Mac vielleicht, der mich manchmal wissend ansah, als hätte er schon eine dunkle Ahnung, die er sich nicht traute auszusprechen, für den Fall, dass ich selbst noch nicht den Gedanken gehabt hatte, den er mir dadurch als Idee in den Kopf pflanzen würde. Aber gesprochen hatte ich bisher mit niemandem darüber, was ich auch nicht vorhatte. Schließlich wusste ich selbst noch nicht, ob ich diese Möglichkeit nutzen wollte oder nicht.
Liam
Ich war glücklich. Vor allem dann, wenn die Farben um mich herum glücklich waren – das hieß, wenn sie grün waren. Aber auch Rot wirkte manchmal glücklich, wobei es mir schwerer fiel, die verschiedenen Nuancen zu deuten als bei dem glücklichen, friedlichen, hoffnungsvollen, freudigen Grün. Manchmal flackerte das glückliche Rot zwischen zwei Personen auf und ich erwischte mich einen Moment lang bei der Sehnsucht, es auch haben zu wollen.
An diesem Abend sah ich es nach langer Zeit wieder direkt vor meiner Nase wachsen. Es lenkte mich irgendwann so sehr ab, dass ich gar nicht mehr wirklich auf mein Handy konzentriert war, mit dem ich eigentlich auf der Bettkante saß. Mein Blick glitt stattdessen immer wieder zu Dad, der auf dem Schreibtischstuhl saß und gar nichts tat. Nichts als Mom anzusehen und dabei das Rot aus sich heraussprudeln zu lassen, bis es den grauvioletten Schmerz bald übertrumpfte. Mom wiederrum hockte mit Eve auf dem Teppichboden vor einem Haufen Stoff und sortierte die verschiedenen Lagen auseinander. Dabei warfen die warm schimmernden Lämpchen der Lichterketten funkelndes Licht auf die beiden, während das Radio Hits aus den Siebzigern dudelte.
Verwundert beobachtete ich Dad, als er sich irgendwann von dem Schreibtischstuhl erhob und ungeachtet irgendeiner der beiden Frauen zu dem Fernseher lief, um die Lautstärke ein bisschen aufzudrehen. Danach kam er zurück und hielt vor Mom und Eve, nur um schweigend seine bittende Hand zu seiner Frau auszustrecken, die erst jetzt überrascht darauf sah. Als sich ihre Blicke trafen, explodierte das gleiche Rot, das schon die ganze Zeit aus Dad strömte, auch bei Mom. Sie ergriff lächelnd seine Finger und ließ sich von ihm aufhelfen, bevor sie ohne irgendein Wort zu der alten Musik zu tanzen begannen.
Aus irgendeinem Grund musste ich darüber schmunzeln, ehe ich mich elegant vom Bett hinab zu Eve gleiten ließ, die direkt daneben auf dem Teppich saß und meinen Eltern grinsend zuschaute. »Das sieht so schön aus«, hauchte sie.
Skeptisch begutachtete ich die Tanzenden näher. Beobachtete wie Dads rechte Hand in der Senke von Moms Rücken lag und ihren Körper damit ganz nah an seinen holte, während seine andere Hand mit ihrer in der Luft schwebte. Diese Haltung an sich wirkte auf mich eigenartig, doch ich verstand, was Eve meinte: die Präzision, mit der sie sich zusammen bewegten, ohne sich gegenseitig auf den Füßen zu stehen oder in der Bewegung zu stocken. Sie waren so nah aneinander, dass sie durch ihre Bewegungen aussahen, als seien sie nur ein Wesen. Eine große, rot erfüllte Kreatur, die keinesfalls getrennt gehörte. Sogar dann, als sie sich aus der Enge lösten, weil Dad meine Mutter für eine grazil aussehende Drehung von sich wegschickte, schienen sie nicht getrennt zu sein.
Mom lachte, weil sie beim Weg zurück zu Dad stolperte, nicht aber fiel, denn er bot ihr so kräftigen Halt, dass sie trotzdem sicher auf ihren Füßen war. Dieses Lachen erhellte das Rot und machte es kräftiger, während Dads Lippen sich zu einem selbstsicheren, von rot getränkten, liebevollen Lächeln verzogen. Noch immer verließ kein Wort ihre Münder, was ich aus irgendeinem Grund total beeindruckend fand.
Während ich neben Eve hockte, sah ich den beiden zu, wie sie sich glücklich rot leuchtend umeinander drehten, räkelten und tanzten, bis das Lied irgendwann zu Ende war und von der Stimme des Radiosprechers abgelöst wurde. »Das will ich auch können«, hauchte Eve neben mir, während meine Eltern sich lächelnd in die Augen starrten. Eves Worte zerrissen ihren roten Moment, trübten die Farbe aber nicht so stark, wie ich erst vermutet hatte.
Stattdessen beugte Dad sich mit einem Grinsen zu ihr vor und hielt ihr die Hand hin, wie er es zuvor bei Mom getan hatte. »Darf ich bitten, Madame?«
Ihre Augen starrten Dad überrumpelt an, aber sie war wohl so fasziniert von dem Gedanken, ebenfalls tanzen zu können, dass sie ihre Scheu überwand und sich von ihm aufhelfen ließ. Sofort war auch ich auf den Beinen und schritt auf Mom zu, die lächelnd neben Dad und Eve stand, als der große Mann dem winzigen Mädchen erklärte, wie sie sich bewegen musste. Neben ihr sah er aus wie ein Riese. Wahrscheinlich war es ein ähnliches Bild wie jenes, wenn ich neben ihr stand – da ich genauso groß wie Dad war -, aber in meiner Empfindung musste der Kontrast zwischen ihnen noch viel größer sein. Würde ich die Augen schließen und allein von meinen Gefühlen entscheiden müssen, wie Dad aussah, würde ich ihn als eine feste, stämmige, wetterunabhängige Eiche beschreiben, der nichts auf der Welt etwas anhaben konnte. Bei Mom war es komischerweise ähnlich, obwohl ich wusste, dass sie durch ihre Menschlichkeit keineswegs mehr so stark war wie zuvor. Für diese riesige Vorstellung von ihr reichten jedoch ihre mentale Stärke, die unerschütterliche Liebe und ihr ungezwungener Mut.
Eve war dagegen eher eine Blume. Vielleicht trug sie an manchen Stellen Dornen, die sie zumindest teilweise resistent machten, aber doch war sie nur ein schwaches Gewächs, das leicht entwurzelt werden konnte. Eine Rose. Wunderschön anzuschauen, aber doch ganz schwach. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie in meiner Gegenwart zu einem stärkeren Wesen wurde und zeitweise sogar einen stabilen Stamm bekam. Diese Momente waren es, die mir alles gaben, was ich zur Aufrechterhaltung unserer Freundschaft brauchte, denn durch sie wusste ich, dass Eve mich mochte. Dass sie auf mich angewiesen war, wie ich manchmal auf sie angewiesen war.
»Darf ich bitten?«, fragte ich Mom und streckte meine Hand zu ihr aus.
Sie grinste und schritt auf mich zu, während sie sich schon so positionierte, wie sie es mit Dad getan hatte. Dabei redete der Radiosprecher noch immer im Hintergrund, was jedoch nicht schlimm war, da sie mir zunächst erklären musste, wie ich meine Füße zu bewegen hatte und wie meine Hände auf ihrem Körper liegen mussten.
»Verdammt«, fluchte Dad, als dann endlich ein Song eingespielt wurde. »Dazu können wir das nicht tanzen. Warte.« Er ließ Eve los und lief zum Radio, um es auszuschalten, bevor er seinen Weg zur Stereoanlage fortsetzte, wo er einen Moment lang an ein paar Knöpfen herumfummelte. Schließlich ertönte daraus Musik, die dem Song gleichkam, zu dem er und Mom getanzt hatten.
Ein bisschen aufgeregt ließ ich mich daraufhin von meiner Mom durchs Zimmer schieben. Sie wies mich an, zerrte mich nach links und rechts, drehte sich mit mir und betonte dabei immer, dass ich derjenige sein sollte, der den Tanz anführte. Erst nach einigen Wiederholungsschritten hatte ich das Muster verstanden und konnte sie tatsächlich führen, was sie lächelnd belobte.
So lernten Eve und ich an diesem Weihnachtsabend einen klassischen Tanz, bis wir es schließlich auch allein konnten, ohne von meinen Eltern hin- und hergeschoben werden zu müssen. Merkwürdigerweise war ich danach so erschöpft, dass ich froh war, als ich mich nebenan umziehen konnte und das Bett nah war.
»Willst du noch’n Film gucken?«, fragte ich Eve, während ich nur mit Jogginghose bekleidet ins Bad lief, wo sie sich die Zähne putzte. Ihre Kleidung hatte sie schon gewechselt, sodass auch sie jetzt eine Schlafhose und ein T-Shirt trug.
»Von mir aus«, nuschelte sie ihre Antwort, kurz bevor sie die Zahnpasta ins Becken spuckte und ihren Mund ausspülte. Ich griff derweil die Bürste und zog sie durch meine braunen Haare, die mittlerweile einen Schnitt hatten, der sich nur noch minimal veränderte, weil das Wachstum nicht mehr so stark war wie unter Jeromes Einfluss. Der Wasserhahn lief weiter, als Eve schon mit dem Ausspülen fertig war. »Übernachte ich eigentlich auch noch bei dir, wenn die anderen hier sind? Oder schmeißt du mich dann raus?«
Mein Mund verzog sich gespielt kritisch. »Ist mir schon ein bisschen peinlich«, gestand ich ironisch. »Kannst du dir vorstellen, was die dann von uns denken?«
Unsere Blicke trafen sich, aber da Eve grundsätzlich schüchtern und selbstkritisch war, brauchte sie tatsächlich ein paar Sekunden Zeit, bis sie meine Ironie heraushörte. Dann grinste sie und ließ durch eine schnelle Bewegung unterm laufenden Krahn Wasser zu mir spritzen, das mich auf meine nackte Brust traf. Lachend wandte ich mich ab, schmiss die Bürste auf ihren Platz und wehrte mit dem Handtuch vom Badewannenrand die nassen Hände ab, die mehr kaltes Wasser auf mir verteilen wollten, bis Eve schließlich lachend aufgab. »Du Idiot«, schimpfte sie, ehe sie das Wasser abstellte.
Grinsend wischte ich mir die Tropfen vom Oberkörper, bevor ich das Handtuch weghängte und mir mein T-Shirt überstreifte. »Klar darfst du weiter hierbleiben«, erwiderte ich schließlich ernst, als ich ihr ins Hauptzimmer folgte. »Es sei denn, du willst gerne mit Carry oder Jessica in einem Zimmer übernachten.«
Sie ließ sich schnaubend auf ihre Seite vom Bett fallen, wo sie die Taste auf der Fernbedienung drückte, die den Fernseher einschaltete. »Vielleicht sollte ich zu Carry aufs Zimmer. Dann kann Jessy dieses Bett mit dir einnehmen.« Ihr neckisches Grinsen begleitete das Zucken der Augenbrauen, das mich aufziehen sollte.
Sie wusste davon, dass ich mit Jessica seit unserer letzten Begegnung ab und zu Nachrichten hin- und herschickte, wobei wir nicht nur Smalltalk betrieben, sondern uns auch über tiefgreifendere Dinge unterhielten. Eve hatte daher die Theorie aufgestellt, dass Jessy – wie wir sie nannten – was mich betraf vielleicht ein bisschen über die Freundschaft hinaussah, die uns alle verband. Sie war durchaus ein hübsches Mädchen; mit gelbblonden, mittellangen Haaren, blauen Augen und einer schlanken, aber kräftigen Statur. Vom Charakter her war sie genauso offen und unvoreingenommen wie wir alle; bis auf Eve.
Carry – das dritte geborene Werwolfsmädchen – kannte Jessica seit sie denken konnte, denn Jerome hatte sie entführt und die beiden Mädchen mit einigen älteren geborenen Werwölfen festgehalten, bis zur Durchführung der Zeremonie. Sie war vom Charakter her trotz dieser vermeintlich traumatisierenden Vergangenheit genauso aufgeschlossen und tapfer wie Jessy, denn die beiden hatten die grundlegende Einstellung angenommen, alles im Leben so zu nehmen, wie es gerade kam. Carrys kräftiger Charakter wurde auch durch die Stärke ihres Körpers reflektiert. Dunkle, fast schwarze Haare, die sie meist zu einem Zopf zusammengebunden trug, und ebenso dunkle Augen verliehen ihr einen mystischen Ausdruck, den sie sich gegenüber anderen gern zu Nutzen machte.
Nick und Jordan – die zwei anderen Jungs meines Alters – hatten sich nicht gekannt, als sie zwangsweise durch Jeromes Zeremonie zusammengeführt worden waren. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit hatten sie sich, als sie im Golfhouse angekommen waren, sofort gut verstanden, bevor sie auch mit Carry, Jessy, Eve und mir Kontakt aufgenommen hatten. Wohingegen Nick mit seinen dunklen Haaren, den grünlichen Augen und dem selbstbewussten Charakter manchmal arrogant rüberkam, war Jordan eher unscheinbar. Seine hellbraunen Haare und die gewöhnlichen braunen Augen gingen vermeintlich häufig unter, weshalb es am Anfang länger gedauert hatte, bis ich ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Vielleicht mochte ich sie beide genau wegen ihrer Unterschiedlichkeit so gern: Nick, weil seine Persönlichkeit meiner glich, und Jordan, weil er eben nicht wie ich war.
Insgesamt verband unsere kleine Gruppe das Schicksal, welches uns so brutal aus unserer Kindheit herausgerissen hatte. Sie alle waren schon einige Monate nach ihrer Geburt in Jeromes Fänge geraten, was mir glücklicherweise erspart geblieben war. Dennoch hatten wir uns alle gleich schnell entwickelt und keiner unserer Eltern war bei unserer Geburt älter als zwanzig gewesen, was uns nun sowohl geistig als auch körperlich auf den gleichen Stand brachte. Möglicherweise hatten wir uns aus diesem Grund von unserer ersten Begegnung an so verbunden gefühlt.
Wir alle – bis auf Eve. Sie hinkte mit ihren tierisch selbstzerstörerischen Gedanken und den unaufhaltsam veräußernden Gefühlen manchmal hinterher, denn sie hatte in meinen Augen zu wenig Selbstbewusstsein, um glücklich sein zu können. Dass ihre Gefühle für jeden ein offenes Buch waren, wenn sie nicht gerade in meiner Nähe war, setzte ihr zu jeder Zeit ihres Lebens zu. Deswegen wusste ich - auch ohne dass sie es gesagt hatte und ohne ihre Farben sehen zu können -, dass sie tief im Innern ein wenig Angst vor dem Moment hatte, wo die anderen hier ankommen würden. Als all die geborenen Werwölfe nach Jeromes Zeremonie im Golfhouse gewesen waren, hatte sie sich geschickt davor gedrückt, ohne mich Zeit mit unserem neuen Freundeskreis zu verbringen, weil sie sich vor dessen Reaktion auf ihre Fähigkeit gefürchtet hatte. Wenn sie jetzt jedoch zu Besuch kommen würden, konnte sie diesem Zeitpunkt irgendwann nicht mehr aus dem Weg gehen.
»Dieses Bett ist für dich reserviert«, antwortete ich ihr deshalb und grinste sie verspielt an, als ich mich unter meine Decke schob und mir die zweite Decke ebenfalls bis oben hochzog. Mit meinen drei Kissen verschanzte ich mich in einer Burg aus Daunen, die mir ein mollig wohliges Gefühl gab, als sie mich vollständig einhüllte, bis nur noch mein Kopf frei war.
Eve lächelte darüber, wie sie es immer tat, wenn ich in meinen Kuschelwahn verfiel, blieb dabei aber unter ihrer einzelnen Decke liegen und richtete ihre Augen auf den Fernseher. »Wie gütig von dir.«
»So bin ich«, murmelte ich und erwiderte ihr Grinsen, bevor ich mich auch auf den Film im Fernsehen konzentrierte. Sie wird schon sehen, dass es nicht schlimm wird, dachte ich dabei. Ich jedenfalls freute mich auf übermorgen. Auf die anderen. Auf Gleichgesinnte.
Marlon
»Ich bin’s«, schallte leise durch den Telefonlautsprecher, nachdem sie mich begrüßt hatte.
»Peggy«, stieß ich überrascht hervor. Mein Blick glitt zurück zu den anderen Werwölfen, von denen ich mich schon ein paar Meter entfernt hatte, als ich die unbekannte Nummer auf meinem Handy gesehen hatte. Obwohl ich überrumpelt war, freute ich mich unwillkürlich darüber, ihre Stimme zu hören.
»Frohe Weihnachten«, wünschte sie, wobei ich hörte, dass sie sich unsicher darüber war, ob sie dieses Telefonat tatsächlich mit mir führen sollte. Vermutlich fürchtete sie, dass ich keinen Kontakt mehr haben wollte.
Aber meine Brust durchzuckte lediglich ein freudiges Gefühl, obwohl mir die fragenden Blicke der anderen auf dem Rücken lasteten, während ich mich weiter von ihnen entfernte. Meine Beine trugen mich langsam in Richtung Waldrand, um mehr Abstand zu ihnen zu gewinnen, damit sie nicht alles hören konnten, während ich antwortete: »Danke, dir auch. Wie geht’s dir?«
»Gut gut«, erwiderte sie. »Bin ein bisschen erkältet, aber wer ist das bei den Temperaturen schon nicht?«
»Mich hat’s bisher verschont.« Meine freie Hand griff nach einem winzigen Aststummel, der kahl vom Baum abstand. Er fühlte sich trocken unter meiner Haut an, als ich ihn hin- und herbog. »Pass nur auf, dass du Jenna-Lynn nicht ansteckst.«
»Ach, der geht’s super. Sogar hier in Arizona hat’s geschneit. Ich konnte es nicht glauben. Aber so hat Jenna das erste Mal Schnee kennengelernt.«
Ich lächelte den Ast an und bog ihn noch weiter, ehe ich mich so drehte, dass ich zu den anderen zurückschauen konnte. »Liam auch«, murmelte ich und betrachtete den großen Jungen, der zwischen seiner Mutter und Evelynn stand und sich mit letzterer unterhielt. Mac, Dean, Amy und Sabrina tummelten sich um den dreien. Wohingegen Kim mit ihren Menschenohren sicherlich nichts von dem verstand, was Peggy oder ich sagten, konnten die anderen meine Worte hören. Aber von ihnen allen war Kim die einzige, die mit unergründlichem Blick hierherschaute und mich unwillkürlich schlecht fühlen ließ.
»Gefällt es ihm?«
»Ja.«
»Jenna liebt den Winter«, kam zurück, wobei Peggy sich jetzt sicherer anhörte. Allerdings klang sie sehr dumpf, was ich auf ihre Erkältung zurückführte.
Wegen meiner Rüttelei an dem Ast fielen einige Schneeflöckchen vom eingeschneiten Baum hinab. Sie landeten wie kleine Seegelflugzeuge auf meinen Schultern, wo sie sich mit dem weichen Stoff meiner Jacke vermischten. »Das hat sie wohl von dir.«
Das Lachen klang leise durch den Hörer und brachte mich auch zum Lächeln. Doch dieses erstarb langsam, als sie danach mit viel ernsterem Tonfall fragte: »Du … warst du eigentlich nochmal bei Dad, bevor du zurückgeflogen bist?«
»Hat er dir das nicht erzählt?« Überrascht darüber zog ich meine Stirn in Falten.
»Genaugenommen hat er ein paar Tage lang gar nicht mit mir geredet«, erwiderte sie bitter. »Ich hab’ nicht mal gewusst warum. Und als er es wieder getan hat, hab’ ich es vermieden, von dir zu sprechen.«
Unwillkürlich schluckte ich den Hass
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte an diesem Buch gehören der Autorin © Ela Maus.
Bildmaterialien: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2017
ISBN: 978-3-7438-3414-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieser Band der Schattenwölfe-Reihe ist einem treuen Freund gewidmet, der aufgrund der Entstehung dieses Bandes leider viel zu kurz gekommen ist.