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Familienleben

Marlon

 

Noch bevor wir bei ihnen angekommen waren, hörte ich ein aufgeregtes, entzücktes Quieken, das von einem der Mädchen kam, auf die wir zusteuerten. »Da ist er ja«, schob sie gleich hinterher und stürmte auf uns zu. Ronia war genauso rar bekleidet wie die anderen Mädchen, was daran lag, dass sie den wohl letzten warmen Tag in diesem Jahr dazu nutzten, sich zu sonnen. Dafür hatten sie sich Decken mitgenommen und sich draußen auf die große Wiese vor dem Golfhouse hingelegt, auf welche die Sonne erbarmungslos drauf knallte.

»Gib ihn mir«, quengelte Ronia, als sie bei mir angekommen war, und entzog mir prompt den kleinen Körper aus den Armen, der das alles interessiert über sich ergehen ließ.

Ich beließ das unkommentiert, denn ich kannte ihre Faszination für meinen Sohn mittlerweile, und belächelte nur die Art, mit der sie gleich darauf anfing, mit ihm zu reden und ihn in ihren Armen zu wiegen. Währenddessen lief sie neben Mac und mir wieder zu den Decken, von wo aus uns vier weitere Augenpaare anblickten, die zu Mädchen in Bikinis gehörten.

»Wir dachten, ihr könntet mal ‘ne Abkühlung gebrauchen«, informierte Mac sie und hob den Korb an, in dem wir kalte Getränke aus dem Speisesaal mitgebracht hatten.

»Das ist eine super Idee«, erwiderte Monique, die sich daraufhin aufsetzte. »Wir hatten schon überlegt, hier einen Pool aufzustellen, aber die Getränke gehen natürlich schneller.«

Auch Sabrina und Amy erhoben sich, damit sie die Flasche von Mac entgegen nehmen konnten, zumal sie zuvor mit dem Rücken zu uns gedreht gewesen waren. Nur die blonde Schönheit, die ich meine Frau nennen durfte, blieb auf dem Rücken liegen und lächelte mich von unten herab an. Ich ließ mich vor ihrem Kopf niedersinken und hob ihn so, dass sie ihn in meinen Schoß legen konnte. Während ich hörte, wie sich die anderen Mädchen über die Getränke hermachten und Mac sich auf die Decke zu ihnen setzte, beugte ich mich zu Kims Gesicht hinab und legte meine Lippen verkehrtherum auf die ihren. Sie lächelte in den Kuss hinein, ehe ich mich wieder von ihr löste und meinen Blick über ihren Körper streifen ließ. Dass sie erst vor ein paar Wochen ein Kind bekommen hatte, sah man ihr nicht an. Schon ein paar Tage nach der Geburt hatte ihr Körper wieder dem einer wunderschönen schlanken Göttin geglichen.

»Bist du nicht schon längst verbrannt?«, fragte ich und fuhr mit der Hand über ihren Arm, der von der Sonne so aufgeheizt war, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie warm ihr sein musste.

Sie grinste. »Es geht noch.«

»Hey«, machte Mac uns auf sich aufmerksam und ließ gleich darauf eine Flasche über die Decke zu uns rüber rollen, die Kim ergriff.

»Danke«, sagte sie, während sie sie öffnete und bedächtig an ihren Mund führte, um dabei in der liegenden Position nichts zu verschütten.

Monique erhob sich und streckte sich einmal, ehe sie die Decke neu richtete, die sich teilweise in Falten gezogen hatte. »Wo ist eigentlich Dave? War der nicht mit euch im Gemeinschaftsraum?«, fragte sie dabei mit einem mürrischen Unterton.

Ich wusste, dass es in ihrer Beziehung schon seit einigen Monaten kriselte und dass sie sich häufiger stritten als früher. »Ja, der ist noch drinnen«, erwiderte ich ihr wahrheitsgemäß, wobei ich schon ahnte, dass sie sich darüber aufregen würde.

»Na toll«, erwiderte sie - wie erwartet - ironisch. »Ihr kommt raus, um uns zu besuchen, aber er hat wahrscheinlich nicht mal darüber nachgedacht, dass ich mich gefreut hätte, wenn er auch hergekommen wäre.«

Keiner erwiderte etwas, bis Kim vorsichtig sagte: »Wahrscheinlich spielt er gerade noch seine Partie zu Ende. Du weißt doch, wie sie dann sind.«

»Hey«, protestierte Mac, während ich zu ihren Worten hinzufügte: »Ich glaube er war dran, als wir raus gegangen sind.« Es stimmte nicht, aber ich wollte die beiden nicht noch weiter auf den Kriegsfuß führen. Außerdem war ich es nicht gewohnt, dass Beziehungsprobleme so offen vor allen Leuten diskutiert wurden, weshalb ich mir wünschte, sie würde nicht mehr davon reden. Bei mir und Kim war es immer anders, selbst wenn wir mal Streit hatten oder – so wie vor Liams Geburt – sogar getrennte Wege gingen.

Auch Mac und Vanessa hatten alles im Stillen geklärt, bis sie von jetzt auf gleich bekanntgegeben hatten, dass sie die Beziehung beendet hatten. Das war ein paar Wochen nach Liams Geburt gewesen, weshalb Kims erste Vermutung gewesen war, dass Nessa sich ernsthafte Gedanken über ihre eigene Familienplanung gemacht hatte, wozu Mac definitiv noch nicht bereit war. Durch meine Gespräche mit Mac hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Probleme der beiden eher daran lagen, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Jetzt waren sie schon ein paar Wochen getrennt und offenbar wollte keiner der beiden etwas an diesem Zustand ändern, wobei Mac damit ganz gut klarzukommen schien. Vanessa war hingegen letzte Woche mit Selin und Leonie nach Spanien geflogen, um dort ein paar Wochen Urlaub zu machen. Uns war allen klar, dass diese Flucht mit dem Beziehungsaus zu tun hatte.  

»Wie war denn euer Spieleturnier?«, fragte Ronia und unterbrach damit meine Gedanken, während sie sich neben uns auf die Decke setzte. Liam ließ sie vor sich hinab, wo ihn gleich darauf Kim ergriff. Sie setzte sich auf, um ihn in ihre Arme zu nehmen und ihm einen Kuss auf den Kopf zu geben.

»Ganz lustig«, erwiderte Mac.

Im Hintergrund hörte ich, wie Monique leise mit Sabrina weiter über Dave sprach, doch ich ignorierte das und stimmte Macs Antwort mit einem Nicken zu. »Eigentlich sind wir noch mitten drin, aber dann ist Liam aufgewacht«, ergänzte ich.

»Ach«, stieß Kim hervor. »Und da dachtest du, wenn das Kind wach ist, bring ich es mal schnell zur Mama, damit die sich darum kümmert, he?« Sie grinste mich dabei an, wodurch ihr schnippischer Tonfall entkräftet wurde.

Ich biss mir auf die Unterlippe, als hätte sie mich erwischt. »Was denkst du von mir? Ich hatte Sehnsucht nach dir«, erwiderte ich in gespielt empörten Ton.  

»Lass dir das nicht einreden, Kim«, kam von Ronia, während Mac theatralisch pfiff und sich dann lachend mit dem Rücken auf den Boden gleiten ließ, wo ihm die Sonne ins Gesicht schien.

Ich grinste ihn an und sah dann zu Liam, der in Kims Armen lag und mit seinen Fingern den Träger des Bikini-Oberteils zu fassen bekommen wollte. Er hatte mittlerweile schon dichtere Haare auf dem Kopf, die dunkel wie meine waren. Auch seine Augen glichen noch dem Blau, das sie am Tage seiner Geburt gehabt hatten, obwohl Kim behauptete, dass es schon dunkler geworden sei. Ich sah diese Veränderung nicht. Nur eins war seit seiner Geburt glasklar: egal ob er dunkel- oder hellblaue Augen haben würde – er sah so oder so aus wie ich. Das lag nicht nur an den markanten Merkmalen wie Augen- und Haarfarbe, sondern auch an den Gesichtszügen, die weit mehr den meinen glichen als denen von Kim. Jedoch meinte ich, sie in ihm erkennen zu können, wenn er lächelte. Jedenfalls brachte er manchmal einen Gesichtsausdruck hervor, der ein Lächeln vermuten ließ und ihn dadurch strahlend machte wie ein leuchtender Stern am nächtlichen Himmel. Ganz nach seiner Mutter.

»Ihr habt euch aber ein sehr öffentliches Plätzchen für eure Sonnenstunden ausgesucht«, bemerkte Mac nach einer Weile. Ich blickte mich um und musste ihm zustimmen. Da wir uns hier beim vorderen Teil des Golfhouses befanden, von wo aus man sogar das offizielle Golfhouse – also das kleine Nebengebäude - sehen konnte, waren wir nicht von anderen Werwölfen abgeschirmt, die durch das große schwarze Tor ein- und ausgingen.

Mein Blick folgte den Zwillingen aus der Familie der Unbekannten, die sich mittlerweile gut in unsere Golfhouse-Gesellschaft eingegliedert hatten. Sie liefen über den Weg in Richtung Eingangstür. Aufgrund der längeren Zeit, die sie bisher hier verbracht hatten, hießen sie nicht mehr bei allen die Unbekannten. Viele hatten sich angewöhnt, sie nach ihrem Familiennamen Campel zu benennen. Ihr älterer Bruder Simon verbrachte viel Zeit mit uns, da wir die Einzigen in seinem Alter waren. Ich mochte ihn nicht zuletzt deswegen, weil er Kim geholfen hatte, aus dem zusammenstürzenden Erdberg heraus zu kommen. Er war auch sonst ein netter Kerl, der sich seiner Verantwortung gegenüber seiner Geschwister sehr bewusst war. Er kümmerte sich viel um sie. Ganz besonders der jüngste Bruder Noah hatte eine starke, leitende Hand nötig. Er hatte sich mittlerweile zwar von dem Trauma erholt, das ihm durch die Isolation von sämtlichen Bezugspersonen zugefügt worden war, jedoch schien er in unserer Gesellschaft noch keinen Anschluss gefunden zu haben. Wie auch? Wir hatten hier keinen jungen Werwolf, bis auf Liam. Aber mein Sohn war noch lange nicht so alt, dass er für Noah ein Freund werden könnte.

»Wir wollten auch eigentlich auf die andere Seite«, erklärte Amanda. »Aber da war Schatten.« Auch Amy hatte sich gut mit unserer Jugendgruppe identifiziert, zumal sie Kims Unterstützung gehabt hatte. Diese hatte ihr Informantenkind überall mit hin genommen, um sie so schnell wie möglich mit den Anderen vertraut zu machen, sodass Amy jetzt zu einem festen Mitglied in unserer Gruppe geworden war.

»Und wir wollten schließlich noch ein bisschen braun werden. Morgen soll’s schon wieder regnen«, ergänzte Sabrina. Sie war in den letzten Jahren vermehrt wieder zu Ronia zurückgekehrt und hatte damit Selin - ihr Informantenkind - freigelassen. Diese verbrachte zunehmend Zeit mit Vanessa und Leonie, wovon erstere die neu dazugewonnene Freundschaft gut gebrauchen konnte. Selin gehörte angesichts der Tatsache, dass sie nie wirklich in Wheeler gelebt hatte, ohnehin eher zu den Stammleuten aus Silver Bay, weshalb sie gut zu Nessa und Leo passte. Sabrina hingegen kannte ich schon aus Wheeler, sodass sie zu dem kleinen Kreis an Werwölfen zählte, der das Leben dort kennengelernt hatte.

Während Mac sich weiter mit den Mädchen unterhielt, betrachtete ich wieder Kim und Liam. Der Kleine hatte gerade angefangen zu murren und ich wusste, dass er gleich schreien würde, wenn er nichts zu essen bekam. Dieser Gedanke erinnerte mich gleichermaßen daran, dass es auch für mich Zeit zum Abendessen war.

»Ich glaub, da hat jemand Hunger«, fasste Kim meine Gedanken auf. Sie drehte ihren Kopf zu mir und schaute mich fragend an.

»Sollen wir rein gehen?«, sprach ich die Frage laut aus und erhob mich schon, bevor sie überhaupt geantwortet hatte.

Sie nickte und reichte mir Liam, den ich liebevoll in meinen Armen einschloss und gegen meine Brust drückte. »Schh«, redete ich auf ihn ein. »Du kriegst sofort was.« Ich wog ihn sanft hin und her, während Kim alles einsammelte, was sie mit raus genommen hatte. Wir gingen daraufhin gemeinsam ins Golfhouse, um Liam zu füttern.

»Glaubst du, wenn das mit Monique und Dave so weitergeht, trennen sie sich irgendwann, so wie Mac und Nessa?«, fragte mich Kim kurz vor unserem Zimmer.

Ich warf ihr einen Blick zu, der von dem Beruhigungsversuch unseres Kindes gestresst sein musste. »Keine Ahnung. Sie ist doch deine beste Freundin«, erwiderte ich.

Sie verzog den Mund und öffnete für mich die Zimmertür, sodass ich mit Liam eintreten konnte. Dahinter stellte sie ihre Tasche auf den Boden, nahm mir das Kind ab und setzte sich mit ihm aufs Bett, um ihn zu stillen. »Ich hab’ in letzter Zeit kaum mit ihr geredet. Also nie unter vier Augen«, sagte sie dabei, denn Liam war jetzt endlich ruhig und sog gierig an ihrer Brust. »Sie hat momentan so viel mit Ronia und Sabrina zu tun. Und mit Jason redet sie auch viel, ist dir das aufgefallen?«

Ich nickte, während ich begann, das Zimmer aufzuräumen, da überall Babytücher und Windelpackungen rumlagen. Dazwischen flogen meine T-Shirts und Boxershorts rum und Handtücher aus dem Badezimmer lagen über den Stuhl verteilt. Nur von Kim sah man nichts, denn sie räumte ihre Sachen immer gleich weg, was ich sehr an ihr zu schätzen wusste. »Ich hab’ sie ein paar Mal zusammen im Speisesaal gesehen. Und du bist zurzeit mehr mit Amy unterwegs als mit Monique«, stellte ich fest, was keinesfalls ein Vorwurf sein sollte.

»Ja, ich weiß«, erwiderte sie. »Monique versteht mich nicht so richtig. Deswegen vermeide ich das Thema Dave, weil ich Monique mit meinen Ratschlägen sowieso nicht helfen kann. Bei ihnen ist es so anders als bei uns. Amy versteht mich da besser, deswegen ist es angenehmer, mit ihr zu sprechen.«

»Ich weiß«, erwiderte ich und verschwand mit dem Haufen an Handtüchern im Bad.

»Musst du nicht nochmal in den Gemeinschaftsraum, um das Turnier für dich zu gewinnen?«, fragte Kim lauter.

»Ja, vielleicht gehe ich gleich noch kurz hin. Oder …«, ich zögerte einen Moment, ehe ich wieder in den Türrahmen trat, um sie anzusehen, »oder ich gehe jetzt. Dann können wir gleich zusammen essen gehen.«

Sie lächelte leicht und nickte. »Geh ruhig. Ich mach das hier fertig und muss mich dann eh noch umziehen.«

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das von ihrer Gutmütigkeit beeindruckt war. »Okay«, erwiderte ich, wollte zur Tür gehen, überlegte es mir dann jedoch nochmal anders. Ich lief erst zum Bett, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich Liam mit der Hand über den Kopf, ehe ich das Zimmer verließ und in Richtung Gemeinschaftsraum steuerte.

Das euphorische Glücksgefühl, das ich bis dahin gehabt hatte, verflog augenblicklich, als ich eintrat und den blonden Jungen auf dem Platz sitzen sah, der gerade noch meiner gewesen war. Neben ihm stand sogar noch der Kinderwagen, den ich vorhin hier drin stehen gelassen hatte, und es schien ihn nicht mal zu stören, dass er halb auf einer von Liams Kuscheldecken saß, die ich über die Sofalehne ausgebreitet hatte.

Neben Collin grölten Jason und Dave, die gerade dabei waren, gegeneinander das Videospiel zu spielen. Matt und Dean fieberten auf dem anderen Sofa fleißig mit und schlossen Wetten ab, wer von den beiden gewinnen würde. Simon saß grinsend auf dem Sessel und verfolgte das Rennen.

Wenn er bei uns war, war Collin meistens auch da. Die beiden verstanden sich gut, was Simon zwar nicht unsympathischer machte, Collin jedoch auch nicht sympathischer. Obwohl er zu meinem Leidwesen oft in meiner Nähe war, hatte ich seit unserer Auseinandersetzung kein Wort mit ihm gesprochen, da ich noch immer befürchtete, auf ihn losgehen zu müssen, wenn er nur eine falsche Bemerkung machte. Ich hatte zwar keine Angst davor, dass zwischen ihm und Kim wieder etwas passieren würde, aber die Erinnerung von dem Kuss zwischen den beiden schwebte mir noch immer so präsent vor den Augen herum, dass ich ständig Wut empfand, wenn er in meiner Nähe war. Ich konnte mir kaum erklären, wie ihn die Anderen sympathisch finden konnten. Lediglich Mac, welchem ich lang und breit seine Gedankenwelt erklärt hatte, hielt sich zurück, wenn es darum ging, mit Collin zu reden. Er verstand meine Skepsis und lehnte ihn ähnlich ab, wie ich es tat. Die Anderen wussten nichts von der Sache zwischen ihm und Kim. Bis auf Mac, Monique und Amy hatte keiner eine Ahnung davon.

»Da bist du ja wieder«, sagte Dean, als er für ein paar Sekunden seine Augen vom Bildschirm losriss. »Wo ist Mac?«

»Noch draußen«, antwortete ich. »Dein Typ wurde übrigens verlangt, Dave.«

Er schnaubte. »Ich bin gerade beschäftigt.«

Ich erwiderte daraufhin nichts, denn mehr als es ihm zu sagen, konnte ich nicht tun, wenn ich nicht riskieren wollte, mich in ihre Beziehungsprobleme einzumischen. Stattdessen stand ich nur weiterhin im Türrahmen und starrte einen Moment lang auf das Rennen, bis Jason es mit einem lauten Gejohle gewann.

»Willst du noch weiter spielen? Simon und Collin sind vorhin für euch eingesprungen«, informierte mich Matt.

Da ich ihn anblickte, konnte ich nur aus dem Augenwinkel erkennen, wie sich der andere blonde Kopf zu mir hin drehte, und ich hätte seinen Blick niemals erwidert, wenn er nicht den Mund aufgemacht hätte: »Ich hab’ dich gut ersetzt. Hab’ sogar gewonnen«, sagte er in einem Tonfall, der wohl lustig klingen sollte. In meinen Ohren hallte er nach wie das Echo des Teufels, der mich immer wieder auf seine niederträchtige Tat hinwies. Er hat mich ersetzt, schoss es mir durch den Kopf und ließ ein Stück des Schmerzes wieder aufkeimen, obwohl ich mich krampfhaft dagegen wehrte, misstrauisch zu werden.

Daher überlagerte ich dieses Gefühl mit der Wut auf diesen Jungen, die mich jedoch sogleich dazu veranlasst hätte, ihn zu schlagen, wenn nicht in diesem Moment Monique hinter mir aufgetaucht wäre. Sie wollte durch die Tür in den Raum hinein. »Machst du mal bitte Platz?«, fragte sie mit genervter Stimme.

Ich antwortete keinem von ihnen und war froh darum, dass die Anderen jetzt darüber diskutierten, welche Strecke gefahren werden sollte, sodass sie mein Schweigen gar nicht bemerkten. Collin sah ebenfalls wieder nach vorne, bis ich Liams Decke griff und sie ruckartig unter ihm weg zog, um sie in den Kinderwagen zu legen. Sein Blick lastete danach auf mir, doch ich erwiderte ihn nicht mehr. Ich verließ einfach den Raum und schob dabei den Kinderwagen vor mir her.

Als ich wieder ins Zimmer kam, war Kim angezogen. Sie lächelte mich an, schnappte sich Liam und setzte ihn in den Kinderwagen, mit dem wir dann zum Speisesaal fuhren, ohne dass ich ein Wort über Collin verlor. Kim wirkte so glücklich, dass ich ihre Laune nicht mit meinem Missmut zerstören wollte.

Nach dem Essen verschwanden wir auf unser Zimmer, obwohl die Anderen noch in den Gemeinschaftsraum gingen. Durch die kurzen Nächte, die oftmals nicht besonders viel Schlaf boten, da Liam regelmäßig aufwachte und Hunger hatte, waren Kim und ich immer sehr müde. So hatten wir es uns angewöhnt, schlafen zu gehen, wenn auch Liam das erste Mal am Abend einschlief, damit wir ein paar wertvolle Stunden Schlaf dazugewannen.

Im Zimmer zeigte er jedoch überhaupt keine Anzeichen, schon müde zu sein. Stattdessen brabbelte er munter irgendwelche Laute daher, während ich mich diesmal mit Kims Hilfe daran machte, das Zimmer auf Vordermann zu bringen. So war es wesentlich effektiver. Als ich nichts mehr zum Aufräumen fand, sie jedoch noch immer irgendwas hin und her räumte, kam mir wieder ein Gedanke in den Kopf, über den wir schon ein paar Mal gesprochen hatten. »Soll ich mich mal vor ihm verwandeln?«, fragte ich sie und sah zu Liam rüber, der noch immer munter war.

Sie kam aus dem Bad zurück und blickte mich kritisch an. »Du kannst es versuchen. Vielleicht nimmt er auch überhaupt nicht wahr, dass du dich veränderst.«

Ich dachte noch kurz darüber nach, ehe ich auf Liam zu ging, der auf seiner Kuscheldecke lag, und trotzdem genug Abstand hielt, damit ich ihn nicht berührte, wenn ich in Wolfsgestalt war. »Liam«, sprach ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Er hörte erst beim zweiten Mal und sah zu mir, wobei ich mir nicht sicher war, ob er es wegen meines Rufens tat oder aus reinem Interesse.

»Sei vorsichtig«, mahnte mich Kim. »Nicht, dass du ihn dabei erwischst.«

Ich antwortete ihr nicht mehr, sondern verwandelte mich in den großen braunen Wolf. Jetzt war ich deutlich näher bei Liam. Er sah mich noch immer an, doch seine Reaktion fiel nicht sonderlich spektakulär aus. Offensichtlich war ihm gar nicht bewusst, was für ein Monster vor ihm stand, so wie Kim es vermutet hatte. Es war nicht so, dass er noch nie einen Wolf aus der Nähe gesehen hatte. Wir hatten ihn schon mit ein paar davon in Berührung gebracht, allerdings hatte sich noch nie jemand direkt vor seiner Nase verwandelt, da wir befürchtet hatten, ihn zu verängstigen. Dass er die Verwandlung gar nicht zur Kenntnis nahm, beruhigte mich.

Langsam ließ ich mich auf den Bauch niedersinken und krabbelte ganz vorsichtig näher an ihn heran, bis meine Pfoten links und rechts von seinen kleinen Händen lagen, mit denen er sofort danach zu greifen versuchte. Da er dabei jedoch auf dem Bauch lag und sowohl in die eine Richtung als auch in die andere greifen wollte, waren seine Bemühungen eher kontraproduktiv, sodass er sich in der Mitte hin und her wandte. Ich bot ihm daher meine feuchte Wolfsnase an, mit der ich mich seinem Gesicht näherte, bis ich ihn an der Wange berührte. Daraufhin zielte er mit seinen tastfreudigen Händen nach vorne und betastete meine Schnauze, die ich direkt vor ihm auf den Boden legte, damit er es nicht so schwer hatte.

Hinter mir hörte ich Kim verblüfft lachen. »Also Angst hat er überhaupt keine. Dabei würde er fast zweimal in dein Maul passen.«

Ich konnte schlecht etwas erwidern, aber als Mensch hätte ich geschmunzelt, denn sie hatte Recht. Liam war im Vergleich zu meinem Wolfskörper so winzig wie eine hübsche Blume. Er hatte seit seiner Geburt zwar schon ordentlich zugenommen und war auch sichtlich gewachsen, aber er wirkte noch immer so mickrig und zerbrechlich wie am ersten Tag.

Kim nahm den Kleinen vorsichtig hoch, wogegen er protestierte, indem er wieder anfing zu brabbeln. Er versuchte, sich nach mir zu strecken. Sie lachte erneut und sagte: »Willst du wieder zu Papa? Na gut, aber nur kurz. Es ist Zeit für’s Bett, mein Kleiner.« Dann setzte sie ihn neben mich, wo er fast in meinem Fell verschwand, als er sich gegen meine Seite drückte.

»Pass kurz auf ihn auf ja? Ich gehe in der Zeit eben ins Bad. Vielleicht ist er dann eingeschlafen«, informierte sie mich.

Ich sah ihr hinterher, als sie hinter der Tür verschwand, und wandte meinen Kopf danach zu Liam, der ruhig in meinem Fell liegen geblieben war und es offensichtlich mochte, den warmen Wolfskörper zu berühren.

Bis Kim wieder raus kam dauerte es einen Moment, in dem ich beobachten konnte, wie die Augen des Kleinen immer winziger wurden, bis sie schließlich zufielen. Zu diesem Zeitpunkt war er runter gerutscht, sodass er nur noch mit der Seite an mich gedrückt war und ansonsten komplett auf dem Teppichboden lag.

»Ist er eingeschlafen?«, fragte Kim, als sie aus dem Bad kam.

Ich konnte nichts erwidern, aber sie nahm ihn schon vorsichtig auf und wollte sich gerade mit ihm aufrichten, da öffneten sich seine Augen und er gab ein Geräusch von sich, das vermuten ließ, dass er gleich losbrüllen würde. Ihr Blick schoss zu mir und sie senkte ihre Arme, bis er wieder neben mir lag, wo er leise wurde und sich seine Augen schlossen.

Verwundert machte Kim einige Schritte zurück, ehe sie sich verwandelte, um mit mir reden zu können. »Sollen wir ihn erst mal da liegen lassen und ihn später ins Bett bringen, wenn er tiefer schläft?«, fragte sie mich.

»Ja«, erwiderte ich. »Ich passe auf, dass ich ihn nicht zerquetsche.«

»Okay.« Sie zögerte daraufhin einen Moment, bis sie sich dazu entschied, in der Wolfsgestalt zu bleiben und sich neben mich zu legen. Da ich mit der einen Seite nah am Bett lag und auch noch Liam dazwischen war, kuschelte sie sich auf der anderen Seite an mich. Unser Fell vermischte sich und Wärme ging von ihrem Körper auf meinen über.

»Ich liebe dich«, hörte ich sie sagen. Es war leise und doch ausdrucksstark, was mein Inneres zum Leuchten brachte.

Ein Wolfslächeln entstand in meinem Gesicht, das sie nicht sehen konnte. »Ich dich auch«, erwiderte ich ebenso leise. Sie drückte sich daraufhin näher an mich und gab ein zufriedenes wölfisches Brummen von sich, das sich bald mit unseren Atemzügen vermischte.

Altes gegen Neues

Kimberly

 

Nachdem Liam in der Nacht aufgewacht und Milch zu sich genommen hatte, konnten Marlon und ich als Menschen im Bett schlafen. Der Kleine war nach seiner Mahlzeit noch so müde, dass er nicht protestierte, als Marlon ihn in sein Kinderbett legte.

Da der nächste Morgen ein Sonntag war, bekam Liam am Morgen nochmal seinen Hunger gestillt und wir blieben dennoch bis kurz vor zehn im Bett liegen, um den verpassten Schlaf aus der Nacht nachzuholen. Als ich dann vollends aufwachte und ins Bad ging, um mich dort fertig zu machen, brabbelte Liam - von den Holzstäben des Bettes eingezäunt - munter seine unverständlichen Laute vor sich hin, die es für Marlon unmöglich machten, weiter zu schlafen.

»Möchtest du noch hier bleiben?«, fragte ich ihn trotzdem.

 »Ja«, kam ein gemurmelter Laut zurück.

»Bringst du Liam mit oder soll ich ihn jetzt schon mitnehmen?«

»Ich bring ihn mit.«

Ich kam wieder aus dem Bad und registrierte dabei seine verschlafene Aufmachung, ehe mein Blick zu Liam glitt. Er wirkte als könnte er es verkraften, noch ein paar Minuten länger in seinem Bett zu bleiben, daher verabschiedete ich mich von Marlon und lief in den Speisesaal zum Frühstücken.

Dort saßen Monique, Dave, Jason und Sabrina bereits an unserem Tisch. Ich grüßte sie von Weitem mit einer Handbewegung und lief nach vorne, wo sich eine kleine Schlange gebildet hatte. »Guten Morgen«, ertönte eine Stimme hinter mir, als ich mich gerade angestellt hatte.

Ich drehte mich zu Collin um, der sich mir in der Schlange angeschlossen hatte. »Morgen«, erwiderte ich. Meine Augen zuckten über seinen Körper, der eine lässige Jogginghose und ein schlichtes T-Shirt trug.

»Bist du ganz allein?«

Um meine Musterung nicht zu auffällig werden zu lassen, wandte ich meinen Blick jetzt nach vorne und antwortete dabei: »Der Rest kommt noch.«

Ich hörte ihn ein undefinierbares Geräusch von sich geben, ehe er wieder sprach. »Ich glaube, ich habe Marlon gestern im Gemeinschaftsraum etwas verärgert. Dabei war es gar nicht so gemeint, wie er es aufgefasst hat.«

Diese Information bewegte mich dazu, ihn doch wieder anzublicken. Seine hellblauen Augen blitzten mich an, wobei ich darin keinen Funken der Reue ausmachen konnte, die er in seine Stimme gepackt hatte. »Was war denn?«, fragte ich misstrauisch und fühlte mich gleich ein Stück schlechter. Mit ihm zu reden, erinnerte mich daran, was ich Schlimmes getan hatte, und verschaffte mir ein schlechtes Gewissen.

Er verzog sein Gesicht, während wir ein paar Schritte in der Schlange vorangingen, bis ich mir schon den Teller und das Besteck auf mein Tablett laden konnte. »Ich bin für ihn beim Rennen eingesprungen, da er weg war, und habe ihm dann später erzählt, dass ich ihn gut ersetzt hätte, weil ich gewonnen habe. Ich glaube, er hat das falsch aufgenommen.«

Mein Blick flog scharf zu ihm. »Warum sagst du das auch?«, fuhr ich ihn leise an, denn ich hatte kein Interesse daran, dass alle Werwölfe um uns herum mitbekamen, worum es hier ging. »Dir muss klar sein, wie das auf ihn wirkt.«

»Ich hab’ in dem Moment nicht drüber nachgedacht. Mein Gott, es ist jetzt schon ein bisschen her, dass das alles passiert ist. Da kann ich ja nicht wissen, dass ich immer noch aufpassen muss, was ich sage.« Sein Tonfall glich jetzt eher seinem Aussehen: ein stückweit arrogant, wie er es schon immer gewesen war.

Ich hatte jetzt all meine Sachen auf dem Tablett und löste mich von der Anrichte. »Denk das nächste Mal trotzdem ein bisschen mehr nach«, sagte ich und wollte mich abwenden, da hielt er mich zurück.

»Hey, warte«, sagte er. »Willst du nicht mal wieder zu denen da rüber? Du hast lange nicht mehr bei uns gesessen.« Er deutete mit dem Kopf zu der langen Tafel; an die vordere Ecke, wo Nagur, Yano, Leyena und die Unbekannten saßen.

Obwohl es mir widerstrebte, so lange bei Collin zu sein, zögerte ich jetzt, denn er hatte recht. Da ich diesmal keinen Kinderwagen dabei hatte, für den die Plätze an der langen Tafel zu eng waren, hätte ich heute die erstklassige Gelegenheit, mich mal wieder zu ihnen zu gesellen. Also seufzte ich und ging mit Collin mit, der daraufhin grinste.

»Guten Morgen«, begrüßten wir die dort sitzenden Werwölfe. »Darf ich?«, fragte ich Nagur, ob ich den Platz neben ihm einnehmen durfte.

»Klar.« Er lächelte mich an und erst als ich dieses Lächeln sah, wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich lange nicht mehr mit ihm geredet hatte. »Wie geht’s dir, Kim? Und wie geht’s Liam?«

»Uns geht’s beiden gut. Und dir? Du siehst gut aus«, erwiderte ich und betrachtete ihn, während ich mit den Händen das Tablett auf dem Tisch zurecht schob. Er sah wirklich gut aus, denn seine Augen strahlten eine gewisse Wärme aus.

Er begann zu grinsen. »Danke. Ja, ich kann mich nicht beklagen. Es läuft momentan alles rund.«

»Wo ist Liam?«, ertönte eine andere Frage, bevor ich Nagur antworten konnte. Mein Blick schweifte rüber zur gegenüberliegenden Tischseite, auf der die Zwillinge neben ihrem großen und dem kleinen Bruder saßen und ihr Frühstück schon aufgegessen hatten. Es war das Mädchen, Lena, gewesen, welches die Frage gestellt hatte. Mir war schon oft aufgefallen, dass sie sehr offen war, wohingegen ihr Zwillingsbruder Elias ein stiller Zeitgenosse war.

Ich antwortete daher ebenfalls ganz offen:»Er ist noch im Zimmer. Marlon bringt ihn mit.«

Sie sah mich interessiert an. »Mit wie vielen Jahren wird er sich nochmal verwandeln?«

»Siebzehn«, murmelte ihr Zwilling.

Ich schüttelte leicht den Kopf und griff mir jetzt mein Brötchen, das ich mit Marmelade beschmierte. »Wahrscheinlich schon ein bisschen früher. Mit sechzehn eher«, korrigierte ich.

»Dann wird er einer der Jüngsten hier sein«, kam es von meiner rechten Seite, wo sich Collin niedergelassen hatte.

Simon schüttelte den Kopf. »Die beiden werden auch etwa in dem Alter stehen bleiben. Und Noah wahrscheinlich auch, wenn nicht sogar ein bisschen früher.« Er begutachtete seinen kleinen Bruder von der Seite, welcher jedoch keine Reaktion auf seine Einschätzung zeigte. Stattdessen stocherte er weiter in dem Müsli herum, das er als Einziger noch voll vor sich stehen hatte.

»Das heißt, wir sind zu viert«, schlussfolgerte Lena. »Und so viel jünger als du sind wir dann auch nicht.« Sie sagte das zu Collin und streckte ihm die Zunge raus.

Er grinste sie an. »Körperlich vielleicht nicht.«

»Geistig bleibt ihr immer die Nervensägen, die ihr jetzt auch seid«, fügte Simon hinzu und lachte über Lenas Proteste, bevor er aufstand und sein Tablett mitnahm.

Während ich mein Brötchen aß und ihn dabei beobachtete, wie er um den Tisch herum ging, dachte ich einen Moment an die Situation, in der ich ihn und seine Geschwister kennengelernt hatte. Dass er mir damals aus den einstürzenden Massen über uns hinaus geholfen hatte, war schon da ein Zeichen dafür gewesen, dass er vom Herzen her ein guter Kerl war. Abgesehen davon hatte er nur mit Rosello zusammengearbeitet, weil dieser seinen kleinen Bruder als Druckmittel benutzt hatte, was ebenfalls für das gute Wesen von Simon sprach. Da konnten doch die drei kleineren Geschwister nicht verdorben sein oder? Sie würden also gute Freunde für Liam abgeben, wenn er erst mal in das Alter gekommen war.

Ich ging während des Frühstücks meinen Gedanken nach und unterhielt mich schließlich mit Loo, der sich ebenfalls zu uns gesetzt hatte. Als ich dann letztlich aufstand, um mein Tablett wegzubringen, war auch Collin gerade fertig und folgte mir. Mein Blick glitt dabei zu unserem Stammtisch, der jetzt voll war. Es war nicht schwer, den Kinderwagen auszumachen, von dem meine Aufmerksamkeit weiter nach rechts gezogen wurde, als mir die markanten blauen Augen auffielen, die mich distanziert anstarrten. Mein Inneres zog sich zusammen, denn ich erkannte sofort, dass Marlon sauer war, was er mit dem Blick nicht zu verbergen versuchte.

Mit einem Reuegefühl brachte ich das Tablett weg und verabschiedete mich knapp von Collin, ehe ich den Speisesaal bis zu unserem Stammtisch durchquerte. »Guten Morgen«, begrüßte ich all meine Freunde und registrierte kurz, dass Liam auf Amys Schoß saß, wo er von ihr und Ronia zugleich beaufsichtigt wurde. Zwischen mir und Marlon stand der Kinderwagen, doch das schien keine ausreichende Distanz zu sein, denn sein Blick fraß mich innerlich auf. Er wirkte so voreingenommen und eifersüchtig, dass ich nur erahnen konnte, wie sauer er auf mich war.  

»Hast du fertig gefrühstückt?«, fragte er mit einem Tonfall, der zwischen säuerlich, schnippisch und neutral alles hätte sein können.

Da die Anderen sowieso fleißig dabei waren, miteinander zu diskutieren, fühlte ich mich dabei ungestört, wie ich verzweifelt in seine blauen Augen starrte, die mir keine Wärme, sondern pure Verletzlichkeit entgegen strömen ließen. »Marlon, i-«, wollte ich beginnen, doch er schnitt mich ab, indem er schnaubte und seinen Blick abwandte.

Dann stand ich wie eine Idiotin da und fühlte mich, als würde ich von niemandem mehr wahrgenommen. Erst Macs Stimme löste dieses Gefühl auf, denn er hatte wohl als Einziger mitbekommen, was gerade passiert war: »Soll ich Liam nachher zu euch bringen? Er amüsiert sich hier gerade so gut.«

Ich blickte ihn an und sah, wie auch Marlons Augen zu ihm zuckten. Mac erwiderte nur seinen Blick, zumal er direkt neben ihm saß, und senkte die Stimme, als er zu ihm sagte: »Komm schon. Geh‘ mit ihr mit und klär‘ das.«

Daraufhin biss Marlon die Zähne zusammen, ehe er nickte. »Ich lasse dir den Kinderwagen hier.« Dann stand er auf und unsere Blicke trafen sich. Diesmal hielten wir beide stand, bis er um den Kinderwagen herum trat und wir schweigend zum Ausgang des Speisesaals liefen.

»Hör zu, i-«, wollte ich draußen im Flur beginnen, doch schon wieder schnitt er mir das Wort ab.

»Ist das dein Ernst?«, fragte er und sah von der Seite zu mir. »Du weißt, was ich von ihm halte und was er … uns angetan hat. Und dann gehe ich einmal nicht mit dir zusammen frühstücken und du setzt dich gleich zu ihm?« Seine Stimme war schroff und sein Gesicht wurde von der Maske überschattet, die er immer dann trug, wenn er es vermeiden wollte, dass seine Emotionen sichtbar waren. Doch ich kannte ihn mittlerweile gut genug, dass ich wusste, was sich unter dieser Maske verbarg. In diesem Falle waren es Eifersucht und Schmerz.

Unter meiner eigenen quollen Wut und Missgunst hervor, die ich sonst selten an die Oberfläche ließ. »Ich habe mich nicht zu ihm gesetzt, sondern zu Nagur. Zu Yano, Leyana und all den anderen. Das sind auch meine Freunde. Ist es mir jetzt verboten, Zeit mit ihnen zu verbringen?«

Er starrte mich bitter an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich fass‘ es nicht«, sagte er, drehte sich um und ging weg.

Wütend und doch verwundert stand ich da und wusste nicht, was ich machen sollte. »Marlon«, rief ich, als mir klar wurde, dass ich die Diskussion jetzt sofort mit ihm klären musste, und ich lief ihm im normalen Tempo hinterher. Jedoch erreichte ich ihn nicht mehr, bis wir in seinem Zimmer waren, wo ich die Tür geräuschvoll hinter mir schloss. »Marlon«, sprach ich ihn nochmal an.

Daraufhin drehte er sich ruckartig zu mir um, nachdem er zunächst mit dem Rücken zu mir vor dem Fenster gestanden hatte. »Willst du weiter lügen?«, fuhr er mich an. »Ich weiß, dass du mit Collin erst an der Essensausgabe warst und dich dann mit ihm an den Tisch gesetzt hast. Monique hat mir das gesagt. Also behaupte nicht, es wäre nicht so gewesen.«

Mein Inneres rebellierte gegen alles, was er mir vorwarf, denn ich hatte wirklich keine schlechten Absichten dabei gehabt. Das Frühstück war überhaupt ein bescheuerter Grund, sich zu streiten, und doch wusste ich, dass dieser Streit viel tiefer ging, als sich nur um das Frühstück zu drehen. »Ja, er war in der Schlange hinter mir und hat mit mir geredet. Er hat mir erzählt, was er gestern zu dir gesagt hat und dass du es falsch aufgefasst hättest.« Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch diesmal war ich diejenige, die einfach redete: »Und ich hab’ ihn dafür verurteilt, Marlon. Glaub mir. Als ich dann zu unserem Tisch gehen wollte, fragte er, ob ich mich nicht mal wieder zu den Anderen setzen wollte. Ich war wirklich schon lange nicht mehr bei ihnen. Mit Nagur hab’ ich Ewigkeiten kein Wort mehr gewechselt, bis vorhin. Ich bin nicht wegen Collin mit zum Tisch gegangen, sondern wegen den Anderen.«

Er sah mir ununterbrochen in die Augen und versuchte offensichtlich festzustellen, was er sagen oder denken sollte. Dabei atmete er tief ein und aus, was mir zeigte, wie entrüstet er war.

»Du hast doch gesagt, es sei okay und du würdest mir vertrauen«, erinnerte ich ihn, diesmal mit einem sanften Tonfall. Es fühlte sich jetzt so an, als hätte er dieses Vertrauen seit heute Morgen verloren.

Er schnaubte. »Ja, aber das war, bevor er gestern seinen Mund aufgemacht hat.«

Ich atmete schwer ein und aus, während mir dieser Satz im Kopf umherschwirrte. Vertraute er mir also nicht mehr? »Aber … das, was er sagt, zählt doch überhaupt nicht«, murmelte ich leise. Langsam machte ich ein paar Schritte auf ihn zu, bis ich direkt vor ihm stand. Mit meiner Hand berührte ich vorsichtig seine Wange, obwohl ich befürchtete, dass er sich mir entziehen würde, was er jedoch nicht tat. »Ich bin hier, oder? Nicht bei ihm und nicht im Speisesaal, sondern hier bei dir. Und ich bleibe hier«, stellte ich mit leiser Stimme klar. »Er hat dich nie ersetzt. Niemand kann das. Ich liebe dich.«

Noch immer sagte er nichts, sondern sah nur in meine Augen. Doch die emotionslose, harte Maske war jetzt gefallen und lag zerbrochen zu unseren Füßen. Stattdessen sah ich in seinem Gesicht einen Haufen von Emotionen, die so viel aussagten, dass ich auch sie nicht verstehen konnte, obwohl ich wusste, dass sie etwas Besseres bedeuteten als die Maske. Zaghaft bewegte sich meine Hand von seiner Wange weiter nach hinten, wo ich ihm vorsichtig durch die Haare fuhr. Als er das nicht abwies und noch immer nichts sagte, streckte ich mich ganz langsam, bis wir unsere Augen schlossen, weil sich unsere Lippen berührten.

Mit dem Kuss ließ er die Luft geräuschvoll aus seiner Nase entweichen, ehe mich seine Hände an den Hüften packten und mich näher zu sich zogen. Verblüfft löste ich mich ein paar Millimeter von ihm und lächelte, als ich sah, wie er jetzt liebevoll zu mir hinabschaute, was mein Herz zum Hüpfen brachte.

»Tut mir leid, dass ich mich so aufgeregt habe«, flüsterte er nah an meinen Lippen.

Ich presste meine einen Moment aufeinander, ehe ich sanft lächelte, um ihm zu vergeben. »Schon okay. Ich verstehe das.«

Er sah mich noch einen Augenblick lang so an, ehe er seine Lippen wieder auf meine senkte und mich küsste. Dabei entfachte er das Kribbeln viel intensiver in meinem Körper, als er es gerade getan hatte, und ich kam nicht umhin, mich noch näher an ihn zu pressen. Marlon öffnete mit sanftem Druck meine Lippen und ich war überrascht, als ich seine Zunge spürte. Wir haben uns lange nicht so geküsst, fuhr es mir durch den Kopf. Wir hatten überhaupt lange nicht mehr einen solchen Moment ganz allein verbracht. Es war Ewigkeiten her, dass wir in einen Rausch verfallen waren, wie es jetzt gerade der Fall war, denn neben all den Bemühungen um das Wohlergehen unseres Kindes blieb selten Zeit für sowas. Und auch dann, wenn Liam schlief, waren wir meistens so müde, dass wir ebenfalls erschöpft ins Bett gingen.

Als ich das dachte, war es, als könnte Marlon meine Gedanken hören oder er hatte sie eben für sich erfasst, denn er drängte mich daraufhin in Richtung Bett, wo ich im Rausche meiner Gefühle drauf fiel. Er folgte mir und bedeckte mich gleich wieder mit seinen weichen Lippen, mit denen er von meinem Mund hinab, über meinen Hals, bis zu meinem Dekolleté wanderte. Dabei suchte ich schon nach dem Saume seines T-Shirts, welches ich ihm über den Kopf ziehen wollte. So landeten nach und nach all unsere Kleidungsstücke auf dem Boden und wir waren seit langer Zeit mal wieder vollkommen allein.

Erst nach einer ganzen Weile hörte man Schritte auf dem Gang, die uns stumm davon berichteten, dass die Anderen aus dem Speisesaal kamen. Ich wollte Marlon gerade fragen, ob wir uns nicht besser anziehen sollten, da klopfte es schon an unsere Tür. Mittlerweile war ich - was das anging - nicht mehr so panisch wie vor ein paar Jahren, doch mein Blick glitt trotzdem hilfesuchend zu Marlon, der meinem Gesicht ganz nah war.

Er rümpfte kurz die Nase, ehe er aufstand und dabei »Moment« rief. »Bleib liegen«, flüsterte er mir zu und schlüpfte in seine Boxershorts. Er griff auf dem Weg zur Tür auch seine Hose, die aber so in sich verdreht war, dass er vorher stehenbleiben musste, um sie auseinander zu schütteln, was ihm nicht gelang. Schließlich fluchte er und schmiss sie weg, ehe er die Tür so öffnete, dass er für den Außenstehenden zwar sichtbar war, ich - im Bett liegend und von Daunen bedeckt - jedoch nicht ins Sichtfeld kam.  

»Oh wow«, hörte ich Mac verblüfft sagen. »Ihr hattet wohl echt Klärungsbedarf, was?« Er grinste dabei, was ich an seiner Stimme hörte.

Von hinten konnte ich beobachten, wie Marlon seinen Kopf schief legte und in einer fassungslos attraktiven Bewegung den Arm hob, um sich am Kopf zu kratzen. »So in etwa.«

Mac räusperte sich. »Ja gut, also … tja, dann hoffe ich, ihr konntet euer Redebedürfnis stillen, weil ich glaube, Liam hat Hunger oder er ist müde oder keine Ahnung. Ihr solltet euch auf jeden Fall drum kümmern.«

»Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.« Marlon verschwand kurz hinter der Tür und ich hörte das Geräusch der sich bewegenden Gummireifen des Kinderwagens auf dem Boden, ehe er damit rückwärts in den Raum fuhr.

»Kein Problem«, erwiderte Mac dabei. »Wenn … na ja, wenn ihr später weiter diskutieren müsst, dann wisst ihr ja, wo ihr mich findet.«

Marlon grinste ihn an. »Danke«, sagte er nochmal, ehe er die Tür schloss und seinen Blick erst auf Liam lenkte, ehe er mich ansah und das Grinsen auf seinen Lippen neu entstand.

»Er ist ein Idiot«, sagte ich und musste lachen, als ich mich beschämt in die Decken sinken ließ.

Marlon lachte ebenfalls, bevor er Liam aus dem Kinderwagen nahm und ihn sich ansah. »Hast du Hunger, kleiner Mann? Oder … oh …«, er rümpfte die Nase, »vielleicht müssen wir auch einfach mal die Windel wechseln, was?«

»Machst du das? Dann beseitige ich das Chaos hier drin«, schlug ich vor und kroch unter der Decke hervor, um mich anzuziehen, während Marlon meiner Bitte nachkam und mit Liam ins Bad lief. Wir hatten dort in den letzten Wochen das Wickelabteil eingerichtet, da es uns zu umständlich geworden war, dafür jedes Mal in mein Zimmer zu gehen. Seit einigen Tagen verhandelten wir mit Clarus darüber, einen Durchbruch von Marlons Zimmer zu meinem zu machen, da sie ja direkt nebeneinander lagen und wir auf diese Weise mehr Platz bekommen würden. Zunächst mussten wir aber noch mit dem hinkommen, was wir hatten, und als aller erstes musste das nun aufgeräumt werden, woran ich mich mit einem Seufzen begab.

Den restlichen Tag verbrachten wir viel mit Mac und Dean, die uns begleiteten, als wir draußen spazieren gingen, und hinterher mit im Gemeinschaftsraum waren. Collin sah ich an diesem Tag nicht mehr und da Marlon fast die ganze Zeit über in meiner Nähe war, bekam er ihn nicht mehr zu Gesicht. Es war besser so.

Es war ein normaler Tag und ein normaler Abend, sogar eine normale Nacht, obwohl ich das Gefühl hatte, lange schlafen zu können, bis Liam mich das erste Mal durch seine Hungerschreie weckte. Alles andere als normal war es dann, als ich meine Augen widerwillig öffnete und in die blauen Augen meines Kindes blickte, die ganz und gar nicht mehr zu dem Körper passten, in dem sie sich befanden. Vor Schock holte ich ruckartig Luft und saß kerzengerade im Bett, um von einer anderen Perspektive nochmal das zu betrachten, was meine Augen gerade aufgenommen hatten. Da saß ein kleines Kind in Liams Kinderbett, das vielleicht ein Jahr alt war, deutlich größer als Liam und viel weiter entwickelt. Aber wo war Liam?

Ich musste mehrfach blinzeln, um sicherzugehen, dass mich meine Müdigkeit nicht täuschte. Doch als ich meine Füße auf den Boden vor dem Bett abstellte und mich weiter zu dem Kinderbett herüberbeugte, war es noch immer dieses Kleinkind, das dort saß und mich hungrig anblickte. Es ist Liam, bestätigte ich mir erschrocken. Die Augen waren die gleichen – durchzogen von einem hellen, intensiven Blau – und die Haare waren ebenso braun wie die des kleinen Babys, das eigentlich darin liegen sollte. Nur waren sie gewachsen und bedeckten schon einen viel größeren Teil seines Kopfes, zumal dieser ebenfalls gewachsen war, genauso wie der Rest des Körpers. Es war Liam in einer viel älteren Version.

»Marlon«, brachte ich hervor, wobei meine Stimme nicht mehr als ein verzweifeltes Hauchen war. »Marlon«, versuchte ich es nochmal, diesmal lauter.

Er regte sich hinter mir und stöhnte, denn er befürchtete wohl nichts Schlimmes. Ich drehte mich deswegen zu ihm um und rüttelte ihn grob an seinem Arm. »Marlon«, wiederholte ich, bis er endlich verwundert und gleichzeitig ein Stück verärgert die Augen öffnete. »Irgendwas ist mit Liam«, erklärte ich, obwohl diese Erklärung alles andere als gut war.

Daraufhin schien er zu verstehen, dass es etwas Wichtiges sein musste, wenn ich ihn schon so weckte, und er ließ seine Augen hinter mich zu dem Kinderbett gleiten. Ich konnte beobachten, wie er danach erstarrte, bevor er ruckartig hochfuhr und ungläubig auf das Kind starrte. »Was …?«

Mein Atem ging unkoordiniert und schnell, denn ich fühlte mich verzweifelt. »Es ist Liam. Er ist nur viel … älter«, murmelte ich, obwohl diese Theorie jeglichen Gesetzen der Biologie widersprach. Oder hatte Clarus vergessen, uns zu sagen, dass das bei Werwolfsbabys so ablief?

Marlon bewegte sich langsam und kroch neben mich auf die Bettkante, von der er aufstand, um auf Liam zuzugehen. Ich erhob mich deswegen auch und knipste dabei das Licht an meinem Nachttisch an, damit wir mehr erkennen konnten. Dann beobachtete ich mit riesigen Augen und einem unguten Gefühl, wie Marlon seine Hände langsam zu Liam streckte und ihn vorsichtig hochhob. Er jammerte dabei über seinen Hunger. Als Marlon ihn so vor sich hielt und ihn betrachtete, war ganz deutlich zu sehen, wie groß er geworden war. Der Schlafanzug, welcher eher ein Schlafsack war, passte ihm jetzt noch gerade so, zumal er für ein drei Monate altes Baby zu groß gewesen war.

»Was ist mit ihm passiert?«, brachte ich leise hervor.

Marlons Augen zuckten zu mir und sofort wieder zurück zu Liam, der jetzt in seinen Händen zappelte und endlich etwas zu Essen haben wollte. Er gab mir keine Antwort, weil er selbst keine hatte. Ich konnte beobachten, wie er langsam und ungläubig den Kopf schüttelte, bevor er mir das Kind vorsichtig hinhielt. »Gib ihm etwas zu essen. Ich hole Clarus«, sagte er.

Ich fühlte mich schwach, als ich Liam ergriff, der sich plötzlich so schwer anfühlte. Es war ein fremdes Gefühl, ihn zu halten, da ich nur das leichte Fliegengewicht gewohnt war, das mir sonst immer in den Armen lag. Dieses viel größere Kind verhielt sich jedoch genauso und ich starrte ihm noch einen Moment lang in die Augen, um mir hundertprozentig sicher zu sein, dass es Liam war. Mein Baby. Mein kleiner Junge. Mein Liebling. Mit dem Gefühl, das mir diese Gewissheit gab, war es leichter, ihn an meine Brust zu lassen, damit er endlich seinen Hunger stillen konnte.

Marlon zog sich währenddessen eine Jogginghose und ein T-Shirt über. Als er aus der Tür war, prasselten so viele Gedanken auf mich ein, dass ich ganz verzweifelt dasaß und auf das Kind an meiner Brust starrte. Wie konnte sowas passieren? Warum hatte Clarus uns davon nichts gesagt? Oder wusste er es gar nicht? Was war dann das Problem? Die Theorie, dass Liam vielleicht krank war und sich diese Krankheit auf ihn auswirkte, indem er sein Leben plötzlich im Schnelldurchlauf erlebte, entstand in meinem Kopf, doch ich schob sie beiseite, denn Werwölfe wurden nicht krank. Und sie wuchsen ganz normal auf, bis sie soweit waren, dass sie sich verwandelten. Wieso war es bei Liam nicht so?

Ich entzog ihm meine Brust, als ich die Schritte auf dem Gang hörte, die sich eilig meiner Zimmertür näherten. Gleich darauf flog diese auf und Marlon kam, gefolgt von Clarus, in den Raum, wobei er die große Deckenlampe anknipste, die mich des starken Lichteindringens wegen blendete.

»So und jetzt sag mir noch mal, dass ich mich beruhigen soll«, fuhr er Clarus an, der stocksteif stehen blieb, als er das Kind auf meinem Schoß sitzen sah.

Sein Mund klappte auf, während er Liam anstarrte, und in seinem Kopf die Gedanken kreisen ließ. Von außen konnte man deutlich erkennen, wie er jegliche Erfahrung durchging, die er mit Werwolfbabys hatte, und doch schien er zu keinem Schluss zu kommen. Schließlich machte er ein paar Schritte auf mich zu und setzte sich neben mich auf den Bettrand. »Das … kann ich mir nicht erklären«, murmelte er dabei und deutete mir mit der Hand an, ihm Liam zu reichen, was ich mit beunruhigt zusammengezogenen Augenbrauen tat. Er hielt ihn vor sich und schien ihn zu wiegen, indem er ihn ein paar Mal höher und wieder tiefer gleiten ließ. Sein Blick lag kritisch auf jedem Zentimeter des kleinen Körpers. »Und am Abend war noch alles normal?«, fragte er.

»Vollkommen normal«, bestätigte Marlon mit angespanntem Tonfall.

»Vorhin, als er Hunger hatte und ich von seinem Schreien aufgewacht bin, da sah er so aus. Ich meine … er sieht noch immer gleich aus. Seine Augen, seine Haare, sein Gesicht. Es ist alles nur viel älter«, erklärte ich verzweifelt.

Clarus nickte, versunken in Gedanken. »Ja, er … er scheint gesund zu sein. Es sieht mir jedenfalls nicht danach aus, als hätte er irgendetwas Ungewöhnliches an sich, angenommen er wäre schon ein Jahr alt.«

»Ist sowas schon mal vorgekommen?«, fragte Marlon, obwohl uns beiden bewusst war, dass das nicht der Fall sein konnte.

Wie erwartet schüttelte Clarus den Kopf. »Nein. Und ich weiß auch nicht, wie sich das entwickeln kann oder woher es kommt. Ich kann keinerlei Prognose darüber geben, was euch morgen erwartet. Vielleicht ist er dann noch größer geworden oder aber er entwickelt sich normal weiter. Ich habe leider keine Ahnung.«

»Aber was sollen wir denn jetzt machen? Was, wenn er weiter altert? Was wird dann aus ihm?« Ich hörte mich so verzweifelt an, wie ich mich fühlte.

Clarus verzog den Mund zu einer unwissenden verdrossenen Maske. »Ich weiß es nicht, Kimberly«, sagte er mit Bedauern in der Stimme. Er ließ Liam hinab auf seinen Schoß gleiten. »Vielleicht … na ja, es hört sich blöd an, aber vielleicht ist es das Klügste, erst einmal abzuwarten und zu sehen, was passiert. Mehr können wir ohnehin nicht tun, denn dagegen gibt es keine Medikamente und keinen Zauber.«

Marlon stapfte auf uns zu und sah dabei aus, als wüsste er nicht, ob er wütend oder verzweifelt sein sollte. »Wir können uns doch jetzt nicht einfach wieder ins Bett legen, einschlafen und darauf hoffen, dass er am Morgen immer noch so aussieht. Was, wenn wir dann ein fünfjähriges Kind im Bett liegen haben?«

Clarus sah ihn entschuldigend an. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, Marlon. In dieser Nacht kann ich die Magier nicht mehr kontaktieren. Ich verspreche euch, dass ich gleich morgen früh mit allen Personen sprechen werde, die etwas über so ein Ereignis wissen könnten. Und gleich jetzt werde ich in mein Büro gehen und recherchieren. Ich werde Lucas wecken, aber mehr als das kann ich nicht tun, wenn ich nicht weiß, womit wir es hier zu tun haben.«

Mein Atem kam flach aus meinem Mund, denn ich fühlte mich in diesem Moment nicht dazu fähig, überhaupt noch klare Gedanken zu fassen. Ich wusste nur, dass ich Angst davor hatte, dass etwas mit meinem Kind passierte, das wir nicht aufhalten konnten. Angst davor, was uns am Morgen erwarten würde. Angst, ihn zu verlieren. Gleichzeitig fühlte ich aber auch, dass Clarus uns definitiv helfen wollte und noch heute Nacht alles ihm Mögliche in Kraft setzen würde. Daher nickte ich langsam, um ihm seine Worte zu bestätigen. »Okay, mach das«, murmelte ich.

Marlons Blick traf meinen und ich konnte erkennen, wie er sich wünschte, dass Clarus lieber jetzt gleich etwas bewirken konnte und uns Klarheit über das geben konnte, was mit unserem Sohn geschah. Aber auch er musste sich eingestehen, dass Clarus im Endeffekt Recht hatte. Wir mussten abwarten, was mit Liam passieren würde.

Der alte Werwolf reichte mir Liam und sah mich mitleidig an. »Es tut mir leid, dass ich euch nichts Näheres sagen kann. Dieser Vorfall übersteigt mein Wissen«, entschuldigte er sich, während er aufstand. Er ging mit langsamen Schritten zur Tür, wo er sich nochmal umdrehte und wehleidig hierherblickte. »Ich komme morgen früh hierher, damit wir uns nochmal beratschlagen können.«

Marlon war es diesmal, der nickte und ein betonungsloses »Okay« murmelte, das nicht ganz mit all dem einverstanden war.

»Gute Nacht«, murmelte Clarus noch, wohlwissend, dass diese Worte nicht angebracht waren, da nun keiner von uns noch eine gute Nacht haben würde, ehe er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.

Mein Blick wanderte rauf zu Marlon, welcher genauso verzweifelt war wie ich. Mit einem Seufzen sahen wir beide dann hinab zu unserem Sohn, der in meinen Armen lag und offenbar dabei war, wieder einzuschlafen. Es war gut, dass er schlafen konnte, denn so hatte ich das Gefühl, dass wenigstens einer von uns entspannt war, während er langsam in meinen Armen weiter alterte.

Über Nacht

Kimberly

 

Ich schlief in dieser Nacht kaum noch, denn meine Gedanken kreisten um alle Eventualitäten, die mit Liams Zukunft verbunden waren. Marlon saß mehr oder weniger im Bett und hielt unseren Sohn in seinen Armen, der als Einziger genug Ruhe hatte, um schlafen zu können.

Als ich am Morgen, nach einer halben Stunde Schlaf, ebenfalls an das Bettgestell gelehnt neben Marlon saß, lag mein Blick schon eine ganze Weile auf Liam, der nach seiner zweiten Ration wiederschlief. »Er ist schon wieder größer geworden«, flüsterte Marlon.

Ich nickte, wonach mein Kopf bis auf seine Schulter sank und ich die Augen schloss, da ich es nicht mehr ertrug, auf ein Zeichen des Wachsens zu achten. »Ich hab’ Angst«, murmelte ich kaum verständlich.

Es war gut zu hören, wie er die Luft einsog, ehe er seinen Kopf ein Stück zu mir drehte und mir einen Kuss aufs Haar gab. »Das wird schon«, hauchte er, obwohl ich wusste, dass er selbst nicht daran glaubte. Vielmehr hatte er genau solche Angst wie ich, nur wollte er stark sein, um uns wenigstens ein bisschen Halt zu bieten.

»Was ist, wenn er seine Kindheit im Schnelldurchlauf erlebt? Wenn das nicht mehr aufhört?«, fragte ich.

»Dann stoppt es spätestens mit der Verwandlung. Und bis dahin haben wir den Grund gefunden, warum das alles passiert, und können ihm helfen.« Es war klar, dass das nur Hypothesen waren und wir nicht sicher sagen konnten, dass es so passieren würde. Trotzdem machte es mir Mut, dass so eine rasante Entwicklung tatsächlich durch die Verwandlung gestoppt würde, da damit alle anderen Entwicklungsarbeiten im Körper aufhörten.

»Hoffentlich«, murmelte ich, ehe ich mich sanft von ihm löste. »Wir sollten zu Clarus gehen.«

Marlon nickte und schaute sich nach dem Kinderwagen um, den ich ihm ans Bett fuhr, nachdem ich aufgestanden war. Wir verfrachteten Liam dort hinein, wo er weiterschlafen konnte, und zogen uns an, ehe wir unausgeschlafen das Zimmer verließen und durch die morgendlich leeren Flure taperten.

Ein Klopfen an Clarus‘ Privatzimmer brachte nichts, deswegen versuchten wir es in seinem Büro, wo er uns hereinbat. Man konnte an seinen Augen deutlich erkennen, dass er ebenfalls wenig geschlafen hatte, doch er versuchte, diesen Schein wegzulächeln, nachdem er noch schnell an seinem Kaffee genippt hatte. »Und?«, war seine Begrüßung, während er mit den Händen auf die Stühle vor seinem Schreibtisch deutete, auf denen wir uns niederließen.

»Er ist wieder gewachsen. Es sieht so aus, als würde es nicht aufhören«, berichtete ich mit ruhiger Stimme, denn ich hatte nicht vor, in solche Panik zu verfallen, wie ich sie heute Nacht gehabt hatte.

Er runzelte die Stirn. »Ich habe es befürchtet«, murmelte er und schlug das Buch zu, in dem er geblättert hatte. »Tja, also … ich habe mich in dieser Nacht durch einige Bücher geforstet. Lucas war hier und wir haben uns beratschlagt, aber er hat so etwas ebenfalls noch nie erlebt. In all meinen Büchern und alten Aufzeichnungen – schlichtweg in allem, was ich überhaupt habe – steht nichts davon, dass ein geborener Werwolf so rasant altert. Es ist im Normalfall so, wie ich es euch gesagt habe: Sie wachsen wie Menschen auf, bis sie soweit sind, dass sie sich verwandeln.«

»Un- «, wollte Marlon beginnen, wurde aber unterbrochen, als es an die Tür klopfte.

Clarus bat denjenigen herein und deutete Marlon an, gleich weiterreden zu können. Doch als wir sahen, wer da eintrat, war es eine gewisse Ahnung von mir, dass er das nicht tun würde. Es war Simon, der vor seinen drei kleinen Geschwistern mit einem besorgten Gesichtsausdruck in den Raum kam. Seine Augen begegneten meinen und er schien sich zu fragen, was wir mit Liam so früh hier machten, ehe er Clarus ansah.

»Guten Morgen«, begrüßte er uns. Die Zwillinge wiederholten seine Worte und schlossen die Tür hinter Noah, welcher nichts sagte.

»Guten Morgen ihr vier«, sagte Clarus, der sie mit gerunzelter Stirn betrachtete. Ich sah auf seinem Gesicht die gleiche Ahnung, die auch mich durchflutete. »Was gibt es?«

Simon zögerte kurz, indem er einen Blick auf seine Geschwister warf. Als ich diesem folgte, fiel es mir auf: ihre Kleidung schien eingelaufen zu sein. Die Zwillinge hatten Hochwasser in den Hosen und Pullovern, deren Ärmel es nicht ganz bis zur Hand schafften. Außerdem schienen sie - über die Besorgnis in ihrem Gesicht hinaus - verändert auszusehen. Anders als gestern Morgen beim Frühstück. Ich wusste nicht genau, was diese Veränderung bedingte, aber sie war stark genug, um mir aufzufallen. »Na ja, wir haben … also, es ist schwierig zu erklären.«

»Ihr seid gealtert«, platze es aus Marlon heraus, bevor Simon richtig geendet hatte. Er starrte die vier genauso ungläubig an wie ich und offenbar dachten wir alle das Gleiche.

Simons Gesichtsausdruck war unsicher, als er Marlon betrachtete, schließlich nickte er jedoch. »Jedenfalls haben wir uns diese Nacht so stark verändert, dass es uns heute Morgen aufgefallen ist. Und wir haben uns gedacht, dass … na ja, dass das vielleicht unnormal ist.«

Clarus stand von seinem Stuhl auf und kam um den Schreibtisch herum. Er schüttelte dabei ungläubig den Kopf. »Das kann doch nicht sein«, murmelte er, während er unbeirrt auf den Kleinsten zuging, der offensichtlich die größte Veränderung vorwies. Er sah viel größer aus als gestern. Selbst sein Gesicht schien deutlich älter zu sein, was jedoch nicht dazu beitrug, dass er mehr redete als sonst. Clarus betrachtete ihn genauestens, was Noah mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck über sich ergehen ließ.

Jetzt, wo klar war, dass Liam sich nicht als Einziger verändert hatte, wusste ich nicht, wie ich mich fühlen sollte. In mir drin herrschten so verwirrende Gefühle, dass ich mir nicht sicher war, ob mir diese Erkenntnis Hoffnung oder noch mehr Verzweiflung bescherte.

»Wieso … wieso wisst ihr das?«, fragte Simon schließlich an uns gewandt.

Marlon war es, der den Kinderwagen so schob, dass Simon Liam darin erblicken konnte. Auf dessen Gesicht zeichneten sich klare Züge der Überraschung ab, die jedoch auch Verstehen zeigten. Seine Augen zuckten kurz zu Marlon, dann zu mir und wieder zurück zu Liam. »Wie kann das sein?«, brachte er leise hervor.

»Das wissen wir nicht«, antwortete ihm Clarus mit einer starken Stimme. Er richtete sich auf und sah etwas ratlos in den Raum. »Hast du dich auch verändert?«, fragte er Simon.

Dieser verzog leicht den Mund und zuckte die Schultern. »Also, ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher. Ich passe immerhin noch in meine Sachen, aber ich hatte heute Morgen …«, er zögerte einen Moment und sah zu uns, als sei es ihm peinlich, davon zu berichten, »na ja, ich hatte so viel Bartwuchs über Nacht. So viel, dass ich dachte, dass es komisch ist. Und dann kamen die beiden an und sagten mir, dass sie sich groß fühlen.«

Mein Blick wanderte zu Liams Kinderwagen, während ich Simons Worte zu verarbeiten versuchte. Wenn er sich auch verändert hatte - hieß das nicht, dass das Altern über die Verwandlung hinausging? Mein Herz setzte schmerzliche Schläge aus, die Platz für die Angst ließen, welche statt des Blutes meine Venen durchflutete. Als könnte Liam meine Emotionen empfangen, fing er in diesem Moment an zu wimmern. Ich erhob mich daraufhin und holte ihn aus seinem Kinderwagen raus, während ich beruhigend ein paar Worte zu ihm sagte und ihn schließlich beschützend an mich drückte.

Clarus stand da und betrachtete mich eine Weile, in der er offensichtlich versuchte, eine Lösung zu finden. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche und zog sein Handy heraus, auf welchem er einen Moment lang herumtippte, ehe er es sich ans Ohr hielt. Alle anderen blieben in Gedanken versunken und horchten stumm auf die ungewohnte Stimme, die sich am anderen Ende meldete.

»Guten Morgen, Pierre. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, begrüßte ihn Clarus. »Könntest du vielleicht einmal in mein Büro kommen?«

Man hörte Pierres Verwunderung am anderen Ende, als er antwortete: »Was ist denn los?«

»Das erkläre ich dir sofort, wenn du hier bist«, erwiderte Clarus und sah etwas gestresst aus.

»Okay, ich bin gleich da«, willigte Pierre ein, ehe Clarus sich dafür bedankte und auflegte.

Daraufhin sah er Marlon und mich abwechselnd an. »Pierres Eltern waren Werwölfe aus meinem Clan. Sie starben im letzten Krieg, nachdem er sich gerade ein paar Jahre lang verwandeln konnte«, erklärte er.

»Meinst du, er hat sich auch verändert?«, fragte Marlon mit gerunzelter Stirn.

Clarus zuckte die Schultern. »Wenn ja, dann wissen wir, dass es auf alle geborenen Werwölfe wirkt – was auch immer es sein mag.«

Ich presste meine Lippen aufeinander und legte sie sanft auf den Kopf meines Sohnes, den ich noch immer in meinen Armen schaukelte. Pure Aufregung koppelte sich mit Angst, während ich aufstand und leicht von einem Bein auf das andere trat, um mich mit Liam zu bewegen. Dabei spürte ich Marlons Blick auf mir.

»Wie kann man sowas aufhalten? Ich meine, ist das überhaupt schlecht? Wie lange geht das?«, fragte Simon. Er war jetzt genauso beunruhigt wie wir, wobei ihm der Ernst dieser Lage wohl noch nicht ganz klar gewesen war, bevor er uns hier angetroffen hatte. Seine kleinen Geschwister sahen etwas verängstigt aus. Offenbar begannen auch sie zu verstehen, dass gerade etwas mit ihnen passierte, das nicht normal war.

Clarus antwortete ihm jetzt genau so wie er es uns in dieser Nacht gesagt hatte: dass er keine Ahnung hatte, mit was wir es da zu tun hatten. Daraufhin stellte Simon ihm all die Fragen, die auch mich quälten, aber Clarus wusste auf nichts eine Antwort.

Als es an die Tür klopfte, zuckte ich zusammen, da ich in Gedanken abgetaucht war. Das Geräusch der Knochen auf dem Holz schien aufgrund der Stille, die sich nach Simons Fragen über uns gelegt hatte, extrem laut zu sein. Pierre trat ins Büro ein und erfasste mit einem verwunderten, misstrauischen Blick all die Leute, die sich hier drin befanden. Der kleine Raum wirkte mehr als ausgefüllt, als er die Tür hinter sich schloss. »Was ist denn hier los?«, fragte er unsicher.

»Pierre, mein Guter, hast du eventuell an diesem Morgen Veränderungen an dir bemerkt? Kamst du dir älter vor?«, fragte Clarus gleich drauf los und ließ seinen Blick bereits über den Mann gleiten.

Pierre war eine breit gebaute, jedoch recht kleine Person, die durch ein rundes Gesicht und einen gewöhnlich aussehenden Dreitagebart sonst nicht weiter auffiel. Seine schwarzen Haare erinnerten mich immer an einen französischen Schauspieler, jedoch war mir noch nie aufgefallen, dass sie zwischendrin auch einige weiße Strähnen bargen, die für sein Alter von Ende dreißig noch nicht üblich waren.

Er sah Clarus komisch an und ließ dann seinen Blick nochmal über alle anderen Personen im Raum streifen, denn ihm musste bewusst sein, dass sich hinter der Frage etwas Ernstes verbarg. Schließlich nickte er vorsichtig und fuhr sich zur Erklärung mit der Hand über den Stoppelbaart, in welchem die dunklen Haare ebenfalls einige weiße Gefährten dazubekommen hatten.

Clarus atmete geräuschvoll aus. »Okay, das … wow«, er brauchte einen Moment, um sich zu fassen, den er nutzte, um wieder hinter den Schreibtisch zu gehen. Er drückte dort auf eine Taste am Telefon, auf der Konferenz geschrieben stand, ehe er weitersprach: »Euch geht es allen so. Alle geborenen Werwölfe scheinen sich seit dieser Nacht zu verändern. Ihr altert. Nur haben wir leider keinen blassen Schimmer, warum.«

Pierre ließ seine Augen nochmal über jeden wandern, als müsse er sich vergewissern, dass Clarus die Wahrheit sagte. An Liam sah er es ganz deutlich, wobei ich fand, dass auch die Symptome der Campels nicht zu vernachlässigen waren.

»Ich habe gerade eine Konferenz einberufen. Da wir nicht wissen, wie weit das Altern geht, müssen wir uns beeilen«, erklärte Clarus mit nachdenklicher Stimme.

»Heißt das, wenn wir nicht erfahren, was es ist, das uns altern lässt«, begann Pierre jetzt geschockt, nachdem er wohl verstanden hatte, dass diese paar grauen Haare nicht alles waren, was sich verändert hatte, »kann es sein, dass wir an Altersschwäche sterben? Wahrscheinlich schon bald? So schnell wie dieses Kind gewachsen ist«, er deutete auf Liam, »muss der Alterungsprozess rasant vonstattengehen.« Ich sah ihn an und wusste nicht, welche Emotionen ich in meinen Blick legen konnte. Er war ein Mann, der schnelle kluge Schlüsse zog, doch jetzt schienen ihn die Nerven zu verlassen, als er sich verzweifelt durch die Haare fuhr und sich einmal im Kreis drehte, als würde er auf diese Weise Antworten auf seine Fragen finden.

Clarus sah ihn mitleidig an. »Das müssen wir klären. Glaub mir, Pierre, ich werde alles mir Mögliche in die Gänge setzen, damit wir etwas herausfinden.« Er wandte sich daraufhin an die Unbekannten, die mit ähnlichen Gesichtsausdrücken noch immer neben und vor der Tür standen. »Wenn ihr drei auf eure Zimmer gehen möchtet, ist das okay. Simon kann gut für euch sprechen«, sagte er und lächelte leicht, was den drei Kleinen zumindest ein bisschen milder erscheinen sollte.

Simon schaltete sofort richtig und öffnete für sie die Tür. »Geht Frühstücken und dann auf euer Zimmer. Ich komme gleich nach«, sagte er zu ihnen und schnitt Elias das Wort ab, als er etwas fragen wollte. »Geht schon.« Daraufhin verließen sie das Büro mit hängenden Schultern.

»Lasst uns in den Versammlungsraum gehen«, kommandierte Clarus und kam wieder vom Schreibtisch nach vorne. Er ging als erstes durch die noch offene Tür, während Marlon sich den Kinderwagen schnappte und ich auf ihn wartete, um den anderen zu folgen.

Wir mussten in dem großen Versammlungsraum gar nicht allzu lange warten, da trafen allerlei Leute ein. Nagur ließ sich bereits mit besorgtem Gesichtsausdruck direkt neben mir nieder, bevor auch Lucas, Chiel, Tohon, Yano und Sebastian hinzukamen und sich erwartungsvoll an den Tisch setzten. Unser Chef klärte sie über das Problem auf und deutete zur Erklärung auf Liam, den ich noch immer auf dem Arm trug, wo er jetzt zwar wach war, jedoch noch sehr verschlafen und stumm seine Umgebung beobachtete.

»Wir haben in dieser Nacht schon sämtliche Bücher und Archive durchforstet«, fügte Lucas zu Clarus‘ Erklärungen hinzu. »Aber es wird nirgendwo über einen solchen Vorfall berichtet.«

»Das erklärt sich auch dadurch, dass es kein Einzelfall sein kann. Da alle geborenen Werwölfe davon betroffen sind, müssen wir davon ausgehen, dass es etwas Unnatürliches ist, was sie beeinflusst«, fügte Clarus hinzu.

»Das alles klingt, als könnte eine Fähigkeit dahinter stecken«, warf Yano ein, ehe sein Blick sofort zu mir glitt.

Als er es sagte, wurde mir schlagartig bewusst, wie gut die Erklärung war, und ich fühlte mich augenblicklich schuldig, dass ich nicht versucht hatte, Liam mit meinem Schutzschild abzuschirmen. Bevor ich es überhaupt bewusst durchsetzen konnte, fuhr er schon aus mir heraus und schloss sich Kastenförmig um meinen Sohn, der ohnehin an meine Brust gedrückt war und sich daher nicht weit von der Energiequelle entfernt befand.

»Was hätte man für ein Motiv, sie altern zu lassen?«, fragte Chiel, während Pierre erwiderte: »Dann hätte Kimberlys Schutzschild uns doch geschützt.«

Da ich auf Pierres Aussage hin sofort etwas erwiderte, wurde Chiels Frage zunächst hintenangestellt: »Ich habe ihn aber nicht permanent um euch gelegt.«

»Aber ich trage ihn bei mir«, entgegnete er und holte gleich darauf die Blutkapsel aus seiner Tasche. Er stellte sie auf den Tisch, sodass sie für alle sichtbar war. »Ich habe sie immer dabei. Das Blut muss noch relativ frisch sein, denn es ist doch erst ein paar Monate her, dass wir die Kapseln neu aufgefüllt haben.« Damit hatte er Recht und versetzte gleich darauf alle wieder in Schweigen.

»Es kann auch gar nicht sein, dass es eine Fähigkeit ist«, stimmte Marlon dem nach kurzer Zeit der Stille zu und zog damit sämtliche Blicke auf sich. Er erwiderte jedoch nur meinen und nahm mir damit das Schuldgefühl ab. »Du berührst Liam ständig und er trinkt deine Milch. Er hat also permanent etwas von dir in sich.«

»Eine Fähigkeit hätte also überhaupt keine Chance, zu ihm durchzukommen und tatsächlich etwas zu verändern«, stimmte dem auch Clarus zu. »Und auch, dass du die Blutkapsel bei dir trägst und dich trotzdem veränderst, ergibt keinen Sinn«, fügte er an Pierre gewandt hinzu.

»Was ist es dann?«, fragte Simon unsicher, der offensichtlich verzweifelt war und sich endlich eine Lösung herbeisehnte.

»Tja, das ist die Frage«, murmelte Clarus.

»Wenn es keine Fähigkeit ist, dann muss es zumindest Magie sein«, meldete sich Nagur zu Wort. »Nichts anderes ist unnatürlich, und wir stimmen doch damit überein, dass diese Entwicklung äußerst unnatürlich ist, zumal sie über die Verwandlung hinausgeht, wie man an Simon und Pierre sieht.«

Er erntete für seine Aussage einige nickende Köpfe. Lucas war jedoch der Einzige, der auch etwas erwiderte: »Wenn es Magie ist, fällt sie nicht einfach so vom Himmel. Es muss jemand dahinter stehen, der einen Zauber ausgesprochen hat.«

»Und dann bleibt wieder die Frage, warum er will, dass alle geborenen Werwölfe altern«, wiederholte Chiel seinen Einwand von vorhin.

»Das soll also eine Verschwörung sein?«, fragte Pierre skeptisch und höchst allarmiert.

Ich fühlte, wie ich immer weiter in mir zusammensank. Das, was sie da feststellten, klang in meinen Ohren logisch und doch machte es mir noch viel mehr Angst, denn es bedeutete, dass schon wieder jemand etwas mit meinem Leben und meinen Lieben anstellte, was nicht in den normalen glücklichen Ablauf des Lebens gehörte, das ich endlich leben wollte. Aber Charts Familie war doch tot. Oder gab es da noch jemanden, der sich jetzt für ihr Ableben rächen wollte?

Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu, während die Anderen um mich herum weiter diskutierten. Dabei glitt mein Blick hinab zu meinem Sohn, der munterer zu werden schien und vor sich hin plapperte, wie er es so oft machte. Dabei benutzte er jedoch viel mehr Silben als jauchzende und quiekende Laute, wie es zuvor gewesen war. Ich wusste aus meinen Büchern, dass das die nächste Stufe der Sprachentwicklung war, die mit drei bis vier Monaten durchaus normal war. Jedoch klangen seine Silben schon fast wie ganze Wörter, klar und deutlich artikuliert, obwohl er sie nur für sich daher murmelte. Hieß das, dass er sich entwickelte? Reifte sein Sprachverständnis etwa so schnell voran, wie es sein Körper tat? Oder kam mir das nur so vor und er hinkte zurück?

»Was, wenn er mit seiner Entwicklung komplett zurückbleibt?«, stieß ich leise hervor und drehte meinen Kopf zu Marlon, da nur er es klar vernommen hatte. Alle anderen beratschlagten sich und drehten sich dabei noch immer im Kreis.

»Was?«, fragte Marlon und runzelte die Stirn.

Ich ließ das ungute Gefühl und die Angst in meine Stimme gleiten, als ich wieder sprach: »Ein Baby muss seine ganze emotionale, soziale, geistige und motorische Entwicklung durchlaufen, um eine normal handelnde Person zu werden. Es muss erst Erfahrungen machen, um überhaupt richtige Gefühle entwickeln zu können und sowas wie Empathie zu erlernen«, informierte ich ihn, obwohl ich wusste, dass er sich mittlerweile damit auskannte. Er nickte jedenfalls noch immer mit gerunzelter Stirn, doch ich sah, dass er langsam anfing zu verstehen, worauf ich hinauswollte. »Wenn Liams Körper jetzt so schnell wächst, was passiert, wenn seine geistige Entwicklung nicht genauso schnell ist?«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Das … ich glaube nicht, dass das passiert«, sagte er und sein Blick glitt zu Liam, was mir zeigte, dass er nicht sicher sagen konnte, ob es so sein würde oder nicht.

Ich wollte gerade etwas erwidern, das meine Zweifel zeigte, doch da erhob sich Clarus‘ Wort lauter als zuvor: »Also beschließen wir, dass wir uns den Rat der Magier zu Ohre kommen lassen, um in dieser Sache weiterzukommen.« Er blickte einmal durch die Runde. »Des Weiteren müssen wir natürlich alle Augen offen halten, um sowohl weitere Veränderungen an euch«, er sah dabei zu Simon und Pierre, wobei Liam ganz klar mit eingeschlossen war, »als auch fremde Personen, Dinge oder irgendwas Sonderbares zu bemerken. Wir treffen uns morgen früh um diese Uhrzeit nochmal und beratschlagen weiter.«

Ich warf einen Blick auf meine dünne Armbanduhr, um festzustellen, wann wir morgen hier sein mussten, und runzelte dabei beunruhigt die Stirn. Diese Versammlung hatte mich alles andere als zufrieden gestellt, denn wir hatten rein gar nichts erreicht. Es schien jetzt nur alles noch schlimmer geworden zu sein, da klar war, dass es sich in irgendeiner Form um eine Verschwörung handelte, von der ich keine Ahnung hatte, was für ein Ausmaß sie nehmen konnte und worauf sie abzielte.

Marlon erhob sich neben mir und schob den Kinderwagen so, dass ich Liam gut hineinlegen konnte. Mein Blick glitt nochmal zu Clarus, welcher ihn entschuldigend auffing, ehe wir den Besprechungsraum verließen und mit einigen anderen in Richtung Eingangshalle liefen. Sie unterhielten sich noch über die Kuriosität des neu aufgetretenen Problems, während Marlon und ich still waren. Wir wussten, dass wir gleich im Speisesaal, wohin wir gingen, mit den zahlreichen Fragen unserer Freunde bombardiert würden, die wir beantworten mussten, so gut es eben ging. Dabei fühlte es sich schwer in mir drin an, denn ich sehnte mich viel mehr danach, selbst Aufschluss darüber zu bekommen, was mit meinem Sohn geschah. Diesem kleinen, drei Monate alten Wesen, das noch viel zu jung dafür war, um schon in so böse, abgrundtief schlechte Dinge verwickelt zu werden, von denen wir nicht einmal wussten, was sie waren. Und doch hatte ihn dieses Vermächtnis bereits eingeholt.  

 

»Ich kann das immer noch nicht glauben«, murmelte Mac vor sich hin, während er auf unserem Bettrand saß, den Kopf auf seine Hände gestützt. Er betrachtete Liam, welcher auf seiner Spieldecke herum robbte und dabei lauthals irgendwelche Silbenketten brabbelte.

Ich lehnte an dem Schreibtisch und sah ebenfalls hinab auf meinen Sohn. All unsere Freunde hatten ungläubig und ratlos reagiert, als wir sie mit diesem Problem konfrontiert hatten und so konnte auch Mac noch nicht realisieren, was hier vor sich ging. Langsam schüttelte sich mein Kopf, als ich nochmal die Aussichtslosigkeit durchdachte, vor der ich gerade stand. »Es ist vollkommen unerklärlich. Wenn es wirklich ein Zauber ist, wissen wir noch immer nicht, von wem er kommt. Wer sollte denn so etwas wollen?«, fragte ich mich.

Mac antwortete etwas, aber Liam war jetzt so laut, dass ich zunächst nur ihn verstand. »Ladada. Pff Pff.« Immer wieder blies er laut die Luft aus seinem Mund heraus und schien es amüsant zu finden, wie seine Lippen dabei vibrierten. Erst, als sich sein Kopf noch ein wenig hob und er mich einen guten Meter von sich entfernt entdeckte, hörte er damit auf und sah mich stattdessen fasziniert an. »Mamama. Mama«, brabbelte er dahin, und doch schien dieser Ausdruck ein viel präziserer zu sein als die Geräusche zuvor.

Meine Augen wurden im gleichen Moment groß, als Mac erstaunt fragte: »Hat er gerade Mama gesagt?«

Kurz schossen meine Augen zu ihm, um bestätigt zu haben, dass er genauso ungläubig dreinschaute wie ich, bevor ich wieder zu meinem Kind sah, welches jetzt zielstrebig auf mich zu krabbelte. Auch das war etwas, das er erst in den letzten Wochen begonnen hatte und daher in seiner bewegungstechnischen Entwicklung noch gar nicht dermaßen weit sein dürfte. Da sein Körper jedoch so schnell gewachsen war, war mir dieser Bewegungsfortschritt vorhin, als ich ihn auf seiner Decke abgesetzt hatte, gar nicht mal so komisch vorgekommen. Dass er jetzt schon Mama sagte, haute mich hingegen vollkommen um.

»Mama«, brabbelte er nochmal, während er auf mich zu kam und sich schließlich an meinem Hosenbein festhielt, um sich daran hochzuziehen.

Ich sah perplex zu, wie er etwas unkoordiniert und wackelig Halt an mir suchte, bis er schließlich auf seinen Füßen stand, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Dabei glitt sein Blick zu mir hoch und er sagte nochmal Mama, was ein klares Signal an mich war, dass er meine Aufmerksamkeit wollte. Vollkommen überfordert mit der Situation, beugte ich mich zu ihm herab und nahm ihn hoch, wo er begann, nach dem Träger meines Tops zu greifen, was er durchaus öfter tat. Alles andere als oft brachte er dabei aber so viele Silben hervor, wie er es jetzt tat.

»Das ist ja krass«, sagte Mac und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Er ist drei Monate alt«, stieß ich geschockt hervor. »Er sollte noch gar nicht reden können. Und Stehen erst recht nicht, wenn er letzte Woche erst angefangen hat zu krabbeln.«

Mac erhob sich langsam vom Bettrand und kam auf mich zu, ehe er die Arme so ausstreckte, dass klar war, dass er Liam halten wollte. Ich überließ ihn ihm, was Liam mit neugierigen Augen mit sich machen ließ. »Ja, aber sein Körper ist in dieser Nacht nun mal gealtert. Das heißt, rein körperlich gesehen ist er jetzt … wie alt? Eins? Zwei?«

»Anderthalb vielleicht«, murmelte ich, während ich beobachtete, wie er ihn kurz betrachtete, ehe er ihn auf den Boden setzte und ihm gleich darauf mit den Händen als Stütze half, wieder aufzustehen. Es sah für mich vollkommen kurios aus, wie Liam dabei glücklich grinste und einige Schritte machte, während Mac ihn mit den Händen stützte.

»Ja, siehst du? In dem Alter fangen die doch an zu reden und zu laufen oder nicht? Also wenn du mich fragst, solltet ihr das fördern, selbst wenn es noch nicht an der Zeit dafür wäre«, meinte Mac. »Stell dir vor, morgen ist er vom Körper her wie ein sechsjähriges Kind und kann immer noch nicht laufen oder sprechen, weil ihr das nicht mit ihm geübt habt.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte darüber nach. Die Befürchtung, er würde geistig zurückbleiben, schien zumindest teilweise widerlegt zu sein, da Liam offensichtlich anfing zu sprechen. Das würde er nicht können, wenn er vom Geist her noch nicht so weit wie sein Körper war, oder nicht? »Ja«, murmelte ich gedankenverloren. »Meinst du, wir sollten aufschreiben, wann er sich wie verändert?«

»Das ist ‘ne gute Idee«, pflichtete mir Mac bei, während er tatkräftig damit beschäftigt war, mit Liam durch unser Zimmer zu laufen.

Also setzte ich mich mit gemischten Gefühlen an den Schreibtisch, wo ich erst einige Sachen an die Seite räumen musste, bis ich so etwas wie einen Notizblock und einen Stift fand. Während ich hörte, wie Mac jetzt überdeutlich mit Liam zu reden begann, notierte ich das gestrige Datum und all die Veränderungen, die seither stattgefunden hatten. Ich war gerade bei der letzten – dem Laufen -, da ging die Tür auf und Marlon kam herein. Er erblickte erst mich auf dem Schreibtischstuhl, ehe sein Blick ganz automatisch zu Mac und Liam glitt, die im Raum standen und sich auf eine kindliche Art und Weise unterhielten. Ich konnte mit schwerem Herzen zusehen, wie er die beiden perplex anstarrte und mitten in der offenen Tür in der Bewegung verharrte.

»Oh guck mal, Liam, da ist dein Papa«, hörte ich Mac sagen. »Sag mal Papa. Hallo Papa.« Liam machte nur undefinierbare Geräusche, statt Macs Bitte zu folgen, aber ich war mir sicher, dass er Marlon als seinen Vater erkannte und ihm den Namen Papa durchaus zuordnen konnte.

»Was …?«, wollte Marlon fragen, doch ihm blieben die Wörter aus, als er sich endlich besann und die Tür schloss.

»Er entwickelt sich mehr, als dass er nur wächst«, berichtete ich mit leiser Stimme.

»Er kann schon fast alleine laufen«, sagte Mac. »Guck her. Na komm, Liam. Steh auf.« Ich drehte mich zu ihm um und beobachtete, wie Mac Liam an den Händen hoch half und dann einige Schritte weiter durch den Raum ging, ehe sich der Kleine auf seinen Hintern setzte.

Ich erhob mich, denn ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden, was wohl da herrührte, dass ich noch immer verzweifelt war, auch wenn Mac an der ganzen Sache ihre positiven Komponenten entdeckte. Ich hingegen fühlte mich überfordert, denn ich war davon ausgegangen, dass die ersten sechzehn Lebensjahre meines Sohnes ganz normal verlaufen würden. Marlon schien es nicht zu wundern, als ich auf ihn zukam und einfach meine Arme um seine Mitte schlang, denn er hielt mich mit seinen Händen nah an sich gedrückt und legte seinen Kopf sanft auf meinen, während ich spürte, wie er tief ein- und ausatmete.

»Gerade eben hat er Kim schon Mama genannt«, berichtete Mac weiter.

»Also fängt er an zu sprechen«, murmelte Marlon schlussfolgernd.

Ab diesem Moment an war jedes neue Wort von Liam wie die Bestätigung, dass das Altern weiterging. Im Laufe des Tages lernte er sämtliche Gegenstände zu benennen, Marlon und mich mit diesen Gegenständen in Verbindung zu bringen und klarere Laute zu formulieren als nur schlichtes Jauchzen und Brummeln. Er schaffte es außerdem, ohne Macs oder unsere Hilfe einige Schritte zu laufen, bis er am Abend so weit war, richtige Strecken hinter sich zu bringen. Dass er dann todmüde war und letztlich beim Abendessen in Ronias Armen einschlief, war nach so einem ereignisreichen Tag kein Wunder.

In dieser Nacht machte ich wieder kaum ein Auge zu, denn ich hatte Angst davor, dass ich am nächsten Morgen ein Kind vor mir liegen haben würde, das schon in den Kindergarten gehen könnte. Oder noch schlimmer: in die Schule. Die Unbekannten hatte ich heute nicht mehr zu Gesicht bekommen, doch ich ging schwer davon aus, dass auch sie weiter gealtert waren. Dieses Schicksal konnte nicht nur das von Liam sein.

Marlon und ich zerbrachen uns den Kopf darüber, was es sein könnte, und wie es weitergehen würde, bis mein Mann plötzlich zumindest einen Anhaltspunkt hatte, den er erst zögerlich und dann begreifend formulierte: »Es gibt da doch noch eine Sache, wo wir seit Wochen nicht weitergekommen sind«, sagte er.

Ich runzelte die Stirn und veränderte meine Liegeposition, damit ich ihn besser ansehen konnte. Er lag mir gegenüber auf der Seite und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn und nachdenklichen Augen. »Was meinst du?«, fragte ich leise, denn ich wollte Liam nicht aufwecken.

»Die Unbekannten haben doch irgendwo im Wald mit ihren Eltern gewohnt. Und wir wissen bis heute nicht, warum sie da ganz allein gelebt haben und wieso Rosello sie umgebracht hat. Vielleicht wussten sie etwas darüber. Vielleicht haben sie deswegen allein gewohnt.«

Ich dachte einen Moment darüber nach, was das bedeuten könnte, während meine Augen über sein Gesicht fuhren und jeden Zentimeter davon aufnahmen. »Glaubst du, sie wussten, dass eines Tages ein Zauber kommen würde? Dass ihre Kinder deshalb altern würden?«

Er zuckte die Schultern, sodass die rechte davon von der Decke befreit wurde, als diese hinabrutschte. »Vielleicht. Aber ich finde, das ist etwas, was man in Betracht ziehen könnte. Man kann bei ihnen anfangen zu suchen. Sonst haben wir doch keinen anderen Anhaltspunkt.«

Ich nickte. »Wir sollten mit Clarus darüber reden«, flüsterte ich.

Seine Augen lagen noch einen Moment auf mir, dann schossen sie hinter mich und er richtete sich ein wenig auf, um auf die Digitaluhr an meinem Nachttisch blicken zu können. »Es ist erst neun Uhr. Ich gehe zu ihm«, sagte er dann und schälte sich schon aus der Decke.

»Warte«, hielt ich ihn auf, doch sogleich glitt mein Blick zu Liams Bett, als ich mich ebenfalls erheben wollte. »Oder …«

»Bleib hier«, legte Marlon fest. »Pass auf ihn auf. Ich komme sofort wieder.« Er krabbelte zu mir rüber und gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich vom Bett erhob.

Ich beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie er sich eine Jeans überzog und das T-Shirt straffte, bevor er Schuhe anzog und das Zimmer verließ. Ganz allein blieb ich in dem großen Bett liegen und fühlte mich verloren.

Ich sah nicht auf die Uhr, um festzustellen, wie lange Marlon weg war, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der ich ganz allein im Bett lag. Dabei schaffte ich es einfach nicht, meine Gedanken abzustellen, obwohl ich so müde war, dass ich gerne eingeschlafen wäre. Als die Tür dann endlich wieder aufging, schien sich der Raum zu erhellen. Marlons Gesicht verriet auf den ersten Blick keine Wut, was gut war, und auch keine pure Verzweiflung, was ebenfalls Hoffnung bot. Stattdessen sah er mich mit ziemlich geweiteten, nachdenklichen Augen an.

»Und?«, drängelte ich.

Er presste die Lippen einen Moment aufeinander, in dem er seine Jeans aufknöpfte und sie sich von den Beinen streifte. Sie blieb unordentlich auf dem Boden liegen, als er wieder ins Bett krabbelte und sich die Decke über den Körper legte. »Heute passiert nichts mehr«, sagte er währenddessen.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich ihn, wie er seinen Kopf auf das Kissen bettete und die Decke bis zu den Schultern hochzog. Dann trafen seine Augen die meinen und lasen die Fragen darin, sodass ich sie gar nicht laut stellen brauchte. »Clarus sagt, dass es wirklich ein Anhaltspunkt sein könnte. Er ist jetzt gerade bei Simon, um kurz mit ihm darüber zu sprechen. Aber sicher ist, dass wir dahin gehen werden. Zu dem Haus, meine ich. Wer mitgeht und wann’s losgeht, will Clarus morgen in der Besprechung klären.«

Während ich ihm zuhörte, entstand in mir ein schwereloses Gefühl, das sich so weit ausdehnte, dass bald kein Platz mehr für andere Emotionen war. Diese Schwerelosigkeit war nur die Tarnung für die altbekannte Angst. Angst, dass wir zu wenig handelten. Angst, dass uns die Zeit davonlief. »Die Besprechung ist erst um halb neun. Bis dahin haben wir kein Baby mehr im Bett liegen, sondern ein Kleinkind.«

Da meine Augen sich für einen Moment geschlossen hatten, konnte ich nur hören, wie Marlon näher zu mir kam. Die Decken raschelten leicht, dann hob sich meine an und ließ einen Hauch kalter Luft zu mir durch, bevor sich ein warmer Körper an meine Seite drückte. Eine seiner Hände fuhr tröstend über meinen Bauch, um sich auf der anderen Seite unter meinen Rücken zu schieben, während mich Marlons Nase sanft an der Wange berührte. Erst Sekunden später trafen dort weiche Lippen auf, die einen zarten Kuss hinterließen.

»Wenn es ein Zauber ist, dann wirkt der doch eigentlich nur, wenn man sich in der Nähe der Energiequelle befindet oder?«, hauchte er sanft.

»Meistens ja«, murmelte ich noch immer mit geschlossenen Augen.

»Wenn er sich morgen immer noch verändert«, redete Marlon leise weiter, »dann gehen wir hier weg. Irgendwo hin, wo wir weit genug von hier entfernt sind, damit es ihn nicht mehr erreichen kann.«

Langsam öffneten sich meine Augen und ich drehte meinen Kopf, bis ich ihn ansehen konnte. Sein Blau schaffte es in der Schwärze des Raumes nicht mehr zu schimmern, wie es das im Licht tat, aber es löste die gleichen kribbelnden Gefühle in mir aus wie sonst. Dass er dieses Vorhaben mit einer so sicher klingenden Stimme ausgesprochen hatte, gab mir eine Art von Sicherheit, die ich nicht verstand. Ich wusste nur, dass ich ihm nicht widersprechen würde. Also nickte ich leicht.

Er kam auf mich zu und drückte seine Lippen für einen langen gefühlvollen Kuss auf meine, ehe er sein Gesicht für einige Zentimeter von mir entfernte und ein Stück höher rutschte. Letztendlich konnte ich mein Gesicht gegen seine Halsbeuge pressen und atmete den lieblichen Duft des Weichspülers ein, gepaart mit dem unverwechselbaren Marlon-Geruch, der mein Herz beruhigte. Seine schiere Präsens schaffte es plötzlich, mich Mut fassen zu lassen und die Angst ein Stückweit nach hinten zu drängen, bis ich so ruhig war, dass ich tatsächlich einschlief.

Flucht

Marlon

 

Im Besprechungsraum empfingen uns Nagur, Lucas und Clarus mit erstaunten und beunruhigten Blicken. Sie alle sahen Liam in seinem Kinderwagen an, der nur einen Schlafanzug trug, weil dieser das einzige Kleidungsstück war, das ihm noch passte. Über Nacht war er zu einem etwa zweijährigen Kind herangewachsen, das jetzt schon laufen und fast vollständige Sätze hervorbringen konnte.

»Ich fasse das nicht«, murmelte Lucas, der herangekommen war, um ihn näher zu betrachten.

»Da bist du nicht der Einzige«, sagte Kim zu ihm, während hinter uns einige andere in den Raum traten.

Mein Blick blieb an Simon hängen, der sich ebenfalls verändert hatte. Seine Augen schienen älter zu sein, sein Bart voller, die gesamte Statur irgendwie breiter und größer als gestern. Pierre, der nur ein paar Sekunden nach ihm eintrat, hatte deutlich mehr weiße Haare zwischen den dichten schwarzen und wirkte unendlich erschöpft. Er ließ sich neben Simon an den Tisch gleiten und starrte einen Moment lang nur auf die Tischplatte, bis Chiel verkündete, dass wir vollzählig waren.

»Guten Morgen«, begrüßte Clarus alle und ließ seine Augen über jeden einzelnen fahren.

»Lass mich raten«, unterbrach ihn Pierre, als Clarus gerade hatte weiterreden wollen. »Es gibt nichts, das uns weiterbringen kann.«

Clarus zog die Stirn kraus, aber er konnte sich genauso wenig wie wir über das missmutige Verhalten von Pierre wundern. »Nein, nicht wirklich.«

»Eigentlich«, meinte Lucas, »haben wir aber schon ein paar Anhaltspunkte, an die wir uns ranmachen wollen, um etwas in Erfahrung zu bringen.«

»Genau«, erwiderte Clarus. »Das Erste ist: wir werden nach Tower fahren. Da wohnten und starben Simons Eltern. Wir können in Betracht ziehen, dass sie möglicherweise etwas von dieser Sache wussten und eventuell aus diesem Grund gestorben sind. Es ist immerhin ein Anhaltspunkt.«

Ich beobachtete Simon, während Clarus das sagte, denn ich wollte wissen, wie er auf dieses Vorhaben reagierte. Doch er saß nur ganz still da, sah nach unten und wirkte leer. Einschläfernd. So als würde Clarus gar nicht von seinen Eltern sprechen, sondern die Geschichte einer völlig fremden Familie erzählen. Vielleicht war das seine Methode, um mit dem Schmerz umzugehen, den ihm der Tod seiner Eltern sicherlich bereiten musste. Vielleicht aber war er auch einfach nur sehr gut darin, seine Gefühle für sich zu behalten.

»Wer wird alles dorthin fahren?«, fragte Yano.

»Nur so viele wie nötig«, erwiderte Lucas. »Das heißt: Simon auf jeden Fall. Und Kimberly.« Mein Inneres verkrampfte sich. Dass Simon mitkommen musste, war klar, da er sich dort auskannte. Dass Kim mitkommen musste, machte insofern auch Sinn, als dass sie ihrer Fähigkeit wegen nützlich sein konnte, falls man tatsächlich etwas finden würde, das geheilt oder festgehalten werden musste. Aber meine Sorge um sie konnte ich nicht einfach ignorieren, denn sie war viel zu tief in mir verankert. Die Wochen, in denen sie unter Dezaras Präsens gelitten hatte, blitzten sofort wieder als Erinnerung in meinem Kopf auf, wenn ich das Gefühl der Sorge und der Hilflosigkeit in mir spürte. Es machte mich krank, sie nicht beschützen zu können.

Mein Kopf drehte sich zu ihr hin und sie erwiderte den Blick sofort, woran ich merkte, dass sie schon wusste, wie ich empfand. Aber in ihren Augen lag noch etwas anderes, das mich stumm bleiben ließ. Es war die pure Angst um Liam, die mich genauso erfasste wie sie. Und deswegen presste ich nur meine Lippen zusammen und ließ ihre Hand die meine ergreifen. Kim ließ sie nicht mehr los, als wir beide wieder zu Lucas und Clarus sahen, welche nichts von unserer stummen Konversation mitbekommen hatten.

»Und du«, fügte Clarus zu Lucas‘ Worten hinzu. Er blickte ihn kurz an und wartete das Nicken des blonden Mannes ab. »Das muss reichen. Je mehr ihr seid, desto auffälliger wird es. Wir wissen nicht, was euch dort erwartet – oder ob euch überhaupt etwas erwartet. Aber zu dritt und mit diesen starken Fähigkeiten seid ihr dem gut gewappnet.«

»Wann fahren wir los?«, fragte die blonde Schönheit neben mir mit ihrer lieblichen Stimme, die nicht mal durch ihre Aufregung und die verzweifelte Angst verzerrt werden konnte.

»Am besten sofort nach dieser Besprechung«, antwortete ihr Clarus. »Denn wir haben noch einen zweiten Punkt, den wir vor allem in Kooperation mit den Magiern beschlossen haben.«

Ich wusste schon, was er sagen würde, bevor er es überhaupt ausgesprochen hatte. Man sah es ihm am Gesicht an, dass die Antwort zu den Gedanken passte, die ich Kim gestern Abend formuliert hatte: Flucht. Wir sollten vor dem fliehen, was wir in diesem Moment noch nicht identifizieren - geschweige denn aufhalten - konnten. In Clarus Gesicht spiegelte sich dieser Gedanke glasklar wider, sodass ich mich nicht zurückhalten konnte, als sich mein Mund öffnete und die fünf einfachen Wörter heraussprudelten: »Wir müssen von hier weggehen.«

Die dunklen Augen des Clanführers trafen mich und für einen kurzen Moment dachte ich, hätte sich so etwas wie ehrliche Sympathie zwischen uns gebildet, die es die letzten sechs Jahre nicht zwischen uns geschafft hatte. Als er dann jedoch nickte, schien dieser Moment verflogen zu sein. »Es ist in den meisten Fällen so, dass ein solch beeinflussender Zauber nur wirkt, wenn sich die Zielobjekte in unmittelbarer Umgebung desjenigen befinden, der den Zauber ausgesprochen hat. Oder eben der Quelle, aus der der Zauber seine Energie gewinnt.«

Man konnte sehen, wie einige der Anwesenden nickten, da sie die Gedankengänge nachvollziehen konnten. »Das heißt, je weiter sie weggehen, desto höher ist die Chance, dem Altern entgehen zu können«, folgerte Nagur.

»Richtig«, stimmte Lucas zu.

»Und wo sollen wir hin?«, war es Pierre, der das fragte. Er sah noch immer schrecklich müde aus, mit tiefen Ringen unter den Augen und mürrisch zusammengezogenen Augenbrauen.

»Melise hat ein Ferienhaus am Aerie Lake, in der Nähe von Prosit. Es hat etliche Zimmer, um euch alle unterzubringen.«

»Außerdem liegt es direkt am Wald, weit weg von der Stadt. Es ist erstens schwer zu finden und zweitens abgeschirmt von der Zivilisation«, ergänzte Clarus. »Ihr solltet euch jetzt gleich daran machen, eure Sachen zu packen und dann fahrt ihr mit zwei Autos los.« Sein Blick glitt zu mir, damit klar war, dass er mich mit in die Gruppe einschloss. Aber das war mir sowieso klar gewesen, da ich Liam kaum mit den Anderen allein losgeschickt hätte. Es war etwas anderes, das mich quälte, weshalb ich meine Augen von Clarus losriss und stattdessen Kim ansah. Sie erwiderte meinen Blick kurz, sodass ich den Hauch an Zuversicht erkennen konnte, den sie mir zusandte. Dieses kleine Bisschen an Hoffnung war es, das mich beruhigte, sodass ich das Gespräch darüber auf später verschieben konnte, wenn wir allein sein würden.

»Was ist mit meinem Job?«, fragte Pierre. Ich wusste, dass er regelmäßig arbeiten ging und dafür meistens abends weg war, doch ich hatte nie nachgefragt, als was er arbeitete.

Clarus nickte wissend. »Lass das meine Sorge sein. Ich kümmere mich darum. Ihr kriegt genug Geld mit, um dort einzukaufen. Deckt euch für ein paar Wochen ein. Wir wissen nicht, wie lange ihr da bleiben müsst und ob es überhaupt etwas bringt, aber seid für den Notfall vorbereitet.«

Mich überforderte diese Aussage. Für mich und für sie konnte ich sorgen, denn es war einfach, ein paar Dosensuppen und Wasser zu kaufen, um überleben zu können. Die Sache mit Liam war viel komplizierter, denn aufgrund des Wachstums konnte er bald nicht mal mehr Kims Milch trinken. Wir mussten ihn also jetzt schon auf halbwegs feste Nahrung umgewöhnen, was mich insofern überforderte, als dass ich kaum Ahnung davon hatte. Für sowas hatte ich die wundervolle Frau an meiner Seite, die sich damit auskannte und sich darum kümmerte.

Wegen meiner verzweifelten Gedanken bekam ich kaum mit, was sonst noch gesagt wurde, aber es konnte wohl nichts Wichtiges sein, denn gleich darauf erhoben sich alle. Vage bekam ich mit, wie Simon sagte, dass wir uns um zehn Uhr in der Eingangshalle treffen würden, um abzufahren, womit ich alles hatte, was ich wissen musste.

Neben Kim schob ich den Kinderwagen aus dem Raum heraus und war froh, als wir in unseren Gang kamen, wo wir alle anderen hinter uns gelassen hatten. »Kim, ich kann nicht ohne dich von hier wegfahren«, sprach ich meine Not endlich aus.

Ich fühlte ihren Blick auf mir, doch dann entzog sie ihn mir schon wieder, als sie unsere Zimmertür öffnete, damit ich hineinfahren konnte. »Ich komme direkt nach, wenn wir in Tower fertig sind. Es kann sein, dass wir da gar nichts finden und dann schon nach einer Stunde wieder hier sind.«

»Allein die Fahrt dauert doch anderthalb Stunden. Das heißt, mal ganz abgesehen von der Strecke, die wir bis zum Aerie Lake fahren, bist du mindestens einen halben Tag weg. Was soll ich ihm denn zu essen geben, wenn du nicht da bist?«

»Fertigmilch.« Sie blieb mitten im Raum stehen und sah mich an. »Wir haben doch sogar drüben noch ein paar Schachteln von dem Pulver. Die kannst du auf jeden Fall mitnehmen. Und … na ja, wenn ihr in Prosit einkauft, dann besorg vielleicht auch ein paar Flaschen Brei. Und all sowas, was er essen kann, wenn er ein paar mehr Zähne im Mund hat.«

Ich stand da und sah sie an, bis Liam ein unzufriedenes Geräusch von sich gab, das unser beide Blicke zu ihm lenkte. Er streckte sich jedoch nur in seinem Kinderwagen aus und schien es unangebracht zu finden, immer noch darin warten zu müssen.

»Marlon, ich …«, begann Kim wieder und ich sah zu ihr hin. Sie wirkte etwas ratlos, aber nicht mehr ganz so verzweifelt wie gestern Abend. »Ich muss jetzt los.«

Ich brachte ein unglückliches Nicken zustande und sah ihr stumm dabei zu, wie sie ihre Hausschuhe mit Turnschuhen austauschte, bevor sie sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband und sich eine Jacke griff. Danach traf ihr Blick den meinen und sie verzog das Gesicht in einer mitleidigen Geste. »Sobald ich kann, werde ich zu euch kommen«, sagte sie mit einem Tonfall, der mir Hoffnung geben sollte.

Ich biss die Zähne aufeinander und nickte, während in meinem Kopf schon eine Liste entstand, was ich alles arrangieren musste. »Also packe ich auch Sachen für dich ein. Und wenn wir in Prosit einkaufen gehen, muss ich Kleidung für Liam kaufen. Er passt in nichts mehr rein«, zählte ich einen Teil davon auf.

Sie nickte. »Kauf am besten Sachen, die ihm jetzt schon zu groß sind.« Ihre Stimme klang traurig, als sie das sagte, und berührte sowohl ihre als auch meine Angst.

»Ja«, murmelte ich, während ich ihr zusah, wie sie zu Liam ging und ihm einen Kuss auf die Stirn gab.

»Sei brav, mein Kleiner. Hör gut auf Papa und …«, sie stockte und presste einen Moment die Lippen aufeinander, bevor sie den Satz beendete: »und hör auf, so schnell zu altern.« Noch einmal küsste sie ihn, ehe sie sich wieder aufrichtete und mich ansah.

Es war ein komisches Gefühl, sie in meine Arme zu ziehen und zu wissen, dass dieser Abschied ein anderer war als einer der vielen, wenn ich sie für eine mehrstündige Shoppingtour mit Monique freiließ. Diesmal schwang in ihrem Geruch ein Hauch von Gefahr mit und ein riesiger Teil an Unsicherheit, der es schwer machte, sie loszulassen, nachdem sie mich geküsst hatte. Doch es brachte nichts, länger die Zeit zu verschwenden, wenn Zeit gerade alles war, was wir benötigten. Also ließ ich sie gehen.

 

»Wo ist Mama?« Es war die liebliche, fein klingende Stimme von Liam, die den Raum wie ein Pfeil durchflog. Sie wehte zu mir herüber und brachte mich zum Stocken, mein Herz zum Stehen und meinen Puls zum Stillstand.

Es war nicht das erste Mal, dass er eine vollständige Frage stellte, aber die Art, wie er sie betonte – so sehnsüchtig und einsam – schockte mich so sehr, dass ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alle Rechte an diesem Buch gehören der Autorin © Ela Maus.
Bildmaterialien: Cover created by T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2016
ISBN: 978-3-7438-2466-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieser Band der Schattenwölfe-Reihe ist Jonas gewidmet.

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