Kimberly
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so verloren gefühlt. Nicht mal an dem sonnigen Sommernachmittag in Arcata, als ich ungefähr fünf gewesen war und meine Eltern in dem Trubel auf dem Markt verloren hatte und allein herumgeirrt war. Nicht an meinem ersten Tag in der Schule, wo ich meine wenigen Freunde aus den Augen gelassen und plötzlich ganz allein auf dem Gang herumgestanden hatte, ohne eine Ahnung, wie ich zu meinem Klassenraum zurückfinden konnte. Und nicht einmal dann, als Marlon mir von Werwölfen erzählt und damit mein ganzes Leben verändert hatte, war ich mir so verloren vorgekommen wie in den Stunden im Flugzeug.
Denn in diesem Moment hatte ich überhaupt kein Leben mehr. Obwohl ich nun ein Werwolf war, dem normalerweise ein sicherer Platz in der Werwolfs Gemeinschaft zugestanden hätte, war ich obdachlos und so gut wie allein. Ohne Marlon würde ich mich niemals in dieser fremden Welt zurechtfinden können, selbst wenn sie so gütig sein würde, mich aufzunehmen.
Und so waren meine einzigen Gedanken während des Fluges, dass wir uns beeilen mussten. Da wir die Geschwindigkeit des Jets selbst nichts beeinflussen konnten, war es wohl dieser Hilflosigkeit zu verdanken, dass wir umso rasanter und hektischer unterwegs waren, als wir es wieder konnten. Dean raste wie ein Bescheuerter mit dem geklauten Geländewagen über die dunklen Straßen von Silver Bay. Wie schon auf der Fahrt in Arcata hockten Ronia und Jason ganz hinten im Kofferraum, ich mit Marlon auf der Rückbank, Mac quetschte sich in den Zwischenraum und Dean und Chris saßen vorne.
»Wo soll ich hin?«, fragte Dean gestresst, während er mit uns über die Schnellstraße fuhr. Chris wühlte im Handschuhfach und zog schließlich hastig eine Karte von Silver Bay heraus. »Das weißt du selber nicht?«, stellte Dean fest und schnaubte entrüstet.
»Fahr erst mal Richtung See«, murmelte Chris mit gerunzelter Stirn, die mir Sorgen machte. Alles machte mir Sorgen, denn durchgehend hatte ich das Gefühl, dass wir zu langsam waren. Der Flug hatte mehrere Stunden gedauert, was Marlons Gesundheitszustand so kritisch machte, dass ich mich schon die ganze Zeit dazu anhalten musste, meine Hoffnung nicht vollständig aufzugeben.
»Wo ist denn bitte hier der See?«, erwiderte Dean. Ich sah mich ebenfalls um, doch die getönten Scheiben machten es mir schwer bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Abgesehen davon war ohnehin fast nichts um uns herum, bis auf hohe Bäume, welche die Straße einrahmten.
»Die nächste rechts«, meinte Mac und zeigte auf die rechte Seite.
»Woher weißt du das?«
»Keine Ahnung. Sagt mir meine Intuition.«
Dean schnaubte. »Mac, nichts für ungut, aber deine Intuition ist nicht grade die beste und wir haben jetzt echt keine Zeit, irgendwelche Wege zu fahren, die nachher nur in die reinste Pampa führen.«
»Dann fahr halt geradeaus. Wirst schon sehen, wo wir landen«, maulte Mac, der dabei aber keineswegs so patzig klang wie er es unter normalen Umständen getan hätte.
Dean stöhnte und machte Ansätze zum Abbiegen, als Chris rief: »Nein. Nicht da rein.« Erschrocken riss Dean das Lenkrad wieder rum und etwas schlangenförmig blieben wir auf der Straße. »Das hier muss es sein«, redete Chris in normalerem Ton weiter.
Ich konnte nicht erkennen, worauf er zeigte, doch Dean schielte auf die Karte und fragte: »Ein Golfclub? Das sollen sie sein?« Ungläubig runzelte er die Stirn.
»Die Umgebung passt perfekt. Ich glaube schon, dass sich das gut dafür eignet.«
»Hoffentlich«, murmelte Dean und gab Gas. Es war eine Katastrophe, dass wir nicht sicher wussten wo wir hin mussten. Was, wenn dieser Golfclub nicht das Zuhause von Clarus und den anderen Werwölfen war? Wo sollten wir dann hin? Doch Chris nickte immer wieder stumm vor sich hin, während er die ganze Zeit die Karte studierte, was mir ein bisschen mehr Sicherheit gab, dass wir richtig lagen.
Irgendwann begann Marlon sich zu bewegen. Erst bemerkte ich ein minimales Zucken in seiner Hand, dann wurde es stärker. Schließlich zitterte sie. Beunruhigt sagte Mac zu Dean, er solle schneller fahren. Daraufhin gab dieser genervt zurück, dass er schon alles gebe. Ich nahm Marlons Hand in meine und neue Tränen quollen mir aus den Augen. Er wachte nicht auf, er zitterte nur. Doch das Zittern wurde immer stärker und meine Hände zitterten mit.
»Wo lang jetzt?«, fragte Dean endlich, als wir an einer Kreuzung hielten. Sie war die Erste nach der langen einsamen Schnellstraße, die hier offensichtlich endete.
Chris hob seinen Kopf nicht von der Karte, als er antwortete. »Links«, murmelte er. Dean gab wieder Gas. »Gleich musst du rechts.«
Es dauerte nicht lange, da gab Chris das Zeichen zum Abbiegen, wodurch wir auf einen Weg gelenkt wurden, der nicht mehr asphaltiert war. Das Schild Durchfahrt verboten kennzeichnete den Schotterweg, kurz bevor sich dessen Umgebung von einem weit reichenden Ausblick über vertrocknete Felder mit ein paar mageren Bäumen zu einem Wald verwandelte. Er schien im Licht der Scheinwerfer saftig grün zu sein, mit dichten Baumkronen. Trotzdem stellte ich es mir ziemlich unheimlich vor, jetzt allein dort durch zu laufen, selbst als Wolf. Schon hindurch zu fahren war ein komisches Gefühl. Ich hatte plötzlich den Eindruck von tausend Augen angesehen zu werden, die sich dort verbargen.
Der Weg wurde immer schmaler, bis schließlich kein anderes Auto mehr Platz hatte, um an uns vorbei zu kommen. Das sollte ein Golfclub sein? War so ein Weg nicht ziemlich unpassend? Aber vielleicht war gerade das ein gutes Zeichen für uns. Vielleicht war Chris' Theorie wirklich richtig. Hoffentlich.
Es ging eine Weile auf diesem Weg weiter, bis sich vor uns schließlich ein riesiges Gebäude aus dem Wald emporhob. Ich zog meinen Blick mit geweiteten Augen über das große Tor, das sich wie aus dem Nichts aufgebaut hatte. Es stand genau vor uns, war jedoch nicht an eine riesige Mauer gebunden, wie es in Wheeler der Fall war. Dafür, dass das Tor so groß war, erschien der Zaun, der das ganze Haus zu umgeben schien, mickrig klein. Für einen Werwolf überhaupt kein Problem. Das Gebäude dahinter war jedoch ebenso riesig wie in Wheeler, aber irgendwie wirkte es überhaupt nicht unheimlich, abgesehen davon natürlich, dass es mitten in einem schwarzen Wald stand. Die Fassade sah freundlich aus, sie war weiß und auch die Tür, zu der ein kleiner Pfad hinter dem Tor führte, war nicht so überdimensional, wie die in Wheeler. Sie war zwar braun gestrichen, wirkte dabei aber nicht erdrückend. Um das Haus herum erstreckte sich eine breite Wiese, welche wiederrum vom Zaun und unmittelbar angrenzenden Wald eingerahmt wurde und sich so breit auszudehnen schien, dass ich das Ende durch meinen von Bäumen beschränkten Blickwinkel nicht erkennen konnte.
»Ist es das?«, fragte Ronia von hinten.
Chris nickte. »Das muss es sein«, sagte er leise.
»Und wie kommen wir jetzt da rein?«, fragte Mac.
Keiner antwortete. Nach einigen schweigsamen Sekunden schnallte sich Dean ab und öffnete die Tür. »Wir müssen jetzt gehen, sonst ...«, er warf einen Blick auf Marlon und stieg aus dem Auto, den Satz in der Luft hängen lassend.
»Er hat Recht«, meinte Chris und öffnete ebenfalls seine Tür. Mac schlängelte sich durch die Sitzreihen aus dem Auto heraus, bevor er mit Dean zusammen Marlons regungslösen Körper von der Sitzbank zog. Ich achtete darauf, dass sein Kopf nicht unnötig hin und her schaukelte, bevor ich ihnen in die kalte Nachtluft folgte. Hinter uns schlugen Jason und Ronia die Türen zu. Chris stand ganz vorne vor dem Tor.
»Wir müssen rein«, sagte er zu uns gewandt und sah sich um. Er lief an die Seite des Tores und sprang über den relativ niedrigen Zaun. Jason ging an mir vorbei und war auch mit einem Satz drüben. Die zwei anderen Jungs trugen Marlon dorthin und übergaben ihn vorsichtig an die anderen Beiden, ehe sie selbst über den Zaun sprangen und ihn wieder übernahmen. Ich nahm etwas Anlauf und war auch mit einem Satz drüben. Ronia stand gleich darauf neben mir.
Chris lief mit Jason einige Meter zur Tür hin, bis diese vollkommen unerwartet geöffnet wurde. Wir erstarrten. In meinem Körper entstand so viel Angst, dass sie meine Gedanken für einen Augenblick lähmte. Drei Männer blieben unschlüssig im Türrahmen stehen. Als ich sie sah, bekam ich sofort ein eigenartiges Gefühl im Bauch. Es ging von zweien der Männer aus. Der eine hatte eine ähnliche Ausstrahlung wie Dion, weshalb ich mir sofort sicher war, dass er eine Fähigkeit hatte, die jedoch eine andere Auslegung zu haben schien als Dions. Denn anders als mein Gefühl ihm gegenüber war es bei diesem Mann nicht so allarmierend. Was den Anderen betraf, war ich mir nicht sicher, wie ich meine Gefühle deuten konnte. Irgendwie erinnerte er mich an Leroy, denn er schien keine Fähigkeit zu haben. Offensichtlich hatte er trotzdem etwas an sich, was ihn besonders machte. Das musste Clarus sein. Der dritte Mann hatte keine außergewöhnliche Aura. Er strahlte keine besondere Macht aus. Jedenfalls nicht mehr, als es Chris und die Anderen taten.
Ihre Blicke wanderten misstrauisch über jeden Einzelnen von uns, was mir bewusst machte, wie ungewöhnlich es für sie wirken musste, dass wir mitten in der Nacht vor ihrem Haus standen. Auf Marlon verweilten ihre Augen besonders lange, denn sie schienen nicht einschätzen zu können, was diese Aufmachung bedeuten sollte.
»Wer sind Sie?«, fragte nun der Mann mit der komischen Aura. Er hatte eine tiefe Stimme, die zu seinem Alter passte, das etwa um die Vierzig herum liegen musste.
»Clarus, nehme ich an«, sagte Chris statt eine Antwort auf seine Frage zu geben. Der Mann sah ihn lange an, dann nickte er. »Wir sind Werwölfe. Aber -«, begann Chris, doch er wurde von dem dritten Mann unterbrochen.
»Was wollt ihr hier?« Sein Ton war unhöflich und grob. Er war wohl nicht gut auf andere Werwölfe zu sprechen, beziehungsweise, er war nicht so gut auf die anderen Werwölfe zu sprechen. Na ja, verständlich. Was würde ich denken, wenn plötzlich Werwölfe von einem anderen Clan vor unserer Haustür stehen würden? Und das mitten in der Nacht.
Von hinten traten zwei weitere Männer an Clarus heran. Sie sahen in einem Mix aus Neugier und Misstrauen auf uns und ich erkannte durch das Licht des Mondes, welches die Männer allesamt beschien, dass sie gerade aus dem Bett gekommen sein mussten, da sie Jogginghosen trugen.
»Bitte, wir brauchen einen Mediziner«, drängte Chris und deutete mit dem Kopf auf Marlon. »Wir sind den ganzen Weg von Arcata in Kalifornien bis hierher geflogen. Das Gift ist schon lange in seinem Körper. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bitte ...« Ich wusste, dass es nicht Chris‘ Art sein konnte, zu betteln, doch in diesem Moment sah er es wohl als die einzige Möglichkeit, unseren Gegenübern die Dringlichkeit der Situation mitzuteilen. Vielleicht würden sie uns nur so Glauben schenken.
Ich hätte mich am liebsten vor ihnen auf die Knie geschmissen und mit gebettelt, als ich Chris so hörte. Neue Tränen stiegen in meine Augen, ich musste heftig blinzeln und ein Aufschluchzen unterdrücken. Ich hasste mich dafür, dass mir eine einzelne Träne über die Wange lief. Der blonde Mann mit der Fähigkeit hatte seinen Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet, sodass ihm die Träne nicht entging. Sein Blick wirkte dabei noch nachdenklicher, obwohl er so forsch mit uns gesprochen hatte. Er wandte seinen Blick aber nicht ab, als ich sah, dass er mich die ganze Zeit beobachtete. Was hatte er? Spürte er, dass ich eine Fähigkeit hatte?
Ich versuchte den Blick zu ignorieren und schaute stattdessen auf Clarus. Er beobachtete immer noch Marlon. Bitte lasst uns doch rein … bitte …, flehte ich in Gedanken. Schließlich sah Clarus wieder auf und er musterte jeden Einzelnen von uns genau. Unsere ernsten, verzweifelten Gesichter mussten nachher der Auslöser dafür sein, dass er beiseitetrat und die zwei Männer hinter sich rein scheuchte. »Gut, kommt mit«, sagte er, was in mir einen ganzen Bach an Erleichterung freiließ, der sich in mir ergoss.
Mit bebendem Herzen setzten wir uns langsam in Bewegung. Irgendwie fühlten sich meine Beine jetzt an als wären sie aus Blei. Es fiel mir schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch ich erreichte die Tür genauso wie alle anderen. Ich fühlte ihr Unbehagen als wir an den zwei Männern vorbei gingen. Der Mann mit der Fähigkeit hatte seinen Blick noch immer auf mir, was mir eine Gänsehaut bescherte, da es unangenehm war, von ihm angestarrt zu werden.
Drinnen war kein Licht an, dennoch konnte ich alles erkennen. Es führte eine breite Treppe ins zweite Stockwerk, die genau gegenüber der Tür positioniert war. Hier war die Decke nicht so hoch wie in Wheeler und insgesamt wirkte der Eingangsbereich nicht so hochgestochen majestätisch. Stattdessen sah es aus wie ein überdimensional großer Flur, der sowohl nach oben als auch nach links und rechts abführte. Oben auf der Treppe standen fünf weitere Werwölfe. Sie sahen mit aufgeregten, skeptischen Augen zu uns herunter, so wie die zwei anderen, die dazugekommen waren. So war es eine verdammt unangenehme Situation für uns.
Clarus ging nicht zur Treppe, sondern führte uns durch eine offene Stelle in der Wand in einen angrenzenden Gang nach rechts, in dem sich zwei Türen befanden. Mit einem starken Griff drückte er die Klinke runter und öffnete sie für uns, sodass die Träger Marlon vorsichtig in den Raum bringen konnten, in welchem Clarus das Licht anknipste. Es blendete mich, sodass es ein paar Sekunden dauerte, bis ich ein Krankenzimmer erkennen konnte, das viel mehr danach aussah als jenes in Wheeler. Es standen mehrere kleine Schränke nebeneinander gereiht, ein Schreibtisch und dann natürlich das Bett, welches mit einer hellgelben Bettwäsche bezogen neben einem kleinen Waschbecken und einem Stuhl platziert war. Auf der anderen Seite war noch ein kleines Schränkchen, wie es sie im Krankenhaus auch gab, auf welchem eine Lampe und ein leeres Glas standen.
»Legt ihn auf das Bett«, kommandierte Clarus und deutete darauf.
Dean und Mac trugen Marlon vorbei und legten ihn vorsichtig ab. Ebenso vorsichtig zog ihm Chris die Decke und den Verband vom Körper, sodass er mit nacktem Oberkörper und offener Wunde dalag.
»Wie lange ist das Gift schon in seinem Körper?«, fragte Clarus, während er aus einem der Schränke ein paar Sachen nahm. Ich bewunderte ihn dafür, dass er nicht erst für seine eigene Sicherheit sorgte, indem er uns bewachen ließ oder uns praktische Fragen stellte wie Warum kommt ihr zu uns? oder Wer schickt euch? Aber vielleicht war er sich seiner Fähigkeiten und aufmerksamen Freunde auch sicher genug, dass er darauf verzichtete. Dankbar war ich ihm ohnehin für diese Verhaltensweise, denn sie sparte uns viel Zeit.
»Ein bisschen weniger als sechs Stunden«, mutmaßte Chris.
»Oh«, entfuhr es Clarus. »Das ist schon ziemlich lang.«
Er ging ohne uns anzugucken zu dem kleinen Schrank in der Ecke und holte allerlei Zeug heraus, mit dem er sich ganz fachmännisch und ruhig daran begab, die Wunde zu säubern. Ohne ein Wort an uns zu verschwenden, strich er mit Desinfektionsmitteln über die Wunde, welche mittlerweile nicht mehr von Blut bedeckt war. Der Rand des Einschussloches hatte eine eigenartig dunkle Farbe, weshalb ich gar nicht so lange hinsehen konnte, weil es mir selbst wehtat.
Als er mit dem Säubern fertig war, nahm er sich eine kleine Packung, auf der irgendetwas Kleingedrucktes stand. Daraus zog er eine Zahnpasta ähnliche Tube und hielt sie über die Wunde. Er drückte und heraus kam eine grünliche Pampe. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich wirklich gesagt, dass es Zahnpasta war. Mit einem löffelähnlichen Gerät verteilte er das grüne Zeug über der Wunde, dann nahm er sich ein Handtuch und drückte es darauf. Beunruhigt sah ich zu, wie Marlons Körper zu zucken begann. Er bebte unter den Schmerzen, bis Clarus den Druck wieder wegnahm und die Paste von der Wunde strich.
Was er dann tat, konnte ich nicht mit ansehen, denn allein das Skalpell, welches er danach zur Hand nahm, jagte mir einen unfassbaren Schrecken ein. Ich wandte mich deswegen mit verschwommenen Augen zur Seite und starrte in Macs Augen, die meinen Blick mitleidig und gütig zugleich entgegennahmen. Währenddessen war nichts zu hören als die lauten Herzschläge aller Werwölfe in diesem Raum und die Geräusche, die Clarus mit dem Skalpell auf der Haut meines Freundes machte. Er hantierte mit allen möglichen Sachen herum, was ich nur hören konnte und dabei den Schrecken in Macs Gesicht betrachtete, während dieser Clarus dabei zusah.
»Du kannst wieder gucken«, raunte er mir kaum hörbar zu, als es schließlich leise wurde.
Vertrauensvoll wandte ich meinen Kopf deshalb wieder nach vorne und starrte erschrocken auf die Wunde, welche sich jetzt vergrößert hatte. Offenbar hatte Clarus ein ganzes Stück der Haut um das Loch herum weg geschnitten, sodass jetzt plötzlich violette Flecken auf dem Gewebe darunter zu erkennen waren. Einzelne dunklere Striemen erkannte ich sehr gut auf dem violetten Hintergrund. Es gab nur noch ein paar winzige Stellen, die noch die normale rote Farbe hatten.
»Das ist schlecht«, murmelte Clarus anscheinend eher für sich selbst als für uns. Ich sah ihn beunruhigt an.
»Was bedeutet das?«, fragte Jason und ich hörte dieselbe Verzweiflung heraus, die auch ich verspürte.
Clarus erklärte ohne aufzublicken: »Die violetten Stellen zeigen, wo sich das Gift schon überall tiefer in die Zellen gefressen hat. Und hier ist fast der gesamte Körper voll. Sechs Stunden ist eine lange Zeit. Ich weiß nicht, ob er es schafft.« Er sah auf. »Seine Chancen stehen schlecht.«
Wieder unterdrückte ich ein Schluchzen, doch die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Sie liefen leise und ungehindert meine Wange hinab. Ich bemerkte wie Clarus mich musterte, doch ich konnte nur gebannt auf Marlon starren, während mir die Tränen langsam die Sicht verschwimmen ließen. Ein Arm legte sich tröstend um meine Schultern. Ich musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass es Mac war. Ohne ein Wort lehnte ich mich leicht an ihn, froh über die Stütze.
Dies waren die einzigen Worte, mit denen Clarus uns eine Prognose ausstellte, bevor er den Rest seiner Behandlung fortführte. Da ich von Medizin keine Ahnung hatte und nicht davon ausgehen konnte, dass diese Medizin auch solche war, die für Menschen verwendet werden konnte, beobachtete ich nur schemenhaft was Clarus tat: mit Wasser aus dem Kran schüttete er direkt auf der Wunde zwei weiße Pillen auf, die sich daraufhin in ihre Bestandteile lösten. Danach gab er Marlon drei Spritzen hintereinander. Zwei in den Arm, eine in den Bauch. Dabei zuckte der Körper des Jungen unnatürlich und tat es auch noch, als Dean Clarus stumm dabei half, einen Verband um seinen Oberkörper zu binden, damit alles verschlossen wurde. Erst nach einer vierten Spritze schien sich der Schmerz in ihm zumindest so weit zu legen, dass er regungslos liegen blieb.
»Er ist jetzt erst mal versorgt«, beendete Clarus letztlich seine Versorgungsmaßnahmen und lehnte sich tief durchatmend in dem Stuhl vor Marlons Bett zurück. »Wir können nur hoffen, dass die Mittel schnell helfen. Bei dieser Menge an Gift ist das aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich würde nicht mit dem Besten rechnen.« Er musterte uns mit einem langen, intensiven Blick, ehe er weitersprach: »Und nun zu dem anderen: wer seid ihr und wieso seid ihr hier?« Mir fiel auf, dass er von der höflichen Anredeform zur normalen Gewechselt hatte. Vielleicht war das so unter Werwölfen, vielleicht hatte er aber jetzt auch nicht mehr so viel Respekt vor uns, weil er offenbar gemerkt hatte, dass wir keine bösen Absichten haben konnten.
Ich sah wie Chris sich aufs Sprechen vorbereitete und die Schultern straffte. Er deutete auf jeden einzelnen von uns, während er unsere Namen nannte: »Das ist Jason Navis, Dean Lister, Ronia McShauter, Kimberly Marys, Mac Silverman, ich bin Chris Naword und das ist Marlon Adams.«
Clarus folgte Chris' Andeutungen auf die Personen bis hin zu Marlon. Natürlich konnte er mit den Namen nicht wirklich viel anfangen, weshalb er daraufhin nur eine Augenbraue hob.
»Wir sind alle Werwölfe aus Charts Clan«, sagte Chris, redete aber schnell weiter, als er sah wie sich Clarus etwas versteifte: »Aber wir sind nicht in seinem Auftrag hier. Im Gegenteil. Er, beziehungsweise einer seiner Männer, war es, der Marlon angeschossen hat.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Das, was er sagte war nicht richtig. »Nein, er wollte mich treffen. Marlon hat mich runter gedrückt und wurde selbst getroffen.«
Clarus musterte mich eine Weile, dann sah er zu Marlon und schließlich wieder zu Chris. »Warum hat Chart das getan?«, fragte er mit ruhiger Stimme, die ihn in meinen Augen zu einem sehr viel kompetenteren Anführer machte als Chart es war. Diesen Eindruck hatte ich schon, seit ich Clarus vorhin das erste Mal in die Augen gesehen hatte. Das ist ein gutes Zeichen, würde Leroy jetzt sagen.
Chris zögerte. »Wir haben etwas herausgefunden. Dann sind wir geflohen, nach Arcata. Er ist gekommen und es kam zum Kampf.«
Clarus sah ihn nachdenklich an. »Was habt ihr herausgefunden?«
Wieder zögerte Chris kurz, doch dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus: »Er möchte die Menschen unterwerfen. Er will, dass Werwölfe die führende Macht in der Welt werden. Dazu braucht er die restlichen Werwölfe, deine Werwölfe. Aber dich möchte er töten. Seine Rache ist ihm wichtig, glaube ich.«
Clarus sah ihn eine Weile an, dann lächelte er vergnügt. »Er hat es sechshundert Jahre lang nicht geschafft, mich zu töten. Warum sollte er das jetzt? Und wieso sollten dann die restlichen Werwölfe zu ihm gehen?« Ich sah ihm an, dass er uns nicht ganz glaubte.
»Es gibt einen Werwolf, der mit seiner Fähigkeit unser Bewusstsein steuern kann. Er ist in der Lage, uns zu einem bestimmten Glauben zu bringen ohne dass wir es merken. Jeder, der in seine Nähe kommt, wird beeinflusst, wenn er es so will. Darum sind auch die anderen Werwölfe auf seiner Seite. Er arbeitet für Chart.«
»Wie ist sein Name?«, fragte Clarus und sah dabei schon nachdenklicher aus als vorher. Anscheinend war ihm die Sache doch nicht so geheuer.
»Dion.«
Mit dieser Äußerung verschwanden mit einem Mal alle Züge aus Clarus‘ Gesicht und er starrte nur unverfroren zu Jason, der es gesagt hatte. »Dion«, wiederholte er murmelnd.
»Was ist mit ihm?«, stellte Mac vorsichtig die Frage, die uns alle beschäftigte.
Clarus' Augen wanderten auf den Boden und schienen glasig zu werden. Er sah zurück in die Vergangenheit und seine Stimme klang monoton und ausdruckslos als er antwortete: »Dion ist Charts Sohn.«
Sein Sohn?, hallte es in meinen Gedanken nach. Die Worte sackten langsam in mein Gedächtnis. »Sein Sohn?«, platzte es ungläubig aus Mac heraus. Sie wirken überhaupt nicht Vater-Sohn mäßig, setzte ich innerlich noch an seine Frage an. Nie hatte ich das Gefühl gehabt, zwischen den beiden eine enge Bindung feststellen zu können. Nie war auch nur ein Wort gefallen, das uns darauf hätte schließen lassen.
Clarus nickte. »Schon seit einigen Jahrhunderten. Seine Mutter ist ein paar Jahre nach der Geburt gestorben. Sie wurde von Menschen umgebracht.«
»Seitdem hat Chart ohnehin einen riesigen Hass auf Menschen entwickelt«, spekulierte Chris. »Von dem Mord an seiner Frau wusste ich. Aber nicht von irgendeinem Kind.«
Clarus nickte. »Auch davor meinte er, wir wären mehr wert, als uns unter Menschen zu verstecken, aber dieser Vorfall hat ihn noch gehässiger gemacht als er es schon war.«
»Aber zu dieser Zeit warst du gar nicht mehr mit ihm zusammen«, stellte Dean fest.
»Nein, war ich nicht, aber ich habe immer verfolgt, was bei ihm so passiert. Ich denke, das hat er auch getan. Man soll seinen Feind kennen«, antwortete er gelassen und runzelte dann die Stirn. »Wenn das wirklich stimmt, was ihr sagt, dann verstehe ich nicht wie ihr der Macht von Dion entkommen konntet.«
Ich sah mich schon unbehaglich im Raum um, noch bevor Chris erklärte: »Kimberly hat eine Fähigkeit, die jede andere Fähigkeit wie ein Schutzschild abwehrt. Und vielleicht noch etwas darüber hinaus«, erklärte Chris und sah beim letzten Satz zu mir. Bisher hatte mich noch keiner darauf angesprochen wie ich Chart und die anderen Werwölfe einfach so hatte wegschleudern können, denn unsere einzigen Gedanken und Gespräche hatten sich darum gedreht wie wir Clarus beibringen konnten, dass er uns helfen musste. Doch ich war mir sicher, dass sie das jetzt gleich alles nachholen würden. Dabei wusste ich doch selbst keine Antworten.
Clarus‘ Blick bohrte sich in mich hinein. »Du kannst jede Fähigkeit abwehren?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht genau. Bis jetzt hat es immer geklappt. Aber so viele Leute mit Fähigkeiten sind mir noch nicht begegnet.«
»Wie auch?«, murmelte Mac. »Sie hat sich erst gestern verwandelt.«
Clarus Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Woher wisst ihr dann, dass eure Theorie stimmt?«
Chris blickte mich mit gerunzelter Stirn an, während er Clarus‘ Frage beantwortete. »Wir haben einen Magier besucht, als Kimberly sich noch nicht verwandelt hatte. Er hat eine Art Zeremonie mit ihr durchgeführt und uns gesagt, wie wir vorgehen sollen, wenn sie sich verwandelt.«
»Seit wann wisst ihr von dem Ganzen?«, fragte der alte, weise Werwolf.
Jason seufzte. »Wie wäre es, wenn wir alles nochmal von Anfang an erzählen?«
Clarus nickte. »Ja, das ist vielleicht das Beste.« Ich war erleichtert über diese Aussage, denn sie schob zumindest noch einen Moment lang die Fragen über das ganze Ausmaß meiner Fähigkeit nach hinten.
Und so begann Chris. Er erzählte von dem Moment an, als Marlon nach Arcata geflogen war, um mich aufs Werwolfsein vorzubereiten. In der Zwischenzeit war bei ihnen Dion angekommen, doch es war an ihm angeblich nichts Ungewöhnliches gewesen. Er war ihnen einfach als ein ganz normaler neuer Werwolf erschienen. Bevor ich meinen Informantenbesuch in Wheeler hatte, war nur ein ungewöhnliches Ereignis vonstattengegangen, das aber weder Chris noch ich haarklein erzählen konnten: Charts scheinheilig freundlicher Anruf bei Marlon. Clarus konnte auf Chris‘ spekulative Fragen über Charts Motivation keine genaue Antwort geben, aber in seinem Gesicht sah ich, dass er trotzdem mehr wusste als er preisgeben wollte.
Erst ab dem Nachmittag, an dem ich in Wheeler zusammengebrochen war, schien unsere Erzählung für Clarus wirklich interessant zu werden. Dean sprang ein, um wiederzugeben, wie wir Chart und Dion im Zimmer nebenan belauscht hatten und wie wir herausgefunden hatten, dass ich sie von Dions Magie heilen konnte, wenn ich sie berührte. Dann erzählte Jason wie sie Chart, Rosello und Dion in Charts Zimmer belauscht hatten und dass wir daraus den Schluss gezogen hatten, sie würden Clarus‘ Werwölfe angreifen wollen, um Rache zu üben.
Dann erklärte Chris wieder wie wir nach Arcata geflogen waren, was Chart am Telefon gesagt hatte und was uns Leroy erklärt hatte. Schließlich kamen wir zu dem Teil, wo Marlon und ich auf Masons Party waren. Ich schilderte mit Unwohlsein wie es mir gegangen war; wie sich plötzlich alles in mir verändert hatte und wie mich Marlon in einem Schuppen untergebracht hatte. Chris erzählte zum Schluss noch, was Chart und Dion kurz vor dem Kampf gesagt hatten; wie Chart versucht hatte, uns alle umzubringen, wie es zum Kampf gekommen war und schließlich, warum Marlon angeschossen worden war. Er erklärte aus seiner Sicht wie es gewesen war, als ich Chart und die Anderen plötzlich weggeschleudert hatte. Der entscheidende Unterschied zu meiner Perspektive war dabei die fehlende gelb glitzernde Wand, welche für meine Augen sichtbar, für ihre jedoch offenbar nicht zu erkennen gewesen war.
Clarus hörte die ganze Zeit aufmerksam und von Mal zu Mal beunruhigter zu. Als Chris fertig war, lagen alle Blicke auf mir. Ich schluckte unbehaglich. »Ich … ich weiß auch nicht wie ich das gemacht habe«, gestand ich.
»Aber du musst doch irgendwas gespürt haben«, sagte Mac, wobei es schon eher eine Frage war.
»Ich war … wütend und dann hab’ ich einfach die Hand ausgestreckt und sie sind geflogen«, schilderte ich die Bilder meiner Erinnerungen.
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß noch, dass du sie zur Faust geballt hast.«
»Ja, aber ich weiß nicht wie ich sie dann wegschleudern konnte. In dem Moment war ich … ich habe einfach intuitiv gehandelt. Ich kann es nicht beschreiben.« Ich erinnerte mich noch still daran wie sich eine Art Wand aus mir heraus auf sie zugeschoben hatte, welche die Werwölfe weggeschleudert hatte, aber das sagte ich nicht. Meine Augen gingen hinab zu meiner Hand, die ich jetzt wieder zur Faust ballte als könnte ich den magischen Kasten so erneut entstehen lassen.
»Das ist äußerst erstaunlich«, murmelte Clarus und er klang schon wie Chris, wenn dieser laut nachdachte. »Spürst du es auch, wenn jemand anderes eine Fähigkeit hat? Das ist bei allen anderen Werwölfe so, die eine Fähigkeit haben.«
Also hatte der Typ draußen doch gefühlt, dass ich eine hatte. Deshalb hatte er wohl so komisch geguckt. Ich nickte. »Ja, der Mann draußen neben dir hatte eine starke Fähigkeit«, sagte ich, um ihm das zu bestätigen. Im ersten Moment war ich mir unsicher, ob ich Clarus duzen sollte, aber dann fiel mir auf, dass ich Chart auch geduzt hatte und dass es zu förmlich für diese Situation war, jemanden zu siezen.
Jason und Dean hoben gleichzeitig die Augenbrauen und sahen mich erstaunt an. Auch die Blicke der Anderen waren überrascht. »Das konntest du so leicht erkennen?«, wollte Dean es bestätigt haben.
Clarus erhob sich, als ich Deans Frage nickend beantwortete. »Okay, also ich gehe davon aus, dass ihr die Wahrheit sagt«, meinte er, was mich erleichterte. »Dann ist das hier eine ernste Angelegenheit. Er wollte euch umbringen, obwohl er euch selbst auserwählt hat. Also muss es für ihn sehr ernst sein. Und wenn Chart etwas sehr ernst nimmt, sollten die Anderen es erst recht tun. So wie ich ihn kenne, lässt er vermutlich erst einmal ein wenig Zeit verstreichen. Das war schon immer seine Strategie, die uns allerdings auch einen Zeitvorteil bringt.« Er pausierte einen Moment, indem er nachzudenken schien, ehe er weiterredete. »Ich werde jetzt kurz die Anderen informieren und mich beraten. Ihr bleibt bitte hier im Raum, bis jemand kommt und euch abholt.«
Wir stimmten zu und blieben somit allein zurück, als Clarus die Tür öffnete und dahinter verschwand. Danach blieb es einen Moment totenstill um uns, denn wir alle lauschten nur auf die Schritte, die jedoch hinter der Tür schon nicht mehr zu hören waren.
Ich atmete zittrig aus, als dann die Anspannung langsam aus meinem Körper wich. Ohne drüber nachzudenken ging ich auf die andere Seite von Marlons Bett und zog mir den Stuhl ran, auf dem Clarus gesessen hatte. Meine Hand suchte Marlons und drückte sie, als ich sie fand. Er zeigte keine Regung, nur das lautlose Zittern und der sich flach hebende Brustkorb deuteten darauf hin, dass er noch lebte. Wenn er wüsste wie sehr sich sein Leben gerade gewendet hatte, würde er vielleicht erst recht nicht mehr aufwachen wollen.
Kimberly
Erst nach einer halben Stunde öffnete sich die Tür wieder. Herein kamen ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter war, und zwei Männer. Erst sahen sie uns einen Moment lang an, dann ergriff das Mädchen das Wort: »Kimberly und Ronia sollen bitte mit mir kommen.« Sie hatte eine schöne Stimme, die irgendwie melodisch klang.
Ich sah kurz zu Chris, welcher mir zunickte, dann zu Ronia und stand auf. Mit einem letzten unauffälligen Druck auf Marlons Hand ließ ich ihn los und ging ums Bett herum auf das Mädchen zu. Sie hatte braun-blonde Haare, die in einem kessen Kurzhaarschnitt ihr Gesicht umrahmten. Der Pony hing ihr über die Stirn und ließ das Ganze lässig aussehen. Diesen Stil verkörperte sie zusätzlich mit ihrer Kleidung, welche aus einer labberigen Hotpants und einem tief ausgeschnittenen Top bestand.
Freundlich streckte sie mir die Hand hin. »Ich bin Monique«, stellte sie sich vor.
Ich ergriff die Hand jetzt wesentlich sicherer als ich es noch vor einer Woche getan hätte. »Kimberly.«
Sie lächelte und reichte auch Ronia die Hand. »Dann bist du Ronia.«
Diese nickte. »Hi.«
Monique wandte sich daraufhin um und ich sah nur noch einmal zurück, bevor ich ihr aus der Tür heraus folgte. Warum sollten nur wir mit Monique kommen? Ich war mir sicher, Ronia stellte sich die gleiche Frage, denn sie sah etwas beklommen aus. Doch wir liefen einfach hinter dem aufgeweckten Mädchen her, die uns durch die mittlerweile leere Eingangshalle und die Treppe herauf führte.
»Wegen euch musste ich meinen Schlaf unterbrechen«, sagte sie halb zu uns gewandt und lachte. »Aber wenigstens passiert hier mal was Spannendes.« Grinsend schlug sie einen Gang links von der Treppe ein. Von hier aus zweigten mehrere Flure ab, von denen sie wieder einen anderen nahm. Dort waren viele Türen und es sah beinahe so aus wie in Wheeler, nur dass dort die Wände alle aus Backstein bestanden hatten. Hier waren es normale Wände, cremefarben gestrichen. Wie der Rest des Hauses, den ich bisher gesehen hatte, sah auch die zweite Etage sehr freundlich und offen aus.
Nach einigen weiteren Abzweigungen nahmen wir die dritte Tür auf der linken Seite, die Monique uns öffnete. Dahinter erstreckte sich ein erdrückender, chaotischer Raum, der zur einen Hälfte blutrot und zur anderen weiß gestrichen war. Auf zwei Wänden hingen ein paar Poster von Bands, die ich nicht kannte. Der Boden war übersät mit Klamotten und auch der Schreibtisch war überfüllt davon. Die Bettwäsche auf dem schmalen Gestell konnte man unter lauter Kleidungsstücken nicht mehr richtig sehen. Diese Unordnung ließ den Raum klein und eng wirken, obwohl er vielleicht sogar - im aufgeräumten Zustand - groß und freundlich aussehen würde.
»Entschuldigt das Chaos. Eigentlich benutze ich das Zimmer hier nur noch als Ankleidezimmer, darum muss es für mich auch nicht ordentlich sein. Ich hatte nicht mit Gästen gerechnet«, entschuldigte sich Monique und grinste uns an.
»Wo schläfst du dann immer?«, fragte Ronia unsicher.
»Bei meinem Freund David.« Ich runzelte die Stirn und sah mich erneut in dem Raum um. »So«, redete sie weiter, »jetzt wollen wir erst mal sehen, ob wir was Frisches zum Anziehen für euch finden.«
»Du musst uns nichts geben. Es sind ja deine Sachen, wir können auch –«, begann ich, doch sie unterbrach mich.
»Hey, selbst wenn ich die Hälfte meiner Sachen wegschmeißen würde, hätte ich noch immer genug, um euch beide und mich ein halbes Jahr lang einzukleiden.« Grinsend öffnete sie die Tür vom überdimensionalen, begehbaren Kleiderschrank. »Außerdem«, redete sie währenddessen weiter und warf einen Blick zurück auf mein T-Shirt, »bist du ganz schön dreckig und blutbefleckt.«
Ich sah an mir runter. Das hatte ich noch gar nicht bemerkt, aber sie hatte Recht. Überall waren kleine Bluttropfen oder auch größere Flecken. In meine Hose war der Dreck schon eingerieben. Ich sagte nichts dazu, sondern sah nach vorn, in den riesigen Kleiderschrank, in dem sich beeindruckende Etagen an Kleidung befanden, die zum Teil sogar farblich geordnet erschien. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Schrank und das Zimmer denselben Besitzer hatten.
Monique sah meinen staunenden Blick. »Shoppen ist so 'ne Art Hobby von mir. Eigentlich mache ich das fast jeden Tag. Wenn man nicht wächst, kauft man sich eben immer Sachen in derselben Größe. Aber die alten Klamotten kann man nicht wegschmeißen. Wär' ja 'ne riesen Verschwendung. Na ja, mit der Zeit hat sich dann hier halt ein bisschen was angesammelt.«
»Ein bisschen ist gut«, murmelte ich.
»Ja gut – ein bisschen viel«, sie lachte. »Aber so hab’ ich wenigstens immer was für jeden Tag und sogar noch mehr.« Sie ging zu einem Brett und stöberte in der Kleidung. Schließlich zog sie ein hellblaues Top heraus und hielt es an meinen Oberkörper. »Ja, das passt, würde ich sagen.« Sie drückte es mir in die Hand. »Anziehen«, befahl sie, drehte sich wieder weg und zog ein weiteres Top heraus. »Und du kannst das anziehen.« Sie hielt Ronia, die hinter mir stand, ein grünliches T-Shirt hin, das ziemlich eng geschnitten war und einen weiten Ausschnitt hatte. Für die Hosen brauchte sie auch nicht lange. Zielsicher griff sie nach einem Stapel und zog gleich darauf zwei Hotpants heraus, die sie uns hinhielt. Obwohl ich mich in langen Hosen wohler fühlte, wenn ich neue Menschen kennenlernte, protestierte ich nicht, sondern nahm alles entgegen, was Monique mir gab. Es ist ja schließlich Sommer, dachte ich bei mir, bevor Monique uns wieder aus dem Schrank schob und wir uns im chaoserfüllten Zimmer umzogen.
»Danke«, bedankte sich Ronia für mich mit, als wir beide fertig waren.
»Kein Problem«, sagte Monique und lehnte sich gegen den überfüllten Schreibtisch. »Gebt mir eure Sachen. Ich werde sie waschen. Wenn ihr sonst nichts mehr braucht, gehen wir jetzt zu Clarus. Er möchte mit euch und ein paar von uns überlegen, wie es jetzt weiter geht.«
»Gute Idee«, murmelte Ronia, wobei sie schon wieder etwas sarkastisch klang. Ich achtete nicht darauf und folgte Monique zur Tür hinaus.
Nach ein paar Abzweigungen in dem großen Haus, gab es in einem Gang drei Türen auf der rechten und nur eine auf der linken Seite. Monique nahm die zweite von rechts, aus der schon gedämpfte Stimmen zu uns durchdrangen. Sie öffnete sie und wir traten ein. Es war ein großer Raum mit ein paar Fenstern auf der linken Seite, die viel freundliches Licht hinein gelassen hätten, wenn es draußen hell gewesen wäre. In der Mitte war ein riesiger Tisch, an den sich viele Personen setzen konnten. Edle Stühle waren darum gerückt, teilweise schon besetzt von Werwölfen, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Clarus saß am Kopfende neben dem Mann mit der Fähigkeit von draußen. Rechts und links an der längeren Seite des Tisches saßen verteilt vier andere Männer, von denen einer mit an der Tür und ein paar Weitere in der Eingangshalle gewesen waren. Am Rand standen mehrere kleine Schränke und Regale, die voll mit Akten, Ordnern, Büchern und anderem Büromaterialien waren.
»Setzt euch doch«, sagte Clarus in einem freundlichen Ton, der mir meine Nervosität aber nicht vollständig nehmen konnte.
Monique ging zu einer Seite vor und setzte sich auf einen Stuhl, neben einen der fremden Männer. Ronia ließ sich neben ihr nieder, sodass ich nur aufschließen konnte.
»Wir warten eben bis der Rest …«, Clarus wurde unterbrochen, als auf dem Gang mehrere Schritte zu hören waren und die Tür auf ging. Die zwei Männer, die mit Monique in das Krankenzimmer gekommen waren, und die anderen von uns kamen herein. »Da ist«, beendete Clarus seinen Satz und deutete ihnen an, sich zu setzten.
Dean und Jason kamen sofort auf unsere Seite. Mac musste sich zu seinem Leidwesen auf die andere Seite setzen, wie es auch Chris tat, der dabei jedoch bereitwilliger aussah. Sie alle waren mit frischer Kleidung versorgt worden.
Clarus räusperte sich bevor er sprach: »Das hier sind Nagur, Chiel, Tohon, Yano und Lucas.« Er zeigte erst auf die Männer auf der rechten, dann auf die der linken Seite und schließlich neben sich. Die jeweiligen Männer nickten bei ihren Namen. »Ich habe ihnen bereits mitgeteilt, was ihr mir erzählt habt, und wir glauben euch. Mir wurde ebenfalls bestätigt, dass Kimberly«, er sah mich an, »eine starke Fähigkeit hat. Welches Ausmaß diese hat, weißt du jedoch selber nicht, habe ich das richtig verstanden?«
Ich nickte, während mein Blick zu dem Mann neben Clarus wanderte, dessen Name Lucas war. Ich war mir sicher, dass er derjenige gewesen war, der ihm das bestätigt hatte. Er sah mich ebenfalls an und ließ mich die mentale Macht spüren, die von ihm ausging. Ich war neugierig, was er wohl für eine Fähigkeit hatte, doch ich würde nicht nachfragen.
»Aber«, redete Clarus weiter, »du weißt, wie du uns schützen kannst.«
Wieder nickte ich. Es war mir klar, worauf er hinauswollte. »Ihr solltet auch … geschützt werden. Falls Dion nur in der Nähe ist, kann er jeden beeinflussen, ohne dass wir es bemerken.« Ich war plötzlich sehr sicher. Schmerzen hin oder her – es war das Richtige.
Clarus nickte und sah nachdenklich auf die Tischplatte. »Du würdest uns also schützen.«
Es war eine Feststellung und keine Frage, trotzdem sagte ich mit Selbstsicherheit in der Stimme: »Ja.«
»Wie würde das aussehen?«, fragte Lucas.
Ich sah ihn an, als ich antwortete: »Nur mein Blut ist notwendig. Ihr müsst es bei euch tragen.« Er hob daraufhin die Augenbrauen und sah mich skeptisch an. Meine Augen wanderten hilfesuchend zu Chris, da mich Lucas‘ Blick nervös machte. Er nickte mir aufmunternd zu, woraufhin sich ein dankbares Lächeln auf meine Lippen spielte.
»Wie viel Blut braucht man für jeden?«, wollte Clarus wissen.
Als Antwort zog Dean seine Blutkapsel aus der Hosentasche. Ich nahm an, dass sie alle das Blut immer und überall mit sich trugen, denn er hatte eine frische Hose an. »Hier ist das Blut drin. Jeder von uns hat so eine Kapsel«, erklärte er.
Clarus und alle anderen schauten einen Moment auf die Kapsel, dann wanderten einige Blicke zu mir. »Wir können in unserem Krankenzimmer professionell Blut abnehmen«, sagte er schließlich. Ich hätte mich auch nochmal geschnitten, aber auf diese Weise würde es natürlich angenehmer werden. »Am besten machen wir das sofort nach dieser Besprechung, damit wir uns so schnell wie möglich vor Dions Fähigkeit schützen.«
Es war eine Weile still, nachdem er das ausgesprochen hatte, und ich fühlte mich genötigt, mit einem Nicken mein Einverständnis zu geben. Währenddessen entwickelte sich die Frage in meinem Innern, was hiernach überhaupt geschehen würde. Wie konnte mein Leben jetzt weitergehen?
»Wisst ihr, wo genau sich Chart jetzt aufhält?« Die Frage war an uns alle gerichtet, jedoch sah Clarus dabei nur Chris an.
Dieser zuckte leicht mit den Schultern, eine scheinbar unpassende Geste angesichts der Ernsthaftigkeit in diesem Raum. »Vermutlich noch in Arcata. So lange sind wir noch nicht weg. Es kann allerdings sein, dass er sich schon einen Extra-Flug zurück nach Wheeler gebucht hat. Aber wahrscheinlich hat er die Gelegenheit genutzt, sich die Gegend in Arcata, beziehungsweise die Höhle, in der wir gelebt haben, anzugucken. Ich ...«
»Oh Mist«, fluchte Jason plötzlich mitten in Chris' Antwort. Alle sahen ihn verwundert an.
Ich runzelte die Stirn, als er mich direkt ansah. »Was ist?«, fragte ich unsicher.
Er starrte mich noch einen Moment an, dann redete er endlich: »Ich weiß ja echt nicht was in Charts krankem Kopf abgeht …«, begann er stockend. Ich hob die Augenbrauen und wartete auf den Rest, da ich nicht wusste worauf er hinaus wollte. »Aber eigentlich muss er nur dich irgendwie aus dem Weg räumen. Ohne dich hätte er leichtes Spiel, denn ohne dich hätten wir niemanden, der uns vor seinen bescheuerten Fähigkeiten schützt.«
Meine Augenbrauen fuhren noch ein Stück weiter nach oben. Ja, das, was er sagte, war mir klar, aber ich glaubte nicht, dass es das war, worauf er hinaus wollte. Seine nächste Aussage bestätigte meinen Gedanken: »Also, wenn ich mich jetzt mal in Chart hineinversetzen müsste«, redete er weiter. »Dann wäre doch das Logischste … na ja, er müsste Kim irgendwie ausschalten. Sie loswerden. Also würde ich mir irgendein Druckmittel beschaffen; etwas, damit sie nachgibt und uns nicht mehr schützt.«
Mein Gehirn verarbeitete seine Worte langsam. Was für ein Druckmittel? Irgendwie verstand ich nur Bahnhof.
»Wir sind hier«, erklärte Jason und ich hatte das Gefühl, er sprach direkt zu mir. »Chart ist in Arcata. Und da sind alle Leute, die du kennst, Kim. All die, die dir wichtig sind.«
Ganz langsam begannen sich die Rädchen in meinem Kopf zu drehen. Dann machte es Klick und Entsetzen stand mir ins Gesicht geschrieben. Meine Familie. Gleich zwei Erkenntnisse prasselten wie Hagel auf mich ein, sodass ich für einen viel zu langen Moment nicht atmen konnte. Erstens: ich hatte bisher überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, dass ich sie einfach so verlassen hatte. Die ganze Zeit war in meinem Kopf nichts anderes gewesen als die Sorge um Marlon, aber an meine Familie und all meine Freunde hatte ich überhaupt nicht gedacht. Der Gedanke, wie sehr mein Leben gerade den Bach runter ging, hatte sich vor allem auf das ganze Werwolfschaos bezogen, was ich so gut wie möglich zu verdrängen versucht hatte. Dabei war auch untergegangen, dass ich meine allerletzte Woche in meinem alten Leben quasi abgebrochen hatte, als ich in den Flieger gestiegen war. Ich hatte meine Familie verlassen, ohne mich in irgendeiner Form zu verabschieden, selbst wenn das im normalen Fall nur sehr indirekt und unauffällig gegangen wäre. Ich hatte nicht mal geweint, jedenfalls nicht wegen ihnen.
Und das Zweite war: sie waren jetzt allein in Arcata, mit Chart. Jason hatte Recht. In dieser Hinsicht war Chart skrupellos. Er würde sich nicht davon abschrecken lassen, mich in dieser Art und Weise unter Druck zu setzen. Die Drohung am Telefon schien jetzt plötzlich vollkommen realistisch zu sein, wo wir nicht mehr in Arcata waren, um meine Familie zu schützen. Denn jetzt waren sie schutzlos mit ihm in Arcata und sie wussten nicht mal, dass er ihnen vielleicht gefährlich werden könnte. Wenn …
Eine Hand legte sich mir auf den Arm. Ich fuhr zusammen. Meine Augen folgten dem Arm, der zur Hand gehörte und schließlich sah ich zu Dean auf, der mich etwas besorgt musterte. »Kim?«, fragte er unsicher.
Mir wurde bewusst, dass sie wohl schon öfter versucht hatten, mit mir zu reden. Ich schluckte schwer und sah kurz in die Runde. Alle Blicke lagen auf mir. Ich konnte nicht reden, meine Augen wanderten nur vom einen zum anderen.
Schließlich sagte Clarus etwas: »Vielleicht ist das richtig, was Jason sagt. Wir müssen es auf jeden Fall in Betracht ziehen. Ich kenne Chart sehr gut und lange, weshalb ich wohl guten Gewissens sagen kann, dass es tatsächlich eine seiner Überlegungen und Vorgehensweisen wäre. Er würde jedenfalls nicht davor zurückschrecken, Zivilisten mit in diese Sache zu ziehen. Außerdem ist es schon ein kleiner Schritt in die Richtung, die er gehen möchte.«
Ich schloss einen Moment die Augen und versuchte mich zu fassen. Ich wollte, dass er aufhörte zu reden. Er sollte nichts mehr sagen, auch wenn es genau das war, was ich zuvor gedacht hatte.
»Aber«, redete er trotz meines inneren Flehens weiter, »wir sollten erst mal vernünftig über die Sache nachdenken. Kimberly, dein Informant ist Marlon, richtig?«
Ich versuchte den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken und gleichzeitig klare Gedanken zu fassen. Langsam bewegte ich meinen Kopf zu einem Nicken, nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte.
Einige hoben die Augenbrauen. Ich nahm an, dass sie es taten, weil es ziemlich ungewöhnlich war, dass ein so junger Informant für eine ebenso junge Werwölfin eingesetzt wurde. Bei ihnen galten also ziemlich ähnliche Regeln wie in Wheeler.
»Okay, und … kannte dein Umfeld ihn?«, fragte Clarus weiter.
Ich nickte wieder knapp, damit ich nicht reden musste.
»Wann hätte er gehen müssen? Oder war er schon weg?«
Ich schüttelte den Kopf und schluckte erneut. »Nein, es wäre heute sein letzter Tag in Arcata gewesen. Angeblich.« Ich ahnte schon, welche Frage als nächstes kommen würde.
»Das ist nicht so gut. Wenn ihr aber zusammen nicht so oft gesehen wurdet, kann man darüber hinweg sehen.«
Das war eher eine Frage ohne Fragezeichen, aber trotzdem das, was ich erwartet hatte. Ich wusste, dass er eine Antwort erwartete, also sagte ich knapp: »Doch.« Peinlich berührt erwiderte ich eine Weile Macs Blick, damit ich nicht in die Gesichter der fremden Werwölfe sehen musste.
»Wie oft?«, fragte Clarus weiter, wobei er nicht genervt darüber klang, dass er mir alles aus der Nase ziehen musste.
Ich wollte die Augen schließen, verkniff es mir aber. Wahrscheinlich war es auch bei ihnen nicht gerne gesehen, wenn der Informant mit dem werdenden Werwolf eine engere Beziehung einging, weshalb es einen Moment dauerte, bis ich hervor brachte: »Wir waren … wir sind … zusammen.« Das waren passte nicht, denn erstens war Marlon nicht tot und zweitens waren wir nicht nur in der Schule als ein Paar aufgetreten, sondern auch in unserem Werwolfsleben.
Es war einen Moment still. »Das ist schlecht«, kam von Lucas in einem sarkastischen Ton. Mein Blick war tödlich, zu schade, dass er ihn nicht sah, denn er guckte gerade dummerweise auf den Tisch runter.
Clarus nickte langsam. »Auf jeden Fall macht das die Sache nicht einfacher. Jedoch könnte man darüber hinwegsehen. Immerhin ist das wirklich eines unserer kleineren Probleme.«
»Aber meine Familie?« Ich hasste mich dafür, dass man mir die Angst aus der Stimme heraushörte. Doch genau das war es – ich hatte Angst. Selbst Clarus hatte gesagt, er würde Chart zutrauen, dass er sie als Druckmittel gegen mich benutzen würde. Er musste also verstehen, dass ich mir Sorgen machte.
Ich begegnete Chris' Blick. Seine Miene war unergründlich. Das Einzige, was ich erkannte, war Mitleid, Unentschlossenheit und Frustration, doch er versuchte sachlich und überlegend auszusehen. Langsam wanderte ich mit den Augen zurück zu Clarus und gestattete mir dabei einen Blick auf die Männer neben ihm. Sie alle hatten einen resignierten Gesichtsausdruck und es wirkte, als würden sie nachdenken. Auch Clarus sah nachdenklich aus dem Fenster, obwohl ich jetzt wollte, dass er etwas sagte. Doch so wie alle anderen blieb er still. Sie alle warteten darauf, dass er etwas sagte. Ich konnte ihm beinahe dabei zusehen wie er im Kopf alle Möglichkeiten abging und nach und nach die schlechteren aussortierte.
Nach gefühlten Stunden wandte er sich endlich wieder voll und ganz zu allen Anwesenden. Er sah mich eine Zeit lang an, doch erst nach einer weiteren Minute begann er zu reden: »Wenn du uns schützt, kann keine einzige Fähigkeit mehr Auswirkungen auf uns haben, richtig?«
Hatte ich das nicht schon gesagt? »Richtig.«
»Dann können sie uns also nur noch etwas anhaben, indem sie kämpfen, denn die Fähigkeiten fallen aus.«
Wieder bejahte ich mit einem Nicken.
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Lucas an Clarus gewandt. Seine Stimme klang ein wenig misstrauisch, als hätte er schon eine vage Ahnung von Clarus' unausgesprochenem Plan.
»Einige von uns und Kimberly werden nach Arcata fliegen«, verkündete Clarus schließlich mit einer solchen Festigkeit, dass sich keiner trauen würde, dem zu widersprechen. Ich war von diesem Plan überrascht, obgleich ich unheimlich froh war, dass er ihn ausgesprochen hatte. Die Leute aus seinen Reihen - sprich die, die ich nicht wirklich kannte -, warfen ihm Blicke aus einer Mischung von Skepsis und Verwunderung zu.
»Und dann?«, fragte Lucas doch, wobei er der Einzige zu sein schien, der Clarus‘ Meinung diesbezüglich anfechten durfte. »Was sollen sie da? Babysitter für ihre Familie spielen?« Es schien beinahe das erste Mal, dass er Clarus direkt ansah.
Auch dieser wandte sich zu ihm. Ich sah in seinen Augen einen Anflug von Zorn, jedoch blieb seine Stimme davon verschont. »Wenn du es so ausdrücken willst, gut. Vor allem aber müssen wir prüfen, wo genau Chart nun ist. Wenn er nicht in Arcata ist, muss er wohl in Wheeler oder auf dem Weg dorthin sein. Wir haben nicht viele Möglichkeiten, das herauszufinden, da bietet sich diese gut an. Denn wir müssen wirklich verhindern, dass er Kimberlys Familie gegen sie und somit gegen uns einsetzt.«
Dass er mich mit zu seiner Gruppe aus Werwölfen zählte gab mir ein merkwürdiges Gefühl, welches ich nicht einordnen konnte. Es wurde ohnehin bald von ganz vielen Gedanken davongetragen, die in meinem Kopf herum rasten. Zwei Bilder waren ganz vorne mit dabei: Das eine zeigte meine Familie zusammen mit meinen Freunden; glücklich und zufrieden. Das Andere: Marlon; verletzt und ohnmächtig, allein und voller Schmerz. Jedoch war nur eins der Bilder richtig, denn meine Familie und meine Freunde würden nicht glücklich sein, wenn ich nicht zurückkäme, und schon gar nicht, wenn sie als Druckmittel für Chart dienten.
Einerseits wollte ich Marlon hier auf keinen Fall alleine lassen. Ich wollte bei ihm bleiben, so wie er es getan hatte, als ich in Folge von Dions mentalem Angriff ohnmächtig geworden war. Ich wollte da sein, wenn er aufwachte oder … das Gegenteil. Ich wollte es nicht am Telefon erfahren. Aber Andererseits ging es ihm hier gut. Zumindest war er versorgt und, selbst wenn ich es gerne wollte - ich konnte ihm hier nicht helfen. Hier konnte ich nichts weiter tun als darauf zu warten, dass er aufwachte oder eben nicht; darauf, was Chart machen würde und darauf, was ich von meiner Familie hören würde. Aber in Arcata konnte ich meine Familie beschützen. Ich konnte sie von Chart fernhalten und gleichzeitig waren die Leute hier sicher, zumindest vor den mentalen Kräften.
»Wer soll denn dann nach Arcata?«, fragte ein Mann und unterbrach damit meine Gedanken. Nagur war sein Name, wenn ich mich recht erinnerte.
»Genug, damit wir in der Überzahl sind, falls es zu einem Kampf kommt«, antwortete Clarus.
»Da sind ungefähr zehn Werwölfe, wenn ich mich nicht irre«, sagte Jason und sah Mac fragend an, der ihm schräg gegenüber saß. Dieser nickte leicht.
Auch Clarus nickte und überlegte kurz. »Gut, dann werden dreizehn von uns gehen, einschließlich Kimberly.« Er sah zu mir. »Du wirst dann noch eine Woche lang so tun, als würde dein Leben normal weitergehen. Wenn du noch Schülerin bist, gehst du in dieser Woche noch in die Schule.« Ich nickte knapp, um ihm diesen Gedanken zu bestätigen und fühlte mich ein Stück erleichtert, dass er es von sich aus vorschlug.
»Sollte nicht vielleicht jemand mit ihr in die Schule gehen? Falls sie ihr da auflauern oder so«, meldete sich Monique das erste Mal zu Wort und zuckte danach die Schultern. Ich war unschlüssig, was diese Idee anging, denn ich konnte mir nicht vorstellen wie ich Bodyguards an meiner Seite erklären sollte.
Erst Clarus‘ Vorschlag beruhigte mich wieder: »Ja, das wäre vielleicht ganz gut. Würdest du das übernehmen, Monique? Ihr seid in einem Alter – das würde gut passen.«
»Klar, kein Problem«, sagte sie sofort und warf mir ein Lächeln zu.
»Gut, ich werde dir nachher Papiere geben. Du wirst dann einfach ein Mädchen sein, das viel herum reisen muss, aber zwischendurch die Schule besucht. Am besten erklärst du das einfach keinem so genau.« Das kam mir unheimlich bekannt vor. Marlon hatte eine ganz ähnliche Geschichte gehabt. Oder – er hatte sie immer noch. Ich verschob den Gedanken schnell wieder, denn jetzt wollte ich nicht an ihn denken.
»Dann brauchen wir aber noch jemanden, der sich in der Stadt, sowie in den Wäldern etwas auskennt«, redete Clarus weiter, froh, dass er wenigstens die Schulbegleitschaft hatte und geklärt war, wer das machte. Es war beinahe, als würde er eine Liste der Personen abgehen, die er benötigte.
Sein Blick streifte über Chris, Mac, Jason, Dean und Ronia. Ich sah wie sie alle untereinander ein paar Blicke tauschten, ehe sich Dean freiwillig meldete. »Ich geh mit.«
»Gut«, sagte Clarus dazu. »Ist diese Höhle groß genug für dreizehn, beziehungsweise zwölf Personen?« Wieder kurzer Blickkontakt zwischen ihnen, wobei ich diesmal mit einbezogen war, obwohl ich dazu nichts sagen konnte. Ich hatte ja schließlich keine Nacht darin verbracht.
Chris war es letztlich, der antwortete: »In der Höhle ist es vielleicht zu eng für so viele Wölfe, aber davor ist genug Platz und die Nächte sind sowieso nicht kalt, also geht das.«
Clarus nickte kurz und sah zu Nagur. »Wirst du mitgehen?« Der Angesprochene nickte bestätigend. »Gut, dann suche bitte weitere Freiwillige. Wir brauchen noch neun Leute.«
»Okay«, sagte Nagur.
»Ich würde auch mitkommen«, meldete sich Yano von rechts. Er war der dritte Mann vorne an der Tür gewesen.
»Dann brauchen wir nur noch acht«, meinte Clarus und lächelte zufrieden. Als er sich mir zuwandte, wurde er wieder ernst. »Wir sollten dann jetzt mit dem Blutabnehmen beginnen, damit ihr möglichst früh fahren könnt.« Ich nickte knapp. In meinen Kopf hatte sich gerade eine weitere Frage gestellt: Wie sollte ich meiner Mutter erklären, dass ich über Nacht weggewesen war? Noch schliefen sie, aber bis wir wieder in Arcata sein würden, war es sicher schon Mittag.
Clarus erhob sich von seinem Stuhl und auch die Anderen standen auf. Ich tat es ihnen gleich und folgte der ganzen Gruppe als sie zur Tür und in den Gang liefen. Mac und Dean waren wie zwei Bodyguards an meiner Seite.
Das große Haus schien uns ab diesem Moment trotz der nächtlichen Dunkelheit freundlich entgegen zu strahlen. Ich fühlte mich aufgenommen, obwohl ich nicht einmal einen halben Tag darin verbracht hatte. Nur von Mac begleitet, ließ ich mir von Clarus im Krankenzimmer literweise Blut abnehmen. Marlon lag dabei regungslos blass auf seiner Liege. Er hätte sicher protestiert, wenn er wüsste, wie viele Beutel sich in nicht mal einer halben Stunde mit der roten Flüssigkeit füllten, die mir danach im Körper zu fehlen schien.
Müde und ausgelaugt wurde ich anschließend auf ein Zimmer geführt, das Clarus als Gästezimmer bezeichnete. Wir mussten es uns jeweils mit einer anderen Person teilen, weshalb von vornherein klar gewesen war, dass ich Ronia als Zimmernachbarin haben würde. Wir schwiegen uns gedankenverloren an, während wir das von Monique gebrachte Essen verputzten und schließlich nacheinander das Bad benutzten.
Ein paar Stunden blieben mir noch, bevor wir uns zum Flughafen aufmachen würden, weshalb ich diese Zeit nutzen wollte, um ein kleines Nickerchen zu machen. Aus diesem Nickerchen wurde dann ein tiefer, unruhiger Schlaf, der von etlichen Gedanken durchtränkt wurde. Angst, Sorge und Unsicherheit erfüllten mich in jeder Sekunde.
Vier Stunden später klingelte mein Wecker mit einer schrillen Melodie. Ich hätte ihn am liebsten gegen die Wand geworfen, doch genauso schnell wie er mich weckte, drangen auch die Erinnerungen auf mich ein. Diese bewegten mich schließlich dazu, aufzustehen und den Wecker leben zu lassen. Ronia stöhnte in ihrem Bett und drehte sich zur Wand um. Sie zog die Decke über die Ohren. Ich achtete nicht darauf, sondern stapfte ins Bad, wo es leider keine Utensilien gab, mit denen ich das Ausmaß meiner Unausgeschlafenheit hätte vertuschen können. Ich war mir aber sicher, dass Ronia all das besorgt hätte, wenn ich von Arcata wieder zurückkommen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es eine ganze Woche ohne Schminke schaffte.
Als ich fertig war, verließ ich das Bad wieder und zog mir schnell die Sachen an, die Monique mir gegeben hatte. Ronia saß inzwischen am Bettrand. Selbst ungeschminkt und mit zerzausten Haaren sah sie toll aus.
»Ist es okay, wenn ich nicht mitkomme und bei der großen Verabschiedung mitmache?«, fragte sie mit müder Stimme. Sie klang zu meiner Überraschung überhaupt nicht sarkastisch.
Erstaunt schlüpfte ich in meine Schuhe, bevor ich zu ihr hin sah. »Ja, bleib ruhig hier«, sagte ich und richtete mich auf und wandte mich zur Tür.
»Viel Glück ... für was auch immer«, sagte sie leise.
Ich drehte mich noch einmal um und lächelte. »Danke.« Dann verließ ich das Zimmer.
Die Eingangshalle war gefüllt mit Werwölfen. Ich war mir sicher, dass davon nicht alle mit nach Arcata kommen würden, sondern viele nur hier waren, um sich zu verabschieden. Monique zum Beispiel umarmte gerade einen großen schwarzhaarigen Jungen, den ich als ihren Freund vermutete.
»So«, sagte Clarus, als ich die Treppe zu ihnen herunter lief. »Jetzt sind wir ja vollzählig.«
Ich lächelte verlegen und stellte mich neben Chris, während gut zu beobachten war wie sich auch sonst kleine Grüppchen bildeten, die sich jeweils untereinander verabschiedeten. Dean, Mac, Jason und Chris versammelten sich in einem kleinen Kreis um mich.
»Pass auf dich auf, und auf sie, und auf uns«, sagte Mac zu mir, bevor sein Lächeln zu einem Grinsen wurde.
»Ja ja, ich habe ein Auge auf alles und jeden«, antwortete ich und grinste zurück. Mir war klar, dass er wusste, dass ich das nicht konnte.
»Mach dir nicht so viele Sorgen um Marlon. Konzentriere dich einfach auf Arcata und die Schule«, sagte er jetzt ernst.
Ich nickte und lächelte ihn dankbar an.
»Mach‘s gut, Kim«, sagte Jason und klopfte mir spielerisch auf die Schulter.
»Es wird schon alles gut gehen«, kam von Chris. Ich bedankte mich bei beiden mit einem Lächeln, bevor sie sich von Dean verabschiedeten.
»Es kann nun losgehen«, unterbrach uns Clarus. Er stellte sich neben mich. »Sollte Chart in Arcata sein, dann seid ihr trotzdem in der Überzahl, denn er kann euch nicht mit seinen Fähigkeiten manipulieren«, sagte er zu mir als wollte er mich irgendwie beruhigen, obwohl ich mich gar nicht aufregte. Ich nickte trotzdem kurz.
»Gut, dann fahren wir jetzt«, sagte einer der Männer und öffnete die große Tür. Die Anderen schritten hinaus in die Landschaft, die mittlerweile wieder vom Sonnenlicht bestrahlt wurde. Inzwischen mussten sie ihre Metallkapseln haben. Es war zwar noch früh, aber ich nahm an, dass die Läden, in denen man solche Sachen kaufen konnte, schon auf hatten und Clarus das gesammelte Blut schon in die ganzen Kapseln gefüllt hatte.
Dean, Monique und ich schlossen uns den Männern an. An der Tür drehte ich mich noch einmal um und lächelte den Anderen nochmals zu. Als letztes fiel mein Blick in Richtung Krankenzimmer. Ich hatte mich nun gar nicht mehr von Marlon verabschiedet. Wenn er wirklich sterben würde, bevor ich wiederkam, dann wüsste ich nicht, was ich machen sollte. Ich betete innerlich dafür, dass er es überstehen würde. Dann fiel die Tür hinter uns zu und ich konnte nur noch nach vorn blicken.
Kimberly
Es war eine bunte Truppe an Werwölfen, mit denen wir in Arcata ankamen. Nagur zum Beispiel, den ich schon etwas aus der Besprechung kannte, wirkte sympathisch. Er überlegte oft und lange, besonders bevor er etwas sagte. Das strich ich ihm als positiv an. Vielleicht war er genau wegen dieser Eigenschaft derjenige, auf den alle hörten. Alle anderen schenkten ihm vollstes Vertrauen und lobten seine Einschätzungen, während auch er solidarisch die Meinungen anderer auf ihn Wirkung zeigen ließ. Ich mochte ihn.
Yano war eher ein Draufgänger. Er war stets bereit ein Risiko einzugehen, was ihn durchaus nicht zu der einfühlsamsten Person machte. Trotzdem wirkte er nicht unsympathisch, sondern eher lustig. Ständig witzelte er über alles Mögliche, sodass ich beinahe dachte, dass er das alles hier nicht so ernst nahm. Aber dann fielen mir Mac und Jason ein. Auch sie waren manchmal so, und doch nahmen sie immer alles ernst.
Dann gab es noch einige andere Männer, die mir besonders auffielen. Ein kleiner Mann namens Veit war der Schweigsamste in der Runde. Er sagte nur das Nötigste und gab nie einen Kommentar zu etwas ab. Selbst manchmal, wenn ihn jemand etwas fragte zuckte er nur die Schultern oder noch nicht mal das. Er war so still, dass ich mich irgendwann fragte, ob er überhaupt reden konnte oder ob er vielleicht eine Zeichensprache hatte, die ich aus irgendeinem Grund nicht sehen konnte. Ich wurde aus ihm nicht schlau, bis Jude mir erklärte, dass Veit so lange schwieg, bis er plötzlich eine geniale Idee oder einen innovativen Vorschlag hatte. Dann würden die Worte nur so aus ihm heraussprudeln, denn er sei ein kluger Kopf. Ich fragte mich, wann das wohl in der jetzigen Situation der Fall sein würde.
Und damit war ich bei Jude angelangt. Jude war sowieso eine Sache für sich und das genaue Gegenteil von Veit. Er redete wie ein Wasserfall und nahm nie ein Blatt vor den Mund, was ihn wohl zu dem offensten Werwolf in dieser Gruppe machte. Auf dem Flug textete er uns sofort zu. Er stellte tausende Fragen, erzählte selbst seine Geschichte und redete über ganz unwesentliche Dinge wie das Wetter.
Schließlich gab es noch Marcus. Er war so was wie die Mutter Theresa, denn er las jedem die Wünsche von den Augen ab und versorgte uns alle mit Trinken und Essen. Es kam mir vor, als hätte er eine Liste mit den Zeiten im Kopf, wann jeder das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte. Mit solchen Dingen kannte er sich überhaupt sehr gut aus. Ich hatte nie geahnt, dass man so viel darüber wissen konnte.
Die restlichen Werwölfe – Patrick, Luthar, Andy, Mike und Richard – waren allesamt gewöhnlich und hilfsbereit. Sie gaben mir das Gefühl, in ihrer Runde willkommen zu sein, und waren offenbar nicht einmal böse darum, aus ihrer sicheren Umgebung herauskommen zu müssen. Vielleicht sahen sie all das hier als eine Art Abenteuer an. Es war ja auch nicht ihr Leben, das vollkommen auf den Kopf gestellt wurde.
Mein Herz bebte aufgeregt, als wir mit drei großen Autos dort parkten, wo wir gestern Nacht mit dem Mietwagen zum Flughafen abgefahren waren. Es war ein eigenartiges Gefühl mit so einer großen Gruppe den Weg in den Wald zu gehen, den ich sonst immer allein oder mit Marlon gelaufen war. In diesem Moment verspürte ich den großen Drang, mich in mein Bett zu legen und den Kopf in mein Kopfkissen zu drücken, denn nicht nur die Müdigkeit, sondern auch all die schrecklichen Gedanken über meine Zukunft setzten mir zu.
Fünf Leute wurden zu Wölfen und liefen in unserem Tempo weiter mit uns mit, um die Geräusche des Waldes besser wahrnehmen zu können. Ihre Ohren waren gespitzt und sie lauschten auf jedes kleinste Piepsen. Wir liefen schweigend daher. Mir war klar, dass Chart uns hören würde, wenn wir in seiner Nähe waren. Es war ein fremdes Gefühl für mich und ich wusste nicht, ob ich es richtig machte, aber ich versuchte auf so etwas wie magische Schwingungen zu achten, denn vielleicht war dieses Gefühl noch schneller als das Gehör der Werwölfe, wenn sie in der Nähe waren. Vielleicht auch nicht.
Wir kamen der Höhle immer näher und ich konnte mittlerweile den Hügel vor dem Eingang sehen, hinter dem sie sich verbarg. Mit jedem Schritt schien die Spannung zu steigen und jeder von uns wünschte sich, einen leeren Platz vorzufinden. Selbst alle anderen außer Dean und mir, die noch nie hier gewesen waren, mussten wissen, dass es bald soweit war. Ich spitzte die Ohren – im übertragenen Sinne – und lauschte. Nichts. Da waren nur die Atemzüge von unserer Gruppe, die Herzschläge und die Schritte auf dem weichen Waldweg, der mittlerweile zu einem schmalen Pfad geworden war. Auch die, die als Wölfe mit uns liefen, schlugen nicht Alarm. Sie waren still und hielten ihre Ohren weiterhin aufmerksam aufgerichtet. Schritt für Schritt.
Dean stockte, als wir vor dem Hügel ankamen, und wir blieben stehen. Die Anderen verstanden, dass hier die Höhle sein musste, weshalb Nagur den Wölfen mit einem lautlosen Kopfnicken andeutete, dass sie vorgehen sollten. Lautlos strichen sie an uns vorbei. Alle Wolfsohren zuckten bei jedem kleinsten Geräusch, das sie vernahmen. Als sie oben angekommen waren, streckten sich einige Köpfe neugierig zur Höhle hin, die Ohren immer noch gespitzt, der Körper geduckt. Sie sahen in alle Richtungen. Ich konnte mir denken, was sie sehen würden: nämlich gar nichts. Es war einfach nur eine Ahnung. Als sie sich alle ganz normal aufrichteten, bestätigten sie diese. Einer von ihnen drehte sich zu uns um und schüttelte leicht mit dem Kopf. Dann ging Nagur hoch und zog uns dadurch alle mit. Ich reckte meinen Kopf, um zu sehen, wie es hinter dem Hügel aussah, und erschrak. Überall war die Erde aufgewühlt. Ich erkannte Krallenspuren, die beim Kampf entstanden waren, einzelne Tatzen Abdrücke waren auch zu erkennen. Etwas weiter vom Eingang entfernt lag das zerrissene, blutbeflecket und mit Dreck verschmierte T-Shirt von Marlon. Es war deutlich zu erkennen, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte.
Schließlich räusperte sich Nagur. »Sind sie noch hier in der Nähe?«, fragte er an einen Wolf gewandt, welcher seine Nase ein wenig in den Wind hob und schnupperte, ehe er den Kopf schüttelte. »Gut. Vielleicht sind sie auch gar nicht mehr hier in Arcata.«
Eine Hoffnung, die auch ich hegte. Dean machte einige Schritte den Hügel runter. Einige folgten ihm, also tat ich es ebenfalls.
»Sind das eure Sachen?«, fragte Jude, als er neben Dean trat. Er deutete auf das Brett vor dem Eingang, worauf ein Rucksack und ein Handy lagen. Das Handy erkannte ich als Marlons, der Rucksack gehörte nicht ihm.
»Ja Das ist Jasons Rucksack und das Handy von ...« Er wusste es nicht.
Ich schluckte. »Marlon. Und das T-Shirt auch«, ich zeigte auf das T-Shirt, das weiter weg im Laub lag. Blicke folgten meinem Finger.
»Drinnen sind noch mehr Sachen von uns. Halt alles, was wir so brauchten«, murmelte Dean.
»Sie waren hier und haben sich alles angeguckt«, sagte jemand hinter mir. Es war Yano.
Ich schnupperte unauffällig in den Wind und erkannte, dass er Recht hatte. Charts Geruch hob sich deutlich von dem des Waldes ab. Und was mich noch mehr beunruhigte war, dass auch Reste seiner Fähigkeiten hier herumschwirrten wie ein sich langsam verflüchtigter Nebel. Die Spuren waren nicht sehr alt, aber auch nicht so frisch, dass sie noch vor einer Stunde hier gewesen wären.
»Klar, die Gelegenheit hat er sich natürlich nicht entgehen lassen«, sagte Jude auf Yanos Worte hin. Er ging zum Eingang. »Vielleicht sollten wir uns drinnen mal umsehen, auch wenn er nicht mehr da ist«, sagte er dann noch und war schon halb darin verschwunden. Mike folgte ihm.
Ein Wolf verwandelte sich zurück und ich erkannte, dass es der freundliche Patrick war. Er war mir nicht sonderlich aufgefallen, einfach weil er so normal wirkte. Ein anderer Wolf zischte noch mit in den Eingang, während der Rest draußen blieb. Yano verwandelte sich in einen braunen Wolf, passend zu seiner Haarfarbe. Allerdings war er als Wolf heller als Marlon und er hatte auch eher hellere Sprenkel im Fell als schwarze. Er lief zurück auf den Hügel und schnüffelte. Dann legte er den Kopf schief und lauschte eine Weile. Schließlich drehte er sich einmal im Kreis und überblicke somit alles. Offenbar kam er zu dem Ergebnis, dass wir hier allein waren, also lief er wieder runter und trabte relativ unbekümmert weiter in den Wald rein.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab und sah mir kurz die verbleibenden Leute hier draußen an. Da waren einmal Nagur, Dean, Monique, Patrick und ich. Dann noch drei Wölfe. Zwei von ihnen saßen nebeneinander. Ich nahm an, dass eben diese Wölfe Andy und Luther waren, da sie beste Freunde waren und sich fast immer gleich verhielten. Das war mir bisher auf dem Flug aufgefallen. Der andere Wolf musste dann Veit oder Rick sein. Eigentlich hieß Rick Richard, aber alle nannten ihn nur Rick. Er war so wie Patrick jemand ganz Normales, der nicht weiter auffiel.
Es herrschte Stille, in welcher wir alle nur der Umgebung lauschten. Ich vernahm die Schritte von Yano und den dreien, die in der Höhle waren. Sonst hörte ich nur die typischen Waldgeräusche und die Laute unser aller Herzschläge. Chart war definitiv nicht mehr hier, jedenfalls nicht hier im Wald. Ich wusste immer noch nicht, wie ich reagieren würde, wenn er tatsächlich irgendwas mit meiner Familie gemacht hatte.
Die drei kamen wieder aus der Höhle. Mike klärte uns über ihre Analyse auf: »Also, sie waren auf jeden Fall drin. Wir haben vier verschiedene Gerüche wahrgenommen. Ich glaube, sie haben ein paar Sachen von euch durchwühlt. Du solltest nachschauen, ob noch alles da ist, Dean. Ansonsten gab es nichts Auffälliges.« Die anderen Wölfe verwandelten sich zurück, als Yano dies ebenfalls tat.
»Bei Kimberly sollte jemand über Nacht bleiben, würde ich sagen«, meldete sich Patrick zu Wort.
Ich sah ihn kurz an und dachte darüber nach, bevor ich eingestehen musste, dass mir wirklich nicht wohl dabei sein würde, ganz allein dort zu schlafen, wenn die Gefahr durch Chart immer bestand. Unwillkürlich glitt mein Blick zu Monique, die wohl die Einzige war, die diesen Job übernehmen konnte, weil klar war, dass kein Mann es machen würde. Gleich darauf meldete sie sich schon, denn auch sie wusste, dass das die einzige Möglichkeit war. »Das mach dann wohl ich«, sagte sie und grinste mich an.
Ich lächelte nur schüchtern zurück, denn noch war mir nicht ganz klar, wie ich sie vor meinen Eltern verstecken würde. Mir war nur bewusst, dass ich ihnen davon nichts erzählen konnte.
»Okay«, sagte Nagur. »Dann müssen wir uns immer noch um Kims Familie kümmern.« Er sah mich an, als er das sagte. Ich nickte steif und hoffte dabei, dass wir uns nicht wirklich um sie kümmern mussten. Aber er hatte definitiv Recht. Er wandte seinen Blick in die Runde. »Wer kommt mit?«
»Ich bin denk ich mal sowieso dabei«, sagte Monique, woraufhin sich auch Jude, Patrick, Andy und Luther bereiterklärten.
»Gut, das reicht. Ich werde auch mitgehen. Falls Chart da sein sollte, werden wir euch irgendwie Bescheid geben. Du weißt wo das Haus ist?«, sagte Nagur und sah bei der Frage Dean an, welcher nur nickte.
»Okay, dann los.« Er drehte sich um, lief den kleinen Hügel hoch und verwandelte sich noch bevor er ganz oben angekommen war in einen hellen, schönen Wolf. Als Mensch hatte er dunkelblonde, beinahe braune Haare, aber sein Fell war eher hellgrau mit helleren Sprenkeln drin. Alle, die sich gemeldet hatten, liefen ihm hinterher und verwandelten sich ebenfalls. Es war mir immer noch ungewohnt als Wolf zu laufen, aber ich wollte jetzt nicht aus der Reihe tanzen, weshalb ich mich ebenfalls verwandelte und versuchte, die Blicke zu ignorieren, die mich daraufhin musterten.
Sogar Nagur konnte seine Augen für einige Sekunden nicht von meiner Wolfsgestalt wenden, bevor er sich besann und mir mit dem Kopf andeutete, die Führung zu übernehmen. Etwas unsicher tat ich es, denn sie wussten alle nicht, wo sie hin sollten. Auf dem Weg den Wald hinab roch ich einige Spuren meiner selbst, die von dem stürmischen Lauf von gestern Abend stammen mussten.
Die Wölfe, die hinter mir her liefen, waren mir sehr wohl bewusst. Es war, als könnte ich sie sehen, obwohl sie nicht in meinem Blickfeld waren. Meine Ohren vernahmen jeden Schritt von ihnen und selbst meine Nase half mir dabei einzuschätzen, wo genau sie liefen. Und diese Schätzung war wirklich sehr genau. Ich wusste, dass Nagur auf halber Höhe rechts hinter mir lief, mit nur vier Schritten Abstand. Links hinter mir war ein anderer Wolf. Es war auf jeden Fall nicht Monique, denn die lief noch weiter hinten, was ich an ihren leichten Schritten erkannte.
Wir kamen in dem kleinen Wald vor meinem Haus an, wo ich mein Tempo augenblicklich verlangsamte und nur noch langsam an den Waldrand trat, wo ich dann stehen blieb. Mit gespitzten Ohren sah ich durch die Bäume in meinen Garten. Viel konnte ich nicht erkennen, nur dass im Haus Licht brannte. Schon mal ein gutes Zeichen.
»Das ist dein Haus?«, fragte Jude, der nun neben mich getreten war.
»Ja«, antwortete ich knapp.
Auch Nagur trat neben mich auf die andere Seite. Ich sah wie er im Wind schnupperte, doch anscheinend erfasste er keine wölfischen Gerüche. Ich probierte es auch aus, aber ich konnte nichts von Chart oder sonst wem riechen. Mein Fähigkeiten-Detektor meldete ebenfalls nichts. Das war ein gutes Zeichen, welches mich erleichtert aufatmen ließ. Ein Teil meiner Anspannung ließ von mir ab, aber ich rief mich zur Vernunft, denn ich sollte mir noch nicht zu viele Hoffnungen machen. Vielleicht war das alles nur Täuschung. Als ich mich kurz auf meine Ohren konzentrierte, vernahm ich die Stimme meiner Mutter. Sie sagte irgendwas über das Essen, dann redete mein Vater. Sie unterhielten sich über ganz normale Sachen. Noch einmal atmete ich erleichtert durch.
»Sie sind auf jeden Fall im Haus«, sagte ich.
»Dann kannst du allein rein gehen. Falls doch irgendwas sein sollte, sagst du uns sofort Bescheid. Wir warten hier. Monique muss sowieso irgendwie zu dir rein«, sagte Nagur.
Erneut nickte ich und schaute kurz zu der Wölfen. »Da oben«, ich deutete mit der Schnauze auf mein Zimmerfenster. »Das ist mein Zimmer. Da kannst du durchs Fenster rein.«
Sie folgte meiner Andeutung und sah zu meinem Fenster. »Okaaay«, sagte sie langgezogen. »Und wie soll ich da bitte hochkommen?«
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab's noch nie gemacht, aber Marlon ist öfter durchs Fenster reingekommen.«
Sie machte einen Gesichtsausdruck, als würde sie die Augenbrauen heben. »Ich kann's versuchen«, meinte sie schließlich.
»Dann geh du jetzt rein, Kim«, mischte sich Nagur wieder ein.
Ich nickte und lief noch einige Schritte auf den Rand des Waldes zu, ehe ich mich zurückverwandelte und weiter in Richtung Straße lief, verdeckt von den Bäumen. Erst kurz vor unserem Gartenzaun, der den Garten von der Straße abgrenzte, verließ ich den Wald, stieg über den ersten Zaun und dann über die andere Seite, um auf die Straße zu kommen, bevor ich zur Haustür trat. Erst dort fiel mir auf, dass ich überhaupt keinen Schlüssel hatte. Den hatte ich am Samstag in meinem Zimmer gelassen, wie so ziemlich alles, abgesehen von meinem Handy. Toll – wie kam ich jetzt rein? Ich beschloss einfach zu klingeln. Als Ausrede konnte ich immer noch die Wahrheit sagen: nämlich dass ich meinen Schlüssel hier vergessen hatte.
Ich drückte den Knopf und wartete aufgeregt. Zwar gab es noch immer keine Anzeichen, dass Chart oder seine Leute hier gewesen waren und auch mein Gefühl sagte mir nichts, aber die Reaktion von meiner Familie machte mir Angst. Ich wusste nicht ganz, wie ich mich entschuldigen sollte, denn ich sagte immer Bescheid, wenn ich weg ging. Besonders, wenn ich über Nacht weg war.
Mein Dad öffnete die Haustür und Erleichterung durchströmte mich. Er sah mich eine Weile mit seinen braunen Augen an und musterte mich von oben bis unten. »Ah, die Dame kommt auch noch mal nach Hause«, sagte er dann endlich, um die Stille zu brechen, trat aber noch nicht beiseite, um mich rein zu lassen.
Ich sah ihn schuldbewusst an. »Tut mir leid, Dad. Ich war über Nacht bei Marlon und ich hab’ euch nicht Bescheid gesagt, weil … das so kurzfristig war. Ich hatte das davor nicht geplant. Heute ist sein letzter Tag«, log ich.
Er sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Bei Marlon warst du also«, sagte er dann skeptisch. Ich nickte nur, in der Hoffnung, er würde es glauben.
»Kim.« Meine Mom kam aus der Küche, eilte zur Tür und stieß meinen Vater beiseite. Sie drückte mich einmal. »Wo warst du denn? Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht. Du musst sagen, wenn du irgendwo hingehst und da übernachtest, sonst wissen wir doch gar nicht, wo du bist. Und an dein Handy gehst du auch nicht.« Sie wirkte erleichtert und doch ein bisschen sauer.
»Ich weiß, tut mir leid. Mein Akku ist leer«, sagte ich immer noch vor der Tür stehend.
»Komm erst mal rein.« Sie zog mich am Arm rein.
Mein Dad schloss die Tür hinter uns. »Sie war über Nacht bei Marlon«, berichtete er mit einem komischen Unterton, der genau klarmachte, was er dachte.
Meine Mom sah mich ebenfalls komisch an und hinter ihren Augen lag der gleiche Gedanke wie ihn mein Vater hatte. »Und wo sind deine Sachen?«, fragte sie schließlich ohne auf das zu sprechen zu kommen, was sie im Sinn hatte.
Ich überlegte kurz. Wo waren meine Sachen? »Die sind noch bei Marlon. Ich wollte nachher eh nochmal hin … wenn ich darf. Dann hole ich sie ab«, log ich erneut. Wenn ich darf, hing ich noch dran, weil ich mir nicht sicher war, ob sie mir das erlauben würden. Bei meinem Dad konnte ich mir vorstellen, dass er mir gerne irgendeine Strafe auferlegen würde, denn er schien wirklich sauer zu sein.
Hoffnungsvoll sah ich zu meiner Mom, der ich das weniger zutraute. »Wenn es sein letzter Tag ist«, murmelte sie unsicher und zuckte die Schultern. »Aber demnächst sagst du Bescheid.« Sie hatte ihren mahnenden Mutterton aufgesetzt.
Dad sah sie einen Moment an, nachdenklich, ob er mit ihrer Entscheidung zufrieden war. »Und du nimmst deinen Schlüssel mit«, sagte er schließlich mürrisch.
Ich unterdrückte ein Lächeln. »Mach ich, hab’ ihn nur vergessen«, sagte ich und lief die Treppe hoch, um der Situation zu entkommen. In meinem Zimmer sah ich mich kurz um, als könnte hinter der Tür doch ein Werwolf lauern. Doch der Raum war leer und schien sicher, weshalb ich zum Fenster lief und es öffnete. Meine Augen erhaschten im Dickicht des Waldes die Wölfe, die mich hier oben ebenfalls ansahen. Ich nickte kurz, um ihnen zu sagen, dass alles okay war, ehe ich Monique andeutete, dass sie hoch kommen konnte. Am Gartenzaun verwandelte sie sich, kletterte darüber und lief dann mit schnellen Schritten näher an die Hauswand, wobei sie sich immer wieder umsah, ob auch niemand aus dem Fenster guckte. Ich trat an die Seite, damit sie hier oben Platz hatte und nur eine Sekunde danach erschien sie oben auf der Fensterbank. Sie stemmte sich hoch und sprang dann in mein Zimmer.
Grinsend sah sie mich an. »Geht doch ganz einfach.«
Ich grinste zurück und schloss das Fenster. Nagur nickte von unten und drehte sich dann um. Die anderen Wölfe folgten ihm, als er in den Wald hinein lief. Monique sah sich währenddessen im Zimmer um. Es war nicht wirklich aufgeräumt, das wusste ich. Aber so schlimm wie ihres war es nicht. »Und wie machen wir das jetzt?«
»Was meinst du?«, murmelte ich, wobei ich mich genauso ratlos fühlte wie sie.
»Wirst du deinen Eltern sagen, dass ich bei dir schlafe oder nicht?«
Darüber hatte ich kurz nachgedacht, doch eigentlich gab es da nicht so viel zu überlegen. Für mich war die Sache klar. »Nein. Dann müsste ich zu viel erklären. Außerdem glaube ich nicht, dass sie mir erlauben würden, eine ganze Woche jemanden bei mir im Zimmer zu beherbergen.«
Sie verstand es und nickte. »Okay, dann bin ich also ein blinder Passagier.« Sie grinste.
»Joa, so kann man's sagen.« Ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl, während sie sich auf dem Bett niederließ. »Aber das wird schon funktionieren. Meine Eltern kommen nicht so oft in mein Zimmer.«
»Und wo soll ich schlafen?«, fragte sie.
Auch darüber hatte ich mir schon Gedanken gemacht. »Na ja, ich würde sagen, hier in meinem Zimmer. Du kannst mit in meinem Bett schlafen, wenn du willst. Ich hab’ sonst nur so 'ne ausklappbare Matratze.«
»Ach nö. Ich schlafe auf der Matratze. Du kannst dein Bett behalten.« Sie lachte.
»Brauchst du aber nicht«, beharrte ich. Ich wollte nicht so eine Gastgeberin sein, die ihre Gäste auf Matratzen schlafen ließ. Wir hatten kein Gästezimmer, also musste ich ihr wenigstens mein Bett anbieten.
»Nein, ich schlafe auf der Matratze und basta«, sagte sie bestimmt.
Sie würde nicht locker lassen, deswegen gab ich auf. Auch das war eine Eigenschaft von ihr, die mir auf dem Flug aufgefallen war: sie war stur und blieb so lange hartnäckig, bis sie das hatte, was sie wollte. Ihr war es egal, was die Leute von ihr dachten. Mit ihrem massigen Selbstvertrauen benahm sie sich so wie sie es für richtig hielt und niemals so wie andere es von ihr erwarteten.
»Und was ist morgens?«, fragte Monique und unterbrach damit meine Gedanken.
Ich überlegte kurz, was sie meinte. »Mh … also Frühstück kann ich dir vielleicht hoch reichen. Du kannst dann ein bisschen später losgehen als ich.«
Sie dachte kurz nach. »Aber ich soll dich begleiten, auf dem Weg zur Schule.«
»Tja, dann … warte ich einfach auf der Straße, bis du kommst. Dann gehen wir zusammen«, schlug ich vor.
»Ja, gut«, meinte sie und nickte, ehe sie sich wieder im Zimmer umsah. Ich überlegte in der Zeit, was ich meinen Freundinnen sagen sollte. Sie würde als neu gelten – das war sie ja auch – also durften wir nicht so aussehen als würden wir uns bereits kennen. »Ich muss hier unbedingt shoppen gehen«, sagte sie schließlich wieder und grinste mich an. »Nagur hat mir verboten so viel mitzunehmen.«
Mein Lächeln war diesmal müder als noch eben. Ich fühlte mich nicht so, als könnte ich überhaupt aufrichtig lächeln, wenn Marlon nicht da war. »Heute haben die Geschäfte geöffnet«, sagte ich plump und fühlte mich trotzdem schlecht. Ich war mir sicher, dass ich mit Marlon einen Ausflug in die Stadt gemacht hätte, wenn sich nicht alles in eine so unkontrollierbare Richtung gewandt hätte.
Ihre Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Es ist doch Sonntag.«
»Ja, aber ein verkaufsoffener Sonntag«, erwiderte ich noch immer mit müdem Gesichtsausdruck. Ich fühlte mich kränklich, wenn ich an die Schulpause in der letzten Woche dachte, in der ich mit meinen Freundinnen darüber geredet hatte, kurz bevor mein Blick ganz unwillkürlich wieder rüber zu dem Jungs Tisch geglitten war, wo Marlons blaue Augen meinen begegnet waren.
Moniques Kopf legte sich schief als sie sich auf die Lippe biss und überlegte. »Das trifft sich ganz gut. Ich brauche nämlich ganz viele Sachen für die Schule. Die Hefte und sowas alles.«
»Wenn du willst können wir gleich los«, schlug ich vor, obwohl es mir schwer fallen würde, dieses Zimmer zu verlassen. In diesem Augenblick fühlte sich plötzlich alles schwer an.
»Ja kl- … oh«, sagte sie und ihre Augen wurden groß. »Ich habe meine Tasche oben liegen lassen. Da ist mein Geld drin.«
»Dann laufen wir dort erst noch vorbei«, meinte ich und stand bereits auf.
»Na gut«, erwiderte sie, sichtlich froh über die Aussicht, shoppen zu gehen.
Ich fühlte mich ein wenig hin- und hergerissen, als ich mich mit ihr wieder auf dem Weg zur Höhle befand. Ihr Blick glitt dabei immer wieder fasziniert zu mir, was mir ein unwohles Gefühl gab, obwohl ich mich wahrscheinlich eher geschmeichelt hätte fühlen sollen. »Deine grünen Augen sind richtig geil', sagte sie irgendwann mit einem Wolfsgrinsen auf den Lippen.
Na wenigstens war sie ehrlich. Ich wusste nicht ganz, was ich darauf antworten sollte, also sage ich einfach die Wahrheit: »Ich finde sie eher lästig. Sie zeigen, dass ich anders bin und dann starrt mich jeder an, als käme ich vom Mars.«
»Aber dann bist du wenigstens mal was Besonderes. Alle anderen sehen gleich aus. Selbst die, mit den Fähigkeiten haben schwarze Augen mit dem Rand der richtigen Augenfarbe, wenn sie ein Wolf sind. Du nicht.'
Ich sah nicht ganz den Vorteil in ihrer Argumentation. »Aber gerade deswegen will ich doch normale Augen. Ich will nicht anders behandelt werden als die Anderen. Ich bin auch nur ein … Werwolf.« Beinahe hätte ich Mensch gesagt, aber das stimmte ja jetzt nun wirklich nicht mehr.
,Ich fänd's cool, was Besonderes zu sein«, sagte sie.
»Mh«, machte ich nur dazu, was sie zum Schweigen brachte und uns den Weg still fortlaufen ließ. Auf dem Weg fiel mir noch etwas ein. Auch wenn ich es schwer fand, es zu sagen, tat ich es: »Marlon hat ja auch noch Sachen. Halt Stifte, Hefte und so was. Die Bücher hat er zwar abgegeben, aber den Rest kannst du haben. Dann brauchen wir nur noch 'ne ordentliche Schultasche und du kannst das Restgeld für Klamotten ausgeben.« Ich grinste sie wölfisch an, obwohl es mir schwerfiel, so einen Ausdruck auf mein Gesicht zu bringen.
Sie grinste zurück. »Hört sich gut an.«
Als wir kurz vor dem kleinen Hügel waren, verwandelten wir uns zurück, wodurch auch die beiden Wölfe, die darauf gesessen und uns beobachtet hatten, ihre menschliche Form wieder annahmen. Ich war für einen kurzen Moment
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Texte: Alle Rechte an diesem Buch gehören der Autorin © Ela Maus.
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Tag der Veröffentlichung: 05.07.2011
ISBN: 978-3-7438-1556-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist Mena, Bella, Reni, Domino und Monique gewidmet.