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Der Neue

Kimberly

 

»Hast du den Neuen gesehen?« Aufgeregt kam Nina auf mich zugestürmt. Ihr kurzes dunkelbraunes Haar strich ihr dabei ins Gesicht und ihr Minirock wehte gefährlich nach oben, doch bevor er ganz umschlagen konnte, streifte sie ihn mit ihren Händen glatt. Eine davon ließ sie dort liegen, während die andere schon wieder zu ihrem Pony schnellte, um die Haare wieder aus ihren Augen zu entfernen.

»Nein, wieso?«, entgegnete ich. Es kamen nicht so oft neue Schüler mitten im Semester zu uns, darum hätte es gut möglich sein können, dass er mir bereits aufgefallen war.

Nina ließ sich auf ihren Stuhl sinken, den sie vor Langem einmal mit ihrem Namen gekennzeichnet hatte. Das war so bei uns - jeder hatte seinen Platz. Ich saß immer an der Wand, mit Blick auf die Tür der Schulmensa. Nina hatte ihren Platz mir gegenüber, Catharina rechts und Susan links von mir. Das war sie - unsere kleine Clique, bestehend aus Nina, Susan, Catharina und mir.

 »Der sieht total heiß aus. Nicht so wie die letzten Trottel, die in unsere Stufe gekommen sind. Den musst du dir unbedingt ansehen. Richtig niedlich.« Während Nina noch vor sich hin schwärmte, waren Catharina und Susan in die Schulmensa gekommen und an unserem Tisch angelangt.

»Wer ist richtig niedlich?«, erkundigte sich Susan, während die beiden sich setzten.

»Der Neue«, klärte ich sie auf.

»Oh ja, den hab’ ich auch gesehen. Der ist wirklich so was von gutaussehend.«

»Dann ist er ja vielleicht was für dich. Sonst gibt’s hier ja keine süßen Jungs, außer den ganzen Footballern, aber die willst du ja nicht haben«, neckte Catharina sie.

»Die sind ja auch völlig verblödet. Wie haben die es nur auf diese Schule geschafft? Du hast den einzig halbwegs gescheiten abbekommen, Cathie. Wenigstens hat der noch was in seiner Birne. Gutes Aussehen ist nicht alles. Ich bin ja keine, die jeden nimmt.«

Das stimmte. Cathie hatte den Besten von den Footballern abbekommen und das schon vor einem Jahr. Brian, wie er hieß, war wirklich ein netter Junge, mit dem es noch möglich war, sich vernünftig zu unterhalten, während man bei den anderen teilweise das Gefühl hatte, mit einer Wand zu reden.

Damit war das Gespräch für heute eröffnet, während ich mir an diesem Tag vorrangig Gedanken darüber machte, wie ich mich am Nachmittag am besten auf das Englischreferat vorbereiten sollte. Daher schweiften meine Gedanken ein wenig ab, bis ich sah, wie jemand Unbekanntes durch die Tür den Speisesaal betrat. Es konnte kein anderer sein, als der Neue, der sich kurz umsah und sich dann etwas unentschlossen mit seiner schlanken, trainierten Gestalt durch die Massen an Schülern zu dem Tisch mit allen Footballern durchquetschte. Niemand sonst in der Mensa machte einen so orientierungslosen Eindruck. Und niemand sonst hätte die tratschlustigen, voreingenommenen Schüler nur mit seiner bloßen Präsenz zu einem fassungslosen Moment des Schweigens gebracht. Nina hatte Recht: er sah umwerfend aus. Sein schokobraunes Haar war glatt, glänzend und umrahmte sein hübsches Gesicht perfekt. Der Entfernung wegen konnte ich seine Augen leider nicht näher erkennen, aber sie schienen blau zu sein, was durch die sonnengebräunte Haut noch viel mehr zum Vorschein kam. Wenn ich neben ihm stehen würde, wäre er vielleicht einen Kopf größer als ich. Ich fragte mich, welchen Sport er wohl betrieb. Vielleicht auch Football? Dann würde er sehr gut zu den anderen Footballjungs passen, wobei zu hoffen war, dass er klüger war, als die meisten von ihnen.

»Ich hab’ es dir doch gesagt, Kim. Der Typ sieht ja mal so was von scharf aus«, unterbrach Nina meine Gedanken.

»Du hast leicht untertrieben. Der sieht so richtig mega hammer scharf aus«, pflichtete Catharina ihr bei.

»Allerdings«, schaffte ich es endlich zu murmeln, während meine Augen verfolgten, wie er beim Footballertisch angekommen, von Massen an Schülern umringt wurde, bis er nicht mehr zu sehen war.

»Ich glaube, wenn der nicht so dumm ist, wie die Anderen, dann könnte das auf jeden Fall was werden«, scherzte Susan, als suchte sie nach einem guten Hotel im Internet. Ich lachte über ihre gespielt oberflächliche Art und fing das Grinsen von Nina auf, welches genau den gleichen Gedanken belächelte.

»Hey, die anderen sind auch nicht so doof«, meckerte Cathie.

»Hast du dir mal deren Prüfungen angeschaut? Mason hat mir mal seine Geographieklausur gezeigt. Wenn du die siehst, fallen dir die Augen raus, sag ich dir«

Während die Beiden wieder diskutierten, wandte ich mich lächelnd meinem Frühstück zu. Ich hatte es bis zum Pausenende aufgegessen. Der Unterricht danach zog sich hin, wie die Zeit vor Weihnachten, wenn die kleinen Kinder ungeduldig darauf warteten, die Geschenke auspacken zu dürfen. Als ich zur dritten Stunde, bei Mrs. Grisell, eilte, bot sich mir allerdings ein anderes Bild, als das langweilige Schulleben, das ich in dieser Stunde erwartet hatte. Ich hatte Geschichte mit dem Neuen. Er saß schon auf seinem Platz, als ich den Raum betrat, und las etwas im Geschichtsbuch. Doch als ich auf seinen Tisch zukam, um daran vorbei, zu meinem, zu gehen, sah er auf und erfasste sofort meinen Blick. Obwohl noch viele andere Schüler neben mir in den Raum stürmten, um nicht zu spät zu kommen, hefteten sich seine ozeanblauen Augen nur auf mich und ich verspürte ein komisches Gefühl in mir. Etwas wie ...Verbundenheit? Ich hatte so etwas noch nie zuvor erlebt und doch kam es mir seltsam vertraut vor. Schüchtern sah ich weg und nahm meinen Weg auf.

Cathie erwartete mich schon an meinem Platz. »Wow, wir haben Geschichte zusammen mit dem heißen Neuen«, legte sie sofort los.

Ich grinste sie an »Du hast einen Freund. Vergiss das nicht.«

»Ach Quatsch. Tu ich schon nicht. Außerdem darf ich doch wohl noch schwärmen? Wahrscheinlich hat der sowieso 'ne Freundin. Wie kann so jemand auch Single sein?«

Da hatte sie Recht. Die Vorstellung, dass so ein Typ nicht vergeben war, passte irgendwie nicht zu seinem Aussehen. »Ja, vielleicht hast du Recht«, gab ich zurück. »Weißt du eigentlich wie er heißt?«

»Nee, keine Ahnung. Vielleicht weiß Nina ja irgendwas?«

Ich zuckte nur die Schultern und blieb stumm, weil ich mir vorkam, wie ein hysterischer Groupie, der sich die neusten Informationen über seinen Star beschaffen wollte. Cathie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Rick, der gerade versuchte, die letzten Sätze der Hausaufgaben bei seinem Tischnachbarn abzuschreiben, und ich ließ meinen Blick durch die Klasse streifen, bis er auf dem Neuen kleben blieb. Was hatte dieser Blick von vorhin wohl zu bedeuten? Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich so an ihm interessiert war. Ich meine - ja, ich hatte seit einiger Zeit schon keine Beziehung mehr gehabt, aber ich war nicht oberflächlich. Jedenfalls normalerweise nicht. Das, was ich jetzt gerade tat, war ziemlich oberflächlich.

So in Gedanken versunken, sah ich den Rücken des Jungen an und wachte erst richtig auf, als er sich plötzlich umdrehte und mich anblickte. Für einen kurzen Moment erwiderte ich den Blick, fragte mich, warum er mich so ansah, dann schaute ich peinlich berührt weg. Er hatte mich gerade dabei ertappt, wie ich ihn von hinten angestarrt hatte und ich hatte nicht mal wirklich darauf reagiert – wie peinlich. Um zu überprüfen, ob er danach noch immer hersah, flog mein Blick nochmal zurück und da lächelte er mich an. Es war kein belustigtes Lächeln, sondern ein aufrichtiges; ein Lächeln, das sagte: Hallo du da. Schüchtern riss ich meinen Blick wieder los, als hätte es nicht mir gegolten. Vielleicht hatte es das auch nicht. Vielleicht hatte ich mich nur getäuscht. Vielleicht schielte er. Ach quatsch, das tat er nicht - er hatte mich tatsächlich angelächelt und es hatte wundervoll ausgesehen.

Cathie neben mir hatte davon zum Glück nichts mitbekommen. Sie sah ganz fasziniert zu Mrs. Grisell, die gerade in die Klasse kam und ein altes Stück Papier aus ihrem Rucksack zog, auf dem ägyptische Hieroglyphen zu lesen waren. Der Neue indes drehte sich wieder nach vorne und überließ mir nur seinen muskulösen Rücken zum Anstarren.

»Guten Morgen«, schallte Mrs. Grisells helle Stimme durch den Raum.

»Morgen«, antwortete die Klasse im reinen Durcheinander.

»Heute we- … ach so«, unterbrach sie ihre übliche Heute-werden-wir-uns-mit-dem-und-dem-beschäftigen-Rede. »Das ist der neue Schüler an unserer Schule. Marlon …«, sie sah hinab auf eine Liste, die auf dem Pult lag. »Marlon … Adams. Marlon, kommst du aus England? Dein Nachname ist sehr typisch für diese Gegend«, stellte sie ihn vor und fragte ihn sofort aus.

»Meine Familie stammt aus England. Ich selber bin aber in Requa geboren.« Eine schöne, tiefe Stimme hatte er. Sie faszinierte mich bald mehr, als das, was er sagte. Irgendwie klang sie rau, andererseits aber auch samt. Ich konnte mich nicht ganz dazwischen entscheiden.

»Jetzt haben wir seinen Namen. Und er kommt aus England. Na, wenn das mal keine Infos sind«, flüsterte mir Cathie von der Seite aus zu und grinste.

Allerdings. Aus England zu kommen und dann hier ein Leben aufzubauen war bestimmt nicht einfach. Das europäische Wetter war meist als kalt und nass bekannt, zumindest im Vergleich zu Kalifornien, wo wir lebten. Hier in Arcata war selten schlechtes Wetter. Ich hatte mein ganzes Leben hier verbracht, beinahe jeden Tag. Deswegen waren Kälte und Regen eine Seltenheit für mich.

»Interessant«, sagte Mrs. Grisell in einem üblichen langweiligen Geschichtslehrer-Ton, ehe sie mit dem Unterricht begann.

Als die Stunde schließlich zu Ende war, packte ich meine Sachen und wartete stehend darauf, dass auch Cathie alles eingepackt hatte. Währenddessen beobachtete ich wie Marlon zusammen mit seinem Tischnachbarn Mason Forks durch die Tür ging. Nur kurz bevor er verschwand, drehte sich sein Kopf noch mal zu mir, lediglich um mich anzusehen. Warum tat er das? Seine Augen wirkten so prüfend, aufmerksam. Ich runzelte leicht die Stirn und sah weg.

Als Cathie dann endlich fertig war, ging ich mit ihr zu meinem Spind, wo Susan und Nina schon an der Wand lehnten und auf uns warteten. Unsere Spinde standen alle in einer Reihe, was uns damals, als wir neu auf die Highschool gekommen waren, gewissermaßen zusammengeführt hatte. Seitdem waren wir das unzertrennliche Viererpack, das von anderen wohl als durchschnittlich beliebt angesehen wurde, wobei ich immer das Gefühl hatte, der Schatten meiner drei Freundinnen zu sein. Während sie extrovertiert und offen in die Welt hinaus spazierten, blieb ich meist im Hintergrund, weil ich Angst vor der Reaktion meines Gegenübers hatte. Zu jeder Zeit war ich verängstigt.

Cathie schoss natürlich gleich los: »Ihr glaubt nicht, mit wem wir Geschichte haben.«

Nina sah sie an, wobei schon eine gewisse Ahnung in ihrem Blick schlummerte. »Sag du es uns.«

»Oh, ich glaub, ich kann‘s mir denken«, meinte Susan mit ironischem Unterton.

»Ja?«, warf ich genauso ironisch ein und grinste sie an, während ich die Bücher von gerade gegen Neue eintauschte.

»Mit dem Neuen. Das ist ja nicht gerade schwer zu erraten.« Sie lachte.

»Echt? Das ist ja cool. Wie heißt er denn jetzt?«, fragte Nina begeistert.

»Marlon Adams. Und er ist aus England. Das ist ja so was von cool«, schwärmte Cathie vor sich hin.

»Aus England? Wann ist er dann hierher gezogen?«

»Nein. Seine Familie stammt aus England. Er ist aber hier in Requa geboren«, wandte ich ein.

»Ach so. Trotzdem ist England cool«, erwiderte Susan, doch sie konnte ihre Meinung gar nicht bis zum Ende kundtun, weil Cathie schon theatralisch ihr Gesicht verzog und übermütig den Kopf schüttelte.

»Ja, nass und kalt. Eklig, wenn du mich fragst«, sagte sie.

»England ist nicht eklig«, ließ uns eine schöne, sanfte Stimme verstummen. »So viel regnet es da nicht und kalt ist es auch nicht immer.«

Ich fühlte ein nervöses Kribbeln in mir, als ich mich umdrehte und in Marlons Gesicht sah. Sein Blick war auf Cathie gerichtet, die stocksteif in ihrer Position verharrt war und ihn anstarrte. »Ich ... äh, also ...«, stotterte sie.

Wenn er so nah vor uns stand, war seine Schönheit noch vollkommener. Seine Augen waren tatsächlich blau wie ein weiter, unergründlicher Ozean und leuchteten hell in dem Licht des Schulflurs. Hinter ihm wartete Mason, der leise kicherte. Susan sah ihn böse an.

»Also, ich war noch nie in England. Ich ... ich weiß nicht wie es da ist. Hab’ nur gehört, dass es da so sein soll. Du warst da sicher schon öfter.« Cathie hatte es geschafft, ihre Stimme wiederzufinden.

»Sicher. Besonders im Sommer ist es sehr schön da«, antwortete Marlon und lächelte milde, was einen verdammt hübschen Ausdruck auf sein Gesicht zauberte.

Ich ließ mir seine samte Stimme im Kopf wiederhallen. Er hatte auch einen leichten Akzent, der nicht so stark war wie Cathies, die durch ihre spanischen Eltern immer ein wenig anders sprach. Auch Marlon sprach manche Wörter etwas anders aus, was ich aber schön fand, da es zu ihm passte.

Eine Stille kehrte ein, bis ich meinte, das Wort ergreifen zu müssen. »Sind deine Großeltern hierher gezogen oder deine Eltern?«

Er sah mich an, wobei sich ein warmer Blick der Neugierde in seinen Augen zeigte. Ich wusste nicht ganz, wie ich darauf reagieren sollte, weil mir unklar war, was an mir so interessant sein konnte, dass so jemand wie er neugierig wurde. »Meine Eltern«, antwortete er kurz darauf.

Das war nicht sehr viel, aber ich gab mich damit zufrieden. Als ich dann dastand und darüber nachdachte, was ich antworten sollte, wurde ich wieder nervös. Doch dann ertönte das Läuten der Schulglocke und erlöste mich von dieser Qual.

»Mist«, fluchten Nina und Cathie gleichzeitig.

Ich knallte meine Spindtür zu. »Bis gleich«, sagte ich zu den Anderen.

Auch Marlon und Mason teilten sich auf, wobei ich nicht darauf achtete, in welche Richtung alle verschwanden, da ich schnell zum Unterricht musste. Jetzt stand Mathematik auf dem Plan und Mr. Rothell war nicht gerade ein Lehrer, der vollkommen entspannt blieb, wenn seine Schüler sich gegen die Norm verhielten. Er war aufbrausend und gemein. Nun würde ich auf jeden Fall zu spät kommen, was für mich noch schlimmer war, da Mathe eins der Fächer war, das ich ganz alleine durchstehen musste, weil es keine Nina, Catherina oder Susan gab, die neben mir saßen. Natürlich hatte ich noch andere Freundinnen hier auf der Schule, aber diese drei waren meine engsten, mit denen ich alles durchstand. Nur im Mathematikunterricht war irgendwie niemand da, den ich richtig mochte.

Als ich jedoch den schon leeren Flur durchquerte, hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und blieb ruckartig stehen. Hinter mir lief Marlon über den Flur. Er sah mich an und lächelte leicht. »Du hast auch Mathematik bei Mr. Rothell?«, fragte er.

»Ja«, gab ich knapp zurück. Jetzt, wo wir alleine waren, fiel es mir schwerer zu sprechen. Er lächelte nur und kam auf mich zu, da ich wartete, damit wir zusammen weitergehen konnten.

»Am ersten Tag schon zu spät zu kommen, macht nicht gerade den besten Eindruck«, sagte er in die Stille hinein. Komischerweise fühlte ich mich schuldig, immerhin hatten wir ihn aufgehalten. Doch er hängte noch ein Lachen dran, was mich beruhigte.

»Nein, nicht wirklich. Wir sollten uns beeilen. Mr. Rothell ist in der Hinsicht etwas empfindlich«, erwiderte ich.

Wir bogen gerade in den richtigen Trakt ein, da blieb er plötzlich stehen. Er drehte sich um und sah mich an. Ich erwartete überrascht irgendetwas Besonderes, bis er fragte: »Welche Tür?«

Statt zu antworten, ging ich an ihm vorbei und klopfte an die Richtige. »Hier«, sagte ich mit einem schüchternen Lächeln. Ich traute mich nicht, ihn anzusehen.

Hinter der Tür richteten sich sogleich sechsundzwanzig Augenpaare auf uns, inklusive die des Lehrers. Wie immer hatte dieser einen grimmigen Unterton, als er sagte: »Na, Miss Marys? Wie können Sie denn Ihr Zuspätkommen erklären?« Dann sah er von mir zu Marlon und ich konnte schon an seinem Blick erkennen, dass er jetzt irgendwas sagen würde, das mich oder Marlon – oder eben uns beide – ärgern würde. Das tat er gerne mit Neuen. »Und Mr. Adams? Was ist mit Ihnen? Wissen Sie, gleich am ersten Tag zu spät zu kommen, ist genau die Art, sich bei Lehrern beliebt zu machen«, er lächelte sein ekliges Lächeln und sah Marlon auffordernd an.

Wie einfallsreich von ihm. Ich hörte, wie nach seinen Worten trotzdem ein leises Kichern durch die Reihe ganz hinten ging. Natürlich - wie konnte es anders sein: Louis Kampel und Beck Rugh, zwei der Footballspieler ohne Hirn. In einem der Gesichter sah ich jedoch alles andere als Belustigung: Jonas. Ich war mal mit ihm zusammen gewesen, hatte aber nach ein paar Monaten Schluss gemacht, weil plötzlich all meine Gefühle für ihn im Winde verweht waren. Er hatte mir das bis heute nicht verziehen, obwohl es jetzt ungefähr ein halbes Jahr her sein musste. Ich wusste nicht, was er immer noch von mir wollte, da er inzwischen drei Freundinnen gehabt hatte, wobei ich schon lange begriffen hatte, dass das alles nur Fassade gewesen war. Jetzt lag in seinem Blick Eifersucht und Wut. Ich wurde aus ihm nicht schlau. Nachdem ich mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte er erst noch versucht, mit mir zu reden und mich dazu zu bewegen, wieder etwas mit ihm zu unternehmen. Nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass es keinen Sinn hatte, war er mir aus dem Weg gegangen. Bis heute. Also warum war er jetzt wütend?

Marlons Stimme unterbrach meine Gedanken: »Ich bin heute erst hier angekommen. Ich ...«, er stockte und bevor er noch weiter reden konnte, half ich ihm.

»Marlon musste noch ins Sekretariat und da ich im selben Kurs bin wie er, hat mich Mrs. Shall gebeten, zu warten und ihm dann den Weg hierher zu zeigen.«

Ich sah Mr. Rothells Gesicht, dessen Gefühle sofort unter der üblichen Lehrermaske verborgen wurden. »Na dann, setzen Sie sich bitte.«

Neben mir war der einzige freie Platz, weil ich alleine saß, da in diesem Kurs nur Idioten waren. Hauptsächlich Jungs - nicht, dass ich was dagegen hätte, neben einem Jungen zu sitzen, aber die Jungs in diesem Kurs waren alle nicht auf meiner Wellenlänge. Außer Jonas, aber der hatte nach unserer Trennung auf einen anderen Platz bestanden und saß nun neben Jeff Rond, ebenfalls ein Footballspieler. Jonas selbst war keiner, verbrachte aber dennoch seine meiste Zeit mit ihnen. Die wenigen Mädchen in diesem Kurs waren nicht gerade meine besten Freundinnen. Da gab es Kayla Rickes, eine Zicke, und ihre kleine Freundin Karie Morissen, welche das kleine Abbild dieser Ziege war. Mit den Beiden wollte ich nichts zu tun haben.

Schnell eilte ich zu meinem Platz, dicht gefolgt von Marlon. Als wir saßen, sah er zu mir rüber. »Danke«, flüsterte er.

Ich lächelte ihn nur an und vermittelte ihm so, dass ich es gern gemacht hatte. Allerdings flog dann mein Blick gleich wieder runter auf die Tischplatte. Ich fühlte mich unwohl neben diesem Jungen. Es war wie von Milliarden von Leuten angestarrt zu werden, wenn man genau wusste, dass man im nächsten Augenblick irgendetwas Falsches tun würde. Er musste bessere Gesellschaft gewohnt sein, als die einer kleinen grauen Maus, wie ich eine war.

 

Schritt Eins

Marlon

 

In der Mathematikstunde saß ich neben ihr. Damit war der allererste Schritt getan, denn einen grundlegenden Kontakt hatte ich zu ihr schon mal aufgebaut. Sie war schüchtern und ängstlich, was mich selbst nervös werden ließ. Wann war der richtige Zeitpunkt, um es ihr zu sagen? Gab es diesen überhaupt?

Nervös wurde ich auch durch die anderen Leute in der Schule. Ich konnte zwar gut mit Menschen umgehen und sie so manipulieren, wie ich sie haben wollte, aber es war hier so anders, als ich es gewohnt war. In der Mathematikstunde vor der ganzen Klasse zu stehen, hatte mich total verunsichert. In solchen Situationen zeigte sich dann doch meine Unsicherheit. Wie lange hatte ich das nicht mehr erlebt? Es war Ewigkeiten her. Doch ich musste es tun, damit ich bei ihr sein und bald wieder nach Hause konnte.

Die Schulglocke ertönte und beendete meine Gedanken. Rasch packte ich meine Sachen zusammen und stand auf. Kimberly erhob sich im selben Moment wie ich und ich achtete darauf, neben ihr aus dem Raum zu gehen. »Kommst du mit in die Mensa?«, fragte sie zögerlich, denn offenbar fühlte sie sich dazu genötigt, mich aus Höflichkeit anzusprechen, wenn ich ihr so nah war.

Ich fand es irgendwie süß, wie schüchtern sie war, da ich von den meisten Mädchen eine ganz andere Verhaltensweise gewohnt war, wenn sie auf mich trafen. Meine Augen betrachteten die weißblonden Haare, die glatt bis zu ihrer Brust hinab fielen. Ihre Augen waren tiefgrün. Sie sahen in ihrem bleichen Gesicht faszinierend dunkel aus, was sie mysteriös anziehend wirken ließ. »Ja. Ich ...«, ich stockte. Wie konnte ich ihr das sagen? »Ich ... hab‘ noch nicht so viele Freunde hier.« Ein schiefes Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

»Du bist ja auch erst seit heute hier. Da ist das doch ganz normal«, sagte sie.

In der Mensa angekommen, wusste ich nicht ganz, was ich als nächstes tun sollte. Aber ich musste bei ihr bleiben, also schlängelte ich mich einfach hinter ihr durch die Menschenmenge. Und wenn ich Menschenmenge sagte, dann meinte ich auch Menge. Denn überall, wo man hinsah, konnte man nur Schüler erkennen. Heute Morgen war es hier noch nicht so voll gewesen, was vermutlich daran lag, dass jetzt die zweite Pause und damit Essenspause war. Bei der Essensausgabe war jedenfalls eine riesige Schlange. Wenn die alle ihr Essen haben wollten, dann standen die letzten wahrscheinlich noch bis heute Abend hier.

»Das ist immer so in der Mittagspause«, erklärte mir Kimberly. »Morgens ist es zum Glück nicht ganz so schlimm.«

Ich sah mich skeptisch um. »Wie lange steht man denn hier an, um sein Essen zu bekommen?«, fragte ich. Ich hatte einen riesigen Hunger, aber so lange wollte ich nicht auf mein Essen warten.

»Na ja, fast jeder hier hat da so seine Methoden.« Sie grinste mich an, hielt den Blickkontakt aber nicht lange und schaute wieder weg.

»Und die wären?«

»Ich habe so etwas, wie einen Essen-hol-Plan, mit meinen Freundinnen. Diejenige, die am frühsten aus dem Unterricht kommt, beziehungsweise nicht so einen weiten Weg in die Mensa hat, besorgt das Essen der anderen gleich mit. So hat jeder sein Essen, wenn er ankommt, ohne lange warten zu müssen«, erklärte sie.

Ich runzelte die Stirn. Das war natürlich eine Möglichkeit - wenn man viele Freunde hatte. Mir bot sich das jedoch nicht an, schließlich kannte ich hier ja noch niemanden.

»Tut mir leid. Du musst dich jetzt natürlich anstellen«, brachte sie es auf den Punkt und presste ihre Lippen aufeinander.

Na prima, dachte ich ironisch. Doch die Aussicht mit leerem Magen die letzten Schulstunden herum zu bekommen, erschien mir erträglicher als jene, noch bis zum Ende der Pause in der Schlange zu stehen. Also würde ich lieber hungern.

»Hey, Marlon.« Mit einem ordentlich gefüllten Tablett kam Mason auf mich zu. Er hatte mir in der ersten und zweiten Stunde geholfen, mich etwas zurecht zu finden, und in Geschichte hatte er neben mir gesessen. Jetzt sah er mich an und grinste. »Ich habe mir gedacht, dass du so spät kommst und hab‘ dir schon mal Essen besorgt. Ich weiß nicht ... magst du das hier?«

Er hob das Tablett an, auf dem Kartoffelsalat, neben einem winzigen Stück Fleisch, auf einem Teller lag. Daneben dasselbe nochmal und zwei Gläser Wasser. Überrascht sah ich ihn an. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. »Ja klar. Danke«, sagte ich verblüfft und nahm einen der Teller und ein Glas Wasser vom Tablett, damit es sich darauf nicht so stapelte.

»Gut, dann lass‘ uns doch da hinten hinsetzen, ich stell‘ dir die anderen vor.« Ich sah rüber zu dem Tisch, auf den er zeigte. Ein Gefühl von Unsicherheit machte sich wieder in mir breit, denn ich fühlte mich ein wenig hin und hergerissen. Da ich in seiner Gegenwart nicht so nervös war wie bei Kimberly, würde ich mich instinktiv lieber zu ihm setzten. Andererseits musste ich bei ihr bleiben, um mehr Kontakt aufbauen zu können.

»Oh, hi Kim«, sagte Mason zu ihr, als hätte er sie vorher gar nicht bemerkt.

Bevor ich etwas sagen konnte, wie: ›Ist es okay, wenn ich mich mit zu ihnen setze?‹ oder: ›Ich kann mich auch mit zu dir setzen‹, sagte sie: »Okay, dann bis nachher vielleicht.«

Schnell drehte sie sich um und marschierte weg. Ich beobachtete sie noch, wie sie ihren Teller nahm und irgendetwas zu ihren Freundinnen sagte. Der Lärm hier in der Mensa verhinderte jedoch, dass ich verstehen konnte, was sie ihnen sagte, aber es hatte anscheinend Wirkung und ihre Freundinnen hakten nicht nach.

Mason schien nicht zu bemerken, dass eigentlich sie diejenige gewesen war, die mich hierher geführt hatte. Er ging einfach auf den Tisch zu, an dem seine Freunde saßen, und ich folgte ihm. Was hatte ich auch für eine andere Wahl?

 

Eigentlich verlief mein erster Schultag aber insgesamt ganz gut. Ich kam mit allen zurecht, auch im Unterricht kam ich ganz gut mit, obwohl ich Schule an sich hasste. Aber das aller Wichtigste war, dass ich zu Kimberly Kontakt aufgenommen hatte. Ich hatte den ersten Schritt getan. Der erste Schritt von vielen.

Ihre Schüchternheit und Ängstlichkeit würde es schwerer machen, es ihr zu sagen. Wahrscheinlich würde sie mehr Angst vor dem haben, was ich ihr erzählen musste, als besonders selbstbewusste Personen. Wie es dann hinterher werden würde, musste Kimberly selbst entscheiden. Ich wusste, dass es schwer war. Ich wusste, wie es sich anfühlte. Ich wusste, dass man Angst hatte. Große Angst. Sie war ja nicht die Einzige, die das durchmachen musste. Aber es war meine Mission und ich musste sie durchführen, ob es mir nun gefiel oder nicht.

Beobachtet

Kimberly

 

Am nächsten Morgen kam ich in der ersten Pause als Dritte an den Tisch. Während Cathie über ihr gestriges Treffen mit Brian sprach, aß ich mein Sandwich und beobachtete, wie sich Marlon auf der anderen Seite des Raums immer wieder unauffällig zu mir umdrehte und einen prüfenden Blick auf mich warf. Jedes Mal, wenn er das tat, sah ich schnell wieder zu Cathie, schielte aber zu ihm rüber, wenn er wieder weg schaute. Was hatte er nur? Und was wollte er von mir? Obwohl ich mich geschmeichelt fühlen sollte, wenn mir so ein süßer Typ, wie er, hinterher sah, war ich beunruhigt. Dieser Blick – er war so prüfend und unheimlich,  überhaupt nicht normal.

Endlich war diese peinliche Situation vorbei, als es zur dritten Stunde läutete. Ich verabschiedete mich von meinen Freundinnen, denn jetzt hatte ich Mathe, aber anstatt dem, wie sonst, freudig entgegen zu sehen, hatte ich ein unwohles Gefühl im Bauch. Was, wenn er mich die ganze Stunde über so mustern würde, wie er es während der Pause getan hatte?

Marlon saß bereits auf seinem Platz, als ich den Raum betrat. Mit einem einfachen »Hey« ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken.

Er sah mich an. »Morgen«, erwiderte er.

Im gleichen Moment kam Mr. Rothell ins Zimmer gestürzt. Ein mürrisches »Morgen« reichte ihm aus, ehe er sofort mit dem Unterricht begann, dem ich heute überhaupt nicht folgen konnte. Unauffällig - aber nicht unauffällig genug, dass ich es nicht bemerkt hätte - sah Marlon immer wieder kurz zu mir rüber. Ich versuchte dieses Verhalten zu ignorieren, da ich mich nicht traute, seinen Blick zu erwidern. Wenn er nicht so komisch gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht über die Aufmerksamkeit gefreut, die mir ein solch gutaussehender Junge widmete. Sie vielleicht als Interesse gedeutet. Doch es war eine andere Aufmerksamkeit. Sie schien kontrollierend, besitzend und wissend. Was verstörend für mich war.

Zum Glück war diese Stunde bald vorbei und ich konnte den Klassenraum verlassen. Schnellen Schrittes lief ich den Flur entlang, aber es brachte nichts. Denn schon nach wenigen Sekunden hatte mich der braunhaarige Junge eingeholt. »Welche Aufgabe sollen wir noch mal machen?«, fragte er mich.

»Dreizehn«, antwortete ich knapp und griff nervös an den Träger meiner Tasche.

Er notierte es sich auf einem kleinen zerknüllten Zettelchen, welches er in der Hand hielt. »Hast du das mit den proportionalen Dings verstanden?«

Ich konnte es nicht fassen. Er redete mit mir, als hätte er mich nicht schon seit heute Morgen angestarrt. Was wollte er nur? Vielleicht war es mit ihm genauso, wie mit den Footballern: sie sahen alle toll aus, aber waren strohdoof und manchmal einfach komisch. Es mangelte ihm offenbar an zwischenmenschlicher Sensibilität. Marlon sah mich an, was mir bewusst machte, dass ich nicht geantwortet hatte. »Nein«, war danach meine knappe Antwort.

Er runzelte die Stirn, denn es schien ihm jetzt doch aufzufallen, dass ich ziemlich abweisend wirkte. »Hast du einen schlechten Tag oder so? Weil du redest nicht viel.«

Er fragte mich, ob ich einen schlechten Tag hatte? Wie konnte er das beurteilen, wenn er mich doch gar nicht kannte? Innerlich war ich am Brausen, doch ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihm nicht alles an den Kopf zu werfen. Stattdessen sagte ich einfach nur »Hmm« und ging noch ein Stück schneller. Ich bog um die Ecke und sah glücklicherweise in dem Moment wie Susan, Cathie und Nina an unseren Spinden lehnten und gerade weitergehen wollten, als sie mich entdeckten. Schnell ging ich auf sie zu und begrüßte sie, während ich aus den Augenwinkeln sah, wie Marlon an uns vorbei ging, jedoch nicht ohne mir noch mal einen Blick zuzuwerfen, den ich diesmal erwiderte. Jetzt war es an ihm, schnell wegzuschauen. Ich konnte nur hoffen, dass er vielleicht gemerkt hatte, warum ich so einen schlechten Tag hatte.

Die restlichen Stunden gingen zum Glück schnell vorbei und ich sah Marlon nur noch selten. Zweimal im Gang. Immer wenn ich in seine Richtung sah, konnte ich gerade noch so erkennen, dass er mich angesehen hatte. Denn jedes Mal, wenn ich den Kopf zu ihm drehte, drehte er seinen weg. Und dann sah ich ihn natürlich in der zweiten Pause in der Mensa, wo es genau so war, wie in der ersten Pause. Ich sah weg, wenn er mich ansah und wenn er nicht her guckte, schaute ich ihn an. Das war verrückt. Ich war verrückt, denn ich sollte mir eigentlich nicht so viel daraus machen. Es konnte mir eigentlich egal sein. Warum achtete ich aber dann so darauf?

Am nächsten Morgen hatte ich einen Entschluss gefasst: ich würde Marlons Verhalten einfach ignorieren. Ich ging nicht davon aus, dass ich das konnte, aber einen Versuch war es zumindest wert. In der Schule angekommen, war mein guter Vorsatz aber alles andere als leicht umzusetzen. Mir kam es bald so vor, als wäre er überall. Jedes Mal ereilte mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich überhaupt nicht zu deuten wusste. Es wurde in der Mathematikstunde noch schlimmer, als dieser gutaussehende, so mysteriöse Junge wieder neben mir saß und noch immer seine Augen nicht bei sich lassen konnte. Bei Fragen antwortete ich ihm bloß knapp und nur so viel wie nötig, woraufhin er immer seine Stirn runzelte. Doch er sagte nichts dazu, wofür ich ihm dankbar war.

Zuhause wartete jede Menge Arbeit auf mich. Ich half meinen Eltern immer gerne, da ich auf diese Weise Zeit mit ihnen verbringen und mich mit ihnen unterhalten konnte. Das kam ansonsten nämlich so gut wie nie vor. Mein Dad war so eine Art Chef in einer Agentur für Männermode, obwohl er selber leider nicht viel von dem Tragen modischer Kleidung hielt. Ich hatte mich schon immer gefragt, warum er dann einen solchen Job betrieb, doch meine Mom meinte dazu immer nur: solange er seine Arbeit gut mache und Spaß daran hatte, wäre es doch egal, ob er Zuhause in Designerklamotten rumliefe oder nicht. Sie selbst arbeitete nicht, half jedoch ab und zu mal irgendwo aus.

An diesem kühlen Abend lag ich in meinem Bett und sah aus dem Fenster, hinein in den Sternenhimmel. Es  war eine wunderschöne Pracht von kleinen leuchtenden Punkten, auf schwarzem Hintergrund, mit einem Mittelpunkt: dem Mond. Da ich dadurch jedoch noch immer nicht einschlafen konnte, stand ich seufzend auf. Meine Beine trugen mich zum Spiegel hinüber, der an der Wand hing. Im Mondlicht sah meine Haut noch blasser aus, als sie ohnehin schon war. Mein brustlanges Haar leuchtete silbern im Schein des Mondes. Es war weißblond, wie meine Mutter und mein Bruder es hatten. Glatt fiel es an meinem Körper herab und umrahmte mein Gesicht. Die intensiv grünen Augen leuchteten dadurch besonders stark, denn sie bildeten den Kontrast zu den hellen Haaren und der hellen Haut.

Locker fuhr ich mir mit den Händen durch mein Haar. Vielleicht hatte Nina ja doch Recht und es kam mir nur so vor, als wäre es zu dünn. Andererseits - wenn sie mit allem Recht hatte, müsste ich eine wunderhübsche Blondine sein, mit einer tollen Figur und einem super Körperbau. So in etwa beschrieben sie mich. Doch das Einzige, was ich an mir mochte, waren meine Augen. Das tiefe Grün stach heraus wie eine Oase in der Wüste. Verschieden helle oder dunkle Grünstreifen bildeten das Muster auf dem Dunkelgrün, das die Grundfarbe zu sein schien. Auch wenn das eingebildet klang - ich fand, ich hatte sehr schöne Augen. Ansonsten empfand ich mich allerdings als kleines graues Mädchen, das nur versuchte, dazuzugehören.

Informant

Kimberly

 

Die warme Sommerluft kam mir entgegen, als ich das Haus am nächsten Morgen verließ, gepaart mit einem erfrischenden Wind. Ich liebte dieses Wetter einfach. Wenn es schon am Morgen so warm war, dass man die Sonne brennend auf den nackten Armen spüren konnte, würde es ein wunderschöner Tag werden. Meine Füße trugen mich fast wie von alleine zum Park, wo ich den Weg mit einem Lächeln entlang lief. Er war eben, weit und breit war niemand zu sehen, was mir gefiel. In solch schönen Gegenden war ich gerne allein, da man hier gut nachdenken konnte. Ich genoss die Zweisamkeit mit der Natur auf dem Weg zur Schule.

»Guten Morgen«, zerstörte eine mir wohlbekannte Stimme die Ruhe. »Was machst du denn hier?«

Ich drehte mich um und sah in das wunderschöne Gesicht von Marlon. Er lächelte mich an. Die Sonne beleuchtete einen Teil seiner Augen, sodass sie wie ein See glitzerten. Genau das waren sie. Seen, in denen man versinken konnte. Doch ich versank nicht darin. Stattdessen loderte in mir eine fürchterliche Wut auf und meine Stimmung geriet außer Kontrolle. Vielleicht lag es daran, dass ich noch müde war, vielleicht auch daran, dass er mich tatsächlich in meiner Ruhe gestört hatte oder vielleicht war ich es einfach nur leid, dass er so komisch war.

»Leidest du unter Verfolgungswahn? Ich habe es satt, dass du mich immer anstarrst. Meinst du, ich merke es nicht? So doof bin ich nun auch nicht. Was willst du von mir?«, schmiss ich ihm all die Sachen an den Kopf, die ich ihm eigentlich nicht hatte sagen wollen. Überrascht von mir selbst, biss ich mir auf die Lippe. Sonst war ich nicht so aufbrausend.

Doch jetzt waren die Worte draußen und auf seinem Gesicht zeigten sich die Auswirkungen. Sein Lächeln verschwand schlagartig und es machte Platz für Züge der Verwunderung in seinem Gesicht, die in leichte Wut mündeten. Ich bekam Angst. Was, wenn er jetzt ausrasten würde? Er war stärker und größer als ich und im Park war weit und breit kein Mensch zu sehen, der mir helfen könnte.

Marlon kam näher und ich wich unwillkürlich zurück. Ein Meter blieb noch zwischen uns, bis er sah, dass ich zurückwich und blieb daher stehen. Auf seinem Gesicht zeigte sich Verletzlichkeit und mir tat es sofort leid, dass ich ihn so angeschrien hatte. Eigentlich war es ja verrückt. Er war jetzt drei Tage in meiner Schule, da trafen wir uns morgens einmal im Park und ich schrie ihn so an. Genaugenommen kannte ich ihn gar nicht. Aber sein Verhalten war auch nicht normal und ich wusste, dass ich es mir nicht nur eingebildet hatte.

 »Hör zu, Kimberly. Das ist alles ganz anders als es vielleicht aussieht«, sagte er in einem Ton, der mich wohl beruhigen sollte.

Seit wann sprach er mich mit Kimberly an? »Weißt du was? Ich will es gar nicht wissen. Lass mich einfach in Ruhe und hör auf mit … mit dem, was du tust.« Wütend drehte ich mich um und lief in schnellen Schritten den Weg weiter in Richtung Schule. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich festhalten würde, doch genau das tat er. Ich zuckte zurück und schlug auf seine Hand, die auf meinem Unterarm lag. »Lass mich los!«

Er hörte nicht auf mich, sondern drehte mich stattdessen so, dass ich direkt vor ihm stand. Noch immer war seine Hand um meinen Arm geschlungen. Wütend sah ich ihn an.

»Hör doch zu. Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er noch einmal mit ruhiger Stimme.

»Und wie ist es dann?«, fragte ich vollkommen unbeeindruckt.

Wieder versuchte ich mich loszumachen, doch er war stärker. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als sich seine Finger komplett um meinen Unterarm schlossen, also kniff ich ihn mit den Fingernägeln entschlossen in die Hand. Ich wusste, dass das wehtat, doch er zuckte nur kurz mit den Fingern, ließ meinen Arm aber nicht los. Ich hätte am liebsten vor Wut geschrien, doch dann lockerte er einen Moment lang seinen Griff soweit, dass ich meinen Arm mit einem Ruck befreien konnte. Er war nicht schnell genug gewesen, dass er wieder hätte zupacken können.

Ich machte einige Schritte zurück, um größtmöglichen Abstand zwischen mich und ihn zu bekommen, doch weil er dort stand, wo ich hinwollte, drängte ich mich nun an den Rand des Weges; hinter mir ein kleiner See, an dem ich die ganze Zeit entlang gelaufen war.

»Bitte. Ich hatte mir eigentlich eine andere Situation gedacht, um dir das zu sagen, aber jetzt komme ich nicht drum rum«, sagte er und machte zwei Schritte auf mich zu. Dabei wirkte er fast verzweifelt, was mir noch merkwürdiger erschien.

Demonstrativ ging ich zwei Schritte zurück und dann noch einen. Nun stand ich ein Stück auf der Wiese, das Wasser hinter mir. Meinen Blick hatte ich dabei stets auf ihn gerichtet. »Um mir was zu sagen?«, fragte ich schließlich und ging damit auf seine Worte ein, obwohl ich das nicht gewollt hatte.

Er sah mir fest in die Augen und starrte mich einen langen Moment lang nur an, ehe er mit leiser Stimme sagte: »Bitte bleib hier, wenn du es weißt. Lauf nicht weg.«

Mir war klar, dass ich weglaufen wollte, ganz egal, worum er mich bat. Doch da hatte ich keine Ahnung, was noch auf mich zukam.

 

Marlon

 

Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Ich hatte mich immer darauf konzentriert, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Jetzt war er von allein gekommen. Aber über das, was ich sagen musste, hatte ich mir nie wirklich Gedanken gemacht. Was für ein Fehler.

Kimberly stand mit einer verklemmten Haltung vor mir. Sie hatte Angst, was ich in ihren Augen und ihrer Haltung sah. Aber was hatte ich anderes erwartet? Dass sie mich umarmen würde, vor Freude in die Luft springen und dazu lauthals singen würde? Nein, sicher nicht. Ich wusste wie es war, alles zu erfahren. Ich wusste, wie ich damals reagiert hatte. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn die ganze Welt zusammenbrach. Und nun war ich schon so tief gesunken, dass sie mich anschrie, bevor ich überhaupt einen Ton über die eigentliche Sache sagen konnte. Doch es führte kein Weg daran vorbei, dass ich es ihr sagen musste.

Dieser Job war nicht das Richtige für mich. Ich konnte es einfach nicht, was aber nichts daran änderte, dass ich es jetzt durchziehen musste. Also sprang ich kopfüber ins kalte Wasser und begann mit einer etwas umständlichen Art und Weise: »Die Menschen glauben, es gibt nur die eine Welt«, begann ich zögerlich, unsicher ob ich die richtigen Worte gewählt hatte. Die Worte, die mein Informant - so nannte man den Typen, der einem alles erklärte, der in diesem Fall ich war - gewählt hatte, konnte ich nicht benutzen. Diese Situation war so anders als meine damalige. Also fuhr ich fort: »Und ich weiß, das klingt hart, aber da liegen sie falsch. I-«

Sie unterbrach mich grob. »Wieso sie? Du bist doch auch ein Mensch.«

Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie wenigstens einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf meine Worte richtete, während der restliche nach einem Ausweg suchte. Aber mit ihrer Aussage hatte sie mich kalt erwischt. Was sollte ich darauf antworten? »Bin ich nicht«, sagte ich knallhart heraus, mit der kurzfristigen Entscheidung, es auf die schnelle Tour zu machen. Vielleicht würde sie so weniger leiden.

Sie sah mich an, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass es den Weihnachtsmann doch gab und ich sein Neffe war - als wäre ich verrückt geworden. Dann zuckte sie zurück und machte noch einen Schritt nach hinten, gefährlich nahe an den Rand der Wiese.

»Ich weiß, wie sich das anhört. Kimberly, glaub mir, es tut mir so leid, dass du es auf diesem Weg erfährst. Aber ich konnte es nicht länger geheim halten. Wie hätte ich mich rausreden sollen?« Ich sah sie in der Hoffnung an, dass sie es vielleicht verstehen würde, jedoch wusste ich, dass sie es nicht verstehen wollen würde. Dazu war sie viel zu sehr in Rage. Sie wollte hier weg, wollte mir nicht zuhören. Ich glaubte, ihr war nicht richtig bewusst, dass sie sich vor der Wahrheit verschloss, denn das tat sie einfach instinktiv. Ich hatte es damals auch nicht verstanden. Warum sollte sie es dann jetzt tun?

Plötzlich grinste sie, bis ein halbes Lachen aus ihrem Mund kam, das mich überraschte. »Bist du einer von den Typen, die glauben, sie seien ein Vampir?« Sie lachte. »Okay, ich hab‘ dir ja einiges zugetraut, aber das? Du bist echt krank.«

Vielleicht hätte ich verletzt sein sollen, aber ich verstand sie. So hatte ich auch erst gedacht - na ja, so ähnlich. Andererseits konnte ich sie gerade gut durchschauen. Sie versuchte sich selbst vorzumachen, dass ich einfach ein Verrückter war, der ihr seine kranken Gedanken erzählte, doch innerlich wusste sie, dass dem nicht so war. Das war einfach der Instinkt. Ob ihr bewusst war, dass sie sich selbst etwas vormachte oder ob sie es einfach verdrängte, war das Einzige, was ich nicht wusste. »Tja, wenn es nur das wäre«, sagte ich schließlich.

Sie verdrehte die Augen; ein Ausdruck, der überspielen sollte, wie aufgeregt sie war. Dann machte sie ein paar schnelle Schritte an mir vorbei. »Sorry, aber vielleicht solltest du mal zu einem Psychologen gehen. Ich bin übrigens keiner, also lass mich bitte in Ruhe«, sagte sie, während sie noch weiter ging.

Zu lang überlegte ich, ob ich es ihr einfach sagen oder es ihr vielleicht sogar zeigen sollte. Doch letzteres strich ich sofort wieder aus meinem Kopf, da das viel schlimmer sein würde und sie wahrscheinlich total geschockt wäre. Also machte ich einen Satz, landete genau vor ihr und griff dann wieder ihren Arm. 

»Bleib hier. Es ist nicht so. Ich bin kein Vampir. Und ich bin nicht verrückt. Bitte«, versuchte ich zu ihr durchzudringen. Ihr Gesicht war plötzlich kalkweiß. Mit großen Augen starrte sie mich an.

»Was bist du?«, fragte sie mit leiser, zitternder Stimme. Ich glaube, sie hatte es gar nicht laut aussprechen wollen. Es war ihr einfach aus dem Mund gekommen, ein laut ausgesprochener Gedanke.

Anstatt ihre Frage zu beantworten sagte ich: »Es gibt mehrere von meiner Art. Ich kann ein Mensch werden, wann ich will. Ich esse normal. Ich trinke normal. Glaub mir, ich werde nie jemanden verletzen. Niemals. Bitte versteh es.« Meine Stimme klang flehend. Sie sollte es verstehen. Ich wüsste nicht, was ich sonst machen sollte.

Sie sah mir in die Augen. »Werwolf?«, wisperte sie. Schon wieder ein laut ausgesprochener Gedanke.

Ich nickte nur und dann rannte sie plötzlich los. Obwohl ich sie festgehalten hatte, hatte sie sich so schnell losgerissen und war losgerannt, dass ich nicht mehr hatte reagieren können. Ihre Angst trieb sie an. Doch ich durfte sie nicht einfach so gehen lassen. Wenn sie es jemandem erzählte, war alles vorbei und ich hatte komplett versagt.

Ich brauchte nicht meine Wolfsgestalt anzunehmen, um sie einzuholen. Es war keine große Anstrengung. Schnell war ich bei ihr, griff nach ihrem Handgelenk und stoppte sie. Ihre Tasche flog ihr dabei beinahe vom Arm.

»Lass mich!«, schrie sie.

Mit ihrem freien Arm schlug sie um sich. Ihre Beine traten nach mir und verfehlten mich nicht, doch ich gab nicht nach. Wenn sie jetzt weglief, hatte ich vermutlich keine Chance mehr an sie heranzukommen. Ich wusste, dass es schwer war und sie hatte es vermutlich noch mehr getroffen als mich damals, aber da musste jeder durch.

»Bitte, Kimberly. Ich tu dir nichts. Bleib hier«, versuchte ich sie zu beruhigen. Ohne jeglichen Erfolg. Auch wenn sie nach mir schlug, war meine Stimme ganz ruhig. »Was willst du tun, wenn du jetzt gehst? Du kannst mir Fragen stellen – ich beantworte sie dir. Wenn du aber gehst, stellst du dir selbst Fragen und keiner ist da, der sie dir beantworten kann. Bitte bleib hier«, versuchte ich es nochmal.

Sie schrie. Wenn ich nicht bald was unternehmen würde, würde sicher bald jemand ihre Schreie hören. Bestimmt waren hier ein paar Leute, die mit ihren Hunden unterwegs waren oder joggten.

»Bitte sei ruhig. Ich tu dir nichts. Ich will dir helfen«, mein Ton wurde fester. »Bitte, Kimberly. Beruhig dich.«

Sie schrie noch mehr. Ich sah keinen Ausweg mehr. Meine Hand schnellte in ihren Nacken, wo meine Finger eine bestimmte Stelle suchten und zudrückten, als sie sie fanden. Mit einem Aufschluchzen brach sie zusammen. Hätte ich sie nicht gehalten, läge sie jetzt auf dem Boden. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Methode jemals wieder gebrauchen konnte. Es war nur ein simpler Griff, mit dem man, wenn man ihn richtig beherrschte, ganz leicht jemanden für kurze Zeit lähmen konnte. Diesen hatte ich nicht etwa bei den Werwölfen gelernt, sondern in meinem alten Leben, in dem ich für mehrere Jahre Ju-Jutsu trainiert hatte. Das Bild von meinem Vater entstand in meinem Kopf, doch ich löschte es wieder und kam zurück in die Realität, aus die es mich gezogen hatte.

Es war niemand zu sehen, der ihre Schreie hätte hören können, als ich mich umsah. Nirgends war auch nur eine Menschenseele. Ein paar Meter von uns entfernt stand eine Bank. Mit kleinen Schritten versuchte ich Kimberly so gut es ging dorthin zu transportieren, ohne sie tragen zu müssen. Das wollte sie sicher nicht.

Vorsichtig setzte ich sie auf die Bank und hockte mich vor ihren zierlichen Körper. Sie hatte aufgehört sich zu wehren. Ihre Haare klebten ihr im Gesicht, wo ihre Schminke zerlaufen war. Jetzt saß sie da, zusammengekauert wie ein kleines Häufchen Elend. Das Dunkelgrün ihrer Augen glitzerte unter den Tränen, sodass ihre Augen wie kleine, wunderschöne Diamanten in dem hübschen Gesicht wirkten, das jetzt erschüttert und verzweifelt aussah. Sie tat mir wirklich leid. Aber was sollte ich denn machen? Es war meine Pflicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Das hatte ich getan, jedenfalls zur Hälfte. Eigentlich waren die Worte, die ich ihr wirklich sagen musste, noch nicht gefallen.

Endlich sah sie auf und blickte mir in die Augen. »Lass mich in Ruhe. Du bist verrückt.« Ein letzter Versuch, das zu leugnen, was sie schon wusste. Sie wollte es nicht akzeptieren, auch wenn ihr klar war, dass es wahr sein musste.

Ich schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass es stimmt. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage.«

»Warum hast du mir das erzählt?«, fragte sie mit heiserer Stimme. Tränen liefen ihr über die Wange. Vermutlich wusste sie es schon, so wie ich es damals gewusst hatte, bevor er mir tatsächlich die ganze Wahrheit erzählt hatte. Wir hatten diese Ahnung schon im Blut.

Trotzdem antwortete ich ihr: »Es kommen immer Neue dazu. Früher oder später wärst du ausgewählt worden. In so eine Sache wird man hinein geboren. Ich weiß, wie hart das ist. Vermutlich ist es für dich noch schlimmer, als es für mich war.«

»Warum …«, ein Schluchzen unterbrach sie, »ich?«

»Ich weiß es nicht. Es ist eben so. Es tut mir leid«, sagte ich. Es tat mir wirklich leid. Wenn es ein Mädchen verdient hatte, das glückliche, geborgene Leben, was sie bis jetzt hatte, weiterzuführen, dann war sie es. Denn sie erschien mir wie einer dieser Menschen, die zu gut für die Welt waren. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich war nicht derjenige, der es entschied.

In ihren Augen lag Angst und Verständnislosigkeit. Neue Tränen liefen ihr übers Gesicht und landeten auf ihrem weißen Top. Wie konnte ich ihr helfen? »Du solltest heute nicht mehr in die Schule gehen«, flüsterte ich, als mir immer noch nichts eingefallen war.

Kimberly schüttelte einfach nur den Kopf. »Muss ich hier weg?«, fragte sie nach einer halben Ewigkeit des Schweigens.

Eine schwerwiegende Frage, aber sie stellte die richtigen Fragen. Sie war clever genug, um von allein darauf zu kommen. Ich wollte es ihr nicht sagen. Wollte nicht sagen, dass sie ihre ganze Familie zurücklassen musste. Ihre Freunde. Alles, was ihr lieb war. Als ich weiterhin schwieg, sah sie mich an. Ich brachte es jedoch immer noch nicht über mich, ihr die Wahrheit zu erzählen, also nickte ich nur. Sie sah wieder auf den Boden, vermutlich hatte sie auch das schon geahnt.

»Wie kann das sein?«, hauchte sie leise.

Meine Lippen pressten sich für einen Moment aufeinander, was sie jedoch nicht sah, da ihr Blick sich in der Ferne verlor. »Es ist ganz normal. Du wurdest als Werwolf geboren und bald wirst du dich verwandeln können. Genau wie ich.«

»Wie war es bei dir? Warum bist du gegangen?«, fragte sie mich plötzlich. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet.

Vielleicht versuchte sie meine Sichtweise zu verstehen, um mit ihrer eigenen Situation besser klarzukommen. Anscheinend wollte sie glauben, dass sie nicht die Einzige war, die das erleben musste. »Wie schon gesagt, meine Situation war anders, als deine. Ich hatte keine Wahl.« Es stimmte nicht ganz. Ich hatte eine Wahl gehabt, aber zwischen Neuanfang und dem Ende entschied man sich wahrscheinlich meistens für den Neuanfang.

»Wie war deine Situation? Habe ich eine Wahl?«, man hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie nicht daran glaubte.

Also beantwortete ich erst mal die einfachere Frage - für mich war sie jedenfalls einfacher. Ich war egoistisch. »Hast du nicht. Niemand hat eine Wahl.« Ich war traurig, denn ihre Traurigkeit belastete mich. »Ich habe mein Leben gehasst, du tust es nicht. Das macht es für dich schwerer«, antwortete ich schließlich auf all ihre Fragen.

Das war noch die schönste Beschreibung für das, was sich mein Leben genannt hatte. Es war mir ganz gelegen gekommen, Abwechslung zu bekommen, auch wenn diese Abwechslung eine Veränderung für immer gewesen war. Und für immer war in diesem Falle wirklich lange. Ewig - das war ebenfalls noch etwas, das ich ihr sagen musste. Also stürzte ich mich lieber sofort ins Verderben, als mich nachher rechtfertigen zu müssen, warum ich es nicht sofort gesagt hatte. »Und du musst noch etwas wissen«, weiter kam ich irgendwie nicht. Mein Mund wollte es nicht aussprechen.

 Kimberly sah, dass ich zögerte. »Was?«

»Wir alle ... also, wenn du dich erst einmal verwandelt hast, kannst …«, ich brach ab. Ich konnte es ihr nicht sagen, dabei wusste ich nicht mal, warum.

»Was ist dann?«, fragte sie noch einmal. Angst lag in ihren Augen, die mich weiterhin lähmte.                                                                

»Du alterst nicht.« So, jetzt war es raus.

Sie sah mich an als sei ich der Weihnachtsmann. »Du bist unsterblich?«, brachte sie schließlich raus.

Ich nickte. Was brachte es schon, das zu leugnen? Allerdings war es nicht ganz richtig. Man konnte sterben, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es passierte, war sehr gering. Es gab Werwölfe, die fanden das gut - ich fand es bisher eher lästig. Wenn man sich vorstellte, die ganze Ewigkeit damit zu verbringen, immer etwas mit denselben Leuten zu unternehmen, weil alle anderen, die man kennenlernte nach ein paar Jahrzehnten starben, war die Aussicht auf ein endloses Leben nicht gerade toll.

Es war so schwer für mich, mich richtig in Kimberly hineinzuversetzen. Für mich war das alles schon so selbstverständlich, dass es schwierig war, mir vorzustellen, dass jemand noch gar nichts davon wusste. »Wie alt bist du?«, fragte sie. Die Art, wie sie das sagte, verletzte mich, denn es klang vorsichtig und irgendwie ängstlich. Hatte sie Angst davor, ich könnte Jahrhunderte alt sein? Wenn das der Fall war, konnte ich froh sein, dass ich noch nicht so lange dabei war.

»Ich bin neunzehn, aber mein Körper ist in seiner Entwicklung bei siebzehn Jahren stehen geblieben«, sagte ich. Das überraschte sie. Unter neuen Tränen sah sie mich an. »Ich bin noch nicht lange ein Werwolf«, sagte ich zur Bekräftigung meiner Worte.

Sie zuckte bei dem Wort Werwolf zusammen und sah wieder auf den Boden. »Ich geh‘ nicht weg.« Diese geflüsterten Worte konnte selbst ich kaum hören.

»Ich weiß, dass es schwer ist. Mir fiel es auch schwer.« Vielleicht konnte ich ihr ja doch irgendwie helfen, denn es war schließlich mein Job, es für sie so leicht wie nur möglich zu machen.

»Warum beobachtest du mich immer?«, fragte sie.

Dass sie die Frage im Präsens formulierte, verunsicherte mich. Außerdem war es nicht unbedingt eine einfache Frage. Warum hatte ich sie beobachtet? Wusste ich es überhaupt selber? »Ich wusste nicht genau, wann der richtige Zeitpunkt kommen würde, um es dir zu sagen. Ich … ich hatte wohl gehofft, irgendein Zeichen zu bekommen.« Das war die Wahrheit. »Aber letztendlich ist er von allein gekommen.«

Sie sah mich schockiert an. »Du wurdest von Anfang an auf mich angesetzt?« Überraschung lag in ihrer Stimme.

Ich nickte wieder, obwohl ich eigentlich gedacht hatte, dass ihr das schon klar gewesen war. »Das werden wir immer. Eigentlich hätte ein weiblicher Werwolf meinen Job machen sollen, aber als du ausgewählt wurdest, waren sie alle verhindert.«

»Warum solltest nicht du kommen?«, fragte sie.

»Na ja, für weibliche … werdende Werwölfe ist es meistens leichter, wenn ein Vertreter desselben Geschlechts die Rolle des Informanten übernimmt, oder nicht?«, erklärte ich und lächelte leicht, damit sie sah, dass ich trotzdem noch normal sein konnte. Ich wollte nicht, dass sie dachte, ich sei ein Monster.

Sie sah einen Moment auf den Boden; ergeben, zerstreut in Gedanken, aber antwortete mir nicht. »Ich will nach Hause«, sagte sie dann leise.

»Das kann ich verstehen, aber deine Eltern glauben, du wärst in der Schule. Wenn du jetzt da aufkreuzt, musst du dich rechtfertigen«, beharrte ich.

»Meine Eltern sind gar nicht da. Mein Dad arbeitet und meine Mom ist mit meinem Bruder beim Arzt. Es dauert bestimmt Stunden, bis sie wieder da sind.«

Konnte ich ihr das glauben? Ja, entschied ich. Ich würde sie jetzt sowieso nicht alleine lassen. Außerdem war es gut, wenn wir langsam mal aus diesem Park kamen, um andere Gedanken fassen zu können, deswegen packte ich ihr Handgelenk und half ihr vorsichtig auf. Zwar wehrte sie sich nicht, doch ich merkte, dass sie es auch nicht sehr angenehm fand. Aus diesem Grund ließ ich sie sofort wieder los, als sie stand.

Schnellen Schrittes übernahm ich die Führung, als wir losgingen, wobei ich darauf achtete, dass sie mir tatsächlich folgte. In ein paar Metern Entfernung tauchte ein Jogger hinter der Ecke auf, der mit seinem Hund auf uns zugelaufen kam. Meine Augen fixierten den Rüden, der mich ebenfalls witterte. Bei Kimberly würde er noch keine Veränderung feststellen, da sie noch zu weit von der ersten Verwandlung entfernt war, jedoch konnte er an mir den Werwolf riechen.

Der Jogger interpretierte meinen Blick wohl falsch und sagte: »Der tut nichts. Hier her, Paul.«

Kimberly sah mich an. »Hast du Angst vor Hunden?«, fragte sie ungläubig.

Ich lachte. »Wäre das nicht ein bisschen unlogisch? Nein, aber Hunde reagieren anders auf Werwölfe als Menschen. Sie wissen, dass wir etwas anderes sind und zeigen es entsprechend an ihrem Verhalten«, erklärte ich ihr, als der Jogger vorbei war und es nicht mehr hören konnte.

Sie sah zurück auf den Hund, der wieder brav neben seinem Besitzer lief. »Er hat auf mich aber nicht den Eindruck gemacht«, sagte sie schließlich.

»Nicht alle Hunde reagieren gleich. Manche gar nicht, andere zeigen drohendes Verhalten. Manche haben wiederum Angst oder sind unterwürfig. Das ist immer unterschiedlich«, erklärte ich ihr.

Ich beobachtete, wie ihre Haare im Wind wehten, als sie ihren Kopf wieder nach vorne drehte. Ihre Augen huschten über den Boden und suchten Stellen, an denen sie haften bleiben konnten, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden sind und sie nach etwas Neuem Ausschau halten mussten.

 »Wie sehe ich aus?«, fragte sie irgendwann, als ihr aufzufallen schien, dass ihre Schminke verwischt war.

Ich blieb stehen, als sie es auch tat und musterte sie von oben bis unten. Erst die schlanke Gestalt, dann die langen Beine und schließlich das Gesicht. Es war etwas rot und um ihre Augen herum schwarz, weil die Schminke zerlaufen war. Wunderschön, wäre eine ehrliche Antwort gewesen, die ich ihr aber nicht geben konnte, denn ich kannte sie ja nicht mal richtig. »Nicht sehr gut«, antwortete ich daher, weil mir klar war, dass sie genau das hören wollte.

Sie rieb sich die Augen und kämmte die Haare mit den Fingern. Ich wühlte derweil in meiner Jackentasche und fand eine Packung Taschentücher, aus der ich eines herauszog und ihr hinhielt. Sie griff danach und wischte sich übers Gesicht, während ich daneben stand und ihr zusah, wie sie versuchte, ihr Gesicht sauber zu wischen. Es gelang ihr nicht alle Stellen zu treffen, sodass ich letztlich die Geduld verlor, nach dem Taschentuch griff und ihr die letzten Reste schwarzer Wimperntusche aus dem Gesicht wischte. Sie stand belanglos da und ließ es geschehen. Als ich fertig war, nahm ich ihre Hand und zog sie in Richtung Straße, wie ein kleines Kind, das alleine nicht laufen konnte.

Erst dort ließ ich sie wieder los, denn ich wusste nicht, wo ihr Haus war, und sah sie fragend an.

»Komisch«, sagte sie. »Du wurdest auf mich angesetzt und weißt nicht mal, wo ich wohne?« Ihre Stimme war immer noch nicht sehr kräftig, aber immerhin hörte man jetzt den Sarkasmus ein wenig heraus, was ich als ein gutes Zeichen ansah.

Ich zuckte die Schultern. »Ich soll dich ja nicht Tag und Nacht beschatten.«

Sie sah mich skeptisch an, als hätte ich das doch getan, ging dann aber einfach weiter, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich folgte ihr. Zwar hatte ich wirklich keine Ahnung, wo sie wohnte, aber so viel konnte ich ihr wohl trauen.

Nach ein paar Minuten des Schweigens fragte Kimberly: »Wie heißt du wirklich?«

Die Frage verwirrte mich. War es denn nicht anzunehmen, dass ich meinen echten Namen benutzt hatte? »Marlon Adams. Ich habe schon meinen richtigen Namen gesagt«, antwortete ich.

Sie ging vor mir, sodass ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Nur in ihrer Stimme spiegelte sich Überraschung wieder, als sie fragte: »Und deine Eltern kommen aus England?«

Musste sie mich auf meine Eltern ansprechen? »Ja«, brachte ich hervor, »aber ich komme nicht aus Requa, sondern wurde in Phoenix geboren«, fügte ich, der Vollständigkeit halber, hinzu. Innerlich verfluchte ich den Namen der letzten Stadt.

»Warum hast du das nicht gesagt, wenn sogar dein Name stimmt?«, fragte sie wieder.

Ich haperte mit mir, ob ich es tatsächlich wahrheitsgemäß sagen sollte oder einfach schweigen konnte. Ein altes, fast verstaubtes Gefühl durchzog meinen Bauch. »Wenn man ein bisschen in Phoenix forscht, wird man feststellen, dass dort vor ungefähr anderthalb Jahren ein gewisser Marlon Adams endgültig für Tod erklärt wurde, nachdem er am achtzehnten August spurlos verschwand.« Meine Stimme war weitaus stärker als ich mich fühlte. Es war nicht einfach, über damals zu reden. Vielmehr kostete es mich eine riesige Überwindung.

Kimberly blieb stehen und sah mich an. »Oh. Verstehe«, sagte sie. Zu meiner Verwunderung klang ihre Stimme mitfühlend.

Ich zuckte nur mit den Schultern, als würde es mich nicht mehr interessieren. Damit war das Gespräch darüber beendet und wir liefen weiter, bis wir nach ein paar Minuten an ihrem Haus ankamen. Zumindest blieb sie davor stehen. »Sie sind wirklich noch nicht wieder da«, murmelte sie eher zu sich selbst und steuerte auf die Haustür zu.

Ich folgte ihr zur Tür. Als sie sie aufgeschlossen hatte, ließ sie mich eintreten. Das Haus, das sich hinter der Tür verbarg, war modern eingerichtet. Ein schöner, warmer Gelbton zog sich durch den ganzen Flur und im angrenzenden Wohnzimmer war zu demselben Gelb noch ein passender Rotton hinzugefügt worden, was ich durch die offene Tür sehen konnte. Die Möbelstücke hatten zu den Wänden passende Farben. Geradeaus befand sich noch eine Tür, von der ich annahm, dass sich dahinter die Küche verbarg. Gleich links neben der Haustür führte eine sich einmal biegende Treppe ins obere Geschoss.

Kimberly zog sich die Schuhe aus und stellte sie in ein Schuhregal an der rechten Wand. Ich tat es ihr gleich und folgte ihr nach oben. Im zweiten Geschoss war wieder ein länglicher Flur, der sich in demselben Gelbton erstreckte, wie unten. Auch hier war eine Tür am Ende des Ganges. Zwei weitere befanden sich auf der linken Seite und eine andere auf der rechten. Kimberly nahm die erste Tür auf der rechten Seite. Innen war ein schöner großer Raum zu sehen, der mit seinen hellblauen Wänden besonders freundlich wirkte. Zwei große Fenster, an der gegenüberliegenden Seite der Tür, ließen viel Licht eindringen. An der linken Seite, ziemlich in der Mitte, befand sich ein Bett. Gegenüber war ein großer Kleiderschrank und an der Seite der Tür stand ein ordentlich aufgeräumter Schreibtisch, auf dem sich ein Laptop und Schulhefte befanden. An der Wand trugen zwei schmale Regale Bücher und Dekorationsaccessoires. Es war definitiv das Zimmer eines Teenagers, das ich nett eingerichtet fand.

Während ich Eindrücke sammelte, hatte Kimberly sich mir zugewandt. »Wenn es okay ist, gehe ich erst mal eben ins Bad.«

Ich nickte nur. »Ich warte hier«, versprach ich.

Dann verschwand sie durch die Tür und ich blieb allein zurück.

Werdender Werwolf

Kimberly

 

Wieder einmal versuchte ich mir über die ganzen Ereignisse klar zu werden, nur waren es diesmal noch mehr und sie waren noch wirrer, als die davor.

Erkenntnis eins: Marlon war ein Werwolf. Erkenntnis zwei: Ich war ebenfalls auf dem Weg einer zu werden. Erkenntnis drei: Ich musste meine ganze bisher aufgebaute Welt zurücklassen, inklusive meiner Familie und meiner Freunde. Erkenntnis vier: Wenn ich erst mal ein Werwolf war, würde ich nicht mehr älter werden. Erkenntnis fünf: In Anbetracht von Erkenntnis vier musste ich meine ganze lange Ewigkeit mit Marlon und seinen Werwolf-Freunden verbringen. Erkenntnis sechs: Marlon war nicht besessen oder ähnliches, er hatte nur versucht, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um mir das alles zu sagen. Was mich zu Erkenntnis sieben führte: Er war der, der mich auf das Leben und die erste Verwandlung zum Werwolf vorbereiten musste. Was wiederum bedeutete, dass ich ihn ab heute ständig in meiner Nähe finden würde, was aber seit Erkenntnis sechs erträglicher zu sein schien. Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihm. Theoretisch könnte es sein, dass er mich einfach zum Narren hielt, aber ich wusste, dass dem nicht so war. Er sagte die Wahrheit.

Immerhin konnte ich ihn jetzt besser verstehen und hatte nicht mehr so eine riesige Wut auf ihn. Stattdessen fühlte ich mich tatsächlich eher mit ihm verbunden, genauso wie ich die Verbundenheit bei unserem ersten Blickkontakt gefühlt hatte. Dieses instinktive Gefühl war wohl das Richtige gewesen, auch wenn ich Angst vor dem hatte, was er mir noch erzählen würde. Was waren Werwölfe genau? Wie konnte ich mir das vorstellen? Rannten sie nachts umher und heulten den Mond an? Und sahen sie wirklich so ekelig und gefährlich aus, wie die Werwölfe aus Horrorfilmen?

Ich fand keine Antworten auf diese Fragen, sodass ich das Badezimmer verließ und in mein Zimmer ging, nachdem ich mein Gesicht ordentlich wieder sauber gemacht und meine Haare gekämmt hatte. Marlon saß dort auf dem Bett und guckte aus dem Fenster. Als ich das Zimmer betrat, wandte er den Kopf in meine Richtung und betrachtete mich. Sein Blick war abschätzend und ich fühlte mich unwohl darunter. Zum Glück hörte er bald auf mich zu mustern und sah mir stattdessen in die Augen.

»Was möchtest du wissen?«, fragte er.

Ich ging auf mein Bett zu und setzte mich neben ihn. Nicht direkt daneben, sondern mit einem halben Meter Abstand dazwischen. »Wann muss ich hier weg?«, fragte ich mit heiserer Stimme.

In seinem Blick lag Traurigkeit, als er antwortete: »Nächsten Monat.« Das haute mich um. Schon nächsten Monat? Wir hatten Ende Juni. Wann genau war nächsten Monat? Er sah wohl meine Zweifel und fügte noch hinzu: »Ende Juli. Ziemlich genau heute in einem Monat wirst du dich verwandeln. Es kommt darauf an, wie du eingestellt bist. Beziehungsweise dein Körper. Wenn dein Körper noch nicht so weit ist, wird es länger dauern.«

Ging das? Ich meine, wenn ich mich doof anstellte, konnte ich dann länger hier bleiben? Doch seine nächsten Worte machten mir diese Hoffnungen zunichte. Vermutlich hatte er geahnt, dass ich so reagieren würde. »Was natürlich nicht heißt, dass du das groß beeinflussen kannst. Früher oder später wirst du dich verwandeln, ob du willst oder nicht. Außerdem wird der Abschied umso schwerer, je länger du noch hier bist.«

Da hatte er wohl Recht. Ich würde nur weiter leiden. Was sein musste, musste eben sein. Doch war diese Verwandlung wirklich unumgänglich? Gab es nicht irgendeine Möglichkeit dem zu entfliehen? Vielleicht würde ich ja eine finden.  »Kann man nicht-«, setzte ich an, doch ich wurde sogleich von ihm unterbrochen.

»Kimberly, du kannst dem nicht ausweichen. Glaub mir. Das hat bis jetzt jeder versucht und keiner hat's geschafft. Wieso solltest du eine Möglichkeit finden?« Ich sah nur auf den Boden, denn seine Worte verletzten mich. Gleich darauf war seine Stimme wieder sanfter. »Glaub mir. Keiner kann dem ausweichen. Du bist dafür geboren, ein Werwolf zu sein. Und jetzt, kurz vor deiner Verwandlung, bist du ein werdender Werwolf. Das ist genetisch veranlagt.«

Vielleicht hatte er Recht. Konnte ich es nicht positiv sehen? Vielleicht würde ich besonders viel Kraft haben und gut aussehen, denn Marlon sah so umwerfend aus. Oder lag das einfach daran, dass er schon so geboren worden war? Vermutlich ja. Damit traten schon wieder all die negativen Gedanken über dieses unmögliche Thema in den Vordergrund.

So, als könnte Marlon Gedanken lesen, sagte er etwas, das zu meinen inneren Monologen passte. »Mein Großvater hat einmal gesagt: Schmerz braucht Zeit, doch du wirst sehen, dass er vergeht, wenn du es nur richtig anpackst. Nimm das, was du hast und mach das Beste daraus«, zitierte er.

»Und wie soll man es richtig anpacken? Hatte er dafür auch eine Erklärung?«, fragte ich, während ich spürte, dass wieder Wut in mir aufstieg.

»Hatte er. Er sagte: Lass dir von anderen helfen. Seht die Dinge gemeinsam und arbeitet daran. Dann wirst du sehen, dass alles gut wird. So ungefähr waren jedenfalls seine Worte.«

Ich sah Marlon an. Hatte sein Großvater das wirklich gesagt oder dachte er sich das nur aus? Seufzend ließ ich mich rückwärts aufs Bett sinken und starrte die Decke an. »Ich will hier nicht weg«, wiederholte ich.

»Es tut mir leid«, kam es ganz leise von ihm. Ich hörte es kaum. Diese Worte bekräftigten mich in dem Glauben, ihm trauen zu können, denn ich hörte daraus, dass er die Wahrheit sagte und wirklich Mitgefühl mit mir hatte.

»Was ist mit den nächsten Wochen? Darf ich noch zur Schule?«, fragte ich.

»Ja. Es würde auffallen, wenn du dich schon einen Monat vor deinem Verschwinden total verändern würdest. Vor allem darf der Verdacht nicht auf mich fallen.«

»Aber fällt es nicht auf, wenn du und ich am selben Tag verschwinden?«, fragte ich.

»Ja. Deswegen verlasse ich die Schule schon eine Woche früher.«

»Eine Woche? Dann warst du aber nur drei Wochen hier. Das fällt doch auf.«

»Mein Vater ist Kunstsammler und muss zu vielen Auktionen, weswegen ich immer nur kurz an einem Ort bin. Angeblich«, widersprach er mit deutlich einstudierten Worten.

»Mh«, erwiderte ich nur. Er sollte sich ruhig seine Geschichte zusammenreimen, mir war das egal, denn ich musste erst mal mit meiner Geschichte zurechtkommen. »Hab‘ ich dich jetzt jeden Tag an der Backe kleben?«, fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Eigentlich hatte ich fragen wollen: Bist du jetzt jeden Tag bei mir?, aber das andere war mir irgendwie raus gerutscht.

Marlon lachte, was ein wunderbarer Ton war; sanft und doch belustigt. Ich richtete meinen Blick auf ihn und sah wie er vergnügt auf mich runter schaute, wie seine Augen über meinen ganzen Körper wanderten und kleine Grübchen an den Enden seiner Mundwinkel entstanden, als er schief lächelte. »Wenn du willst, kannst du mich auch Huckepack tragen.« Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Wörtlich hatte ich es noch nie gesehen. Doch dieses Grinsen erstarb nach nur wenigen Sekunden, als er meine Frage ernsthaft beantwortete: »Ich fürchte, da kommst du ebenso wenig dran vorbei. Ich werde versuchen, mich zu benehmen. Wenn du dich auch benimmst?« Es klang wie eine Frage.

Ich nickte notgedrungen. »Muss ich wohl. Du bist sowieso stärker als ich«, entgegnete ich.

Das war er definitiv, was sich schon im Park gezeigt hatte. Es hatte ihm nicht mal etwas ausgemacht, dass ich ihn geschlagen und getreten hatte. Seine Schnelligkeit, seine Stärke - übermenschlich war das gewesen. Und das war auch der Grund dafür, dass ich ihm nun glaubte. Er war etwas Übernatürliches. Marlon war ein Werwolf, obwohl ich noch immer keinerlei Vorstellungen davon hatte, was das eigentlich bedeutete. Er könnte mir gerade einfach irgendwas erzählen und nachher sagen, dass alles nur Show gewesen war, aber nein – ich hatte gesehen, was ich gesehen hatte. Und das war etwas Übernatürliches gewesen.

»Wie ist man als Werwolf?«, fragte ich nachdenklich. »Also ich meine, muss ich mir das wie eine Kreatur vorstellen, die auf zwei Beinen geht, aber aussieht wie ein Wolf, oder …« Ich ließ den Satz unvollendet, da er wissen musste, was ich fragen wollte.

Er schüttelte langsam den Kopf, was ich von unten gut betrachten konnte. »Wir sehen nicht gruselig aus«, erwiderte er und warf mir ein Grinsen zu. »Eigentlich sehen wir aus wie ganz normale Wölfe in dreifacher Größe.«

Meine Augen wurden groß und ich richtete mich mit dem Oberkörper wieder auf, damit ich auf seiner Ebene war. »So groß?«

Er nickte und betrachtete das Armband an meinem Handgelenk. Dabei sah sein Gesicht nachdenklich aus, obgleich es Zufriedenheit ausstrahlte.

»Ist man immun gegen alles, wenn man ein Werwolf ist?«, fragte ich weiter, denn in meinem Kopf entstand jetzt langsam ein Bild von dem Ding, was er war, und was ich vielleicht sein würde. Nicht vielleicht – sicherlich.

»Nein. Ich meine, Schläge, Tritte«, er grinste mich an, »Kratzer und Fleischwunden machen einem dann nicht mehr so viel aus. Es verheilt viel schneller. Kleine Kratzer sind innerhalb von Sekunden weg. Je größer die Wunden, desto länger die Genesungszeit. Aber es gibt kaum etwas, das uns wirklich umbringen könnte.«

»Werwölfe sind also doch nicht unsterblich?« Das verwirrte mich. Erst waren sie es; jetzt wieder nicht. Was denn nun?

»Na ja, so gesehen schon. Wir altern nicht mehr. Es gibt aber ein paar Sachen, die uns umbringen können. In den meisten Fällen wäre es Mord, weil wir nicht an normalen Sachen wie Krankheiten oder Altersschwäche sterben können. Du könntest höchstens verhungern«, erklärte er.

»Welche Sachen?«, fragte ich, weil mir das nicht klar war, wenn die Wunden doch so schnell verheilten.

Er sah mir in die Augen, während er mir antwortete. »Andere Werwölfe können es. Manche haben die Fähigkeit, eine Verbindung zur Magie herzustellen. Wenn Magie angewandt wird, hat man selbst als Werwolf keine Chance.«

Ich starrte ihn nur an. Hatte er mir gerade echt erzählt, dass es auch noch Magie gab? »Wie jetzt? Es gibt Magie? Zauberei? Wie im Märchen?«, fragte ich verwirrt.

»Ein Gruselmärchen.« Er lächelte. Sein Blick wanderte über mein Gesicht und meine Haare, ehe er mir wieder in die Augen sah. »Ja, es gibt Magie. Aber nicht viele haben die Fähigkeit dazu, Kontakt mit ihr aufzubauen. Meistens sind es nur kleinere Sachen, wie Menschen einzuschätzen oder Beziehungen zu prüfen. Es gibt nur ganz wenige Fähigkeiten, die auch wirklich Auswirkungen haben. Ein Werwolf – Rosello heißt er - kann andere blind machen. Der Werwolf mit der mächtigsten Fähigkeit ist aber Chart. Er ist auch gleichzeitig der Boss von allen. Mit seiner Fähigkeit kann er jemanden mit einem einzigen Blick töten. Das gelingt ihm mit sechs Leuten gleichzeitig. Sechs ist so was wie eine magische Zahl. Man vermutet, dass er es deshalb nicht mit mehreren machen kann. Es sei denn, es sind wieder sechshundert. Dann ginge es. Aber dafür muss er sie alle sehen können.«

Er sagte es unbekümmert, als wäre es vollkommen normal, wenn dieser Chart auf einen Schlag sechshundert Leute umbrachte. Mord! - etwas, womit ich mich in meiner Welt nicht auseinandersetzen musste. War das so selbstverständlich als Werwolf? Handelte er öfters mit dem Tod? Unwillkürlich zuckte ich bei dem Gedanken zurück.

Als Marlon meinen Blick bemerkte, veränderten sich seine Augen, indem sie wieder mitfühlend und sanft wurden. »Er tötet nicht. Jedenfalls normalerweise nicht. Das wurde mir alles nur erzählt, so wie ich es dir gerade sage. Früher waren die Zeiten anders.«

Ich hoffte, dass es so war, wie er es sagte. Während ich meine Augen über seine Hände gleiten ließ, die ihm locker im Schoß lagen, dachte ich über all das nach, was er gerade gesagt hatte, bis mir auffiel, dass ich eine ganz wichtige Frage noch gar nicht geklärt hatte: »Wo komme ich dann überhaupt hin?« Damit sah ich wieder zu ihm, denn mir erschien es peinlich, dass ich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wo ich leben würde, wenn ich mein behütetes Leben verließ.

Er lächelte über meine Perplexität. »Alle Werwölfe leben zusammen, denn nur so fällt es nicht so auf, dass wir nicht altern. Wir wohnen in Wheeler, in Minnesota. Da haben wir ein riesiges Haus, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Chart ist derjenige, der alles verwaltet und sich zum Beispiel darum kümmert, dass Informanten wie ich zu werdenden Werwölfen wie dir geschickt werden.«

»Hast du sowas dann schon öfter gemacht?«, murmelte ich und fühlte mich sogleich wie eine unbedeutende Person, die sowieso nur in eine Schublade gestopft wurde.

Doch er erlöste mich sogleich von diesem Gefühl, als er sagte: »Nein. Das ist mein erstes Mal. In der Regel kommt es auch gar nicht so oft vor, dass neue Werwölfe dazu kommen. Der Zeitpunkt ist immer unterschiedlich. Mal sind es in einem Monat mehrere auf einmal, dann wieder monatelang niemand.«

Mit gerunzelter Stirn hörte ich ihm zu und versuchte mir ein zusammenhängendes Bild von all den Informationen, die ich von ihm bekam, zu machen. »Sind denn alle neuen Werwölfe so alt wie ich?«, fragte ich weiter. »Das hieße ja dann, dass jeder Werwolf so jung ist, oder? Wenn sie doch nicht altern.«

Er nickte bestätigend. »Ja, aber so ist es nicht. Wir werden zwar alle als Werwolf geboren, aber wann du dich verwandelst ist vollkommen individuell. Manche verwandeln sich erst mit fünfzig oder sogar sechzig. Andere sind so alt wie wir. Und dazwischen gibt es jedes Alter.«

Mir war nicht klar, ob mich diese Informationen beruhigen oder eher nervös machen sollten. Eine riesige WG mit so unterschiedlichen Leuten konnte ich mir gar nicht vorstellen. Und wenn es dann noch Werwölfe wie diesen Chart gab, die Fähigkeiten hatten, mit denen sie andere umbringen konnten, würde mir eine solche Gemeinschaft gruselig vorkommen.

Nochmal durchliefen meine Gedanken all die Sachen, von denen er jetzt geredet hatte, und blieben dabei immer wieder an einem Punkt hängen. »Hast du oft mit dem Tod zu tun?«, fragte ich schließlich leise und ein Stück weit ängstlich, denn ich wusste nicht, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte. Ich stütze meine Hände auf der Matratze ab und schob mich ein Stück weiter von ihm weg.

Seine Augen verfolgten meine Bewegung, doch er ignorierte sie. »Nein. Ich töte nicht. Niemand tut das. Zumindest keine Menschen.«

Sein letzter Satz beunruhigte mich. »Was tötest du dann?«

»Ich gehe jagen, wie es jeder normale Wolf tut. Genauso gut kann ich mich aber auch von menschlicher Nahrung ernähren. Ich habe da sehr viele Möglichkeiten.« Wieder grinste er mich an, weil er das Ganze lockerer machen wollte. Es war ein schöner Ausdruck auf seinem Gesicht, der mir komischerweise schmeichelte. Überhaupt fiel mir dabei auf, wie einfach es im Vergleich zu heute Morgen geworden war, mit ihm zu reden.

Würde ich auch jagen gehen? Schon bei der Vorstellung daran wurde mir übel. Aber hätte ich das nicht ahnen können? Ich meine, Werwölfe waren Wölfe in einer anderen Form und Wölfe jagten. So war es eben. Eigentlich mochte ich Wölfe. Ich mochte ihre Anmut, ihren Familieninstinkt und überhaupt ihr Erscheinen. Doch das mit einem Menschen in Verbindung zu bringen, der plötzlich all diese Eigenschaften übernahm, war eine skurrile Vorstellung. Apropos Instinkte. »Gehen alle Wolfsinstinkte auf mich über, wenn ich mich verwandle?«

»Ja, so ziemlich. Du kannst besser riechen und besser hören. Eigentlich kannst du dann so ziemlich alles besser, als ein Mensch.«

»Auch denken?«, hakte ich nach.

»Nein. Dein Gehirn läuft immer noch auf derselben Frequenz.«

Ich lächelte. »Hätte mich auch gewundert«, sagte ich und schmunzelte über meinen eigenen Satz, obwohl mir unklar war, warum ich plötzlich wieder so reden konnte. Ich hatte nicht das Gefühl, vor ihm weiterhin schüchtern sein zu müssen.

»Was soll das denn bitte heißen?«, fragte er gespielt empört. Aber er lächelte und freute sich darüber, dass ich wieder Scherze machen konnte.

Eigentlich mochte ich ihn ja. Ich meine, die Situation hatte sich absolut geändert. Ich konnte ihn jetzt verstehen. Wenn man es ganz rational betrachtete, war er einfach nur nett und freundlich, in der Weise, wie er mir all meine Fragen beantwortete und mit mir redete. Er verstand mich und sah dazu noch unheimlich niedlich aus. Und aus irgendeinem Grund schaffte er es, dass es mir besser ging. Er schien mich Stück für Stück wieder aufzubauen, wie ein Turm aus Bauklötzen, der in sich zusammengefallen war. Marlon hob jetzt jeden einzelnen Stein wieder auf und steckte ihn auf den anderen, bis ein neues Gebilde entstand, das seiner Hoffnung nach wohl ein frisch gebackener Werwolf sein würde. Meine eigene Hoffnung bestand eher darin, dass ich ihm diesbezüglich tatsächlich vertrauen konnte, damit die Angst vor dem, was kommen würde, und der seelische Schmerz von dem, was in Zukunft alles passieren würde, schnell verging.

»Was willst du deinen Eltern erzählen, warum du heute nicht in der Schule bist?«, unterbrach Marlon meine Gedanken nach einer Weile des Schweigens.

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, erwiderte ich. »Aber das ist nicht so schwer. Ich sage einfach, dass mir schlecht geworden ist und ich deshalb nach Hause gebracht wurde«, schlug ich vor.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alle Rechte an dem Buch liegen bei der Autorin © Ela Maus.
Bildmaterialien: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2011
ISBN: 978-3-7438-1155-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist meiner Rising-Sun-Familie gewidmet.

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