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Wo Er Seine Spuren Hinterließ




Die Waldszenerie zog wie ein Schwarzweißfilm vor meinen Augen ab, so düster war es. Irgendwann musste ich sie schließen, nachdem ich vergebens nach dem Schalter, dem Aus- oder Pauseknopf gesucht hatte. Hätte ich Mom diese Metapher untermalt, hätte sie bestimmt in einem ihrer irrsinnig schlauen Weisheiten geantwortet. Etwas das sich wie "Das Leben lässt sich nicht stoppen. Sieh es wie eine Achterbahnfahrt der Erfahrung. Leben macht Spaß!" gestalten würde. Meistens klaute Mom ihre Sprüche aus irgendwelchen Familienratgebern, Tarotbüchern oder auch pragmatischen Zenschinken mit über 400 Seiten. Wie Jemand die Ausdauer dazu hatte, 400 Seiten erschreckend unspannende und unzusammenhängende Sätze zu schlucken, war mir schleierhaft.
"Ich wollte schon immer ein Haus am Wald haben. Deine Großmutter hat wirklich Glück gehabt, dass sie eins geerbt hat. Sie weiß was die Holzhütte wert ist. Deswegen hat sie mir sie auch nicht verkauft!", erklärte Mom mit finsterer Miene. Der Neid sprach aus ihrer Stimme.
Ich hatte keine Lust auf einen Machtstreit, also schwieg ich, drehte Däumchen und schaute den Bäumen hinter uns beim Schrumpfen zu. Der Pick-Up wackelte und schunkelte wie eine Schar betrunkener Karnevalsstimmungskanonen auf dem unebenen Boden. Ab und zu spritzte das Wasser einer Pfütze, über die wir fuhren, an den Felgen und Fensterscheiben hoch. Aufregenderes passierte während der Filmlaufzeit von geschätzten acht Stunden nicht. Während besagten acht Stunden hatte ich mich immer wieder gefragt, wieso ein Teil der Vereinigten Staaten Oakridge hieß. Und wieso OAKridge inmitten einer riesigen Waldebene lag. Ob Oakridge wohl vor der Namensgebung eine Konferenz gehabt hatte, welchen bekloppten Namen mit Bezug auf einen Baum sie denn nun nehmen wollten. Vielleicht war Chestnutridge schon belegt gewesen.
"Ich bin dort aufgewachsen" Mom wiederholte, was sie jedes Mal herunterleierte, wenn ich mich über Oakridges Holzvorkommen aufregte. Erst hatte Mom mir den Ort als absolutes Grünviertel verkauft und nachdem ich dann den Ort auf einer Karte zu Gesicht bekommen hatte, war ich maßlos enttäuscht gewesen. Oakridge war nicht im Wald. Der Wald war um Oakridge! "Ich war einer der kleinen Rabauken, die Nachts um die Straßen zogen, an Halloween schöne, zierende Kürbisse auf dem Boden zertrümmerten und die Hochzeit ihrer Tanten sprängten"
"Tragisch"
"Damals war ich sehr frech. Ich schätze, das habe ich dir weitergegeben"
"Meinst du echt?", fragte ich.
Mom starrte auf die Straße, obwohl wir seit einigen Ewigkeiten nur geradeaus fuhren und ließ auch beide Hände am Lenkrad, als wären sie festgewachsen. Ich musste zweimal hinschauen, um mich zu vergewissern, dass dies nicht stimmte.
Als der Pick-Up in die Einfahrt eines der Steinhäuser fuhr, ahnte ich noch nicht den Ausmaß des Übels. Als Mom die Autotür öffnen und aussteigen wollte, hielt sie inne. Sie zog mich am Handgelenk zurück in den Sitz.
"Was ist?"
"Margery ist etwas...seltsam. Das Alter und die Einsamkeit damals haben sie sehr mitgenommen. Es gibt ein paar Sachen über die du niemals mit ihr reden darfst, verstanden?" Das letzte Mal, als ich Mom so ernst gesehen hatte, war es gewesen, als sie ihre hochwertigen Sandalen im Schwimmbad hatte liegen lassen und mir verkündet hatte, dass ich die Auserwählte war, die dazu gepriesen war, ihn zu suchen und wiederzuholen. Ich nickte.
"Erstens:", fuhr Mom fort, "Ihr Mann. Zweitens: Den Himmel, Gott und ihren Glauben. Du weißt, was ich meine. Und Drittens: Diesen Wald"
"Wieso den W...?", hakte ich nach, aber sie fuhr mit mir der Hand dazwischen, wortwörtlich, in dem sie mir die Innenfläche auf die Lippen drückte. Ahrld, machte es zwischen ihren Fingern.
Sie schenkte mir noch einen Blick und dann stiegen wir Beide aus.
Margery war alles Andere als seltsam. Sie war schrecklich. Sie trug ein fliederfarbenes Kleid, über das eine weiße Schürze gespannt war, die die Andeutungen ihrer Wampe nicht milderten. "Charlotte, Schätzen! Wie schön dich wiederzusehen! Und deine Tochter Casandra, den Engel, hast du auch mitgbracht! Ich konnte es gar nicht erwarten euch zu treffen, oh Casandra, das letzte Mal,als ich dich gesehen habe, warst du kaum größer als die Blutbeutel im Krankenhaus!" Das hatte ich erwartet. Was Margery jedoch sagte, war völlig anders. "Bewegt euch, ich werde auch nicht jünger!", bellte sie über die Marmortreppe am Eingangsbereich hinweg und drehte uns schon den Rücken zu, als Mom "Hallo Moma!", ächzte, während sie meinen Koffer schleppte. "Damals war der noch kleiner!", schnaufte sie anklagend und schaute in meine Richtung.
"Was du da trägst sind vier Wochen meines wertvollen Lebens, Mom, sei vorsichtiger damit", erwiderte ich.
Margery ließ die Tür hinter sich einen halben Meter offen, was jedoch nicht dazu führte, dass ich mich willkommener führte. Feines Parkett lag auf dem Boden und auch an den Wänden war eine edle Tapete mit royalen Schwungmustern. Mom stellte mit einem Stöhnen mein Gepäck ab und schob sich an mir vorbei und vor meinen Augen in die Küche, obwohl Margery ins Wohnzimmer gegangen war. Als Mom mich durch die geöffnete Küchentür zu sich winkte, folgte ich ihr.hh
Beim Vorbeigehen starrte ich in das kleine Wohnzimmer. Dort stand Margery mit einer Kamera in der Hand. Plumpe Geräusche drangen hervor und ich wusste, dass sie Etwas löschte. Hektisch glitten ihre Finger über die Knöpfe. In der Küche drangen mir Ei- und Speckgerüche in die Nase.
"Was macht Marge im Wohnzimmer?", fragte ich Mom.
Diese ließ fast den Kochlöffel fallen, mit dem sie inzwischen in der Speckpfanne leicht gerührt und geschoben hatte. Mom seuzfte.
"Sie versucht zu vergessen, Casandra. Das versuchen wir Alle"
"Ich verstehe nicht...?"
Aber sie schubste mich mit einer sanften Handbewegung zur Seite und navigierte mich in mein Zimmer. In mein Zimmer, das nach alten Erinnerungen förmlich stank. Es interessierte mich nicht, wem der Raum gehörte oder wem er gehört hatte, ich rammte meinen Fuß gegen das Bettgestell und hielt die Luft an.
Zählte bis zehn, atmete aus und tat selbiges noch einmal.
Noch einmal.
Immer wieder.
So lange, bis die seltsamen Familienportraits von Mom, Grandma und anderen Leuten, die ich nicht kannte, hochkant von der Wand fielen und meine Wangen rot wie Feuer waren. Erst dann gab ich nach und stellte fest, dass das Bett sich keinen Millimeter bewegt hatte.


***




Man sagte, dass Legenden und Geheimnisse einen Ort am Leben hielten. Man sagte, dass es mit Oakridge nicht anders war. Manche Dinge konnte man nicht erklären. Sie passierten einfach.
So kam es, dass es im Juli erstaunlich kalt war. Mom sagte, dass die Bäume wohl möglich die Sonnenstrahlen abschirmten oder linderten. Ich drehte nur die Heizung hoch.
"Es hat sich einiges verändert hier" Margery stand im Türrahmen des kleinen Wohnzimmers. Hier drinnen sah es aus wie in einer Puppenstube. Überall starrten einen die bemalten Holzaugen russischer Matroschkapuppen an: Von der Fensterbank, den Regalen, den Beistelltischen und auf dem Fernseher.
"Früher", begann Marge, "war hier nicht so viel Krempel. Gottverdammt, es war schön hier! Bunt! Seht euch die Hütte jetzt an. Eine einzige Halde. Ein Haus wie jede Frau über fünfzig sie hat. Ein Haus für eine Frau, die in hellen Stoffkleidern im Sommer und dicken Pflasterjacken im Winter herumgeistert und den Kinder, die auf ihrem Rasen spielen ein Eis anbietet." Sie sah aus, als würde sie auf den Boden spucken, wenn sie sich nur sicher wäre, dass sie auch zielen und nicht den teuer aussehenden Teppich treffen würde. Margery schaute wie ein Cowgirl in einem Westernfilm. Würde sie dem Revolvermann nun die Pistole an den Hals setzen und seinem Leben das Ende bereiten? Sie sah aus, als würde sie töten.
"Wieso hast du nie renoviert?", fragte Mom, als sei es selbstverständlich eine Frau über 50 eine Renovierung aufzuzwingen.
"Sehe ich so aus, als könnte ich auch nur einen Pinselstrich machen?" Margerys Augen nahmen mich ins Visier. "Damals war deine Tochter noch hübscher, Charlotte! Da war sie noch nicht so fett wie ein Schwein. Und das ganze Make-up. Sie sieht aus wie ein laufender Schminkkoffer. Grässlich!"
Mom schnappte überrascht nach Luft.
Natürlich. Sie war die Schöne, mit den braunen Rehaugen, dem harmoniesüchtigen Gelaber und dem Fett an den Stellen, an denen es durchaus seine Reize hatte. Alle hatten sich damals gefragt: Warum, um Gottes Willen, ist dieses Kind nicht nach seiner Mutter gekommen?
Ehrlich gesagt suchte ich immer noch nach einer Antwort. Vielleicht hätte ich mit drei Jahren auf dem Festival doch dem starr stehenden, silber angemalten Blechmann das Geld geben sollen, das Mom mir in die Hand gedrückt hatte. Stattdessen hatte ich mich ängstlich hinter ihrem Rücken versteckt und sie vorgeschoben. Ehrlich, dieser Straßenkünstler hatte seine Spuren in mein Leben gesetzt. Ich reagierte stets aggressiv auf bewegungsunfähige Leute, die in beknackten Silberstiefelchen auf hohen Plattformen standen und einfach nur nichts taten.
Jedenfalls war es mit Dad so ähnlich gewesen. Bis zu meinem zweiten Lebensjahr hatte ich mich geweigert, mich von ihm füttern zu lassen. Und ausgerechnet von diesem Kerl, der meine Mom dann in einem Alter von 24 sitzen gelassen hatte (ich war zwei tage zuvor fünf Jahre alt geworden), musste ich mein Aussehen geerbt haben. Von Josh hatte ich die fetten Oberschenkel, die Fähigkeit tödlich auf Berührungen mit Wasser zu reagieren und natürlich die allzeit beliebten Allergien gegen Hausstaub und Pollen.
Immer noch stand Mom da, wie ein Kugelfisch: Ihre Brust drücke sich raus und sie öffnete und schloss den Mund im Vierteltakt.
Ich schob die Ärmel meines Sweatshirts bis zu meinem Ellbogen, dann erwiderte ich: "Ich versuche wenigstens meine Fehler zu überdecken. Tust du das, Grandma?"
Es herrschte lange Stille, bevor Margery zum Rückschlag ansetzte.
"Ich hatte wirklich gehofft, dass sie wenigstens deine Manieren bekommen hätte, Charlotte", sagte sie an Mom gewandt und tat, als sei ich der Staub dieses Hauses, neben all den lieblichen Spinnen und anderem Kriechtier.
Und ich hatte wirklich gehofft, dass Mom mir gegen Grandma beistehen würde. Wirklich.
Ich hätte wissen müssen, dass es anders kam, so wie immer im Leben, wenn man sich etwas wirklich wünschte.
"Fahrt zur Hölle", zischte ich, begab mich in den Flur um mir meine Jacke überzuwerfen und knallte die Haustüre dreimal so laut wie nötig zu. Natürlich lief mir Keiner hinterher.
Aber meine Beine schienen genau zu wissen, wohin sie mich tragen mussten, denn sie liefen und liefen, bis ich Seitenstechen bekam.
Aber es tat gut zu laufen, da ich das Gefühl hatte, mit jedem Atemzug eine schlechte Erinnerung zu vergessen und beim Einatmen Platz für Neue schuf.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Not knowing when the dawn will come, I open every door. -Emily Dickinson

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