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Klirrend kalte Luft umschließt ihren bebenden Körper wie eine zäh elastische Wolke, die ihre Bewegungen ums Vielfache verlangsamt, sie fühlt sich wie der sprichwörtliche Karpfen, der auf dem Trockenen verzweifelt nach Luft ringt. Trotzdem versucht sie sich ein Lächeln abzuringen, bei dem ihre trockenen Lippen mit einem kaum hörbaren häßlichen Knirschen aufplatzen.
Schließlich weiß sie es schon ihr ganzes kurzes Leben lang, es gibt keinen Grund, außgerechnet jetzt in Panik zu verfallen, wenn der Termin konkret wird.
Der eisige Wind überzieht ihr Fleisch mit Gänsehautperlen, ihr brandrotes Haar weht vor ihrem Gesicht hin und her, so daß sich ihr Blickfeld auf Feuer und Nacht beschränkt. Sie wird sich fügen, wie sie sich ihr ganzes Leben lang gefügt hat und ihr ganzes weiteres Leben fügen wird. Tief saugt sie die klare Luft mit einem pfeifenden Laut in ihre Lungen, bis sie widerwillig, mit steifem Nacken nickt. Dann fällt ihr ein, daß ihr Vater die Bewegung in der Dunkelheit nicht sehen kann.
"Ja, Vater", murmelt sie mit heiserer, gleichsam seltsam erloschener Stimme.
"Du wußtest es dein ganzes Leben lang, und es ist die einzige Möglichkeit für dich, Johanna, Kleine.
Wenn ich einen anderen Weg sehen würde...aber es Muß sein".
Johannes Bolten lächelt zögernd, streicht ihr mit einer kurzen Bewegung übers Haar, bevor er ins Haus geht. Als die Türe aufschwingt, beleuchtet das Kerzenlicht der Diele kurz seine rote Henkersuniform, ehe die wiederkehrende Nacht mit der sich schließenden Tür barmherzigerweise die Farben auslöscht.
Stimmt. Johanna weiß es schon ihr ganzes Leben lang, aber dieses Wissen macht die Tatsachen nicht eben leichter. Soweit ihre Erinnerung zurückreicht, lebt sie schon als als "Unberührbare", gemieden von jedem anständigen Menschen, verstoßen von der Gesellschaft, ausgeschlossen von jeder Freundschaft, jedem simplen Gespräch mit Gleichaltrigen. Und das alles nur, weil ihr Vater das Amt des gerichtlich bestallten Henkers versieht. Auch er konnte seinen Lebensweg nicht frei wählen, wurde durch Geburt in sein Amt hineingezwungen. Und eine Henkerstochter konnte eben keinen normalen Menschen heiraten, verlöre der doch durch eine bloße Berührung von ihr seine Ehre. Somit war es wirklich der einzige Weg, den Henker der nächstgelegenen Stadt zu heiraten, auch wenn der fünfzehn Jahre älter war und sie ihn noch niemals gesehen hatte und vor der Hochzeit auch nicht sehen würde.
Sie spürt die Kälte kaum, auch nicht die wenigen Tränen, die ihre Gesichtshaut mit Feuchtigkeit netzen und vom Stoff ihres groben Kleides aufgesogen werden. Ihre gebeugten Schultern beben verkrampft, trotzdem kann sie noch nicht ins Haus gehen, sich den prüfenden Blicken ihres Vaters aussetzen.
Lieber bleibt sie noch etwas auf der halbhohen Gartenmauer sitzen, in der kühlen Nachtluft, allein, wie sie eigentlich ihr ganzes Leben schon alleine ist, von ihrem Vater und den Häftlingen abgesehen, die sie mit Essen versorgt, bevor sich ihr Vater um sie "kümmern" muß. Oder auch um ihre Wunden und Brüche zu versorgen, weswegen sie sich auch ganz ordentlich in medizinischen Dingen auskennt.
Kurz und bitter lacht Johanna auf. Kunststück, kein Bader, keine Hebamme oder gar Arzt wird sich an ihr die Finger schmutzig machen.
Energisch ruft sie sich selbst zur Ordnung, Selbstmitleid hilft ihr auch nicht weiter. Gott hat ihr genau dieses Leben gegeben, damit sie es lebt.
Johannas Beine werden steif, so lange sitzt sie schon auf dem niedrigen Gartenmäuerchen. Die Kälte wird immer deutlicher spürbar, doch das trotzige Lächeln weicht nicht von ihren Lippen.
Trotz war schon immer ihr Markenzeichen, Trotz und das sinnlose Aufbegehren gegen Dinge, die sie sowieso nicht ändern kann, wie eben gegen die gottgegebene Ordnung der Menschen. Sie hat nie verstanden, warum ihr schon vor ihrer Geburt das Stigmata des Aussätzigen anhaftete, wie auch jetzt immer noch. Sie kann doch für die Arbeit ihres Vaters nichts, sie hat sich ihre Eltern doch nicht ausgesucht.
Johanna zuckt mit den steifen Schultern, dann steht sie auf. Ganz leise schleicht sie sich ins Haus, darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen. Hier muß sie aufpassen, am vorstehenden Stein des Weges stößt sie sich immer den Fuß, und die Haustüre knarzt ein wenig, weswegen sie immer Bescheid weiß, wenn ihr Vater früher heimkommt, sodaß sie meistens Ärger vermeiden kann und sogar das Essen fast schon auf dem Tisch stehen hat. Im kleinen Flur rechts hinter der Türe findet sie, wonach sie gesucht hat, den Schlüssel zur kleinen Seitenpforte der Stadtmauer, durch die sich manchmal hinausschleicht, wenn ihr die Stadt zu eng wird mit ihren vielen Menschen, deren geballte Verachtung ihr ständig entgegenschlägt. Vor den Stadtmauern befindet sich ein kleiner schilfbewachsener Teich, an dessen Ufer sie tagsüber oft herkommt. Die meisten Menschen meiden diesen Teich, geht doch das Gerücht um, er wäre verflucht, seit die Martinshexe vor über hundert Jahren den Tod in ihm gefunden hat. Noch im Sterben soll sie den Teich und ihre Henker verflucht haben, und tatsächlich starb die damalige Henkersfamilie nach wenigen Jahren an Krankheiten und verschiedenen Unglücksfällen, so daß Johannas Vorfahren den verantwortungsvollen, notwendigen und dennoch verachteten Posten erhielten.
Johanna bewegt sich mit schnellen Schritten, um die klirrende Kälte nicht gar so deutlich zu spüren. Sie hätte ihren wollenen Umhang anziehen sollen, aber dann hätte ihr Vater ihr Verschwinden vielleicht bemerkt. So würde er mit etwas Glück einfach nur denken, sie hätte sich schlafengelegt, zu erbost, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Ihr tiefer Seufzer hallt unheimlich laut in der Stille wider, nur die Wellen klatschen leise an den hölzernen Pier, begleitet vom unheimlichen Wispern des Windes, der an ihren wilden roten Locken zerrt, die frei und ungebändigt ihren Rücken hinabfließen.
Hier unten am Wasser, wo die Wellen leise plätschern und an den morschen Steg schlagen und die Dunkelheit der Nacht jedes Geräusch in sich aufzusaugen scheint, erscheint es immer so, als ob alles möglich wäre. Jeder Schmerz scheint weniger real, sich irgendwann gar in Nichts auszulösen, und Tränen, die kein Auge zu Gesicht bekommt, erscheinen weniger real. Nicht daß die Nacht an sich nicht grausam und kalt gewesen wäre, nein, nur dieser Ort hier scheint gleichsam verzaubert zu sein, er heißt sie willkommen und schwächt alle negativen Emotionen in ihr ab.
Ihre Lippen lächeln erneut, obwohl es niemand sieht. Ihre Zähne schlagen laut klappernd aufeinander.
Trotzdem hört Johanna das Klacken der Kiesel, die unter einem Fuß wegrollen.
Unwillkürlich entringt sich ihren bebenden Lippen ein leiser Fluch. Nachts ist es gefährlich hier draußen, vor allem für Frauen, auch die Tochter des Henkers bildet keine Ausnahme. Rasch läßt sie ihre Blicke umherschweifen, erkundet die Gegend.
Sinnlos, keine Versteck bietet sich im Umkreis an, sie käme auch nicht weg, ohne gesehen zu werden.
Johanna wartet atemlos, bis der Schatten herannaht, der Umriß sich zu einem Gesicht formt, einem...
"Mathes", murmelt sie verärgert, und dann noch einmal lauter: "Mathes, was um Himmels willen tust du nachts hier draußen? Du hast mich fast zu Tode erschreckt.
Mathes, der Sohn des Gastwirts Zum Goldenen Löwen und mit Ausnahme der Menschen, die sich spät abends zu ihr und ihrem Vater schlichen, um Knöchelchen von Hingerichteten für medizinische und andersartige Zwecke zu erwerben, einer der Wenigen, die es riskieren, hin und wieder ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ihr Vater trinkt sein Freibier immer im Goldenen Löwen, ganz allein an seinem Tisch aus seinem eigenen Krug, den kein anderer jemals benutzen würde.
"Ich könnte dich genauso gut fragen, Johanna. Ich war zu Besuch bei meiner Schwester, die nach Welbronn geheiratet hat, und habe es vor Schließen der Stadttore nicht rechtzeitig geschafft. Wie kommst du hier raus?"
Mathes tiefe Stimme jagt ihr ein Kribbeln durch den Körper. Sonderbar, daß ihr nie aufgefallen ist, wie gut er eigentlich aussieht mit seinen schwarzen Haaren, deren Strähnen ihm verwegen über die blauen Augen fallen.
"Ich habe den Schlüssel meines Vaters zur kleinen Seitenpforte genommen. Wenn du willst, kann ich dich reinlassen", erwidert sie spürbar verlegen.
"Dein Vater...", sogar im Dunkeln kann sie sein leichtes Erschauern sehen, "nein, laß mal lieber, wie soll ich meinen Eltern erklären, wie ich um diese Zeit durch das Stadttor gekommen bin. Es könnte uns jemand sehen, und dann...
Mathes stockt mitten im Satz und besitzt immerhin den Anstand, verlegen auszusehen, bevor er sonderbar verteidigend hinzufügt: "Ich dürfte nicht mit dir reden, weiß auch nicht, warum ich das tue. Ich habe schon mehrmals mit dir geredet, sogar innerhalb der Stadtmauern, und wenn sich darum Gerüchte ranken, kann ich meine Ehre verlieren, kann so werden wie..."
"Wie ich", lächelt Johanna bitter.
"Ich habe mir den Beruf meines Vaters nicht ausgesucht, auch nicht, daß ich mit einem Wildfremden verheiratet werde, nur weil der ebenfalls Henker ist. Sei froh, daß du ein normales Leben führen darfst, ich würde Gott auf Knien dafür danken."
Mathes nähert sich vorsichtig dem Pier und setzt sich zögernd auf die feuchten, morschen Holzplanken, sorgsam darauf bedacht, nicht ausversehen Johannas grobes Tuchkleid oder gar -Gott behüte- ihre Hand zu berühren.
"Ich habe schon zweimal mit dir geredet, aber ich glaube nicht, daß ich deshalb meine Ehre verlieren kann. Du sollst also heiraten? Das ist nichts Schlimmes, ich bin schon mein ganzes Leben mit der Anna vom Wirthaus zum Bock verlobt. Eine gute Partie, ich bin der zweite Sohn, mein Bruder erbt das Gasthaus."
Johanna schweigt auf diese Eröffnung. Den kleinen Stich von Eifersucht ignoriert sie geflissentlich, ebenso die Verachtung, die ihr trotz seiner verständigen Worte entgegenschlägt. Kurz blickt sie in seine klaren Augen, bevor sie mit einer geschmeidigen Bewegung in die Höhe springt.
"Ich muß gehen, mein Vater darf mich nicht erwischen", erwidert sie abschließend und geht hastig in Richtung Stadt.
"Bist du öfters hier? Ich muß in ein paar Tagen wieder zu meiner Schwester und könnte hier draußen sein. Wenn du magst?"
Johanna eilt wortlos weiter, zu aufgeregt, um auch nur an eine Antwort zu denken.
In ihrem Zimmer angelangt, atmet sie erleichtert auf. Ihr Vater hat sie glücklicherweise nicht erwischt, sie wagt sich kaum vorzustellen, was dann passiert wäre.
Ihre Gedanken kreisen unablässig um Mathes, den kleinen Teich. Es ist total verrückt, sich bei dieser Eiseskälte dort draußen zu treffen, es ist verrückt, sich überhaupt zu treffen. Es kann nichts Gutes daraus erwachsen, sagt sich Johanna und schimpft sich innerlich eine Närrin.
Es gelingt ihr nicht, einen Entschluss zu fassen, ob sie hingehen soll oder nicht.
Irgendwann versinkt sie in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.


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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2011

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