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Sprachlos.
Ich sitze hier und bin immer noch sprachlos.
Oder schon wieder.
In meinem Kopf rasen Gedankenfetzen fröhlich hin und her, die Logik und Vernunft beiseite schieben.
Ich habe Angst, jawohl.
Dachte nicht, das so etwas möglich wäre, ich doch nicht.
Habe so viele Selbstmordversuche unternommen, die allesamt schiefgegangen sind, und nun sitze ich hier und zittere um mein Leben.
Dachte, ich wäre bereit zu sterben. Und stelle fest, daß ich es nicht bin, frage mich, ob man es überhaupt jemals sein kann.
Mein Hausarzt starrt mich immer noch an.
Bedauernd. Mitleidig.
Vor wenigen Sekunden hat er sich bei mir entschuldigt, weil er gedacht hatte, ich simuliere, um wie so oft schon eine Krankmeldung zu bekommen.
Leider habe ich das nicht getan. Die Schmerzen sind echt, und auch die quitengelbe Farbe, die das Weiße meiner Augen langsam annimmt.
Hepatitis B. Nur auf zwei Arten übertragbar, entweder durch infizierte Spritzen, also durch Blutkontakt, oder durch Geschlechtsverkehr. Ist eigentlich auch nicht wichtig, auf welche Art und Weise ich mich angesteckt habe, Tatsache ist, daß ich es getan habe. Ebenso Fakt ist auch, daß man so gut wie nichts dagegen tun kann.
Ich könnte ins Krankenhaus gehen. Wäre aber Blödsinn, weil mir dort auch nicht geholfen werden kann. Und da ich meine Familie nicht anstecken kann, begebe ich mich nach Hause, mit der strengen Auflage, jeden Tag zur Blutabgabe zu erscheinen, um die Leberwerte überprüfen zu lassen.
Meine Krankmeldung habe ich erhalten.
Und nun sitze ich hier.
Gehe vor Schmerzen schier die Wand hoch.
Meine Chancen stehen mittelprächtig, es kann durchaus sein, daß ich überlebe. Muß aber nicht.
Das Schlimme ist, daß ich nichts tun kann.
Komme mir vor wie ein Aussätziger, sehe auch so aus.
Meine Haut färbt sich ebenfalls gelb.
Ich will etwas trinken, ein Bier, einen Whiskey, igend etwas mit Alkohol. Meine Hand bewegt sich automatisch zur Flasche, und jedesmal ziehe ich sie zurück.
Nein.
Dieses Wort hämmere ich mir ins Hirn, ständig, ich sage es laut, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
Ich zittere, darf meinen Verstand nicht wegsaufen, muß mich meinen Ängsten mit klarem Kopf stellen.
Und ich habe Angst, soviel Angst.
Ich ertappe mich dabei, wie ich Gott um Hilfe anflehe, ich, die überzeugte Atheistin. Merke erst jetzt, wie jämmerlich feige ich bin angesichts der Möglichkeit meines bevorstehenden Todes.
Dabei lebe ich jeden Tag mit dieser Möglichkeit, wir alle leben jeden Tag damit, aber es ist jetzt eben nicht nur eine weit entfernte, vage Möglichkeit, jetzt ist es eine durchaus mögliche Wahrscheinlichkeit.
Und dannn tue ich es doch.
Ich setze die Flasche an und trinke.
Seltsamerweise werden die Schmerzen besser, je mehr ich trinke.
Irgendwann dämmere ich weg, schlafe ein.
Ein paar Stunden keinen Schmerz mehr.
Am nächsten Tag dafür umso mehr.
Zittern, Krämpfe, meine Leberwerte eine Katastrophe.
Mein Arzt, der mir die Leviten liest, mich als dumme Närrin bezeichnet. Er darf das, kennt mich ja schließlich schon, seitdem ich drei bin.
Ich gehe nach Hause.
Jeden Tag gehe ich nach Hause.
Manchmal kann ich nicht gehen, muß mit einem Taxi fahren. Und immerzu rasen die Gedanken in meinem Schädel.
Ein halbes Jahr lang bin ich krankgeschrieben.
Ein halbes Jahr lang kämpft mein Körper gegen die Krankheit.
Es ist unglaublich schwer, und das am meisten vorherrschende Gefühl ist Angst.
Ich stelle immer wieder fest, wie sehr ich an meinem kümmerlichen Leben hänge und wieviel Angst ich vor dem Tod habe.
Trenne mich von meinem Freund.
Mein Vater stirbt an Krebs.
Ich bin traurig darüber, und trotzdem schiebe ich es beiseite. Weil ich nicht die Kraft habe zu trauern.
Nicht jetzt.
Nach einem halben Jahr haben sich meine Leberwerte verbessert. Es ist anzunehmen, daß ich es schaffen werde.
Trotzdem weiß ich nicht, was ich empfinden soll.
Die grandiose Freude, die ich erwartet habe, stellt sich nicht ein.
Ich habe immer noch Angst.
Weil ich begriffen habe, daß der Tod trotzdem kommt.
Irgendwann.
Er ist wieder zu einer Möglichkeit geworden, ferner gerückt.
Aber immer noch da.
Ich habe überlebt.
Aber eine weitere Illusion ist gestorben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen, die ähnliches durchgemacht haben. Und allen anderen, in der Hoffnung, daß sie so etwas niemals erleben müssen.

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