« Was redest du denn für einen Unfug heute? Hör sofort auf damit!» Am Fenstertisch entwickelte sich das Gespräch unangenehm laut. Ein glatzköpfiger Mittvierziger sah mit verkniffenem Gesicht seine Tischnachbarin an, deren Gesichtshaut puterrot war. Offenbar war dort ein heftiger Streit entbrannt. Die Frau japste nach Luft vor Wut und stotterte laut etwas von unm-m-m-möglichem Verhalten. Wahrscheinlich war das Paar schon zerstritten ins Lokal gekommen. « I-i-i-ich s-sage, w-was i-ich w-w-will»!, trotzte die Frau ihrem wütenden Ehemann. Sie stand auf, machte einen Rundgang im Café, doch eigentlich stakste sie nur aufgeregt herum, viel zu schnell um die schönen Puppen und Spielzeuge anzusehen.
« Setz dich hin, du Verrückte! Hast du was genommen, bist du betrunken? » Der Mann war jetzt ganz blass vor Wut. Die Peinlichkeit der Situation stand ihm, aber auch den anderen Gästen im Gesicht geschrieben. Sie bemühten sich unbefangen zu wirken und nicht auf die beiden Streithähne zu achten. Umso mehr bewegten sich einige Augenpaare der Masken und Puppen im gemütlichen Café am Stadtwald. Mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck kam die Servierkraft und bat leise aber mit Nachdruck um ein etwas dezenteres Benehmen. « Du trinkst jetzt sofort deinen Cappuccino aus, damit ist der von dir so gewünschte Einkaufsbummel beendet, bevor er begonnen hat! Das Thema ist durch!!!» Die Frau griff mit zitternden Händen nach dem vor ihr stehenden Porzellanbecher und verschüttete beim Trinken und durch das Zittern ihrer Hände das Getränk. Beim Schlucken hatte sie eine verkrampfte Haltung, ja sie würgte regelrecht und begann dabei zu husten. Es klang, als müsste sie sich gleich übergeben. Die Situation wurde immer angespannter und dramatischer. Noch während sie den Becher in der Hand hatte und wieder zu Luft gekommen war, schrie sie ihren Mann an. « I-i-ich w-wollte schon l-l-l-lange g-gehen! M-mit d-dir h-h-hat E-einkaufen noch n-nie Spaß g-g-gemacht. I-ich h-hasse d-dich!!! Nun fing sie laut an zu weinen, stand auf, setzte sich wieder hin, stand wieder halb auf, ruderte mit den Armen, setzte sich wieder. Rastlos bewegten sich unter dem Tisch ihre Beine und schurrten auf den Dielen, als wollte sie schon losgehen. « D-d-du b-b-bosh-h-hafter Mensch!», sie schrie schrill und ihr krampfhaftes Weinen erfüllte den ganzen Raum. Nur ihr Mann übertönte sie mit lauter Stimme als er hilfesuchend die Kellnerin anrief...
«Die Rechnung bitte!!!» Sowas hatte er noch nie erlebt. Das war ja nicht mehr seine Frau. «Regina, komm doch zu dir!!!»
Mit maskenhaftem, undurchdringlichem Gesichtsausdruck erschien die Kellnerin und kassierte, um diese unangenehmen Gäste schnellstens los zu werden. Im ganzen Gastraum war es still geworden. So ein Schauspiel in Wirklichkeit hatte noch niemand gesehen oder erlebt. Das war ja bühnenreif. Der Glatzkopf holte in aller Eile seine Garderobe und versuchte seiner von Unrast getriebenen Frau, die schrie und tobte, den Mantel über zu ziehen. Plötzlich nach einem durchdringenden Schrei war von einer Sekunde auf die andere, Stille, absolute Stille. Die Frau sank in sich zusammen und lag zu Füßen ihres Ehemannes. Nun fing der Mann an hysterisch zu weinen. « Hilfe, Hilfe!, nun sehen sie doch nicht alle so tatenlos zu. Die meisten Gäste und auch die Servicekräfte waren wie gelähmt. Ein Herr vom Nebentisch sprang auf, kniete sich neben die Frau, fühlte ihren Puls. Ihr Mund stand weit offen und ihre Glieder zuckten. «So rufen Sie doch einen Notarzt!!!», war ein Gast vom anderen Ende des Raumes zu hören. Die Kellnerin war wie in Trance und konnte sich vor Schreck nicht mehr bewegen. Schließlich rief ein junger Mann mit seinem Handy endlich den Rettungsdienst. Nach quälenden unendlich langen vier Minuten, hörte man draußen die Sirenen heulen. Die Tür wurde schon von innen aufgehalten und endlich kamen die Sanitäter und ein Arzt mit seiner Notfallausrüstung. Im Laufschritt und noch ganz außer Atem kamen sie auf die leblos wirkende, am Boden liegende Frau zu. Nach eiliger Untersuchung konnte kein Puls mehr gemessen werden. «Beatmen, sofort!!» Schon lief die eingespielte Maschinerie an. «Defi», bitte zurück!«Wummm», der arme Körper zuckte. «Nichts!, versucht es noch einmal! Zurück bitte!, drei, zwei, eins, wumm!» Starr vor Entsetzen starrten alle Beteiligten und Unbeteiligten auf die gespenstische Szenerie. Schlaff lag die arme Frau am Boden. So klein und zart sah sie jetzt aus und unendlich hilflos. Ihr Mann weinte beklommen. Der Arzt bedauerte und sagte, « es tut mir leid, wir können nichts mehr tun»! War ihre Frau denn krank? » «Nein, sie war kerngesund. So wie heute habe ich sie noch nie erlebt. Irgendetwas muss mit ihr passiert sein. So kenne ich sie nicht.» « Dann muss die Polizei eingeschaltet werden. Zumindest muss ein Bericht geschrieben werden und alles, was passiert ist, sollte genau aufgenommen werden. Vermutlich wird ihre Frau in der Gerichtsmedizin untersucht. Wie ist ihr Name?» «Becker, ich heiße Alois Becker und meine Frau Regina.» «Achja, herzliches Beileid!» Der Arzt legte mitfühlend eine Hand auf Alois Becker’s Schulter und rief die Polizei an. Herr Becker saß zitternd auf einem Stuhl und blickte auf seine nun tote Frau herab. Die Bedienung bemühte sich bei den anderen Gästen abzukassieren. Keiner hatte mehr Lust auf einen Plausch bei Kaffee und Kuchen. In kurzer Zeit war der Gastraum leer.
Routinemäßig nahm der Polizist den Fall auf, hörte sich die Angaben des Ehemannes, sowie die der Servierkraft an und bestellte einen Wagen, der die Frau ins gerichtsmedizinische Institut bringen sollte. Fürsorglich wurde Herr Becker zu seiner Wohnung gefahren, die er nun allein wieder betreten musste. Wie unglaublich grausam doch das Leben sein konnte. Grade war Regina noch da, und dann so fremd, in kurzer Zeit so verändert, wie eine Furie hatte sie sich benommen. Trotzdem, er hatte sie geliebt und an vielen Tagen waren sie glücklich gewesen im kleinen Café im Stadtpark. Er weinte noch lange bis der Schlaf ihn in dieser Nacht gnädig übermannte.
Ein neuer Tag
Carlotta hatte sich die schwarze Fleecemütze tief ins Gesicht gezogen. Ihre großen blauen Augen waren noch etwas verschlafen und wurden von langen schwarzen Wimpern beschattet. Sie genoss die Wärme in der Straßenbahn, da es heute Morgen eiskalt war und das lange Warten an der Haltestelle, sie zum Zittern gebracht hatte. Bis ins Innerste fühlte sie sich an wie aus Eis.
Draußen war es noch dunkel. Dicke Schneeflocken setzten sich an die Scheibe, so das Carlotta kaum noch nach draußen sehen konnte. Wenn sie doch diesen Job bekommen würde. Das Geld, das sie dort verdienen könnte, hätte sie bitter nötig. Carlotta brauchte einen Wintermantel.
Nur langsam erwärmten sich ihre Glieder. Ihre Finger taten ihr weh und pochten, weil das Blut nun begann, sich wieder in ihnen auszubreiten. „Krimme in den Fingern“, so hatte ihre Mutter das immer genannt. Fast schossen ihr die Tränen in die Augen. Ihre Mutter war im Spätsommer gestorben. Es tat noch immer so weh. «Fiedlerstraße !», tönte es durch die Straßenbahn. Ach, noch ein bisschen die Augen schließen. Im Stellenanzeiger hatte sie das Inserat gelesen. Ein romantisches Café in der Innenstadt suchte ein Allroundtalent. Carlotta war bereit eines zu sein. Kreativ, adrett, freundlich, erfahren als Servierkraft. Das konnte alles nicht so schwer sein. Allerdings hatte sie sich bisher nur selbst serviert, was sie sich zum Essen zubereitet hatte. Das würde sie natürlich nicht ausplaudern, gleich im Bewerbungsgespräch.
Metallschleifend hielt die Straßenbahn an. Als die Doppeltür sich zu beiden Seiten schob, um den Ausstieg frei zu geben, wehte ein eiskalter Wind Carlotta winzige Eiskristalle ins Gesicht. Sie schauderte und stieg aus. Ihr Weg führte sie an einer Boutique vorbei, deren Schaufenster komplett verhangen waren. Das sah nicht sehr einladend aus. Vermutlich wurde dort dekoriert. Am Eingang zum Stadtwald sollte das Café «Puppenstube» sein. Der Name hatte Carlotta sofort gefallen. Sie hatte als Kind sehr gern mit ihrer Puppenstube gespielt. Den Stadtwald konnte sie nun langsam durch das dicke Schneetreiben erahnen. Dann konnte der Weg wohl nicht mehr so weit sein.
Ja, nun lag ganz plötzlich ein Gebäude vor ihr. Es duckte sich unter einer alten Eiche auf der einen Seite und schmiegte sich seitlich an die herabhängenden Zweige einer Trauerweide. Carlotta musste lächeln. Das Haus hatte ein Gesicht. In der Mitte die einladende Tür, die man als Mund ansehen konnte wurde von einem Dach behütet, das wie eine Nase wirkte. Die Fenster, jeweils eins auf jeder Seite der Tür, bildeten die Augen. Im Oberstübchen hatte es kleine Türmchen. Selten hatte Carlotta ein so sympathisches Gebäude gesehen, wenn man bei Häusern überhaupt von Sympathie sprechen konnte, vielleicht dann eher von einer Aura oder Charisma. Carlotta ging auf dem mit Moos bewachsenen Weg bis zur Tür, die mit acht Butzenfenstern und einem Löwenkopf mit Klopfring in der Mitte Eindruck auf sie machte. Noch einmal tief durchgeatmet und sie betätigte den Klopfring. Erstaunlich laut klang das Klopfen an diesem eiskalten Morgen in ihren Ohren. Hinter den Butzenfenstern schien ein warmes anheimelndes Licht. Geschäftig kam ihr mit wiegendem Gang eine Frau entgegen und öffnete mit einem strahlenden Lächeln die Tür. «Guten Morgen!», wünschte Carlotta. «Mein Name ist Carlotta Hansen. Ich möchte mich um die angebotene Stelle bewerben. Sie hatten inseriert im Stadtanzeiger.» «Oh, ja! Wir hatten gestern miteinander telefoniert. Ich bin die Besitzerin des Cafés, Greta Gallorge. Ich freue mich, dass sie so früh am Morgen den Weg zu uns gefunden haben. Bitte kommen Sie, wir unterhalten uns bei einer Tasse Kaffee.»
Carlotta war überwältigt. Im Gastraum hingen drei alte Kronleuchter mit wunderschönen Glasanhängern, die im Licht glitzerten. Überall sah man Puppen, Teddybären, Spielzeug. Alles war sehr sauber. Das Spielzeug wirkte so lebendig, als hätte soeben noch ein Kind damit gespielt. Nichts war eingestaubt oder wirkte alt. «Bitte nehmen Sie Platz Frau Hansen!» Greta Gallorge wies auf einen im Rokokostil geschwungenen Stuhl mit roten Polstern. «Ich hole uns schnell den Kaffee! » Carlotta lächelte und entspannte sich.
Frau Gallorge kam mit einem Tablett mit frischem Kaffee und zwei Hörnchen zum Tisch zurück und setzte sich Carlotta gegenüber auf eine Couch. Auffordernd hielt sie Carlotta den Teller hin. « Bitte, greifen Sie zu! Die Marzipanhörnchen sind unsere Spezialität.» Carlotta ließ sich das nicht zweimal sagen und biss in ein Hörnchen, während Greta Gallorge über ihr Café sprach und umriss, welche Aufgaben ihre neue Mitarbeiterin bewältigen sollte.
« Ja, mein Café soll etwas sehr besonderes sein, etwas, was jeder Gast sich wünscht, aber nicht weiß, wie er es sich in seinem normalen häuslichen Bereich erschaffen soll. Die Gemütlichkeit, die leckeren Speisen. Viele Menschen wissen nicht, wie diese Gepflegtheit zu erreichen ist, obwohl sie sie sehr gerne hätten. Ich lege größten Wert auf Sauberkeit. Alle Servicekräfte, alle Backstubenkräfte, jeder, der im Café arbeitet, trägt Hauskleidung, das bedeutet: im Café tragen wir lange, lavendel farbige Seidenkleider, die hochgeschlossen und mit kleinen Bubikragen am Hals verziert sind. Eine kurze weiße Spitzenschürze und schneeweiße Ärmelmanschetten sind Pflicht. Es versteht sich von selbst, das wir niemals Flecken oder abgerissene Knöpfe an unserer Cafékleidung dulden. Das Haar tragen wir zurückgekämmt und als kleinen Knoten im Nacken zusammengefasst, jedenfalls wäre das bei Ihrer Haarlänge die gewünschte Frisur.» Carlotta seufzte und war erstaunt wie viel Wert Frau Gallorge schon auf Äußerlichkeiten legte. Aufmerksam studierte Frau Gallorge Carlotta, lächelte kurz mit fragendem Blick, « darf ich weiter sprechen, oder ist eventuell schon diese Beschreibung meiner Erwartungen zu viel gewesen?» « Nein, nein!, beteuerte Carlotta, bitte, ich bin sehr gespannt und interessiere mich für den Job!» «Naja, wenn Sie die angebotene Stelle nur als Job betrachten, wäre mir das viel zu wenig. Doch das finden Sie sicher erst mit der Zeit und mit den Anforderungen heraus. Nun zu Ihren Tätigkeiten, die sie hier erwarten. Jeder Kunde ist bei uns König, das versteht sich von selbst. Sobald ein Kunde das Café betritt, erstrahlt ihr hübsches Gesicht durch ein Lächeln und Sie sprechen ihn freundlich an, weisen ihm einen angemessenen Tisch zu und helfen ihm aus dem Mantel, wenn er es wünscht. Sie zünden auf seinem Tisch die Kerzen an und öffnen für ihn unsere liebevoll gestaltete Karte. Eventuell beraten Sie ihn, falls wir besondere Leckereien anbieten um unsere Gäste damit zu verwöhnen. Dazu ist es erforderlich, das sie unsere Speisen- und Getränkekarte innerhalb kürzester Zeit in ihrem Kopf abgespeichert haben. Sie sollten ein Teil unseres Cafés werden. Im Bereich hinter dem Tresen ist unsere Backstube. Alles wird frisch zubereitet. Auch in dem Bereich würden Sie arbeiten natürlich nach entsprechender Einweisung. Ich suche keine Allerweltsservierkraft, ich suche eine Allroundkraft mit Charisma, Einfühlungsvermögen und Talent um Menschen zu verwöhnen. Wenn der Gast noch nicht weiß, was er möchte, sollten Sie erkennen, was er braucht um glücklicher aus unserem Café heraus zu gehen, als wie er herein kam.»
«Uff!, ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann!» Die Ehrlichkeit und das Zweifeln stand Carlotta ins Gesicht geschrieben. «Ich verlasse mich nicht auf die Aussagen anderer, weder Zeugnisse, noch Referenzen haben genug Aussagekraft für mich. Ich beurteile meine Mitarbeiter selbst, ihr Äußeres, ihr Wesen, ihre Geschicklichkeit. Darum würde ich Sie bitten, 3 Tage probeweise zu arbeiten. Danach wissen wir beide was wir voneinander zu halten haben. Was meinen Sie zu diesem Vorschlag. Wäre das möglich für Sie?» Carlotta strahlte über das ganze Gesicht, «ja, ja, ja, ja! Das würde mir gefallen. Wann soll ich denn anfangen?» «Was halten Sie von sofort?» «Hm, das überrascht mich nun ehrlich gesagt etwas, aber eigentlich, wo ich doch schon mal hier bin, ist das auch in Ordnung», fand Carlotta. «Dann sind wir uns ja einig, darf ich Sie Carlotta nennen?» Zustimmend willigte Carlotta mit einem Handschlag ein. «Na dann wollen wir auch keine Zeit mehr verlieren. Bitte kleide dich um. Dann geh bitte in die Backstube und sorge für frische Brötchen und Marzipanhörnchen für unsere Gäste. Gleich wird es hier voll. Wir erwarten unsere Frühstücksgäste. Ich habe ein Auge auf dich. Versuche ansonsten allein und eigenständig zu arbeiten. Bei Fragen kommst du natürlich zu mir. Viel Glück, Carlotta!»
In kurzer Zeit war Carlotta umgezogen. Langsam füllte sich das Lokal. Also hieß es, ins kalte Wasser zu springen und den ersten Gast in Empfang zu nehmen. Ein älterer Herr mit wallenden, grauen Haaren im Kamelhaarmantel betrat das Café. Sorgsam putzte er sich die Stiefel auf der dafür vorgesehenen Matte ab. Ein wenig Schnee hatte er von draußen mit hereingebracht. Carlotta ging auf ihn zu, lächelte ihn freundlich an und wies auf einen kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Der Herr bedankte sich, ließ sich den Mantel abnehmen und nahm seinen Platz ein um die von Carlotta gereichte Speisekarte durchzusehen. Weitere Gäste betraten das Lokal. Carlotta hatte 4 Tische zu bedienen. Sie geleitete vier Damen, die offenbar täglich hier frühstückten an einen Fensterplatz. Von den Wänden schienen Puppenmasken das Café zu beobachten. Manchmal bekam Carlotta eine Gänsehaut, dabei war es gar nicht kühl. Hm, sie würde doch nicht ausgerechnet heute krank werden? Der Herr am Einzeltisch bestellte Marzipanhörnchen und Milchkaffee. Carlotta beeilte sich, ihn zu bedienen. Man konnte ihm seine Zufriedenheit ansehen während er in sein warmes Hörnchen biss. Ja, so sollten sich also die Gäste fühlen.
Die Damenrunde hatte auch gewählt. Auf dem Weg in die Küche erstarrte Carlotta. Plötzlich hatte sie das Gefühl die Augen einer Puppenmaske wären lebendig und hätten sich in ihre Richtung bewegt. Sie starrte mit offenem Mund auf die Maske. War sie jetzt schon gestresst? Warum hatte sie so dumme Gedanken? Alles war in bester Ordnung. Sie musste sich konzentrieren um ihre Gäste zu bewirten. Sie lieferte die Bestellungen in der Küche ab und nahm dort das Tablett mit dem Frühstück für vier Personen in Empfang. Liebevoll arrangierte sie Kerzen, Geschirr, Besteck, Servietten auf dem Tisch. Die Damen waren zufrieden und tranken Tee zum Frühstück. Nun hatte Carlotta eine kleine Verschnaufpause und beobachtete die Gäste. Hinter dem Tresen legte Greta frische Waffeln auf einen Teller. Es duftete köstlich. Die Damen waren in guter Stimmung. Neben ihrem Tisch stand ein alter Puppenwagen aus Korb mit einer Babypuppe darin. Eine ganz in Pink gekleidete Dame vom Frühstücksstammtisch nahm die Puppe heraus und wiegte sie kurz in ihren Armen. Als jedoch die jammernde Mamastimme erklang, erschrak die Frau so, dass sie die Puppe fallen ließ. Schnell wurde sie wieder aufgehoben. Ihre Freundinnen lächelten. Jede von ihnen konnte sich noch gut an ihre eigene Puppe erinnern. Damals hatten sie noch keine Sprachaufnahmen und Abspielgeräte in ihren Puppenbäuchen, es erklang nur das weinerliche „Mama“ wenn man die Puppe bewegte. Vorsichtig wurde das Spielzeug wieder zurück gelegt. Oh, offenbar gefiel es Greta gar nicht, wenn man ihre Dekorationen in die Hand nahm. Sie wirkte erschrocken und runzelte die Stirn. Naja, alles war ja inzwischen wieder in Ordnung. Es gab eigentlich keinen Grund mehr um in irgendeiner Weise einzugreifen.
Ein junger Mann betrat das Café mit offenem Mantel. Er sah gar nicht verfroren aus. Carlotta begrüßte ihn freundlich und bat ihn Platz zu nehmen an einem Tisch gegenüber einer Vitrine mit zwei in Trachten gekleideten Puppen. Die hätten auch gut in ein Museum gepasst. Carlotta servierte dem jungen Mann einen Pfannkuchen mit Zwetschgenmarmelade und Puderzucker. Sie konnte sehen wie gut es ihm schmeckte, fast konnte sie es hören und sie lächelte dabei in sich hinein.
Die Damen baten nun um die Rechnung. Greta wollte zunächst das Kassieren noch selbst übernehmen. Für jeden Gast brachte sie mit der Rechnung noch eine kleine Überraschung, in diesem Fall war es Vanillecreme in kleinen Förmchen, die mit leckeren kandierten Beeren dekoriert worden war. Es war schon Mittag und die Zeit war wie im Flug vergangen. Carlotta hatte sich schnell eingearbeitet und auch schon alle Mitarbeiter kennen gelernt. Da war Ramon in der Backstube, der schwarze Augen hatte wie ein Kobold. Sie schienen jeden zu erforschen und bis in Carlotta’s Innerstes schauen zu können.
Gaston dagegen war sehr lustig und sang bei der Arbeit. Alle Mitarbeiter waren gut aufeinander eingespielt und jede Bestellung wurde von Ramon und Gaston in Nullkommanichts auf Tabletts in eine kleine Durchreiche gestellt. Von dort wurden die Speisen von den Servierkräften abgeholt und an die Tische gebracht. Das Kassieren und das Servieren von der Abschlussüberraschung ließ Greta sich nicht nehmen. Mit verzücktem Gesicht schlemmten die Damen und naschten an ihrem Dessert.
Carlotta taten die Füße weh. An einigen Tischen im Lokal stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich beobachtet. Nein, es war auch nicht der junge Mann, der sie gelegentlich verstohlen anblickte. Es war, als hätte das Café Augen. Ja, das Haus hatte etwas lebendiges an sich. Vielleicht zog grade diese Tatsache so viele Gäste an. Oh, die Damen hatten bezahlt und verließen das Lokal. Carlotta machte sich daran, den Tisch für die nächsten Gäste herzurichten. Ja, so gefiel es ihr, perfekt eben. Oh, ihr Blick fiel auf den alten Puppenwagen. Die Babypuppe lag etwas schief darin und die Stirn war angeschlagen und hatte ein großes Loch. Carlotta nahm sie heraus und brachte sie zu Greta. Wie vom Donner gerührt starrte Greta auf die Puppe. Ganz blass war sie geworden und sie schimpfte leise. « Als wenn es nicht genug ist, das man die Seelchen ansehen darf. Nein, es muss an ihnen gerissen, sie müssen geschüttelt und hingeworfen werden. Es ist nun schon das zweite Kind innerhalb von 2 Tagen. Achtlos wieder zurück gestopft in den Puppenwagen hat man dich, mein Kleines !» Greta schüttelte den Kopf während sie die Puppe nahm. «Wir wollen sehen, ob der Doktor etwas für dich tun kann.» Liebevoll ging sie mit der kaputten Puppe in die Backstube. Carlotta blieb verdutzt zurück. Naja, es gab noch genug zu tun. Zum langen Nachdenken blieb da keine Zeit. Etwas komisch hatte Greta aber reagiert. Am späten Nachmittag wurde das Lokal noch aufgeräumt. Carlotta streichelte hier einer Puppe über ’s Haar, dort stupste sie einem Teddy das Näschen. Sie lächelte dabei. Das einzig unangenehme war das Gefühl, beobachtet zu werden von vielen Augen, von Greta, von Ramon und von Gaston, wenn sie in der Backstube etwas abholte oder Hilfstätigkeiten dort ausführen musste.
Bald war der erste Tag wie im Flug vergangen. Greta lächelte sie an und sagte ihr, das sie fürs Erste sehr zufrieden mit ihr wäre und sich sehr freuen würde, wenn sie am nächsten Morgen wieder käme. Das bestätigte Carlotta und wurde für diesen Tag mit einem kleinen Vorschuss belohnt. Sie zog ihre normale Kleidung wieder an und machte sich auf den Heimweg.
Die kleine Boutique hatte noch geöffnet und tatsächlich fand sich dort ein weicher, roter Wollmantel im 20-Jahre Look mit kleinem Bubikragen und lackschwarzen Knöpfen sowie eine passende Mütze dazu. Strahlend und glücklich verließ Carlotta das Geschäft, fuhr mit der Straßenbahn die wenigen Stationen bis zu ihrer kleinen Wohnung. Zu Hause bereitete sie sich noch einen kleinen Imbiss zu, kochte sich Tee dazu und schlief nach dem Essen vor dem Fernsehgerät ein. Mitten in der Nacht wachte sie halb erfroren auf und flüchtete aus dem kalt gewordenen Wohnzimmer in ihr kuschliges Bett um dort sofort weiter zu schlafen.
Als der Wecker klingelte, musste sich Carlotta zunächst orientieren. Ja, sie musste ja aufstehen. Ach, wie warm und gemütlich es doch war morgens im Bett. Ein Bein probierte schon mal die Außentemperatur. Naja, das zweite folgte. Kurz danach stand Carlotta auf, duschte unter regenbogenfarbigen Wasser und anregendem Radioprogramm. Währenddessen lief schon mal in der Küche der Kaffee durch.
Vorm Spiegel legte Carlotta heute besonderen Wert auf ihre Frisur. Sie wollte genau so aussehen, wie Greta es von ihr erwartete. Ja, noch 2 Spangen für die vorwitzigen Locken im Nacken. So war es perfekt und gepflegt.
Carlotta ließ sich ihr Frühstück schmecken. Es gab eine Tasse Kaffee und Toastbrot mit Butter und Quittengelee. Schnell noch den neuen Mantel anziehen und die Mütze aufsetzen. Sie fühlte sich wie ein anderer Mensch.
Die Straßenbahn war voll wie immer, aber Carlotta hatte Glück und bekam gleich einen Sitzplatz. Am Stadtpark angekommen, schritt sie schnell aus. Mit einem Lächeln im Gesicht ging sie auf das Puppencafé zu. Der Ring am Löwenkopf wurde betätigt und sie erwartete Greta, so freundlich wie am vergangenen Tag.
Greta öffnete mit blassem und völlig verweintem Gesicht.
«Bitte, tritt ein Carlotta! Es gibt auch heute wieder viel zu tun. Zieh dich schnell um und hilf dann heute zunächst in der Backstube, die Marzipanhörnchen sind noch nicht fertig.» «Ja, gern Greta, geht es Ihnen gut, kann ich Ihnen helfen? Sie sind so blass!» «Nein, Carlotta, dankeschön, es ist alles in Ordnung. Nur leider ist nun auch meine zweite Puppe gestorben, denkst du noch an sie? Erinnere dich, gestern war sie auf den Kopf gefallen. Leider konnte auch Ramon nichts mehr für sie tun. Das Loch im Kopf ist durch nichts zu reparieren.» Fassungslos starrte Carlotta Berta an. «Aber Greta, Puppen sterben doch nicht, ja, sie gehen kaputt, aber Sterben kann man doch nur, wenn man lebendig ist.» «Ja, allerdings!», bekräftigte Greta.
« Welche andere Puppe meinen Sie denn, Greta?»
«Mir fiel gestern auf, wie liebevoll du auch mit allen Puppen hier umgehst. Das gefiel mir sehr gut. Ja, leider ist vorgestern ein Lieblingskind von mir so unglücklich gefallen, das sie komplett zersprungen ist. Mechthild, meine kleine Mechthild mussten wir begraben. Nun ist ihr Kamerad allein, ein übrig gebliebenes, armes Hampele, armes Hampele!»
Was war das nur? Gestern erschien Greta ihr völlig normal zu sein. Heute schien sie verstört, ja fast verrückt. Was soll’s! Jetzt musste erst mal die Arbeit getan werden. In der Backstube duftete es schon sehr lecker. Ramon begrüßte sie ein wenig barsch, dabei war sie hier um ihm zu helfen. «Guten Morgen, Carlotta!, bitte koch heute für unsere Stammgäste, die jeden Morgen zum Frühstück erscheinen die kleine Überraschungsnachspeise. Es ist ein Leichtes. Du nimmst dazu 6 Eigelb, 150 g Zucker, 6 EL Kirschwasser 1 l Schlagsahne und 6 Eiweiß. Das Eigelb rührst du so lange mit dem Zucker bis es schön gelb ist, dann mischt du das Kirschwasser unter. Die Sahne wird sehr steif geschlagen und mit den Zutaten gemischt. Zuletzt wird das geschlagene Eiweiß unter gerührt. Carlotta war begeistert, das man ihr jetzt schon so viel Kunstfertigkeit zutraute, um die Überraschungsspeise zuzubereiten. Sie wollte alles perfekt machen.
«Ja, gern Ramon, ich bekomme das hin. Welches sind denn heute unsere Stammgäste?» «Ach, ich glaube, du hast sie schon gestern am frühen Morgen gesehen. Es ist so eine Damenrunde, die hier regelmäßig einkehrt und für heute haben sie den Fenstertisch gebucht neben dem Puppenwagen.» «Ach ja, da saßen sie gestern auch, nur schade, dass der Puppenwagen nun leer ist.» Ramons Gesicht erstarrte zur Maske. Besser war wohl, Carlotta machte sich nun an die Arbeit als zu viel zu reden. Offenbar hatte auch Ramon noch genug Arbeit.
Im Haus am krummen Bach, quälte sich der einsame und traurige Alois Becker aus dem Bett. Die Welt hatte sich für ihn verändert. Von jetzt auf gleich, war er allein. Dabei hatte seine Frau ihm alles bedeutet. Er konnte einfach nicht begreifen, was mit ihr passiert war. Die Klingel schrillte so laut, das er zusammen fuhr. Er zog sich den alten, blauen Bademantel über seinen Pyjama und öffnete die Tür. Mit ernsten Gesichtern standen zwei Beamte vor der Tür. «Herr Becker? Dürfen wir herein kommen?» «Ja, bitte! Treten Sie ein. Es gibt ja gar nichts mehr zu reden. Es gibt nichts mehr zu tun, alles ist so sinnlos geworden. Was wollen Sie denn noch von mir?» « Herr Becker, wir müssen Sie mitnehmen. Ihre Frau ist vergiftet worden. Man hat in ihrem Körper Rückstände des starken Gifts Atropa belladonna gefunden.» Herr Becker starrte die Beamten fassungslos an. « Bitte ziehen Sie sich etwas an, wir müssen sie mitnehmen aufs Präsidium. Sie werden vernommen.» Herr Becker fragte ungläubig...«Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?» « Zur Zeit können wir noch niemanden als Verdächtigen ausschließen» Mit hängendem Kopf wurde Herr Becker ins Präsidium gebracht und von zwei Beamten lange verhört. Immer wieder wollten Sie wissen, ob es eine glückliche Ehe war, die sie geführt hatten. Nach langen Beteuerungen darüber bohrten die Polizisten in seinem Gedächtnis, wann denn eigentlich die seltsamen Veränderungen bei seiner Frau angefangen hätten.
« War Ihre Frau in Behandlung bei einem Psychiater» «Nein, sie war so wenig verrückt wie Sie oder ich! Alles begann doch erst, als ihr diese blöde, alte Puppe aus der Hand fiel und der Kopf am Boden zerschellte. Danach war unser sonst so schönes Beisammensein im Café nicht mehr nett.» « Was haben Sie ihrer Frau in den Cappuccino gemischt? Geben Sie es zu!» Nichts und wieder nichts! Wir haben nur noch den Überraschungsnachtisch gemeinsam gegessen.» Hellhörig geworden, hakten die Beamten nach, «wie sah der denn aus?» « Es war ein einfacher Vanillepudding mit leckeren kleinen Beeren!!!» « Das ist es!!!, los komm, wir müssen sofort ins Café. Der Polizist riss förmlich seinen Kollegen mit sich. Es könnte sein, das der Täter flüchtete. Mit Blaulicht rasten sie durch die Straßen in Richtung Stadtpark und rannten bewaffnet ins Puppencafé, Hausdurchsuchung! Das Wort genügte um alle Anwesenden aus ihrem Gespräch zu reißen. Gerade servierte Carlotta der Damenrunde das Kirschparfait, welches von Ramon persönlich mit den leckeren schwarzen Beeren verziert worden war. Die in pink gekleidete Dame, führte die Gabel mit abgespreiztem kleinem, dicken Finger zum Mund. Mit rohem Griff wurde ihre Hand von einem Polizeibeamten festgehalten. Ihre Entsetzensschreie hallten durch das Café und noch weithin in den Stadtwald. Ihre dünnen pinkfarbenen Lippen zitterten als sie nach der Polizei rief.
Mit hartem Griff fasste der Beamte nun Carlotta an. Zeigen Sie mir sofort, wer diese Speise zubereitet hat und wo die Lebensmittel stehen. Carlotta war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen. Sie gehorchte, brachte den Polizisten in die Bachstube, zeigte das Rezept, dann die Zutaten und die kleinen beschrifteten Gläschen mit den Beeren....Herzkirschen, eingelegte Pflaumen, kandierte Kirschen, Schönefraubeeren. «Ich habe das Parfait zubereitet und Ramon hat es dekoriert»
Dem Polizisten dämmerte es...ja, Belladonna, Schönefraubeeren sind Tollkirschen, sie haben ein tödliches Gift in sich. Wenn wir die Aussage von Herrn Becker nicht gehabt hätten, wären wir nie auf Sie gekommen.
Ramon und Greta standen Hand in Hand. Greta weinte,« diese unbarmherzigen , unachtsamen, dicken Frauen mit ihren fetten Händen. Sie haben meine Kinder getötet. Darum sollten sie auch sterben.»
Carlotta begriff erst jetzt und erklärte: Die Puppen waren für Greta ihre Kinder. In den letzten Tagen sind zwei Puppen zerstört worden aus Unachtsamkeit. Dann wäre wohl heute die Dame in Pink gestorben. Ihr fiel gestern eine Puppe aus der Hand und zerbrach. Carlotta fühlte sich fast als Mittäterin. Zum Glück war die Polizei noch rechtzeitig gekommen.
Das kinderlose Ehepaar wurde in Handschellen abgeführt. Leise bat Greta Carlotta, das Café weiter zu führen. Sie wäre genau die Richtige, um für ihre Kinder zu sorgen. Mit traurigem Blick sah Carlotta den beiden nach.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2009
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