Jeder, wirklich jeder im Raum sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich war mir jedoch sicher mit meiner Entscheidung. Es gab so viele Leute in meinem Land, so viele Menschen, die im Krieg kämpften oder um einen bangen mussten, der ebendies tat. Wenn ich meinen Landesgenossen damit helfen konnte, auf eine Akademie zu gehen und mich als Junge auszugeben, dann würde ich dieses Opfer mit Freuden auf mich nehmen. Was galt denn ein einziges Leben in Hinsicht auf einem ganzen Volk? Außerdem hatte ich sofort bei meinem ersten Zusammentreffen eine Art Beschützerinstinkt für meinen Bruder entwickelt. Und dieser war eindeutig nicht in der Lage, selbst dorthin zu gehen. Und noch dazu kam, dass mein ganzes Leben so ereignislos verlaufen war, so langweilig. Ich hatte die Nase voll, Tag für Tag das Selbe zu durchleben. Ich wollte endlich richtig anfangen zu leben und nicht von den alltäglichen Wiederholungen eingeengt werden.
Meine Eltern sahen das Ganze aber leider nicht ganz so wie ich. Ihre Meinung hatten sie ja davor schon ziemlich deutlich gemacht, waren dabei jedoch höflich geblieben. Jetzt hingegen waren die guten Manieren komplett in den Hintergrund getreten. Ohne sich um mögliche spätere Folgen Gedanken zu machen, fingen sie an, wütend auf den König einzureden, obwohl ich es war, die meine Meinung gesagt hatte.
,,Was wollt Ihr für ein Herrscher sein? Geschweige denn für ein Vater? Dass Alison auf die Akademie geht ist so abwegig und absurd, das kann doch nicht Euer Ernst sein! Habt ihr denn den Hauch einer Ahnung, was dort alles passieren kann? Wie sehr sie sich verletzen könnte? Habt ihr gehört, wie es den anderen Jungen ergangen ist, die dort waren? Wie angeschlagen sie nach einem Aufenthalt waren? Wie könnt Ihr nur so skrupellos das Leben Eurer eigenen Tochter aufs Spiel setzen?"
Der König hingegen blieb ganz gelassen und ließ die Beiden ihre Schimpftirade bis zum Ende durchführen. Es war Derek, der meine Eltern unterbrach. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er wieder wach war, daher zuckte ich zusammen, als ich ihn sprechen hörte. ,,Denkt Ihr nicht, dass Eure Tochter alt genug ist, selbst zu entscheiden, was sie tun und lassen will? Ihr redet über sie, als wäre sie ein Kleinkind. Sie wird in zwei Wochen sechszehn und wenn ich mir Liz so anschaue, merke ich, dass sie reif genug ist, ihr Leben in ihre eigenen Hände zu nehmen." Ich versuchte, meine Körperhaltung und meinen Gesichtsausdruck diesen Worten anzupassen, um das Bild nicht zu zerstören, dass er da gerade von mir machte. Währenddessen überlegte ich, was ich meinen Eltern sagen könnte, um sie zu überreden, mich gehen zu lassen. Da mir einfach nichts einfallen wollte, nahm ich mir vor, es einfach mit der Wahrheit zu versuchen. Was konnte denn schon passieren? Beide waren bereits negativ eingestellt, also konnte ich sie höchstens umstimmen. Und ich hoffte, dass ich genau das fertigbringen würde.
,,Mutter, Vater, hört mir bitte zu", sprach ich die Zwei direkt an, bevor sie Derek etwas erwidern konnten. ,,Ihr seid die beiden Menschen, die mich am besten kennen. Ihr wisst dass ich euch liebe, daher kann euch nicht verborgen geblieben sein, dass ich mich in letzter Zeit ein wenig..." Ich suchte einen Moment lang nach dem richtigen Wort, um meine Eltern nicht zu verletzten. ,,...unvollständig fühle. Versteht mich bitte nicht falsch, bei euch hat es mir nie an etwas gefehlt und ich habe eine wahnsinnig glückliche Kindheit bei euch verbracht, die wirklich schönste, die man haben konnte. Aber ich bin einfach nicht der Typ Mensch, der sich ein ruhiges Leben aufzubauen kann um dann ganz normal zu leben. Ich kam mir so oft wie eine unter vielen vor, weil alle dasselbe Leben haben wie ich. Genau das will ich aber nicht, dieses Gefühl, komplett in der Masse zu verschwinden, ich will ich selbst sein und mein eigenes Leben aufbauen, meine eigene Existenz in ihrem Verlauf bestimmen. Ich bin einfach nicht dafür geschaffen, zu Hause zu sitzen und mein Leben in geordneten Bahnen an mir vorbeifließen zu lassen und mich diesen anzupassen. Ich will etwas erleben, etwas Besonderes um mir selbst beweisen zu können, wer ich bin. Ich möchte zu mir selbst finden und meine eigene Persönlichkeit entwickeln. Wenn man jedoch einfach nichts erlebt, ist das nicht möglich. Ich denke, dass ich mein ganzes Leben lang auf eine Chance wie diese hier gewartet habe. Nicht bewusst, aber dieser Drang nach etwas Neuem und Abwechslung war schon immer sehr ausgeprägt. Ich hoffe, ihr versteht das. Und wenn euch das nicht reicht, dann denkt an die Leute da draußen; an all die Menschen, für die der Geburtstag des Prinzen eine große Hoffnung ist, vielleicht die Einzige, die sie noch haben. Was ist, wenn selbst diese ihnen genommen würde? Wenn sie aufhören würden, an einen möglichen Sieg zu glauben und aufgeben? Wenn all die Opfer, all die gefallenen Soldaten umsonst gewesen waren? Ich kann das meinem Volk nicht antun. Wenn ich nur auf eine Kampfschule zu gehen habe und dort mein Bestes geben muss, dann werde ich diese Aufgabe mit Stolz auf mich nehmen, und das ohne zu zögern."
Jetzt, nachdem ich das ausgesprochen hatte, was ich schon lange auf dem Herzen hatte, fühlte ich mich...schon fast befreit. Ich wusste nicht, dass diese Worte eine solche Last für mich gewesen waren. Im Grunde genommen wusste ich noch nicht einmal, dass ich so gefühlt hatte. Aber nachdem ich einmal angefangen hatte, mich auszudrücken, wollte der Fluss an Wörtern nicht stoppen, bis alles weg war.
Wie sich herausstellte, war ich nicht die Einzige, die nichts von diesen Gedanken wusste. Auch meine Eltern und König Dameuds sahen mich mit einer Mischung aus Verwunderung, Angst, Erstaunen, Verblüffung und sogar ein wenig Ehrfurcht an, was mich vor lauter Verlegenheit rot anlaufen ließ.
Der Einzige, der mich mit einem wissenden Blick bedachte, war Derek. Leise und nur für mich hörbar, flüsterte er ein ,,Gut gemacht!" in meine Richtung.
Mein Vater war der Erste der drei Erwachsenen, der sich wieder fassen konnte. ,,Aber...weshalb hast du nie etwas gesagt? Ich hatte keinen blassen Schimmer, dass du so empfindest!" Fragend und schon fast ein wenig anklagend blickte er mich an, sodass ich nicht wusste, wie ich auf seine Aussage reagieren sollte.
Doch unerwartet bekam ich Hilfe von meiner Mutter. ,,Es ist doch nicht Liz' Schuld, dass wir nichts gemerkt haben. Außerdem ist das ja auch nicht wirklich wahr. Haben wir nicht neulich erst davon gesprochen, dass sie ständig eine innere Unruhe mit sich zu tragen scheint? Dies ist doch nur eine Bestätigung davon. Es war uns doch schon seit geraumer Zeit klar, dass Liz einmal ihren eigenen Weg gehen würde, nur ist eben dieser Fall anscheinend früher eingetroffen, als wir geplant hatten.
Sie wandte sich nun direkt an mich. ,,Ich weiß, dass du erwachsen genug geworden bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich verstehe, was du fühlst, obwohl ich nicht denke, dass du keine Persönlichkeit hast. Im Gegenteil, deine ist sogar ziemlich stark. Aber du hast Recht, du musst selbst herausfinden, wer du bist, und das kann man nur alleine, da können wir dir nicht helfen. Wir erlauben dir auf die Akademie zu gehen." Sie stoppte meinen Vater, der sie unterbrechen wollte, mit einem einzigen Blick. ,, Viel Glück bei deiner Suche und bei deiner Mission. Ich bin mir sicher, dass du alles schaffst, was auf dich zukommen wird, und das so gut, dass du nicht nur uns, sondern ganz Sarafina mit Stolz erfüllen wirst."
Mit diesen Worten trat sie vor und umarmte mich fest. Ich klammerte mich an sie und bedankte mich von ganzem Herzen, während sie mir beruhigend über meinen Rücken strich. Dann wandte ich mich meinem Vater zu, in dessen Augen Tränen waren. In seinem Blick spiegelten sich Widerwillen, Stolz und die Art Traurigkeit wieder, die man verspürte, wenn man eine geliebte Person gehen lassen musste. Ich wusste, dass er akzeptiert hatte, dass ich wirklich in Auftrag des Königs auf die Akademie gehen würde und schloss ihn voller Freude und Dankbarkeit in die Arme.
Dann erst wurde mir klar, was ich da eigentlich gerade ausgelöst hatte. Ich würde als einziges Mädchen auf eine Jungenschule gehen, in der mir das Kämpfen beigebracht werden würde. Und ich würde mich nicht nur als normaler Junge, sondern als der Prinz höchstpersönlich ausgeben! Das alles kam mir in dem Moment so unmöglich und weit entfernt vor, und doch war ich mir diesen Tatsachen vollkommen im Klaren. Denn ich hatte gerade die erste richtig große Entscheidung meines Lebens getroffen, die nicht nur Auswirkungen auf mich haben würde, sondern auf ganz Sarafina und ich hoffte sehr, dass ich sie nicht bereuen würde.
Danach passierte nicht mehr viel. Meine Eltern handelten schnell mit dem König aus, dass wir innerhalb der nächsten zwei Tage in den Palast ziehen würden, da ich anscheinend noch viel zu lernen hatte. Schließlich musste ich mir alles aneignen, was Derek ausmachte. Das würde schwerer werden als gedacht, ich hatte ja nur zwei Wochen Zeit, die ganzen Manieren zu lernen, für die Derek sein ganzes Leben gebraucht hatte.
Trotzdem freute ich mich. Ich meine, ich habe gerade herausgefunden, dass ich einen Zwillingsbruder hatte! Wie gerne würde ich ihn besser kennenlernen... Wir hatten zwar miteinander geredet, aber aufgrund seines Zustands mussten wir immer wieder kleine Pausen einlegen. Er hat mir erzählt, dass er der Ältere von uns beiden war und schon seit langer Zeit von mir wusste. Bevor er krank wurde, ist er ein paar Mal aus dem Palast ausgerissen und hatte nach mir gesucht. Gefunden hat er mich zwar nie, aber es hatte ihm das Gefühl gegeben, mir näher zu sein.
Wir waren gerade mitten im Gespräch über unsere Gewohnheiten und Freunde, als meine Eltern mir sagten, dass es Zeit wäre, aufzubrechen.
Enttäuscht sahen wir uns an. Ich versprach so bald wie möglich wiederzukommen, am besten gleich morgen. Er lächelte und ich umarmte ihn kurz. „Bis bald“, flüsterte ich ihm ins Ohr und stand dann auf. Vor König Dameuds blieb ich kurz stehen und sah ihn zögernd an. Wie verabschiedete man sich bei jemandem, von dem man erfahren hatte, dass er der leibliche Vater war, aber auch der König? Er nahm mir die Entscheidung ab und drückte mich kurz an an sich. Als er mich wieder losließ, hatte er Tränen in dern Augen. „Ich bin so stolz auf dich“, sagte er. „Und deine Mutter wäre es ebenso. Du bist ihr so ähnlich, deine Haltung, die Art wie du sprichst...“ Er lächelte kurz und wandte sich dann an meine Eltern. „Vielen, vielen Dank, dass Ihr dem zugestimmt habt. Ich weiß wie schwer es ist, sein Kind ins Ungewisse ziehen zu lassen, Ich weiß es nur zu gut...“ Seine Stimme brach ab und sein Blick verschwand ins Leere. Dann schüttelte er den Kopf, als wolle er einen unnützen Gedanken vertreiben und leitete uns zurück nach draußen.
Nach noch einer Verabschiedung gingen wir schließlich nach Hause. Jeder von uns war in seine eigenen Gedanken vertieft. Erst als wir in unserem Haus angekommen waren, sprach mein Vater zu mir. „Liz, du weißt, dass ich deine Entscheidung sehr bewundere. Ich will nur noch einmal fragen, ob du dir denn auch vollkommen sicher bist. Wenn du jetzt ins Zweifeln gekommen bist, dann ist es kein Problem, alles wieder rückgängig zu machen, in Ordnung?“
Doch ich lächelte ihn nur an. Meine Entscheidung war gefallen. Wir würden morgen in den Palast ziehen.
Eine Woche später.
Ich sah in den Spiegel. Ich sah aus, wie Derek. Mir waren gerade die Haare geschnitten worden, ich glich meinem Zwillingsbruder jetzt wie ein Ei dem anderen. Aufgrund meiner jungenhaften Figur würde niemandem auffallen, dass ich nur eine Doppelgängerin war. Auch meine Kleidung hatte ich seinem Stil angepasst. Ich trug eine weite braune Hose, und darüber eine rote Tunika mit einem Gürtel. Ich hatte seinen Gang angenommen und ich sprach wie er. Sogar sein Tonfall glich meinem.
Das einzige, was ich nicht hinbekam, waren die Tischmanieren. Ich verstand immer noch nicht warum man zwanzig verschiedene Löffel, Gabel und Messer brauchte, um zu essen.
Aber ich wurde immer besser und mir war sowieso bereits klar, dass ich mir innerhalb von zwei Wochen nicht alles lernen konnte, was einen Prinzen ausmachte.
Ich sah nach draußen, das Wetter war traumhaft. Heute hatte ich wieder Kampftraining, ich würde meinen Lehrer, Kilian, fragen, ob wir draußen trainieren könnten.
Kilian war kaum älter als ich, jedoch beherrschte er das Schwert mit seinen achtzehn Jahren wie kein Zweiter. Aber man musste auch sagen, dass ich ebenfalls nicht die Schlechteste war. Was mir an Kraft fehlte, machte ich mit Schnelligkeit wieder wett. Ein paar Angestellte im Haus, die mir immer wieder halfen, hatte ich schon geschlagen. Ohne Zweifel konnte ich sagen, dass ich mich hier ziemlich wohl fühlte.
Gerade ging ich die Treppe herunter, da traf ich Derek unten. In einem Rollstuhl, wie er das Gerät nannte, fuhr er manchmal durch das Haus, wenn es ihm mal besser ging.
„Hey, warte auf mich!“, rief ich und holte ihn schnell ein. „Hast du Lust mit mir raus zu gehen? Du kannst ja zusehen und dich bräunen.“
Er grinste. „Man muss schon sagen, du hast echt eine wahnsinnig feinfühlige Art, jemandem zu sagen, dass er zu blass ist“, meinte er sarkastisch, nickte dann aber und folgte mir zu Kilians Quartier. „Können wir heute nach draußen gehen, um zu trainieren?“,fragte ich ihn gleich, nachdem er die Tür öffnete.
Kilian lächelte. „Das selbe wollte ich dich fragen. Dann verneigte er sich kurz vor Derek. „Kommt Ihr mit? Seid nicht zu erstaunt, denn Eure Schwester verwandelt sich in eine wirklich andere Person, wenn sie kämpft.“
„Na dann darf ich das ja um keinen Preis verpassen“, meinte Derek und wir gingen zusammen nach hinten. Mittlerweile schob ich meinen Bruder, schlie´lich wollte ich nicht, dass er sich überanstregte.
Als wir draußen angekommen waren, stellte ich ihn in unter einen Baum, damit er nicht zu sehr schwitzte. „So viel also zu bräunen“, grinste er und ich schlug ihm leicht auf den Arm. „Ach sei still“, sagte ich und lachte.
Dann ging ich zu Kilian, der mir mein Schwert reichte. Ich benutzte ein relativ leichtes, jedoch sehr scharfes. Zuerst gab es ein paar Aufwärmübungen; er zeigte mir, wo ich zustechen musste, um jemanden kampfunfähig zu machen, oder welchen Nerv ich treffen musste, um ihn zu Fall zu bringen. Wie ich jemanden tötete, wurde mir noch nicht gezeigt. Ehrlich gesagt brannte ich auch nicht unbedingt darauf, es zu erfahren.
Nachdem diese Lektionen abgeschlossen waren, fing der freie Kampf an. Derek machte die ganze Zeit sarkastische Bemerkungen, die zwar lustig, aber auch ablenkend waren. So dauerte es nicht lange, bis Kilian mich entwaffnet und zu Boden gebracht hatte.
Ich drehte mich um. „So Derek? Zufrieden? Jetzt habe ich also....“ Ich brach ab und rannte zum Baum. Derek lag reglos in seinem Stuhl, die Augen offen, jedoch ins Leere blickend. Ich fasste sein Handgelenk an und suchte verzweifelt anch einem Puls.
Doch ich fand keinen.
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2011
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