Prolog
Der Junge rannte so schnell er konnte in den Wald hinein. Sein Atem war meilenweit zu hören, so kam es ihr vor, er keuchte unglaublich stark; sie wusste, er würde nicht mehr lange durchhalten können. Es war ihr von Anfang an klar gewesen. Ein Sterblicher hatte doch nicht den Hauch einer Chance gegen sie. Allein der Gedanke war lächerlich. Nicht, dass es jemanden wie sie noch einmal geben würde. Sie war ein Unikat, ein Einzelstück – doch es machte ihr nichts aus.
Der Junge war mittlerweile stehen geblieben. Er hatte es aufgegeben, sich in der Hinsicht Durchhaltevermögen mit einem derart übermächtigen Feind zu messen – stattdessen versuchte er etwas viel närrischeres: Er kletterte auf einen Baum und versteckte sich. Als würde sie ihn nicht bemerken. Seine Körperwärme war kilometerweit zu spüren, sein Geruch war ohnehin unignorierbar und der Atem – nun dazu kein Kommentar. Die ganze Aktion war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie wusste es, und er wusste es auch.
Aber es war nicht ihr Problem. Sie war gekommen, um einen einfachen Befehl auszuführen : lösche diesen Jungen aus. Es war ihr vollkommen gleichgültig, ob er es ihr leicht machte, oder seinen Tod verzögerte. Er würde sowieso eintreffen, das war klar.
Sie war mittlerweile direkt unter dem Baum und kletterte hinauf. Er keuchte entsetzt auf – sie war innerhalb von zehn Sekunden auf der Spitze und sah ihn emotionslos an. Sie hatte kein persönliches Interesse an seinem Tod und auch keines an seinem Überleben. So war es jedenfalls, bevor sie ihn angesehen hatte. Doch als sie in sein Gesicht sah, blickte sie plötzlich in...sich. Sie wusste, dass das keinerlei Sinn machte, aber sie sah in ihre Vergangenheit, in die Zeit, in der sie war wie alle anderen – nein, sogar noch weniger. Als sie ein kleines, ahnungslosen, naives Mädchen war, ohne nennenswerte Zukunft und Vergangenheit. Genau die Art von Leute, die sie verabscheute.
Das Problem war, dass nichts davon wahr war. Sie ist nie ein normales Mädchen gewesen, nur äußerlich sah sie aus wie ein Mensch. Sie hatte diese Momente, die sie durch den Jungen mitansah, nie erlebt. Und doch....fühlte es sich so real an, abstoßend und doch faszinierend, etwas wie eine Vergangenheit zu haben, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde unachtsam war und ihre eigentlich immerwährende Körperspannung vernachlässigte – ein Fehler, den der Junge schamlos ausnutzte. Er rammte ihr ein Messer in den Bauch – warum hatte sie es nicht gesehen...? - und sprang nach unten. Ganz recht, er sprang 25 Meter weit in die Tiefe, federte sich mit einer unmenschlichen Leichtigkeit ab und rannte davon.
Sie lächelte, übrigens zum ersten Mal in ihrem Leben, falls man es denn als solches betrachten konnte, und zog sich das Messer aus dem Bauch. Die Wunde schloss sich sofort wieder. „Vielleicht ist der Junge ja interessanter als es aussah“, flüsterte sie und ein unbekanntes Gefühl stieg in ihr auf. War es Neugier? Oder Belustigung? Sie wusste es nicht. Sie war nie darauf vorbereitet worden, Gefühle in sich zu spüren und zu erkennen. Nur sie bei anderen perfekt einzuschätzen und für ihre Zwecke (beziehungsweise die ihres Chefs) verwenden zu können.
Noch während sie darüber nachdachte, sprang sie ebenfalls ohne Probleme runter und folgte der Fährte des Jungen.
Sie bemerkte nicht die vier Männer, die ihr lautlos folgten.
Ihr fiel auch nicht auf, dass das starke Atmen und die Körperwärme des Jungen verschwunden war und sie nur einem Geruch folgte.
Und sie hatte keine Ahnung davon, dass sie die Dimension gewechselt hatte und sich in einer komplett neuen Welt befand – auf dem Weg in ein neues Leben.
1.Kapitel
Nachdem sie eine Weile der Fährte gefolgt war, ohne den Jungen eingeholt zu haben, bemerkte sie, dass etwas … anders war. Die Luft fühlte sich anders an.... Sie war gestochen scharf und unberührt... Jeder Atemzug fühlte sich so an, als wäre es der erste, der jemals gemacht würde. Es tat ein wenig in der Lunge weh, als wäre sie zu rein, um eingeatmet zu werden; dennoch war sie auf seltsame Weise erfrischend. Und sie kannte diese Luft. Obwohl sie sich eigentlich sicher war, nie zuvor hier in diesem Wald gewesen zu sein.
Dann merkte sie, dass die Spur des Jungen weg war. Sie war vollkommen geschockt. Das war ihr noch nie passiert! Sobald sie jemanden im Visier hatte, war sein Tod sofort eingetreten. Niemals war ihr jemand entkommen. Ratlos sah sie sich um. Sie war immer noch im Wald. Und doch kamen ihr die Bäume ein wenig dunkler und finsterer vor.... Sie sahen beinahe so aus, als wären sie ineinander verwachsen, so dicht standen sie beieinander. Sie schüttelte die Gedanken ab. Das war lächerlich. Es war eben eine andere Stelle als vorhin, kleine Unterschiede waren da unvermeidbar.
Sie dachte darüber nach was sie in den Augen des Jungen gesehen hatte. Was wäre, wenn sie wirklich so etwas wie ein Leben gehabt hätte? Sie erinnerte sich an nichts mehr, was vor der Zeit ihres Trainings war, und es war ihr nie komisch vorgekommen. Sie hatte nie den Wunsch verspürt, anders zu sein. In Ordnung, sie hatte keine Freunde, aber wer brauchte die schon ? Nach einer Zeit findet man doch sowieso heraus, dass diese nur eigennützige Gründe hatten, um mit jemanden herumzuhängen. Sie hatte Jahre damit verbracht, Leute zu analysieren – sie kannte die störrische von Emotionen geleitete Spezies Mensch in und auswendig. Was auch nicht besonders schwer war – sobald man einen eine Weile lang beobachtet hatte, kannte man sie alle. Ihre Mentalität war bei jedem gleich aufgebaut – anscheinend waren sie nicht fürs Nachdenken und klug handeln geschaffen worden. Tja, nicht jeder hatte das Glück, sie zu sein. Und es störte sie nicht. Ihr – was eigentlich? Ihr Chef? Ihr Meister? - meinte immer mit einem ironischen Lächeln, dass sie deshalb so leicht steuer- und manipulierbar wäre. Wer konnte da schon widersprechen?
Plötzlich erklang ein surrendes Geräusch. Geistesabwesend drehte sie sich um und wich dem Dolch aus, bevor er sie an einen Baum hatte nageln können. Sofort auf Alarmbereitschaft sah sie sich um, konnte jedoch nichts erkennen, da die Bäume die Sicht versperrten. Dass tiefe Nacht war, wäre gar kein Problem gewesen, ihre Augen konnten Tag und Nacht gleich gut sehen.
Sie schloss ihre Augen und sandte ihre Sinne aus. Noch etwas, dass die von normalen Menschen unterschied. Sie konnte ihre Umgebung erspüren. Sie erkannte Leben um sich herum und konnte es manipulieren. Das tat sie jetzt mit den vier Männern, deren Seelen sie in der Dunkelheit spürte. Sie versuchte noch, etwas Interessantes in deren Unterbewusstsein zu lesen, jedoch spürte sie nichts außer einer gewissen Vorfreude. Worauf? Aufs Töten? Nur einer....bei einem war es anders. Sie fühlte in ihm eine gewisse Unruhe und....Liebe. Jedenfalls dachte sie, dass es Liebe war. Da sie so etwas nie gespürt hatte, konnte sie es auch nicht genau bestimmen. Sie pflanzte einen Gedanken in seinen Kopf. Das war eine Fähigkeit, die sie mit einer Art Stolz erfüllte. Sie konnte Gedanken in die Köpfe anderer Leute einsetzen oder raus nehmen. Das war in vielen Aufträgen schon ziemlich praktisch gewesen. Diesem Mann gab sie ein 'Komm zu mir' ein. Den anderen schnitt sie die Erinnerung an sich komplett aus dem Gehirn. Sie sollten sich nicht mehr an sie erinnern. Dann schickte sie sie in die entgegengesetzte Richtung.
Der Mann war mittlerweile angekommen. Sie musterte ihn kurz. Dann hielt sie ihre Hände an seinen Kopf. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, da sie unbedingt seine Schläfen anfassen musste, um sein gesamtes Bewusstsein und nicht nur seine Gefühle in sich aufnehmen zu können. Dann erschrak sie.
Er hatte spitz zulaufende Ohren, die nicht nur eng am Kopf anlagen, sondern auch in diesen eingewachsen waren. Seine braunen Haare waren gefärbt; sie waren eigentlich blutrot. Bei genauerem Hinsehen sah sie auch ein wunderschönes, aber kompliziertes lila Muster hinter dem Ohr. Seine Haut leuchtete von innen heraus. Ein einzigartiges Aussehen, sollte man annehmen. Nun, genau das war der Haken. Sein Äußeres war nicht einzigartig.
Er wies genau die selben Merkmale auf wie sie.
2.Kapitel
Erschrocken ließ sie den Kopf des Mannes los. Dieser sah sie ebenso geschockt an. Doch dann wich dieser Gesichtsausdruck aus seinem Gesicht. Stattdessen wurde er sanfter, fast...zärtlich.
„Sarya... Mein Schatz, bist du das wirklich?“ Er sah sie fassungslos an und schien seinen Augen nicht zu glauben. Und obwohl sie keine Anzeichen von Hinterlistigkeit und nichts Böses in ihrem Gegenüber spürte, wich sie mehrere Schritte zurück.
„Wer sind sie?“, herrschte sie ihn an, ganz wieder die Alte. Sie verfluchte sich dafür, sich von ihm entfernt zu haben. Das war ein Zeichen von Schwäche gewesen, und wenn sie eines nicht war, dann schwach. Sie konnte den Mann innerhalb von einer Sekunde komplett vernichten, warum also hatte sie eine derartige Blöße zur Schau getragen?
Der Mann hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, mach dir keine Sorgen, ich will dir nichts Böses“, sagte er und sah sie kopfschüttelnd an. Einen Moment lang blitzte Enttäuschung in seinen Augen auf, glaubte sie, doch der Ausdruck verschwand sofort wieder.
„Das war nicht das, was ich wissen wollte. Sagen Sie mir sofort, wer Sie sind. Warum haben Sie mich vorhin angegriffen? Wer sind Sie und Ihre Männer? Warum sehen Sie so... anders aus? Warum haben Sie mich verfolgt?“ Sie stoppte sich selbst, Sonst hätte die Fragerei gar kein Ende, und sah ihn auffordernd an.
Der Mann schien sich innerlich auf die Antwort vorzubereiten, als wäge er ab, wie viel er ihr zumuten könne. „Hören Sie, ich bin gerade nicht gut gelaunt und ich hasse es auch normalerweise, lange zu warten. Antworten Sie sofort oder bereiten Sie sich auf ihren Tod vor.“
Sie sagte diese Worte komplett emotionslos, im Gegensatz zu den vorherigen. Sie hatte nichts vom Tod des Mannes, doch sie musste weiter und den Jungen töten, sonst bekam sie ernsthafte Probleme. Um die seltsamen Sachen, die hier anscheinend überall waren, musste sie sich später Gedanken machen. Und doch....war sie neugierig. Sie wollte wissen wer er war. Und warum hatte er sie Sarya genannt?
Doch sie würde sich bestimmt nicht von irgendwelchen Gefühlen leiten lassen, daher gab sie dem Mann innerlich noch drei Sekunden.
Dieser schien ihren Entschluss zu spüren. Mit einem Seufzen fing er an zu sprechen. „Hör mal, du fasst das alles falsch auf. Ich bin nicht dein Feind, keiner der Männer hier ist es. Wir sind hier, um dir zu helfen. Du warst lange weg und wir wissen nicht genau, was mit dir passiert ist, dort. Aber du bist wieder zu Hause, du bist wieder in Sicherheit, alles wird gut, in Ordnung?“ Er sah sie lächelnd an, als erwarte er irgendeine besondere Reaktion von ihr.
Anscheinend war er wahnsinnig, stellte sie fest. Als würde er mich kennen. Und was soll das überhaupt mit diesem hier und dort.
Sie hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach, doch aus Erfahrung wusste sie, dass es bei Leuten, die nicht richtig im Kopf waren, nichts brachte, weiter Nachzubohren. Also gab sie diese Frage auf, wollte aber die Andere, die sie weit mehr interessierte, nicht unbeantwortet lassen.
„In Ordnung, denken Sie was Sie wollen, aber warum sehen sie so aus....na ja, wie sie nun einmal ausschauen? Wie ich...?“
Der Mann lachte sarkastisch auf. Ihr fiel auf, dass ihr das Lachen bekannt vorkam. Aber bevor sie sich weiter darauf konzentrieren konnte, woher, warf sie seine Antwort komplett aus der Bahn.
„Das ist ganz natürlich, etwas anderes würde keinen Sinn ergeben, Sarya. Ich bin dein Vater.“
Sie war so geschockt von dieser Antwort gewesen, dass sie die Seele hinter sich erst zu spät bemerkte. Sie spürte nur noch einen festen Schlag auf dem Hinterkopf und dann war alles schwarz.
3.Kapitel
Nein, natürlich wurde sie nicht bewusstlos und wachte erst Ewigkeiten später auf. Stattdessen passierte etwas viel Schlimmeres. Sie erblindete. Nein, damit war nicht gemeint, dass ihre Augen nicht mehr sehen konnte, sondern ihr Bewusstsein ebenfalls. Sie sandte es aus und sah... nichts.
„Es tut mir so leid“, hörte sie den Mann sagen. „Aber das muss sein, du würdest dich sonst wehren. Und wer hätte schon eine Chance gegen dich? Ich weiß wie sich das anfühlt, und es tut mir weh, dass das jetzt sein muss...“ In dem Moment schaltete sie ab. Denn ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jede Sekunde explodieren. Ein unglaublicher Schmerz begann im Inneren zu pulsieren und drückte sich schmerzhaft nach draußen, als wolle er aus ihrem Kopf raus und der ganzen Welt Schmerzen bereiten. Sie fühlte sich wie ein Luftballon, nur war sie mit Schmerzen anstatt mit Luft gefüllt. Einen Moment lang überlegte sie, ob es denn aufhören würde, wenn sie sich in den Kopf stach.
Da dies aber komplett abwegig war, fing sie an um sich herum zu schlagen. Zuerst nach hinten, da sie da denjenigen vermutete, der sie so außer Gefecht gesetzt hatte. Sie spürte, dass sie etwas weicheres als einen Baum mit der Handkante erwischte, und setzte gleich noch mit einem gezielten Tritt in dieselbe Richtung nach. Ein lautes Stöhnen war zu hören, dann ein dumpfer Laut; anscheinend war dieser Jemand auf den Boden gefallen.
Dann drehte sie sich in die Richtung, in der der Mann scharf Luft ausstieß. „So, nun zu dir. Was soll das? Von wegen, ich wäre deine Tochter. Würde man einen Verwandten so angreifen? Das war nur ein Ablenkungsmanöver, oder?“ Sie hatte aufgehört, ihn zu siezen. Dies zu tun wäre ein Zeichen von Respekt. Und ein Mann, der einfach zuließ, dass jemand hinterrücks angegriffen wird verdient keinen Respekt.
Sie wollte gerade wieder anfangen zu sprechen, als sie ein plötzliches Stechen im Arm spürte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fiel sie wirklich in Ohnmacht.
4.Kapitel
Sie wachte auf, als jemand ihr Wasser zu trinken gab. Reflexartig schlug sie diesem Jemand die Schüssel welg und sprang innerhalb einem Sekundenbruchteil auf und war zu einem Kampf bereit. Sie sah herunter und blickte direkt in die Augen des Mannes, der sich ihr Vater nannte.
Erst dann fiel ihr auf, dass sie wieder sehen konnte! Sie sandte ihr Bewusstsein aus und merkte erleichtert, dass auch dies wieder funktionierte. Dann spürte sie die Anwesenheit von vier Männern im Schatten. Sie staunte, da sie anscheinend eins mit den Falsen um sich herum geworden waren. Felsen? Sie sah sich genauer um und bemerkte, dass sie in einer Höhle war, und zwar ziemlich weit von dem Eingang weg.
Erst, nachdem sie all das festgestellt hatte, wendete sie sich wieder dem Mann zu. Dieser war während der ganzen Zeit still geblieben und bedachte sie mit einem seltsamen Ausdruck. Selbst (oder erst recht...?) sie konnte nicht bestimmen, was er damit ausdrücken wollte, oder unbewusst tat.
Dann verschwand er und ein besorgter erschien auf seinem Gesicht. „Sarya, mein Schatz, es ist alles ganz anders als es ausschaut. Wir wollen dir nichts Böses und...“ Mit einer Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. Sie spürte eine sich bewegende Seele, die direkt auf sie beide zukam. Und nicht nur irgendeine, es war die des Jungen, den sie vorhin verfolgt hatte! Als sie sich kurz unter ihren Mantel griff, merkte sie, dass ihr die Waffen abgenommen wurden.... Außer dem kleinen Dolch,den sie im Nacken versteckt trug, falls jemand sie jemals soweit bringen würde, dass sie die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Oder für einen Fall wie diesen.
Mit der Waffe in der Hand wartete sie auf die Ankunft des Jungen, der ihr Auftrag war. Und sie würde, so schwörte sie sich, diesen Auftrag zu Ende bringen und nicht eher ruhen, bis dieser Junge tot war.
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2011
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