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Kurze, blonde Haare, die sanft ihre weichen Züge umspielten, helle Augen, die aufmerksam und in sich gekehrt zugleich die Umgebung musterten. Ein zierlicher Körper, gerade mal süße sechzehn Jahre alt. Schmale Hände, die den schweren Koffer hinter sich her zogen, die Treppen vom Bahnsteig hinab. Heimatlos war sie, bemitleidenswert, doch nicht unfreiwillig.
Ein Fremder bot ihr an, den Koffer für sie zu tragen, doch sie lehnte dankend ab. Lächelnd. Er musterte sie kurz und ging dann seiner Wege, den massigen Leib in einen Anzug gezwängt, auf dessen hellem Stoff sich die Schweißflecke nur zu gut abzeichneten. Wahrscheinlich war er froh, wenn er zu Hause war und das Ding endlich ausziehen, die lästigen Pflichten der Arbeit von sich abschütteln konnte um sich in jene der Ehe zu stürzen, der Familie; in den trostlosen Alltag, der vom Verantwortungsgefühl der Masse geprägt war. Sie trug keine Verantwortung, für niemanden. Sie war ihrem Leben entflohen, als die Schicksalsschläge und die unterlassene Hilfe für sie zum Verhängnis wurden. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt, und trotz der vielen Menschen, deren laut eigener Aussage ach-so-große Sorge sie mitnichten zu spüren bekommen hatte, hatte sie sich allein gefühlt, eingeengt von Gesetzen, Pflichten, Verantwortungen und Erwartungen, die sie nicht erfüllen konnte. Sie hatte nie wirklich gewusst, was sie nun eigentlich gewollt hatte, ihr eigenes Ich war für sie wie ein Buch mit sieben Siegeln, nur selten sickerte eine Information hindurch, die jedoch meistens so wage war, dass nicht besonders viel mit ihr anzufangen war. Sich selbst vor anderen zu beschreiben war demnach nahezu unmöglich, in der Gesellschaft jedoch ein unumgängliches Muss, wollte man ein geregeltes Leben nach den Vorgaben der Durchschnittlichkeit führen. Selbst Wünsche oder besondere Vorlieben blieben meist unter Verschluss, sodass jede Bewegung, jedes Bild das ihre Augen einfingen, etwas völlig Neues waren und der Informationenfluss sie überschwemmte. Also zog sie sich wieder zurück, versteckte sich zusammengekauert vor einer Betonwand, die sie nicht durchdringen konnte.
Doch nun war sie frei. Ein paar Tage zuvor hatte sie ihren Koffer gepackt, sich von ihren Eltern verabschiedet und war, den lautstarken Protest geflissentlich ignorierend, abgereist. Bisher war kein großer Unterschied spürbar und sie wusste nicht, wie weit sie gehen musste, wie viel sie hinter sich lassen würde, bis sie zu sich selbst zurückgefunden hatte. Doch es war ein Versuch, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen, bevor sie wieder in sich selbst versinken oder sich erlösen würde. Wohl würde sie abwarten müssen, ob das Schicksal ihr nun gnädig sein würde...

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Tag der Veröffentlichung: 07.04.2011

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