Mittwoch, 13:20. Paris.
„Sie wird es schaffen.”
Diese Worte klangen so hart in ihren Ohren, während Alice einen leidlichen Teil ihrer Kleidungsstücke rücksichtslos in eine Reisetasche warf, und sie spürte den stechenden Blick Alains in ihrem Nacken. „Zur Not wird Jacques ihr sicher zur Seite stehen... die beiden haben sich immer gut verstanden.“
„Jacques wird nicht mehr allzu viele Gelegenheiten zum trösten haben. Und du weißt, wie labil sie ist.“, sagte er leise und ließ sich auf der Fensterbank nieder, sie weiterhin beobachtend. „Weißt du, was du dadurch anrichten wirst?“
Alice lachte bitter. Natürlich wusste sie, wie sehr ihre Schwester an ihr hing und natürlich war ihr klar, was passieren würde, wenn sie ging. Doch war ein Bescheid wissender Mensch bereits zu viel gewesen, und mit Jacques zusammen waren es viel zu viele. Gewiss würde ein Kind der zweiten oder ersten Nacht in nicht allzu ferner Zukunft davon erfahren und ihre Mannschaft würde durch ihren Verlust –denn dieser Verrat war unverzeihlich- einen harten Schlag erfahren, der möglicherweise ein Loch in die dichte Abwehr um Frankreich herum reißen und einen Angriffspunkt für die Veilleurs de nuit darstellen würde. Sie musste gehen, wenn auch nicht weit weg, doch musste sie die Illusion ihres Verschwindens aufrechterhalten. Penny würde mit niemandem reden, das hatte sie nie getan. Wahrscheinlich, und auf diese lebenslänglichen Schuldgefühle versuchte sie ihr schmerzendes Herz langsam vorzubereiten, würde sie nie wieder mit irgendjemandem reden...
Donnerstag, 05:34 Uhr. Paris, Hauptbahnhof.
„Geh nicht...“
Die Worte dröhnten in einem fort im Kopf der jungen Frau, während sie benommen auf den kalten Fliesen in der Schalterhalle des Hauptbahnhofes saß. Sie hatte gesagt, sie würde sterben... bevor sie gegangen war.
„Bitte geh nicht!“, flüsterte sie während Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie streckte die blasse, knochige Hand aus, doch es war niemand da, der sie nehmen konnte. Sie war schon so lange fort... Alice Mimieux würde nicht mehr zurückkehren.
Das fahle Licht der Neonröhren über ihrem Kopf flackerte, irgendwo weiter hinten erklangen Schritte; doch sie wusste, dass es nicht Alices Schritte waren. Ihre Schritte klangen anders – leichtfüßiger, erhabener, passend zu ihrem stolzen Erscheinungsbild. Diese Schritte waren die eines zugedröhnten Obdachlosen, dessen Stolz und Ehre irgendwo in seinem wüsten Lebenslauf verloren gegangen waren.
„Alice.“, schluchzte Penelopé und verbarg das Gesicht hinter den Händen. „Oh, Alice...“
Der Mann schlurfte an ihr vorüber, zu betrunken um Notiz von ihr nehmen zu können. Sie hielt sich die Augen zu wie ein kleines Kind –wenn ich dich nicht sehe, kannst du mich auch nicht sehen
- und wünschte, sie wäre unsichtbar. Warum war sie nur gegangen, wie konnte sie nur? Warum hatte Alice sie einfach so im Stich gelassen?
Doch tief in ihrem Inneren kannte sie die Antwort bereits. Sie selbst hatte Angst gehabt, doch dies zuzugeben wäre ihr nur schwerlich abzuverlangen gewesen. Lieber war sie geflüchtet, vor den Folgen dieses verhängnisvollen Briefes, hatte ihre Schwester, ihr eigen Fleisch und Blut, allein hier zurück gelassen, mitten in den Fängen der Einsamkeit. Penelopé selbst war nicht so stolz wie ihre Schwester, eher ängstlich und nah am Wasser gebaut, und doch hatte sie sie über alles geliebt. Die letzten Monate hatte sie in ihrer Wohnung verbracht und nur Alice hatte sie besuchen dürfen, nur sie, denn sie war die einzige, der sie vertraute. Sie hatte alles für sie getan, vergleichsweise zu den durchschnittlichen Lebensumständen der Einwohner der Stadt, hatte sie wie im Paradies gelebt... und nun war sie fort. Als sie sah, wie sie davon ging, mit Tränen in den Augen und einer unvorstellbaren Wut im Herzen, hatte es ihr den Boden unter den Füßen weggerissen, sie war plötzlich so allein und hilflos, hatte verlernt, ohne sie zu leben. Denn das war die Schattenseite ihres Paradieses; ihr Verstand sagte ihr, dass sie ohne sie weiterleben können würde, ihr Herz schmerzte unvorstellbar, doch es schlug weiter und hielt sie am Leben, ihr Körper ließ ihren Lebensgeist nicht gehen, umschloss ihn wie ein Käfig – nur ihre Seele weinte bittere Tränen, krümmte sich unter der Last auf ihren Schultern, die so unerwartet über sie hereingebrochen war...
Langsam stieg sie die Treppe zu den Gleisen herauf, weinend und die Arme fest um den schmerzenden Oberkörper geschlungen, lief immer weiter, nicht mehr darauf achtend, wohin. Selbst die Lichter des heranrollenden Zuges nahm sie kaum mehr wahr.
Texte: Background-Stock-Image © http://breedstock.deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2010
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