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Schatten. Überall um ihn herum waren sie, große und kleine, hasteten vorbei und standen still, schrieen und flüsterten, doch vermischte sich all das zu einer einzigen Masse, einem ungeheuren Lärm. Diese Kopfschmerzen...
Die Hektik um ihn herum machte ihn müde, strengte ihn an, das unaufhörliche Tosen schien seinen Kopf zu sprengen. Die Hände an die Schläfen gepresst lief er vorwärts, geradeaus, doch wohin? Weg. Weg von hier, weg von der Schuld, die auf ihm lastete. Weg von den unnützen Gefühlen, weg von diesen nervigen Kreaturen, raus aus der Zeit. Sie würde ihn töten, so wie alle anderen. Er starb. Jetzt, in diesem Moment, wo die Welt um ihn herum nur aus fahrigen, undeutlichen Schatten bestand, wo das Dröhnen in seinem Kopf lauter und lauter, die Schmerzen unausstehlicher wurden. Sie alle starben – doch er konnte nicht mehr. Das ewige Sterben war ihm zu anstrengend.
Er rannte weiter, weg, weg, weg, fort von hier, von diesen grauen Schatten. Er war hinter den Spiegeln, betrachtete von dort aus die Welt, müde lächelnd. Und rannte. Sie sahen ihn nicht. Oder doch? Er konnte sie nicht erkennen, sie waren undeutlich, wie unter Wasser. Niemand achtete auf ihn, hielt ihn auf. Doch dann blickte er einen kurzen Moment lang auf, die Augen halb geschlossen vor Müdigkeit und die Hände am Kopf, der Regen hatte ihn völlig durchnässt und lief in Strömen seine Stirn hinab. Er schüttelte den Kopf als ihm das Wasser in die Augen lief und plötzlich, als seine Sicht sich langsam zu klären begann, wurde es still. Die Menschen verschwanden, die Häuser, die Läden, die von Pfützen gesäumte Straße. Nur er blieb, er und der Regen. Und Alice. Wie ein Engel stand sie dort, das goldene Haar durchnässt, wie damals. Ja, damals... ob „damals“ das passende Wort war? Er war sich nicht sicher. Es könnte Jahre her sein – aber auch nur ein paar Stunden. Er wusste es nicht.
Die plötzliche Stille ließ ihn allmählich klar denken. „Alice...“, flüsterte er, doch sie stand nur da, die blauen Augen anklagend auf ihn gerichtet. Sie hatte ihn erkannt.
„Kommst du mich besuchen?“
„Ich weiß es nicht.“, sagte sie leise. Ob sie nun ganz und gar den Verstand verloren hatte? Schon damals... war sie da nicht ähnlich merkwürdig gewesen? Eine armselige Fixerbraut, deren Verstand sich mit der Zeit verflüchtigt hatte. Ach ja, diese ewige Zeit. Nun schien sie still zu stehen, wo dieses kleine Mädchen vor ihm stand. Er wünschte, sie würde für immer bei ihm bleiben. Diese Ruhe... er hatte keine Angst mehr. Selbst, als er das glänzende Küchenmesser in ihrer Hand erblickte, spürte er keine Furcht, nicht einmal mehr Überraschung. Die Welt hatte ihn abstumpfen lassen.
„Ich weiß nicht, was du mit besuchen meinst.“, fuhr sie nun fort. „Aber ich weiß, dass du mir etwas genommen hast. Ich will es zurück.“
Er war verwirrt. „Was meinst du?“, fragte er mit rauer Stimme, lächelte. Oh ja, er erinnerte sich... sie war so süß gewesen, so unschuldig. Wie Alistair, sein Bruder. Er war genau so rein gewesen, bevor er sich an ihm vergangen hatte. Die Schuld hatte er zunächst den Drogen in die Schuhe geschoben, doch seit Alice gab es für ihn vor seinen Gefühlen kein Entkommen mehr. Er bemitleidete sich selbst, doch im Grunde blieb er leer und emotionslos wie vorher. Er trat auf Alice zu und ging in die Knie, umfasste ihr zartes Handgelenk, spürte, wie sie den Griff um das Messer verstärkte.
„Meine Unschuld.“, flüsterte sie und Tränen traten in ihre Augen.
„Niemand ist unschuldig, Alice.“, erwiderte er leise und drehte ihre Hand, in der sie das Messer hielt hin und her. „Auch du nicht. Und du wirst ewig mit der Schuld leben müssen, also fang an zu lernen, wie man damit umgeht.“ Er lächelte erneut und drehte das Messer so, dass die Spitze auf seine Brust zeigte. „Du bist kein Engel. Wir alle müssen lernen, uns durch dieses Scheiß-Leben zu beißen – aber weißt du, wozu wir das alles lernen müssen? Um zu sterben, Alice. Wir arbeiten und arbeiten, schuften uns zu Tode, belasten uns selbst, für Menschen, die uns wichtig sind, für unseren angeblichen inneren Frieden, der dadurch nur noch mehr belastet wird. Wir weinen, wenn jemand stirbt und bemitleiden uns selbst, da wir wissen, dass auch wir diesem Schicksal nicht entgehen können. Die Zeit ist unser größter Feind, wir alle fallen ihr zum Opfer. Wir altern, bis wir uns nur noch selbst quälen, bis wir keinen Spaß mehr am Leben haben. Und wenn das Leben uns genug gequält hat – dann sind wir weg. Es ist, als wären wir nie da gewesen. Aber, ach, was erzähl ich dir das alles überhaupt. Du wirst es am eigenen Leibe erfahren. Aber vorher musst du lernen, wie man mit Schuld umgeht – und ich helfe dir.“
Und mit diesen Worten stieß er sich das Messer in die Brust. Alice sagte nichts, sie schrie nicht und weinte nicht, sie stand nur da, auf ihn herab schauend, während er in sich zusammen sank. Mehr Schuld. Es wurde immer mehr. Wie viel konnte ein Mensch ertragen? Wie lange brauchte er, bis er es nicht mehr aushielt? Sie würde es herausfinden. Und vielleicht, dachte sie, während sie sich umdrehte und ging, vielleicht würde sie dann irgendwann auch ihre Schwester wieder finden.

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Texte: Cover: (c) www.mana-maniac.deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2010

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