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Ein paar Jahre später.
Sie hatte nie viel geredet. Aus Angst, ungläubig angestarrt, ins Lächerliche gezogen, missverstanden zu werden. Wahrscheinlich. Die gierigen Blicke um sie herum sah sie schon lange nicht mehr, doch sie spürte sie, wie sie über ihr Gesicht glitten, über ihren Hals, ihre Brüste, ihren Körper herab und wieder herauf, sie eindringlich musternd. Sie spürte, wie man sie in fremde Leben miteinbezogen wurde, in schmutzige Fantasien und mütterliche Sorgen. Sie wusste, was sie sahen; ihr Spiegelbild.
Wenn sie an sich selbst dachte, sah sie nichts. Vielleicht einen schwachen Schatten, eine Bewegung im Nichts, doch ihr eigenes Gesicht kannte sie nicht. Ob es dem des Spiegelbildes glich? Oder doch eher dem ihrer Schwester?
Sie fühlte sich allein, seit Alice fort gegangen war. Schutzlos der Welt und ihrer Gier ausgeliefert, einsam unter vielen. Zur Schule ging sie schon lange nicht mehr, war aus ihrer Heimatstadt vor dem Alltag und den Erinnerungen geflüchtet. Stets auf der Suche nach dem, was ihr gestohlen worden war, gab es keinen Platz für ein geregeltes Leben. Wusste überhaupt noch jemand von ihrer Existenz? Wahrscheinlich nicht.
Ihre alkoholabhängige Mutter würde sie wohl kaum suchen, ihr Vater war zu sehr mit sich selbst beschäftigt und die Polizei, die vielleicht von ehemaligen Freunden oder Verwandten zu Hilfe gezogen worden war, hatte sie wohl schon lange als Tod abgestempelt und ihre Akte tief in irgendeinem Schrank vergraben. Ob sie vielleicht sogar ein Grab hatte? Alice wusste, dass sie halluzinierte, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmen konnte. Nachts, wenn sie sich in dem Keller eines unbewohnten Hauses zur Ruhe legte, quälten sie die Alpträume von jener Nacht. Von dem Raub. Zu oft träumte sie, sie würde ihn töten, doch nie fühlte sie sich danach befreit, wie es doch eigentlich hätte sein müssen. Im Gegenteil – sie fühlte sich schuldig, beschmutzt. Unrein. Sie weinte.
„Kindchen, kann ich dir helfen?“, fragte eine ältere Dame, die neben ihr an der Bushaltestelle saß. Ihr Mann blickte, aufgeschreckt von der besorgten Stimme seiner Frau auf, musterte Alice kurz mit gerunzelter Stirn und wandte sich dann wieder seiner Zeitung zu, so gewollt unauffällig, dass ihm auch gleichsam auf der Stirn hätte stehen können, dass er nichts mit den Problemen anderer zu tun haben wollte. Dass er keine Verantwortung für etwas, das ihn nichts anging, übernehmen wollte.
„Ich suche meine Schwester.“, flüsterte Alice. Die Frau schaute ihr in die Augen, nickte, und verstand.

Ein paar Wochen später.


Es war alles so neu. Noch nie hatte Alice sich jemandem anvertraut, außer ihrer Schwester vielleicht, doch bei Elisabeth, die sie mit nach Hause genommen und bei sich wohnen lassen hatte, hatte sie das Gefühl, verstanden zu werden. Sie hatte ihr schweigend zugehört, ab und an genickt und nachgefragt, wenn die Geschichten zu wirr wurden. Danach redeten sie nicht mehr darüber und das war gut so. Die Alpträume blieben aus, das Gefühl der Schutzlosigkeit, die Angst vor dem Rückfall in ihr altes Leben und die Halluzinationen verschwanden. Es blieb lediglich ein schwaches Ziehen in der Magengrube, doch sie lernte, damit umzugehen. Manchmal brach es zwar doch aus ihr heraus und dann nahm Elisabeth sie in den Arm, streichelte ihr goldenes Haar und flüsterte ihr zu, dass alles gut werden würde. Es tat gut zu wissen, dass jemand da war, der sich um sie sorgte, der die Hand über sie hielt und sie beschützen würde. Jemand, der keinen Grund hatte, sie zu benutzen und auch keinen Vorteil von ihrer Anwesenheit hatte, und doch niemals auch nur im Traum daran gedacht hätte, sie wieder zu verstoßen. Ihr Mann entpuppte sich ebenfalls als fürsorglicher, wenn auch verschlossener Mensch, der Alice in allem so gut wie möglich unterstützte. Und zum ersten Mal seit langem, wenn nicht sogar seit ihrem ganzen Leben, war Alice glücklich.
Eines Tages sagte Elisabeth zu ihr, sie sollte sich anziehen. Sie würden weg fahren. Die Fahrt dauerte so lange dass Alice irgendwann einschlief und erst aufwachte, als sie angekommen waren. Sie standen auf einem kleinen Hügel, aus dem ein paar Kreuze ragten, ein Friedhof für diejenigen, deren Angehörige kein Geld hatten oder die einfach nichts Besseres verdient hatten. Die beiden zeigten ihr, was sie doch schon so lange befürchtet hatte. Ein paar welke Rosen lagen neben dem verwitterten Holzkreuz, ihren Namen konnte man kaum mehr entziffern. Doch an diesem Abend brach die Wintersonne noch einmal durch die dichte Wolkendecke und tauchte den Friedhof in ein feierliches Licht, während Alice ihre Unschuld würdevoll zu Grabe trug.

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010

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