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„Ach, Mag, ich bin schon viel zu alt für so etwas!“, wehrte der alte John sich gegen die Mühe seiner Frau, ihn auf ihrem alltäglichen Spaziergang um den See zu begleiten. Mit den Jahren war er bequem geworden, seit er sich mit ihr und seinem Enkel Jonathan in einer Villa fernab jeglicher städtischen Hektik zur Ruhe gesetzt hatte. Und gleich mit dieser Bequemlichkeit hatte er in dieser ewigen Ruhe hier draußen seine zaghafte Paranoia stetig wachsen gespürt, wie ein Tier, welches sich durch sein Inneres fraß, ihn verzehrte, stetig wachsend. Deshalb hatte er, wenige Tage, nachdem sie die Villa mitsamt der gigantischen Gartenanlage gekauft hatten, nicht nur einen meterhohen Zaun drum herum bauen lassen, sondern auch auf dem gesamten Geländer Fallen aufgestellt, welche von harmloseren Bärenfallen bis hin zu tiefen Gruben, die von Stacheldraht durchzogen waren, reichten.
„Für ein bisschen Bewegung ist man nie zu alt.“, erwiderte seine Frau hartnäckig und riss ihn somit aus seinen Gedanken. Seufzend erhob er sich, streckte seine eingerosteten Glieder und trottete der hyperaktiven Rentnerin hinterher. Bis zum See war es beinahe ein halber Kilometer, und so war er bereits außer Atem, als sie am Ufer standen und den Sonnenuntergang betrachteten. Abgesehen von seiner miesen Laune, die wohl auf diese unfreiwillige Wanderung zurückführte, und der Tatsache, dass Jonathan auf einem Dreirad, die Melodie von Tetris auf seiner Melodica spielend, am anderen Ufer seine Runden fuhr, hätte man die gegenwärtige Stimmung wohl als romantisch bezeichnen können.
„Wo ist Sybille?“, fragte seine Frau plötzlich nach dem Hausmädchen. „Sie hätte ihn doch schon längst ins Bett bringen müssen.“
„Ach, die...“, brummte John und ließ sich auf einer vermoderten Bank nieder. „Die ist doch in Falle Nr. 234 gefallen. Dachte, ich hätt’s dir erzählt. Wär’ wohl unmöglich gewesen, ihre Rest wieder da rauszukratzen, dafür hab ich den Stacheldraht zu eng gespannt.“
„Und wer kümmert sich jetzt um Jonathan?“
„Die Köchin. Marianne hat doch eh nichts Besseres zu tun.“
Dass Marianne nebenbei noch als Putzfrau, Gärtnerin und zur gelegentlichen Bespaßung des Alten diente, war unwichtig. Hauptsache, Jonathan war versorgt und er hatte seine Ruhe. Nachdem Mag ihren Mann schließlich noch dazu bewegen konnte, wenigstens eine Runde um den See zu laufen, gingen sie beide schlafen, keinen weiteren Gedanken mehr an Jonathan verschwendend. Der fuhr im Übrigen noch immer seine Runden, immer im Kreis, bis ihm schwindelig wurde und er die Richtung wechselte. Als plötzlich eine Gestalt aus den Büschen sprang, stoppte er das Dreirad, nahm die Melodica aus dem Mund und schaute auf. Ein Speichelfaden tropfte von seiner Lippe, hing einen Moment lang zwischen seinem Mund und der Melodica in der Luft, bevor er immer länger wurde und schließlich irgendwo auf dem Boden verschwand. Das hatte Jonathan jedoch nicht bemerkt, er starrte die Frau mit der Sturmmaske nur neugierig an. Blonde Haare wehten unter dem schwarzen Stoff hervor.
„Sibylle?“, fragte er. Er hatte sie vermisst, ganze drei Tage war sie fort gewesen. Er hatte nicht verstanden, was sein Großvater gemeint hatte, als er meinte, sie hätte ins Gras gebissen. Das schmeckte doch gar nicht – sicherlich war sie davon krank geworden und deswegen nicht bei ihm gewesen.
Die schwarz gekleidete Gestalt ihm gegenüber stockte, hielt einen Moment lang inne und antwortete dann: „Jaja, die bin ich.“
Komisch, ihre Stimme war ganz schön tief geworden und irgendwie war sie... dick. Vielleicht noch von der Krankheit? Jonathan würde gleich morgen ausprobieren was passierte, wenn man ins Gras biss.
Sybille holte einen großen schwarzen Sack hervor und hielt ihm diesen hin. „Deine Großeltern wollen, dass du ins Bett gehst. Kletter hier rein, ich trag dich nach Hause.“
Er zögerte. War das ein neues Spiel? Sybille dachte sich immer so merkwürdige Spiele aus, doch meistens machten sie im Nachhinein dann doch Spaß. Warum also nicht?

Drei Tage später saß der Alte wieder draußen auf der Bank. Jonathan war entführt worden, sie hatten lediglich eine blonde Perücke im Gebüsch gefunden, zusammen mit einer Sturmmaske und einer Forderung: eine Million, in einem Koffer an derselben Stelle wo der Entführer sich das Kind wohl geschnappt hatte. Das Lösegeld war bereits abgeliefert worden, Jonathan nicht. John zog es jedoch auch nicht in Erwägung, die Polizei zu rufen. Er genoss die Ruhe, die es ohne den verwöhnten Bengel hier selten gegeben hatte. Mag war krank geworden vor Kummer, doch das kümmerte ihn nicht. Wenigstens konnte sie ihn so nicht wieder zu anstrengenden Wanderungen durch den Garten zwingen.
Er konnte ja nicht wissen, dass Jonathan inzwischen bei jemandem war, der jahrelang sein einziger Spielkamerad gewesen war, jemand, der ihn umsorgt und geliebt hatte, wie einen eigenen Sohn. Bei dem Menschen, den er mehr geschätzt hatte als alles andere – bei dem Hausmädchen.

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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2010

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