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Teil 3. Alice Mimieux.

Samstag, 03:43 Uhr, Paris.

„Wo sind Sie, Mademoiselle Mimieux? Wir haben nicht ewig Zeit!“, schnarrte die Stimme von Alain Sieyès aus ihrem Handy. Eilig strich sie die nassen Haare aus ihrem Gesicht und huschte geduckt über die dunkle Straße, Wasser und Schlamm spritzten bis zu ihren Knien hinauf.
„Ich bin auf dem Weg.“, zischte sie und legte auf, als ein Auto um die Ecke gebogen kam. Schnell duckte Alice sich hinter einer Mülltonne, bevor sie ihren Weg fortsetzte, die Augen von links nach rechts zuckend und die Zähne gebleckt wie ein wildes Tier. Zwar war es recht unwahrscheinlich, dass jemand sich um diese Uhrzeit hier in diesen verlassenen Straßen herumtreiben würde – doch wollte sie kein Risiko eingehen. Die Schlüssel klimperten leise in ihrer Tasche, während sie die Stufen zu dem großen, viktorianischen Gebäude hinauf sprang. Vorsichtig schloss sie die Tür auf, wohl darauf bedacht, sie nicht quietschen zu lassen. Glücklicherweise schien Sieyès gute Vorarbeit geleistet zu haben, kein Laut drang aus den uralten Angeln, doch entdeckte sie dafür vereinzelte Ölflecken auf dem modrig riechenden Teppich. Lächelnd machte sie sich auf den Weg, durch die Eingangshalle, am Empfangstresen vorbei. Wie lang war es wohl her, dass dieser Platz von Nutzen gewesen war? Die Nachtwächter pflegten normalerweise keinen Besuch zu empfangen, schon gar nicht in ihrem europäischen Hauptsitz. Schnell ging sie ihren Auftrag in Gedanken noch einmal durch – sie musste in den 2. Stock, dort befand sich das Büro von... sie entsann sich seinem Namen nicht mehr. Eine hohe Person die es zu töten galt jedenfalls, Namen waren Schall und Rauch. Sieyès würde auf der Toilette gegenüber auf sie warten, im Nebengebäude fand eine Konferenz statt, die von vier weiteren Mitgliedern der Kinder der Nacht belauscht wurde. Das hohe Tier würde allein in seinem Büro arbeiten, nach Plan sollte das restliche Gebäude leer sein. Es würde einfach werden, sehr einfach. Hoffentlich nicht zu

einfach.


Samstag, 09:45 Uhr, Paris.


„Wo warst du?“
Alice erstarrte. Wohl hatte sie sich auf ein zärtliches Willkommen zurück vorbereitet, so wie sonst auch; doch die Stimme ihres Freundes Jacques war voller Zorn, die Augen zu Schlitzen zusammen gekniffen, als er den Flur betrat. Sie antwortete nicht, schloss vorsichtig die Tür und entledigte sich ihrer Schuhe, bevor sie ihren zarten Körper aus dem großen Mantel schälte. Die nassen Haare mit einer Hand auswringend wollte sie an ihm vorbei, ins Bad, doch seine Hand schloss sich um ihren Oberarm, als sie auf seiner Höhe war.
„Jacques, bitte.“, sagte sie leise und schaute aus den großen Rehaugen zu ihm auf. „Ich bin müde und völlig durchnässt.“
„Das sehe ich.“, fauchte er. „Verdammt, wo hast du dich die ganze Nacht lang herumgetrieben?“
„Draußen.“ Sie wollte sich von ihm los machen, doch sein Griff war eisern. „Hör mal, ich habe auch noch mein eigenes Leben. Was soll das?“
Er schnaubte nur, ließ sie los und verschwand in der Küche. Widerwillig folgte sie ihm, schaute ihm schweigend zu, wie er sich eine Zigarette anzündete und dann einen Brief vom Tisch nahm.
„Das habe ich gemerkt, dass du dein eigenes Leben führst.“, sagte er mit unverhohlenem Zorn und warf ihr das Schreiben zu. „Was

bist du?“
Sie verharrte einen Moment lang und der Brief fiel zu Boden. Die Stille legte sich wie Watte über ihre Ohren, niemand sprach ein Wort. Sie starrten sich lediglich an, bis sie sich schließlich bückte und den Zettel nahm, der aus dem Umschlag gefallen war. Darauf war ein Foto, wohl von einer Überwachungskamera. Ihr Gesicht war deutlich darauf zu erkennen, der Mund blutverschmiert und die Haare zerzaust wie nach einem heftigen Kampf. Sie schluckte. Es würde nichts bringen, es zu leugnen – er kannte sie zu gut.
„Was bist du?“, fragte er noch einmal, ruhiger, doch seine Stimme zitterte vor Wut. Sie antwortete nicht, starrte nur dieses verdammte Foto an. Langsam schüttelte sie den Kopf, ungläubig.
„Antworte mir, verdammt noch mal!“, schrie er und schlug ihr ins Gesicht, die sonst so schönen Züge vor Zorn und Verzweiflung verzerrt. Sie fiel auf die Knie und schluchzte, konnte ihre Gedanken nicht mehr ordnen. Wer war das gewesen? Wer wusste so viel über sie, dass er sie hätte verraten können?
„Es tut mir Leid.“, flüsterte sie, erstickt von verzweifelten Tränen. „Ich wollte nicht...“
„Was wolltest du nicht?“, brüllte er. „Dass ich weiß, dass du ein verdammter Blutsauger bist? Dass du Menschen tötest? Und dass ich wohl irgendwann selbst dran gewesen wäre?“
„Nein, ich...“
„Wer bist du, Alice?“
Sie wischte die Tränen fort und schaute zu ihm auf. „Ich bin Schauspielerin. Nur ein unwichtiger Nebencharakter in diesem verdammten Drama.“
Er schnaubte verächtlich und drückte die Zigarette aus, bevor er sich eine neue anzündete, abwartend. „Was willst du mir damit jetzt wieder sagen?“
„Sobald ich raus gehe, spiele ich eine Rolle. Sei es nun die der Alice Mimieux oder die des...“
Sie stockte. Sollte sie ihm das alles erzählen? Ändern würde es ja auch nichts mehr...
„Wessen Rolle?“, fragte er leise, bedrohlich.
„Die des Kinds der dritten Nacht.“, flüsterte sie und senkte den Blick, doch spürte sie trotzdem seinen stechenden Blick im Nacken. „Jacques, ich...“
Sie schaute ihn an und er wich zurück, das Gesicht weiß wie die Küchenschränke. Sie wusste, dass er nicht viel über die Kinder der Nacht wusste, doch scheinbar wusste er genug – oder das falsche.
„Ich weiß, ich weiß.“, murmelte er vor sich hin, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und begann, in der Küche hin und her zu laufen wie ein hospitalistischer Tiger im Käfig. „Angeblich wolltet ihr uns vor den Nachtwächtern beschützen.“
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um, der Blick verzweifelt. „Das war doch euer Grundgedanke, oder? Aber handeln... das ist was ganz anderes, oder? Hauptsache man hat einen guten Ruf, ja? Wo bleibt denn eure ach-so-tolle Hilfe?“
„Jacques...“, begann sie, doch er schnitt ihr das Wort ab.
„Wo bleibt ihr, wenn man euch braucht? Wo wart ihr, als... als sie über diese Schule in Deutschland hergefallen sind?“
„Es reicht!“, schrie sie plötzlich zurück, den Tränen nahe. „Wir können schlecht überall sein, oder? Wir sind doch auch nur Menschen...“
„Oh, nein. Ihr seid keine Menschen.“, erwiderte er. „Ihr seid Monster. Verdammte Monster! Ihr tötet doch Menschen, die euch enttarnen, oder? Hast du das mit Absicht gemacht? Das mit dem Foto.. wolltest

du dich verraten?“
„Warum sollte ich das machen?“, flüsterte sie heiser.
„Was weiß ich? Weil du dich in wen anders verliebt hast, zum Beispiel. Und nun die offizielle Erlaubnis hast, mich umzubringen!“
Darauf konnte Alice nichts erwidern. Sie stand nur da, schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr wurde klar, für was er sie hielt, und was dieser Jemand, der ihnen dieses Foto untergejubelt hatte, angerichtet hatte. Sie würde die Person, die sie liebte, töten müssen...

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Tag der Veröffentlichung: 05.02.2010

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