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Prolog.

Noch lange nachdem die Lautsprecherdurchsage verklungen war sprach niemand ein Wort. Sie alle warteten auf etwas, vielleicht darauf, dass die Tür aus den Angeln flog und ein Nachtwächter herein stürmte, oder auf Schreie aus einer anderen Klasse. Doch es blieb still, Sekunden wurden zu Minuten und niemand wagte es auch nur, ein Wort zu sprechen. Der Gong zur großen Pause ließ sie alle zusammenzucken, dann breitete sich die unheimliche Stille erneut aus. Der erste, der sich nach den Minuten der Versteinerung wieder zu bewegen wagte, war der Lehrer, welcher nervös die Schlüssel aus der Tasche zog und damit herumklimperte, überlegend, ob er nun die Tür abschließen sollte oder nicht. Sicher würden sie sich davon nicht abhalten lassen, doch einen Versuch war es wert, oder?
Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, Richtung Tür und spürte die 26 Augen in seinem Rücken, die ihm weit aufgerissen vor Angst folgten. Langsam näherte sich der ausgestreckte Arm der Tür – was, wenn genau in diesem Moment jemand die Tür öffnete? Er hätte keine Chance mehr, zu entkommen. Die Gedanken wirbelten nur so durch seinen Kopf, unter dem schütteren Haar verworren sich seine Gedankengänge, während seine Hand sich wie in Zeitlupe dem Schlüsselloch näherte. Schweißperlen tropften von seiner Stirn, doch er holte tief Luft und schloss endlich ab, erleichtert atmeten er und seine Schüler auf. Noch immer hatte niemand gesprochen, vielleicht würden sie ja denken, der Raum wäre leer, wenn die Klasse nur still genug war...
Er selbst wusste nicht viel über die Nachtwächter. Gerade mal, dass sie übernatürliche Wesen waren und durch die Welt zogen wie Nomaden, die ein blutiges Schlachtfeld hinterließen. Nie im Leben hätte er auch nur im Traum daran gedacht, dass sie je hier her kommen würden.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammen fahren. Im selben Moment versuchte der Alte sich wieder zu beruhigen – würde ein Nachtwächter höflich anklopfen und um Audienz bitten, bevor er ein Massaker veranstaltete?
„Lasst mich rein!“, vernahmen sie die gedämpfte, weinerliche Stimme eines kleinen Jungen, daraufhin wurde die Klinke herunter gedrückt. Der Kleine rüttelte an der Tür und jaulte auf vor Angst. „Sie kommen... sie sind da! Lasst mich rein!“
Weitere Schritte auf dem Gang, erschrocken schien der Kleine nach Luft zu schnappen. „Ich weiß, dass ihr da drin seid!“, kreischte er ängstlich. „Hilfe!“
„Oh mein Gott, das ist Gordon!“, schrie plötzlich ein Mädchen, welches aus der Starre erwacht war. Die Augen vor Entsetzen geweitet starrte sie den Alten anklagend an, doch er zuckte nur mit den Schultern, den Blick hilflos auf die Tür gerichtet.
„Machen Sie die Tür auf, verdammt! Er ist mein Bruder!“
„Mary, du hast doch gehört, was er gesagt hat...“, begann er mit schwacher Stimme, wurde jedoch von einem jähen Kreischen unterbrochen. Die Tür bebte in ihren Angeln, dann wurde es erneut still und ein schmales Rinnsal Blut schob sich unter dem Türspalt hindurch. Mary heulte auf. Nun war es eh zu spät, sie wussten, dass sie hier drin waren. Doch niemand klopfte an die Tür, niemand riss sie aus den Angeln oder drohte ihnen durch das instabile Stückchen Holz. Ab und an erklangen Schreie, aus den anderen Gebäuden der Schule, doch klangen diese weit entfernt. Unwichtig.
Ihr Leben war das, was zählte, sie konnten niemandem helfen. Die Angst lähmte die Klasse erneut, Stunden vergingen. Ob sie weg waren? Normalerweise ließen sie keine Überlebenden zurück. Doch vielleicht lauerten sie auch hinter der Tür, wer wusste das schon. Ab und zu vernahm der Alte das Schluchzen des einen oder anderen Schülers und eine kalte, beklemmende Gleichgültigkeit machte sich in ihm breit, das Ergebnis der Todesangst von vorher.
„Wir warten noch zwei Stunden.“, hörte er sich mit einem Blick auf die Uhr sagen. „Wenn wir bis dahin nichts hören, könnt ihr nach Hause gehen.“
Niemand erwiderte etwas, wohl rechneten sie eh damit, dieses Klassenzimmer nie wieder verlassen zu können. Doch die Stunden vergingen und es blieb still. Wortlos erhob der Alte sich und schloss die Tür wieder auf. Er trat auf den Flur und seine Füße blieben am Boden kleben, doch er mahnte sich, nicht nach unten zu gucken. Doch bot sich ihm geradeaus wohl kein besserer Anblick. Die Wände des Flurs waren rot, Fenster zerschlagen, Türen aus den Angeln gerissen und überall lagen die Überreste von Schülern und Lehrern. Er würgte, rannte zurück in die Klasse und blieb dort. Niemand fragte, was dort draußen gewesen war. Niemand war ihm gefolgt. Aus den zwei Stunden wurden drei. Vier...
Nach der sechsten Stunde bekamen sie Besuch. Die Nachtwächter arbeiteten sorgfältig und präzise, niemand wagte einen Fluchtversuch. Sie saßen nur da und warteten, dass jemand sich ihrer annehmen würde. Es wurden keine Überlebenden zurückgelassen. Nie.

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Tag der Veröffentlichung: 23.01.2010

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