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Endlich, endlich war sie wieder zu Hause. Alice –war dies nun ihr Name, oder nicht?- stürmte die Treppe empor, in ihr kleines Zimmer. Im Haus war es still, sicherlich war niemand zu Hause. Doch etwas war anders als sonst... war ihr Zimmerchen immer schon so klein gewesen, so grau, so... trostlos? Hatten die Gesichter ihrer Kuscheltiere schon immer diesen verzweifelten, schmerzhaften Ausdruck gehabt? Außerdem roch es komisch... nach Staub und altem Holz. Als wäre es Jahre her, dass jemand diesen Raum betreten hätte, ja, wenn nicht sogar Jahrhunderte. Sie ließ sich auf ihr kleines, schmuckloses Bettchen fallen und feiner Staub flog auf, um im fahlen Licht der untergehenden Sonne seinen müden Tanz aufzuführen.
Lange Zeit lag sie dort und starrte ins Nichts, ihr Kopf war leer und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur langsam kehrte ihr Denkvermögen wieder zurück – sie erinnerte sich kaum noch an das, was in den letzten Stunden dieses seltsamen Tages vorgefallen war. Nur der merkwürdige Traum, den sie gehabt hatte, blieb in ihrer Erinnerung, als hätte er sich in ihre Netzhaut gebrannt, mit klaren Bildern und der dröhnenden Stimme ihrer Mutter. Sie schaute auf. „Alice!“, rief sie. Es blieb still, nur die Uhr auf ihrer Kommode tickte.
„Alice, wo bist du?“
Das Ticken wurde lauter.
„ALICE!!“
Die Zeit lief weiter, unbeirrt, ließ sie hier zurück und blieb trotzdem. Die Uhr tickte nun ohrenbetäubend laut, Alice legte die Hände auf die Ohren und schrie, um es zu übertönen. Sie wollte nicht älter werden, niemals, nicht ohne ihre Schwester. Wie sollte sie denn älter werden, wenn ihre andere Hälfte jung blieb? Wie würde das nur aussehen?
Denn die Zeit war hier, bei ihr und Alice war fort. Die zweite Alice, um genau zu sein. Doch woher wusste sie, wer die erste und wer die zweite von beiden war?
Wer war sie überhaupt?



Nach einer Weile des lautlosen Schluchzens in ihr verstaubtes Kissen rappelte sie sich jedoch wieder auf. Sie musste Alice suchen. Fest entschlossen stapfte sie die Treppe wieder herab und lief ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob inzwischen jemand zu Hause war. Ihr Vater saß auf dem Sessel und starrte vor sich hin.
„Hallo, Papa. Ich bin wieder da.“
Er antwortete nicht. Warum auch? Er sprach nie, gehorchte lediglich den Befehlen seiner Frau, wie eine Marionette. Doch nun war da niemand, der die Fäden bewegte, und so blieb die Marionette stumm und leblos, verweilte in sich zusammen gesunken im Sessel und starrte Löcher in die Luft. Sicherlich war ihm nicht einmal aufgefallen, dass sie weg gewesen war...
In diesem Moment wurde die Haustür aufgestoßen und ihre Mutter kam schnaubend herein, in der Hand hielt sie volle Einkaufstaschen.
„Hallo Mama!“, rief Alice, vor Freude strahlend und lief auf sie zu.
„Sei still!“, sagte ihre Mutter erbost. „Hilf mir lieber, die Taschen zu tragen, nichtsnutzige Göre.“
Alice gehorchte. Als ihre Mutter sich am Küchentisch niederließ und eine Zigarette anzündete, begann sie erneut: „Weißt du, was mir heute passiert ist, Mama? Ich...“
Doch ihre Mutter seufzte genervt, erhob sich und verließ die Küche, die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Auf dem Tisch waren dunkle Flecken an der Stelle, wo sie sich abgestützt hatte. Alice fuhr mit den Fingern darüber, feiner Staub rieselte zu Boden. Wieder tickte die Uhr.
Tick-tack-tick-tack...


Das Mädchen setzte sich auf den Boden, unter den Tisch und weinte wieder.
„Ja, so ist das richtig.“, ertönte plötzlich die Stimme ihrer Schwester. „Suhl dich in Selbstmitleid. So gehört sich das für ein derart verwöhntes Kind.“
Einen Moment lang hörte sie auf, zu schluchzen, die Augen weit aufgerissen saß sie da, weiß vor Schreck. Alice... seit wann war Alice so gemein zu ihr?
„Da guckst du, was? Ich kann auch nicht immer nett zu dir sein, Schätzchen. Das Leben ist hart... und du bist allein, verdammt!“
„NEIN!“, schrie Alice und sprang auf, wobei sie einen verstaubten Stuhl umwarf. Eine riesige Staubwolke flog auf, ihr war, als würde es von Minute zu Minute mehr werden. „Ich bin nicht allein! Ich hab doch Mama und Papa – und... dich!“
„Du hast also Papa... aber was bringt Papa dir, wenn er nicht redet, dich nicht ansieht? Wahrscheinlich hört er dich nicht einmal!“ Sie lachte. „Du interessierst ihn nicht.“
„Aber ich interessiere Mama!“
„Weil du ihr Leben zerstört hast, du dummes Kind.“, fauchte Alice. „Macht sie dir das nicht tagein tagaus deutlich genug klar? Sie hasst dich mehr als alles andere.“
„Du lügst!“
„Nein, ich zeige dir die Wahrheit. Du bist dumm. Und ich... ich bin ganz anders als du.“
Hektisch schaute sie sich nach der Stimme ihrer Schwester um. Sie sah sie nicht, ihr zartes Stimmchen, welches vor Wut so verzerrt war, dass es ihr entsetzte Tränen in die Augen trieb, schien von überall her zu kommen.
„Wo schaust du hin? Ich bin hinter dir.“, erklang es nun belustigt. „Komm, wir spielen Fangen.“
Sie fuhr herum, doch niemand befand sich hinter ihr. Nicht einmal Fußabdrücke im Staub konnte sie erkennen. Erneut vernahm sie das Ticken der Uhr, war es schneller geworden?
„Nein, ich bin nicht da. Ich bin hier!“, hörte sie ihre Schwester nun aus einer anderen Ecke. Sie drehte sich um sich selbst, entdeckte nichts, drehte sich noch einmal, immer öfter.
Tick-tack.

Es schien ihren Schädel zu sprengen.
„Du bist so dumm, Alice.“, schrie ihre Schwester über das dröhnende Ticken der Uhr hinweg. „Weißt du, was der Typ dir gegeben hat? Was er mit dir gemacht hat? Du schmutziges kleines Ding.“
„Hör auf!“
„Niemand wird sich je wieder mit dir blicken lassen wollen. Du bist befleckt, verdammt. Er hat dir die Unschuld genommen – und du hast dich nicht einmal gewehrt. Ekelst du dich nicht vor dir selbst?“
„Lass mich in Ruhe!“, heulte das Mädchen über den Lärm hinweg.
„Wie du willst.“
Und dann legte sich die Stille wie Watte auf ihre Ohren, erschrocken blickte sie auf. Der Staub war verschwunden, sie hörte ihren eigenen Atem. Eine Leere breitete sich in ihr aus, sie sank zu Boden. Alice hatte Recht gehabt – sie fühlte sich wie... nichts. Schwerelos und durchsichtig, wie ein Geist; bedeutungslos. Ihre Mutter kam herein gestürmt –sie schien um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein-, doch es kam ihr vor, als betrachtete sie diese Szene aus einigen Kilometern Entfernung.
„Was sollte der ganze Lärm?“, schrie ihre Mutter wohl, doch es klang so weit weg... „Warum schreist du hier so rum?“
Als Alice nicht antwortete bedachte die Frau sie mit einem missbilligendem Blick und verließ dann die Küche, wohl um den Rohrstock zu holen. Es wurde kalt im Haus, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, ihr Atem stand in kleinen, weißen Wölkchen vor ihrem Mund. Wie eine Marionette, deren Hände an Fäden von ihrem Puppenspieler bewegt wurden, griff sie nach oben, zog eine Schublade heraus. Er hatte ihr also ihre Unschuld genommen – blieb ihr da etwas anderes übrig, als sie sich wieder zurück zu holen?
Das Messer in den schmalen Fingern sanft umspielend machte sie sich langsam, torkelnd, als befände sie sich auf einem Seil hoch über der Erde, auf den Weg, zurück in die Stadt, die blauen Augen ausdruckslos in die Ferne gerichtet.
Nun war ihre Schwester wieder fort, und sie blieb allein mit der Zeit zurück. Vielleicht.. würde sie in der Zeit, in der sie fort war, herausfinden können, wer sie gerade war... und wie lange sie so bleiben würde?

Impressum

Texte: Text und Cover © mana.maniac
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2010

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