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Seit dem frühen Morgen regnete es, als wollten die Engel mit ihren Tränen die Welt zum Ertrinken bringen. Aus den Straßen bildeten sich Pfützen, so hoch dass das Wasser in den einen oder anderen Schuh eines Passanten lief, welcher unklugerweise nicht daran gedacht hatte, sich passendes Schuhwerk für die plötzlich über die Stadt hergefallene Kältezeit zuzulegen. Trotz des Regens herrschte reger Betrieb auf den Straßen, dunkle Gestalten eilten unter Regenschirmen dahin, denn obwohl es erst Nachtmittag war, war der Himmel von einem dunklen Grau, durchzogen von tiefschwarzen Schatten, hinter denen dann und wann ein Blitz aufleuchtete. Es war still, die meisten waren allein unterwegs, um nur das Nötigste in aller Eile zu erledigen, doch eine Stimme war klar und deutlich zu vernehmen, immer und immer wieder erklang sie, übertönte das Prasseln des Regens auf Regenschirme und Beton.
„Wo muss ich hin?“


Die Stimme eines jungen Mädchens, deren Haar wohl einst golden und lockig gewesen war, doch ließ der Regen es in verfilzten Strähnen herab hängen, trübte die schöne Farbe. Das hellblaue, durchnässte Kleidchen klebte an ihrem Körper, denn sie hatte keinen Regenschirm und trug keinen Mantel, ihre kleinen Füße steckten in Sandalen, welche von einem einher eilenden Schatten zum nächsten rannte und immer wieder wurde die gleiche Frage gestellt: „Wo muss ich hin?“
Niemand antwortete ihr, sie alle hatten es zu eilig um auf das, augenscheinlich verwirrte Mädchen einzugehen. Ein Obdachloser, der am Boden saß, schaute auf, als sie vor ihm stehen blieb, Halt suchend ob ihrer stürmischen Bremsung. „Wo muss ich hin?“, fragte sie mit glockenheller, doch verzweifelter Stimme. „Sagt mir, guter Mann, wo muss ich hin?“
„Wo willst du denn hin?“, erwiderte der Mann, der dort am Boden saß, einen schlafenden Hund neben sich und eine Decke über den Knien, welche ebenso durchnässt war wie das Mädchen selbst. „Wer bist du überhaupt?“
Erstaunt schaute sie ihn an, die großen Augen von Verzweiflung und Tränen getrübt. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Heute morgen, da war ich noch ich. Doch dann begann ich mich zu verändern, ich wechselte meine Größe, wieder und wieder wuchs und schrumpfte ich. Und jetzt bin ich jemand anders, aber ich weiß nicht, wer, aber ich will nach Hause!“, erklärte sie dann und mit jedem einzelnen Wort wurde ihre Stimme schriller, weinerlicher.
„Wo ist denn dein Zuhause?“, fragte der Mann und warf mit seinen alten Augen unbemerkt einen prüfenden Blick auf ihre Arme. Ein einzelner roter Punkt an der Innenseite ihres Ellenbogens hob sich von weißer Haut hervor.
„Ich weiß nicht.“`, erwiderte sie. „Ich weiß es doch nicht... wer bin ich?“
Langsam lief sie rückwärts, die großen Augen starrten ins Leere. „Wer bin ich?“ Immer wieder erklang diese Frage, leider werdend und doch durchdringend, während sie sich langsam von dem Mann entfernte.
„Komm zurück!“, wies er sie an, und sie gehorchte. „Du glaubst also, du bist verwandelt?“
„Ich glaube es fast zu wissen.“, erwiderte sie. „Nie habe ich Dinge so schnell vergessen, mein Erinnerungsvermögen rinnt durch meine Finger wie Sand durch eine Sanduhr, und mit jedem Sandkorn wächst meine Verzweiflung immer mehr, obwohl ich nicht weiß, woher-“
„Schweig!“, wies der Mann sie an, mit dem wirren Unfug aufzuhören. „Geh zum Bahnhof, dort wird man dir helfen können.“
Und so rannte das Mädchen hinfort.

Am Bahnhof begann sie von vorn, doch nun mit der Frage „Wer bin ich?“, doch selbst darauf konnte ihr niemand Antwort geben. Ein junger Mann jedoch war auf sie aufmerksam geworden, er winkte sie zu sich. Unsicher kam sie herüber und fragte ihn dasselbe, doch er antwortete ihr nicht, sondern wies sie totschweigend an, ihm zu folgen. In einer kleinen Wohnung nahe des Bahnhofes schaute er sie zum ersten Mal wieder an, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten, hatte er ihr doch die ganze Zeit über den Rücken zu gekehrt.
„Du willst also wissen, wer du bist?“, fragte er mit rauer Stimme und entledigte sich seiner abgenutzten Lederjacke, die langen schwarzen Haare waren von Wind und Regen ganz durcheinander. Das Mädchen nickte nur.
„Gut, ich kann dir helfen, das herauszufinden.“, sagte er und wies sie an, sich auf das Bett, welches im Nebenraum stand, zu setzen. Es war übersäht mit Flecken, in der ganzen Wohnung stank es nach Müll und Unrat, doch merkte das Mädchen es kaum.
„Wie heißt du?“, fragte er dann.
„Ich weiß es nicht mehr.“, erwiderte sie. „Heute morgen, als ich aufgestanden bin, da hieß ich noch Alice. Doch inzwischen habe ich mich so oft verwandelt, ich wuchs und schrumpfte, wechselte den Körper. Ich möchte nach Hause. Zu meiner Schwester. Bitte, bitte hilf mir!“
„Ich werde dir helfen.“, erwiderte der Fremde ruhig und lächelte verwegen, sodass ihr nicht ganz klar war, ob er es gut oder böse meinte. „Aber dafür will ich auch meinen Lohn.“
Er sagte, sie sollte sich ihres nassen Kleidchens entledigen, es würde die Matratze ja ganz durchnässen. Dann sollte sie warten, während er alles vorbereitete.
Brav blieb sie dort sitzen, nur mit Unterwäsche bekleidet und wartete darauf, dass er zurückkam. Wie wollte er ihr nur den Weg nach Hause zeigen, wenn sie nicht einmal etwas an hatte? Vielleicht holte er ja etwas Trockenes...
Irgendwann –ihr war, als wären Stunden vergangen- kam er zurück, doch trug er keine Kleidung und keine Stadtkarte bei sich, nur eine kleine Spritze, die in seinen großen Händen recht unscheinbar wirkte.
„Alice.“, sprach er sie mit dem Namen an, den sie heute Morgen noch gehabt hatte. „Wie alt bist du?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und wie alt warst du, als du heute Morgen aufgestanden bist?“
„Fünfzehn. So alt, wie meine Schwester. Wir sind Zwillinge.“
Während sie redeten, hantierte er erst mit der Spritze herum, zog dann seinen Pullover aus, kniete sich neben ihr auf das Bett und strich den Bezug glatt, bevor er ihr bedeutete, sich hinzulegen.
„Wo kommst du her?“, fragte er mit einer sanften Stimme, die sie beruhigte. Sie war sicher, dass sie vor diesem netten Mann keine Angst haben musste,
„Ich weiß es nicht mehr, denn die Erinnerungen daran haben sich als erstes angefangen, aufzulösen.“
„Erzähl mir von deiner Familie.“, sprach er dann und nahm ihren Arm, sagte ihr, sie sollte an die Decke schauen, es würde nicht wehtun.
„Meine Schwester sieht genau so aus, wie ich es auch tat. Heute Morgen.“, fing sie an. „Sie heißt sogar so wie ich. Wir sind völlig gleich, niemand kann uns auseinander halten. Oh, manchmal glaube ich, meine Mutter wüsste nicht einmal, dass sie zwei Kinder hat. Aber sie ist auch immer sehr mit sich selbst beschäftigt. Meistens schreit sie mich an, oder schimpft mit meinem Vater. Mit meiner Schwester redet sie nie. Auch mein Vater nicht. Nur ich. Aber mein Vater redet sowieso nur sehr selten. Ich glaube, er hat Angst vor meiner Mutter...“ Sie biss sich auf die Lippe, als sie das Pieksen spürte, doch dann erzählte sie munter weiter, von ihrer Katze, ihren Freunden, der Schule... sie spürte noch, wie er ihr das letzte Bisschen Stoff vom Leibe riss, bevor sie zu fallen begann, immer tiefer ins Nichts. Sie sah ihre Mutter, doch trug diese gar merkwürdige Sachen, sie sah gerade so aus, wie Alice sich die Herzkönigin ihres geliebten Kartenspiels immer vorgestellt hatte. Neben ihr ihre Schwester, oh wie sehr sie ihr doch glich... Doch plötzlich hob ihre Mutter ein Beil und ließ es auf den Hals des Mädchens nieder sausen. Ihr Vater saß schweigend daneben.
Der Blick ihrer Mutter fiel dann auf sie, und obwohl sie noch immer zu fallen glaubte, verzerrte sich das Gesicht ihrer Mutter zu einer grausamen Fratze, als sie sie erblickte. „Du!“, schrie sie, und zeigte mit dem augestreckten Zeigefinger auf sie. „Nie habe ich dich gewollt, du hast mir meine Jugend gestohlen!“ Hinter ihr erschien ihre Katze, sie war sehr groß und ein breites Grinsen verzerrte ihr Gesicht. Ihr Lehrer kam aus dem Nichts und gesellte sich zu der Herzkönigin, er trug einen albernen Hut und hielt eine winzige Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger. Er redete wirres Zeug mit einem Murmeltier, welches zu seinen Füßen lag und schlief, währenddessen jedoch seine verworrenen Worte mit noch sinnloseren und unzusammenhängenden Sätzen kommentierte. Gerade konzentrierte das Mädchen sich auf die beiden, um den Sinn ihres Gesprächs zu verstehen, da dröhnte die Stimme ihrer Mutter durch die Leere als käme sie von überall her: „Schlagt ihr den Kopf ab!“
Doch plötzlich war es Alice, die das Beil in den Händen hielt und es war ihrer Mutter Blut, welches daran klebte. Schnell ließ sie es fallen –im Grunde unmöglich, da sie ja selber fiel- und schaute an sich herunter; sie war nackt, und auf ihrem Unterleib und an den Oberschenkeln konnte sie Blutspritzer erkennen. Und plötzlich wurde es hell um sie herum, sie kam auf dem Boden auf, und er war ganz weich, doch dann spürte sie einen Druck auf sich, als wäre noch jemand auf sie gefallen, Schmerz explodierte in ihrem Unterleib und sie riss die Augen auf, gerade als der Mann, welcher ihr doch hatte helfen wollen, sich von ihr herunter wälzte, leise keuchend.
Sie blieb ganz starr liegen, wusste nicht, was sie machen sollte. Angst breitete sich in ihr aus, Scham darüber, dass der Fremde sie nackt gesehen hatte. Was hatte er mit ihr gemacht? Und dann erinnerte sie sich an das, was vorhin vorgefallen war – war es ein Traum oder Wirklichkeit gewesen? Sie wusste es nicht. Und plötzlich brachen die Tränen aus ihr heraus, sie hörte ihre Schwester mit sich schimpfen, doch selbst ihre Stimme war weinerlich und wurde immer wieder von Tränen erstickt.
„Dummes kleines Mädchen!“, schalt Alice sie. „Warum bist du dem bösen Mann gefolgt? Mutter hatte uns doch gewarnt...“
„Mutter ist genauso böse!“, rief sie und kniff die Augen ganz feste zusammen.
„Wie kannst du nur so von Mutter reden?“
Sie riss die Augen schnell wieder auf, um ihrer Schwester ins Gesicht blicken zu können, während sie ihr alles erzählte, was sie gesehen hatte. Doch ihre Schwester war nicht da, sie war ganz allein mit dem Fremden. Und dann kamen ihr die Zweifel – warum hatte sie ihre Schwester gehört, wenn sie doch nicht da war? Warum hatte sie die gleiche, von Tränen erstickte Stimme gehabt? War es etwa sie selbst gewesen? Gab es ihre Schwester gar nicht?
War sie etwa ihr ganzes Leben lang allein gewesen?

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Tag der Veröffentlichung: 29.12.2009

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