Es war schon immer da gewesen. Seit Myen sich erinnerte, war da dieses Loch in einem Hügel gewesen, versiegelt mit einer durchsichtigen Wand, wie Glas. Die Ältesten hatten es unter Androhung der Todesstrafe verboten, sich diesem Loch zu nähern, da es –wie sie sagten- direkt in die Hölle führte und wer hinein blickte, der würde die Engel weinen und die Sünder schreien hören, woraufhin er den Verstand verlieren und auf ewig als Irrer durchs Land ziehen würde. Jeder hatte sich bis jetzt daran gehalten, und im Grunde schien es auch niemanden zu interessieren...
Somit war Myen tatsächlich allein mit seiner Neugier. Schon immer hatte er alles wissen müssen, war mit der Leidenschaft eines verrückten Wissenschaftlers durch die Wälder gezogen, um dort den Kreislauf der Natur zu studieren, war Nächtelang wach geblieben, um die Eigenschaften des Mondes zu studieren, und hatte dabei seine Kontakte zu anderen Menschen verwahrlosen lassen. Da war er gerade 12 gewesen. Doch auch mit fortschreitendem Alter nahm sein Wissensdurst nicht ab, und liebend gerne hätte er jenes Dorf, dessen Bewohnerzahl weit unter der Tausend lag und das vollkommen von der Modernisierung ausgeschlossen blieb, verlassen, doch wollte er dies seinen Eltern mitnichten antun. Also blieb er dort, und mit jedem Tag wuchs seine Neugier bezüglich dieses Loches. Und so kam es, dass er sich eines Nachts heimlich davon machte, um seinen Wissensdurst endlich zu stillen.
Er musste nicht lange laufen, bis er dort war, eine halbe Stunde vielleicht. Der Mond spiegelte sich in der Scheibe, Sterne waren keine zu sehen. Etwas weiter weg hörte er das Meer rauschen. Vorsichtig näherte er sich dem Hügel, doch er konnte weder Flammen erkennen, noch irgendwelche untypischen Geräusche vernehmen. Er ging immer näher heran, legte schließlich die Hände an das Glas und drückte die Nase dagegen, um dahinter etwas erkennen zu können. Es befand sich nichts dahinter, und schon wollte er enttäuscht gehen.
Doch dann regte sich etwas. Ein Mädchen, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als er stand ihm gegenüber und ihr Atem ließ das Glas beschlagen. Sie sagte etwas, doch er hörte nichts und schüttelte den Kopf. Sie verstand und bückte sich, hob etwas vom Boden auf. Einen angebrannten Stock, mit dessen Hilfe sie auf die Scheibe zu schreiben begann.
Wer bist du?
Er lächelte, und sah sich nach etwas ähnlichem um. Er fand eine Stelle, wo wohl einst ein Lagerfeuer gewesen war, nahm ein paar Stöcke und ging wieder zurück. Sie hatte bereits etwas Neues geschrieben.
Es kommt nicht oft jemand her...
Er machte sich ans schreiben.
Ich bin Myen. Und du?
Und dann erklärte er ihr, warum niemand hier her kam. In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen, als er ihr erzählte, was man über diesen Ort verbreitet hatte und sie sagte, sie wüsste nicht, wie sie hier her gekommen war. Sie war schon immer hier gewesen und ihre Erinnerungen verloren sich irgendwo in der schieren Unendlichkeit ihres langen Lebens.
Sie begannen, sich gegenseitig aus ihren Leben zu erzählen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und als der Morgen dämmerte, versprach er ihr, wieder zurück zu kehren.
So kam es auch.
Ich habe dich vermisst
, begrüßte sie ihn. Es tut gut, mit jemandem... reden zu können.
Er konnte nicht anders, als ihr zuzustimmen.
Natürlich blieb es nicht bei jenen zwei Nächten. Wieder und wieder kehrte er zu ihr zurück, Nacht für Nacht tauschten sie sich auf und mit jeder Morgendämmerung wuchs seine Sehnsucht nach ihr bis ins Unermessliche.
Ich will zu dir!
, schrieb er ihr eines Tages.
Sie senkte den Blick und er wusste, dass sie ebenso fühlte. Schließlich schaute sie wieder auf und lächelte optimistisch, während sie schrieb:
Du bist bei mir. Es ist nur dieses Glas zwischen uns.
Vom Zorn gepackt sprang Myen auf. Nur Glas! Was sollte diese nichtnutze Glasscheibe schon gegen ihn ausrichten? Er begann, darauf einzuschlagen und ignorierte ihren flehenden Gesichtsausdruck und ihr Kopfschütteln. Die Wut riss ihn mehr und mehr mit, sodass er die Schmerzen in seinen Händen nicht mehr spürte und erst von der unzerstörbaren Wand abließ, als von seinen Händen nunmehr eine blutige, gebrochene Masse zeugte. Er heulte auf wie ein verwundetes Tier, und rannte davon, getrieben von der Pein ob seiner Schwäche.
Am nächsten Abend kam er zurück, doch schreiben konnte er nicht mehr. Also schrie er sie an, ob sie das mit jedem so machte. Ob sie jeden, der sich zu ihr gesellte, in den Wahnsinn trieb, sodass er sich am Ende selbst verstümmelte. Sie weinte.
Ich kann dich zwar nicht hören, aber ich weiß was du denkst. Ich wollte das doch nicht...
Und als er das las, brach der sonst so starke Myen zusammen und weinte vor Verzweiflung, vor Wut, vor was auch immer. Es tat ihm in der Seele so sehr weh, nicht bei ihr sein zu können.
Schreib mit mir.
Ihr Blick war so sehnsüchtig... doch er hob nur seine gebrochenen Hände, nahm den verkohlten Stock in den Mund und schrieb damit unleserlich die Worte:
Ich kann nicht mehr.
Sie nickte nur und so verbrachten sie die Nacht damit, sich anzuschauen und ihre Zweisamkeit zu genießen, während sie Rücken an Rücken da saßen und die Wärme des anderen durch die Glasscheibe spürten.
Kommst du morgen wieder?
, fragte sie als der Morgen dämmerte. Er nickte.
Und als er wieder kam, lag sein kleines Bündel vor der Scheibe, gerade groß genug, dass es durch ein kleines Loch an der Seite passte.
Sie lächelte ihm aufmunternd zu, während er das Paket auspackte. Der Inhalt ließ ihn vor Schreck erstarren.
Schreib mit mir.
Ihre bittenden Worte wirkten so einfach, als er ihre Hand in den Seinen hielt.
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2009
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