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Für dich ist es ganz einfach. Kartons ordern und Klebeband. Die preiswerteste Spedition heraussuchen und dann den Fahrer dafür verfluchen, dass die Schränke Kratzer tragen und die Lampenschirme zersprungen sind. Und ich darf dann die Scherben zum Müllcontainer in den Hof tragen. Und wie ich wieder zurück bin, steht zwischen geöffneten Kartons schon ein Bett aus Matratzen bereitet. Bring noch die Schutzhüllen nach unten!, sagst du. Ich ertrage diesen Geruch nach Kunststoff nicht! Dann können wir schlafen. Doch so einfach ist es nicht. Zumin¬dest für mich. Ich liege neben dir und höre die Straßenbahnen im Gleisbett. Manchmal ist ein kleines Beben im Zimmer vernehmbar. Ich denke an urtüm¬liche Panzerwagen. Eisenschweine, so wurden diese Gefährte unter den Soldaten genannt. Baujahr 1944. Manche hatten sogar noch Einschussspuren vom zweiten Weltkrieg. Statt einem Verdeck gab es eine übergezurrte grüne Plane. Und jedes Mal wenn ich während der Gefechtsübung aus einem Eisenschwein springen musste, holte ich mir blutige Finger. Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee, murmele ich vor mich hin. Sie sollen den Gegner in die Eier treten, und nicht zärtlich umarmen!, schrie der Feldwebel auf der Sturm- bahn. Vor mir der angenagelte Autoreifen am Pfahl. Vielleicht war es der Restgeruch nach Vulkanisierung oder eine angeborene Schwäche für Gemartertes. Schlaf end- lich!, sagst du. Für dich ist es einfach. Du bist schon im Bauch deiner Mutter das erste Mal umgezogen. Ich weiß. Ich muss damit aufhören. Das ist eine Endlos-Geschichte. Du wendest dich mir zu. Ich erahne deine Gesichtszüge, den Tamara-Gouvernantenblick mit leicht gehobenen Augenbrauen: Wenn du dich morgen früh nicht gut fühlst, gehst du zum Arzt. – Geht nicht!, sage ich. So kurz nach dem Umzug. Die denken doch auf Arbeit ich simuliere. Unter den Arbeits¬kollegen gab es eine Reihe von Gallen-, Magen- und Hüftgelenkoperationen, chronische Entzün- dungen der Stimmbänder o. ä. Da kann ich doch nicht mit einer Übermüdung, Übelkeit oder ähnlichem kommen.

Am Morgen bringst du mich zur Straßenbahn. Zuvor hast du geprüft, ob ich den Ring an der rechten Hand trage, der Hosenstall geschlossen ist und der neue Schlüssel sich in meiner Hosentasche befindet. Ich bin unsicher. Für mich ist Umziehen wie neu laufen lernen. Ich zähle die Pflaster- steine. Nichts stimmt mehr. Du begleitest mich als geduldiger Schatten. Bei den ersten Schritten halte ich den Blick noch zu sehr auf dem Boden gerichtet. Kannst Du nicht mal auf¬schauen?, fragst du: Sieh doch! Mäc Geiz lese ich am Schaufenster: Schotten sind Verschwender… Soll ich das jetzt ernsthaft beurteilen?

Ich hatte mich daran gewöhnt. An das poröse Pflaster, den Geruch nach Urin und Limetten. Im Karree der Bäume der Kot mit magischen Augen von Schmei߬fliegen. Daraus gediehen junge Tintenschopflinge, selbst Champignons prächtig. Ich hatte darauf gewartet, dass Feldmäuse Wildgerste auf die Rabatten ein¬schleppten, aber nicht damit gerechnet, dass wir sobald wieder umziehen würden.

Enttäuschend. Hier sind Ampeln nur Ampeln. Keine konspirativen Orte, an der Martin Jonde für die Rainbow Warrior EP warb, die Sozialistische Alternative zur Blut- spende für Vampire des Trikont aufrief oder Freibier für das Prekariat die Anarchistische Pogopartei forderte. Vieles auf Türkisch, was ich mir nicht merken konnte. Beruhigend, auch im bürgerlichen Weißensee heißen die orange¬farbenen Abfallbehälter Filialen. Namenlos die Asphaltlecker, die zum Bottle¬check kommen.

Nachdem ich von der Arbeit komme, möchtest du noch ein bisschen spazieren gehen. Das Wohnumfeld kennen lernen, nennst du das. Doch damit fängt es an. Du hast wieder Angst. Siehst du diese Pärchen?, fragst du. So viele Blondinen mit Militaryhosen und Kinderwagen, die Männer neben ihnen kahlköpfig mit Lonsdale-Shirt. Vorhin sogar einer mit Thor Steiner. Wenn deren Kinder in die Schule kommen… - Du siehst Gespenster, sage ich. Beiderseits der Straße Läden mit Regalen voller Topfpflanzen (Erdbeer- und Tomatenpflanzen darunter), und als Tagesangebot Maiglöckchensträuße. An den Türen stehen Vietname- sinnen. Und sieh doch mal da! Eine junge Frau mit goldfarbener Handtasche und Tattoos auf den zierlichen Armen. Blumendekor in Altrosa gefärbt. Wie von Wand- tellern aus Omas Küche. Dazwischen steht die Zeile in Fakturschrift: Was uns nicht ka¬putt macht, macht uns stark. Auf der Bauchhaut, die über der zu klein geratenen Jogginghose hervorlugt, ein roter Strich (von einer fri- schen Blinddarmnarbe vielleicht).

Dann am Brechthaus. Das ehemals klassizistische Gebäude strahlt gelb und mürbe wie ein zerschlissener Lampion. Eine alte Frau holt mit ihrem Krückstock nach mir aus. Geklaut!, ruft sie. Meint sie meine Jacke? (Billigangebot aus dem Tschibo-Laden –Wieso sollte ich so etwas stehlen?) Hier stand die Büste, zeigt sie mit dem Krückstock. Einfach geklaut! Unglaublich. Sollte es auf diesem ver¬wahrlosten Grundstück tatsächlich noch eine Büste gegeben haben?

Während ich noch sinniere, läufst du schneller, weil zwei Typen hinter uns sind. Du hast mir verletzt, Alter!, schreit der eine: Ich ruf jetzt 20 Leute an. Da bist du tot, Alter! Keine Ahnung worum es geht. Vielleicht wollte der andere kein Bier ausgeben oder hat das ihn angebotene Bier nicht ausgetrunken oder sich als Bayern-München-Fan geoutet. Was weiß ich? Willst du schon wieder umziehen?, frag ich dich. Du kannst nichts dafür, sagst du. Seit dem 6. Lebens- jahr musstest du stän¬dig umziehen. Zunächst soweit wie möglich nach Westen, ins Saarland. Dann an die Schweizer Grenze, wo dein Vater hoffte, dass keiner von der Stasi und auch keine sowjetischen Panzer hinfinden würden. Dein Vater hat dir Fensterscheiben aus Kandis versprochen. Doch auch im Westen schmeckten die Scheiben nur nach Straßendreck.

Ich wollte heimkehren. Du weißt ja nicht, was das heißt, Heimat zu verlassen!, sagst du. Heimat, das meint bei dir, eine Straße, verwilderte Gärten, eine Schule in Backstein- gotik, auf welche du nie gehen durftest wegen der Ausreise. Ich hin¬gegen habe das Dorf meiner Kindheit aus eignem Antrieb verlassen. Mit vier¬zehn war ich für meine Mitschüler der Professor, von dem man prima Haus- aufgaben abschreiben konnte, der aber vom Mopedfahren und Mädchen¬anbaggern keine Ahnung hatte. So war ich froh, wenn ich mit dem Schlenkerbus die scharfe Kurve um die Mühle fuhr, heraus aus dem Dorf. Abitur auf einer Erweiterten Oberschule mit Wohnheim. Danach Studium im Halle und in Mos¬kau. Ich erlernte die allgemeine Wehmut von Wohnheimkorridoren bei aus¬tauschbaren Orts- schildern.

Ich bin wohl immer noch ein Dorfcharakter. So sehr ich mich auch bemühte, es abzustreifen. Eine Gegend beurteile ich nach dem Unkraut auf deren Brach¬flächen. Sieh doch! Überall Hirtentäschel. Du sagst, als Kind habt ihr das geges¬sen. Du und dein Freund mit Mäckyschnitt aus dem Kindergarten. Als du ausrei¬sen musstest, hast du ihm dein Lieblingsspielzeug, einen Stoffaffen geschenkt. Ohne Er- widerung.

Kreiskulturhaus Peter Edel ist noch an der Wand zu lesen. Ankündigung für Ly¬rik Jazz Prosa. Ist doch fast wie früher, oder? Putz bröckelte auch damals schon. Nur die Spray- handschrift ist jüngeren Datums, wie Hirtentäschel und Brenn¬nesseln auf der Terrasse zum geschlossenen Hexen- kessel. Und kein Volkspolizist weit und breit, der den Ausweis kontrolliert. Zum Glück! Ich weiß, du hast Angst vor allem Uniformierten. Selbst beim Schaffner in der Bahn bekommst du Panik, wenn ich nicht gleich das Ticket rauskrame. Ich weiß, damals. Mit der Maschi¬nenpistole im Anschlag standen sie. Mit Schäferhunden. Dein Vater flüsterte dir zu: Tritt ja nicht über die weiße Linie! – Mach doch dem Kind nicht noch Angst, entgegnete deine Mutter. Doch dein Vater ließ sich nicht beirren: Die kennen
keinen Spaß. Die schießen! Trotzdem wolltest du immer heimkehren.

Du weißt ja nicht, was das heißt, Heimat zu verlassen! Doch ich weiß. Du hast es mir bestimmt zwanzig Mal erzählt, seit dem wir zusammen sind. Du hattest in der Straße Nachbarkinder als Spielgefährten, deinen Freund mit Mäckyschnitt, verwilderte Gärten als Spielplatz mit Schaukel und Stachelbeersträuchern. Das war für dich wie das Paradies! Im Westen hattet ihr erst einmal nichts. Ein klei¬nes Zimmer mit Waschbecken. Dein Vater suchte nach Arbeit. Er wollte als freier West-Bürger dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Du ranntest derweil von Spielplatz zu Spielplatz auf der Suche nach Kindern. Und kaum hattest du dich angefreundet, hieß es umziehen. Deinen Vater erwartete eine aussichtreiche Anstellung, aber an der Schweizer Grenze. Dort wollte man dich nicht ein¬schulen. Angeblich wegen mangelhafter Sprach¬entwicklung. Dabei konntest du reden wie ein Wasserfall. Du musstest mit deiner Mutter zum Logopäden und einen Roller durchs Zimmer ziehen und laut und deutlich Roller, Roller sagen. Der Logopäde beschimpfte dich als unkooperativ, weil du ihn mit dem Roller trachtetest über die Füße zu fahren. Dein Vater war ja nicht mit dabei gewesen. Heute schickt er dir dafür zum Geburtstag Videos über Stasi, das DDR-Grenz- regime, Fluchthelfer etc. Soll heißen, ich konnte nicht anders.

Es wird Zeit, sage ich. Ich muss morgen wieder früh raus. Wenn ich daran denke, an das Kurven der Straßenbahn, das Dahindämmern mit der Stirn an der zer¬kratzten Schreibe. Zurzeit hängt der Mond wieder wie ein Kugel- aquarium mit Leuchtstoffröhrenbeschichtung und durch- strahlt dich. Selbst, wenn du die Augen schließt, spürst du ihn. Nichts ist schlimmer als dieses grelle Licht, bevor es dämmert. Wie zwei Uhr nachts am Wachlokal vorm Aufzug in den Posten¬bereich. Magazin herausnehmen und in die MPi einrasten. Komisch, immer öfter erinnere mich an die Armee, je weiter die Zeit zurückliegt. Zum Glück war nie jemand auch nur in die Nähe meines Postbereichs ge- kommen. Niemand, außer dem Unteroffizier mit der Wachablösung. Besonders nachts war es schwer, die Anspannung auszuhalten. Ich begann mir irgendein Mädchen vorzustellen und mich dabei durch die Hosen- taschen hindurch zu befriedigen.

Schmollst du jetzt? Mit hochgezogenen Brauen stapfst du voran. Ich wünschte, du müsstest nicht so früh aufstehen, sagst du. Das wünschte ich auch. Oder bes¬ser nicht. Das letzte Mal nach einem Entlassungsgespräch mit einem Kolle¬gen. Ich war wohl kreidebleich danach, so dass der Chef plötzlich ganz väterlich wurde: Kopf hoch! Von einer Kündigung stirbt doch niemand. Das Leben geht weiter! Kommen Sie morgen etwas später, schlafen Sie mal aus... Schlafen. Ich sehe einen Hocker mit MPi-Einzelteilen neben mir. Das kleine Ölläppchen, mit dem ich diese wienern muss. Ich befinde mich auf einem langen weißen Korri¬dor. Das Licht ist so grell, dass ich es nicht ertrage. Damals bei der Armee habe ich kaum geträumt. Die Matratzen im Wachlokal stanken nach Urin, und trotz¬dem fiel ich in den Schlaf wie ein Volltrunkener. Heute falle ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf.

Immer neu muss ich zur Musterung: Ein Arzt hebt vorn den Slip, besieht sich mein Glied, schiebt die Vorhaut weg, murmelt etwas von beweglich. Danach zieht er mir den Slip am Hintern herunter. Ohne Befund, sagt er, lässt den Slip hoch schnippen und winkt den nächsten Rekruten zu sich. Im anschließenden Gespräch wollen mich zwei Offiziere wegen meiner gesellschaftlichen Aktivi¬täten und Schul- leistungen für die Grenztruppen verpflichten. Ich stammle vor mich hin: Mit dem Schießen - das kann ich nicht so... – Sie werden schon schie¬ßen, wenn sie selbst bedroht werden!

Ich glaubte doch. An den höheren Sinn. An den Über- gangscharakter der Gesell¬schaft. Ich hatte Hoffnung. Selbst für einen stellvertretenden Regiments¬kommandeur, zu dessen Vorliebe es gehörte, Unteroffizieren mitten auf der Straße die Schulterstücke herunterzureißen, wenn sie ihn vergessen hatten zu grüßen. Ich glaubte, und hatte doch noch zwei Großtanten in Hannover in meine Ver- wandschaftsaufstellung aufgenommen. So kam ich nicht an die Grenze und begegnete auch dir nicht mit einer MPI an der weißen Linie in der Friedrich¬straße bei deinen Heim- reiseversuchen. Du wolltest immer zurückkehren und bist dann zurückgekehrt. Da gab es die verwilderten Gärten schon lange nicht mehr, und keinen Freund mit Mäcky- schnitt. Dafür liefen wir uns dann übern Weg. Vielleicht zu spät.

Du achtest gar nicht auf den Weg. - Ach ja (diesen Tamara-Gouvernantenblick hab ich schon vermisst). Wo sind wir jetzt? Blassgelb getünchtes Gebäude. Weiße Fensterrahmen. Bestattungen Münzel lese ich. Ich wollte dir noch etwas zeigen, sagst du. Diese grüne Urne mit Rose möchte ich für mich, wenn ich tot bin. - Wenn dir das Leben nicht mehr gefällt, dann lass uns gleich einen Strauß Maiglöckchen kaufen und uns vergiften. Die sind gerade günstig im Angebot. So oft du auch umziehst, du kannst nicht mehr heimkehren, denke ich. Du stürmst vorwärts, schnappst mich am Arm: Lass uns vorher wenigstens ein Kind haben, das auf die Schule geht, auf die ich nie gehen durfte. - Jetzt auf der Stelle? Ich kann’s nicht glauben. Du lachst, umschlingst mich, streichst mir übern Hosen¬stall: Wir lassen einfach das Kondom weg, dann wird das schon. Na klar! Für dich ist das ganz einfach. Dann bräuchten wir schon bald eine größere Wohnung.

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Tag der Veröffentlichung: 13.12.2008

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