Ich laufe durch den Tunnel. Geigenmusik schwebt durch die Menschenmenge, kämpft gegen die morgendliche Geräuschkulisse des Bahnhofs. Ich bleibe stehen, verdränge die Hektik, die wie ein Felsbrocken auf mich zu rollt. Man wird mich für verrückt halten, es ist mir egal, ich schließe meine Augen und genieße die sanften Klänge. Melancholie bahnt sich den Weg in mein Herz. Diese absolute Perfektion! Es passt nicht zu diesem Ort ...
Vor meinem inneren Auge öffnet sich eine Bühne. Weiches Licht fällt auf die Geigerin. Sie streicht den Bogen zärtlich über die Saite, versunken in der Musik, umgeben von einer anmutigen Aura. Die Zuschauer lauschen mit Bewunderung der Komposition.
Ein heftiger Stoß an meiner Schulter lässt mich zusammenzucken. Ich blinzle, mein Blick wandert an den jagenden Robotern vorbei, die ständig auf der Suche nach der Zeit sind. Kurz sehe ich eine Frau am Boden sitzen. Die vielen hetzenden Beine verwehren mir die Sicht. Ich laufe zum Rand des Tunnels, bleibe stehen, nur wenige Meter von ihr entfernt. Ihre Augen sind geschlossen.
Die Lippen bewegen sich rhythmisch, als würde sie leise summen. Ich bin überwältigt. Mein bisheriges Schönheitsideal wird über Bord geworfen. Da sitzt die Vollkommenheit der Sinnlichkeit auf einer schwarz-weiß karierten Decke. Schmales Gesicht, volle Lippen, lange Wimpern. Diese zarten Hände und die makellose Haut. Nur ihre Haare erinnern an einen Straßenköter. Schwarze Locken - zerzaust ... doch es nimmt ihr nichts von der Schönheit. Vor ihr steht der geöffnete Geigenkoffer.
Ein paar Münzen teilen sich die Vorherrschaft zum Überleben. Sie streicht die letzten Töne auf der Geige, öffnet die Augen. Kein Applaus. Kein Jubel. Nur Roboter ohne Zeit, die keines Blickes würdig an ihr vorüberziehen. Ich gehe ein Stück näher. Sie schaut mich an. Tief. Als wollte sie in mein Innerstes sehen. Ihre Augen flimmern.
„Das war wirklich schön!“, sage ich.
Ihr Gesicht entspannt sich, ein Lächeln formt sich auf den Lippen. Kleine Falten legen sich unter ihre Augenlieder. Ich gehe auf sie zu, krame in meiner Jackentasche und lege zwei Euro in den Koffer.
„Vielen Dank!“, entgegnet sie schüchtern.
Meine Sinne überschlagen sich. Ich sollte schnellstens weitergehen. Könnte ich doch unmöglich ein Gespräch mit ihr anfangen. „Jetzt geh´ endlich! Lächle und laufe an ihr vorbei!“, befehle ich mir selbst.
Mit ihrem osteuropäischen Akzent unterbricht sie meine Gedanken. „Du spielst auch Instrument?“
Zu spät! Sie verwickelt mich in ein Gespräch!
„Nein ...“, entgegne ich distanziert.
Sie blickt mich verwundert an. „Nur wenig sehen, dass ich gut spiele.“
Ich schüttle meinen Kopf. „Die Menschen, die das nicht sehen, sehen nicht mit ihrem Herzen. Lassen sich blenden von Äußerlichkeiten. Du gehörst auf eine Bühne, nicht auf den kalten Steinen des Bahnhofs!“
Es zieht mich in ihre Nähe. Ich hocke mich hin, bin fast auf ihrer Höhe. Sie lächelt verlegen.
Die Augen strahlen, sie wirkt dennoch kühl.
„Mir noch nie jemand hat das gesagt!“
„Das ist schade! Du sprichst sehr gut Deutsch, spielst professionell Geige. Du hättest sicher viele Möglichkeiten!“
Ihr Kopf senkt sich. „Nein, ich habe die nicht!“
Ssssssssssssssss ... Das Handysummen ergreift meine Aufmerksamkeit. Wie ich dieses Ding hasse! Ich ziehe es aus der Jacke und schaue aufs Display. Es ist eine SMS von Tom.
´Das Meeting fängt gleich an! Wo bist Du?´
„Oh man ich bin wieder so spät dran!“ Ich stecke das Handy zurück und schaue ihr erwartungsvoll in die Augen. „Hättest Du Lust auf einen Kaffee? Heute Abend?“
Sie nickt.
„Wenn Du aus den U-Bahn Tunnel rausgehst, gleich nach rechts schaust, siehst Du ein italienisches Café. Es heißt ´Buon Giorno´. Treffen wir uns dort um sieben Uhr?“
„Ja! Gut! Habe nichts vor.“
„Super! Bis dann!“
Ich lächle ihr ein letztes Mal zu und verschwinde im Getümmel der humanoiden Roboter.
Es ist kurz vor Sieben. Ich sitze im verabredeten Café, bin angespannt. Im U-Bahn Tunnel war sie nicht. Vielleicht putzt sie sich ein wenig raus. Eigentlich bin ich nicht materialistisch, aber ein bisschen unangenehm wäre mir der gesellschaftliche Unterschied schon. Ich tippe mit den Fingern über die Tischplatte. Meine Blicke tasten sich durch die quirligen Straßen.
Minuten vergehen. Es ist bereits kurz nach Sieben. Sie hätte keinen Grund, nicht zu kommen. Im Gegenteil. Ich warte noch eine halbe Stunde. Die Straßen werden langsam leerer. Ein Kellner läuft durchs Café und fegt die Reste des Tages vom Boden. Sie kommt nicht. Ich bin traurig. Ihr Gesicht hat sich in meinen Kopf eingebrannt. Ihr Geigenspiel in mein Herz.
Texte: © malika
Das Urheberrecht liegt bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2009
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