Wie ein Rudel Wölfe heulen die Sirenen durch die Nacht. Der Himmel ist hell erleuchtet. Es kracht und knallt, wie in einer Silvesternacht.
Jasmin schreckt hoch. Da sind wieder diese Bilder. Sie sieht sich und ihren Bruder. Es ist ihr Lieblingsplatz. Sie spielen Murmeln. Keine Vorwarnung. Eine Bombe rast direkt auf die Kinder zu. Jasmins Bruder liegt am Boden, ihm fehlen die Beine, sein Gesicht ist zerfetzt. Qualvolle Schmerzen durchzucken seinen Körper, bis er endlich zur Ruhe findet und einschläft. Diese wenigen Augenblicke, die sie für immer verändert haben. Diese Bombe, die ihr Herz in tausend Teile splitterte.
Der Albtraum ist wieder da. Jasmin kauert sich unter ihre Decke. Ihre Mutter kommt ins Zimmer und nimmt die Kleine in die Arme.
Tagelang leben sie in Angst. Bomben und Raketen hageln auf die Stadt nieder. Sie beten für ein Ende. Doch der Krieg endet nicht.
Es gibt kaum noch Nahrung.
Eine Gruppe Männer, darunter auch Jasmins Vater, wollen sich auf den Weg in die nächste Stadt machen. Jasmin steht am Fenster. Sie schaut ihrem Vater nach. Als die Männer aus ihrem Blickfeld verschwinden, geht sie zu ihren Schwestern ins Wohnzimmer. Es ist für einen kurzen Moment still, einer von den Momenten, der alle hoffen lässt. Doch er währt nicht lange. Das Krachen und Leuchten der Raketen frisst sich wieder in Ohren und Augen. Die älteste Schwester fängt leise an, zu singen.
Und wie wird die Mutter leben?
Wenn Sie ihr den Sohn nehmen, wird ihr Herz sterben!
Wir werden unser Land zurücknehmen!
Und dies ist ein Recht, es braucht keine Stille!
Und wie wird die Mutter leben?
Wenn Sie ihr den Sohn nehmen, wird ihr Herz sterben!
...
Alle sind furchtbar hungrig. Zum Abendessen gab es Grass und Pflanzen.
Jasmin legt sich hin. Sie zieht sich eine Decke übers Gesicht, so wie sie es immer tut, wenn sie Angst hat. Eine Träne kullert über ihre Wange. Vielleicht wird Gott sie erhören, immer wieder und wieder betet sie für ihren Vater, bis sie einschläft.
Tock - Tock ... Ein heftiges Klopfen. Jasmin reißt ihre Augen auf. Hecktisch steigt sie über ihre schlafenden Schwestern und rennt in den Flur. Sie öffnet die Tür. Ihre Tante steht da. Schluchzend. Sie wuschelt durch die Haare der Kleinen und läuft ins Wohnzimmer. Jasmin folgt ihr. Sie sieht wie ihre Mutter und ihre Tante sich in den Armen liegen. Langsam begreift sie. Ihre Gebete wurden nicht erhört.
Mit dem letzten Fünkchen Hoffnung fragt sie: “Wo ist Papa?”
Die Antwort sind Tränen.
Jasmin zieht sich die Hände übers Gesicht. Sie läuft auf die Straße. Ihre Schwester ruft ihr nach, sie soll stehen bleiben, doch Jasmin rennt weiter.
Noch weint sie nicht, ihre Lippen presst sie fest aufeinander, ihre Wangenknochen beben. Das Mädchen rennt durch die Straßen ihrer Heimat, das was davon noch übrig ist. Der Boden ist gepflastert mit Leichen. Die Luft riecht nach Verbranntem. Überall Trümmer, Rauch, Feuer. Das Zischen der Raketen. Schreie! Jasmin hört Geräusche, dieselben, die ihren Bruder töteten. Sie bleibt stehen ihr verängstigter Blick wendet sich zum Himmel. Kampfjets durchbrechen das Blau des Himmels. Sie hält inne. Wäre es nicht schön, bei ihrem Vater und ihren Bruder zu sein? Ihre Ängste für immer zu vergessen? Und all die weinenden Gesichter, in die sie nicht mehr schauen müsste ...
Aber sie ist doch noch so jung! Und was ist mit ihrer Mutter? Und ihren Schwestern? Ihr Überlebenstrieb schaltet sich ein. Sie rennt los. Rennt so schnell sie ihre kleinen Beine tragen können. Hinter der nächsten Ecke erreicht sie ein Gotteshaus. Jasmin betritt die riesige Halle. Sie sieht Gottes Zeichen und fragt sich, warum Gott sie nicht erhört hat. Ihr Körper zittert.
Mit ihren zerbrechlichen Händen schlägt sie immer wieder gegen die Wand. Eine alte Frau kommt und nimmt ihre Hände. Jasmins Augen sind leer, es sind keine strahlenden Kinderaugen mehr.
Texte: © malika
Das Urheberrecht liegt bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2009
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