Kapitel 1
Die verdammte Hitze! So wie ich die Sonne vermisst habe, so hasse ich sie jetzt. Was mache ich hier? Staubige Straße, Autos, die an mir vorbei fahren, der schwere Koffer mit den wichtigen Sachen, eine Transportbox mit meinem armen Kater, den ich nicht zurück lassen konnte... Ich habe doch ein Ziel. Nur warum kann ich den Weg nicht antreten? Habe ihn doch schon tausend Mal einstudiert. Ich habe keine Angst mehr! Es kann mich nichts mehr aufhalten. Hoffentlich vermisst mich noch keiner. So kann ich Zeit gewinnen. Zeit, mein ewiger Feind! Mit fünfzig hat man schon jede Menge Zeit hinter sich. Wie viel habe ich noch vor mir? Denke gar nicht daran, habe doch endlich den Weg zu meinem Glück gefunden. Jetzt oder nie! Augen zu, winken! Die B6 ist doch sehr gut befahren, jemand hält bestimmt an. Hoffentlich sehe ich nicht erschreckend aus. Ich höre ein bremsendes Auto, Augen auf. Es ist ein Lkw, mit Autos beladen. Erinnerungen machen meine Knie weich, mein Herz fängt an schneller zu schlagen.
-Hallo junge Frau, wo wollen Sie hin?-
Ein nett aussehender älterer Mann lächelt mich einladend an. Jetzt nicht kneifen Sonja! Einfach einsteigen!
-Guten Tag! Will nur weg von hier.-
-Dann steigen Sie ein, ich muss auch weg von hier.-
Mein Koffer, der Kater, ich. Alles drin. Los!
-Was treibt sie denn an solchem Tag los?-
-Ich muss einfach weg von hier- antworte ich teilnahmslos.
-Bin der Martin. Sie?-
-Sonja.-
-Und die Katze?-
-Ist ein Kater, Willy.-
Der Fahrer wirkt bisschen enttäuscht, hat sich wahrscheinlich mehr von mir versprochen. Sonja, reiß dich zusammen! Du hast dir das alles selbst angetan, jetzt musst du durch. Los! Rede mit ihm!
-Nett, dass du angehalten hast, Martin.-
-Ist doch selbstverständlich. Freue mich immer, wenn ich nicht alleine fahren muss. Willst du reden, oder brauchst du eine Verschnaufpause?-
-Nein, ist OK, erst reden, muss mich wieder finden, dauert ein Moment. Wo fährst du hin?-
-Habe gerade in Hameln geladen, muss nach Herford, dann nach Osnabrück.-
Mein Herz bleibt stehen. So ein Zufall.
-Ja, die Richtung stimmt. Passt mir. Entschuldige, dass ich so blöd wirke, aber...- Mir fehlen die Worte. Meine Gedanken landen drei Jahre zurück.
-Kein Problem Sonja. Verstehe. Mach es dir erst bequem. Durst?-
-Ja, ein bisschen, habe auch Wasser mit. Erst der Kater. er hat es nicht leicht mit mir.-
Ich grinse blöd. Oh Mann, was denkt er sich von mir? Eine Verrückte. Bestimmt. Gott sei Dank schläft Willy gemütlich in seiner Box, wird schon Alarm machen, wenn er Durst hat. Anscheinend macht ihm die Hitze nichts aus. Mein Kleid klebt am ganzen Körper, die Haare kitzeln. Es ist ganz angenehm in der Kabine, ist eine gute Erfindung, die Klimaanlage. Trotzdem fallen mir die Augen zu, würde am liebsten ein Nickerchen machen. Die letzte Nacht, die ich in der Wohnung meiner Schwester verbracht habe war schwer, habe gar nicht geschlafen. Die extreme Temperatur, trockene Luft und die Aufregung haben mich fertig gemacht.
-Ich glaube, dein Handy klingelt, Sonja.-
In meinen Gedanken vertieft habe ich es nicht gehört. Mal sehen, ist ER es? Nervös öffne ich meine Tasche, kann das Handy nicht finden. Mein Herz versucht meine Brust zu verlassen. Was habe ich zum Teufel alles da drin? Endlich finde ich das Telefon, ein Blick auf den Display. Nein, es ist nicht Michel. Martin merkt mein enttäuschtes Gesicht. Es ist Bianka, meine myspace-Freundin, ich drücke sie weg.
-Na, falscher Anrufer? - fragt Martin.
-Nein, es ist nicht wichtig, hat Zeit.-
Das Telefon klingelt wieder, diesmal Steffi, eine andere von myspace. Was soll das zum Teufel? Haben sie sich abgesprochen? Die drücke ich auch weg. Trotz der angenehmen Temperatur in der Kabine, fange ich wieder zu schwitzen. Warum ruft Michel nicht an? Wollte sich doch gegen Mittag bei mir melden. Na ja, es ist doch erst zwölf, kein Grund zur Aufregung. Ich nehme einen großen Schluck Wasser, es soll beruhigen.
-Darf man hier rauchen? -frage ich.
-Klar, bin selbst Raucher.-
Erst jetzt sehe ich eine Schachtel West auf dem Armaturenbrett. Natürlich kann ich jetzt mein Feuerzeug nicht finden.
-Feuer?- fragt Martin. -Warum bist du so nervös? Von zu Hause abgehauen?-
Zum Glück kann er nicht sehen, wie rot ich geworden bin.
-Eh, in meinem Alter braucht man keine Erlaubnis-, antworte ich, ohne ihn anzuschauen.
- War nur ein Scherz. Wollte nicht neugierig sein. Das Feuerzeug liegt da vorne, bediene dich.-
Meine erste Zigarette heute, schmeckt gar nicht. Wieder das Handy, diesmal SMS, von Steffi. „Sonja, melde dich sofort bei mir, ist wichtig, sehr wichtig. Es geht um Michel!“ Mein Magen geht hoch. Ist etwas passiert? Noch eine SMS, von Bianka. „Sonja! Ruf mich an, schnell!“ Ich falle gleich in Ohnmacht.
-Schlechte Nachrichten? Du siehst sehr schlecht aus Sonja. Ist was passiert?-
-Weiß ich nicht, muss anrufen.-
-Tue es!-
Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer von Steffi.
-Hallo Steffi, was ist los?-
-Sonja! Michel hatte einen Unfall, liegt im Krankenhaus, Lebensgefahr.-
-Was? Woher weißt du das?-
-Habe einen Anruf gekriegt, von seiner Frau.-
-Wo hatte sie deine Nummer her?-
-Wohl von seinem Handy. Sie hat versucht auch dich anzurufen zu Hause, aber da meldet sich keiner. Wo bist du?-
-Auf dem Weg nach Bad Oeynhausen. Martin und ich, wir wollten uns dort treffen.- Ich werde ganz steif, kalter Schweiß überströmt meinen Körper.
-Danke dir Steffi. Bis bald, muss mich erst beruhigen.-
-Melde dich bitte, wenn du mehr weißt, bitte- Steffi ist auch aufgeregt.
Ich packe mein Handy in die Tasche und zünde mit zitternden Händen eine neue Zigarette an.
-Hey Sonja! So schlimm?- Martins Stimme weckt mich auf. -Entspanne dich. Kann ich dir irgendwie helfen?.
Ich weiß gar nicht, was ich als erstes machen soll. Michels Frau anrufen? Traue ich mir kaum. Aber wenn sie schon seine Freunde von myspace anruft, dann ist es wohl kein Spiel. Also, anrufen.
-Danke Martin. Ich muss noch kurz mit meiner Freundin telefonieren.-
Michaels Festnetznummer habe ich nie in meinem Handy abgespeichert . Mein Kopf brummt. Bianka, ja, Bianka anrufen. Sie hat seine Nummer.
-Hallo Bianka! Habe deine SMS gekriegt. Weißt du, was mit Michel passiert ist?-
-Nicht wirklich. Seine Frau rief mich an und erzählte, dass er einen Autounfall hatte und im Krankenhaus liegt. Sein Zustand ist mehr als schlecht. Sie sucht dich. Ruf sie an. Sie gab mir ihre Handynummer, falls du dich bei mir melden solltest. Hast du was zum schreiben?-
-Ja, sag mir die Nummer.-
Meine Hände zittern, ich notiere die Nummer.
-Wie kam sie auf mich?- frage ich Bianka.
-Weiß ich nicht. Ruf sie schnell an, bitte!- Bianka wird langsam ungeduldig.
-OK, mache ich sofort. Bis bald. Danke dir Süße. Melde mich später.-
Es läuft alles wie in einem schlechten Film. Mein Verstand lässt es nicht zu, an ein Unglück zu denken. Michel ist doch ein harter Hund, ihm kann gar nichts passieren. Merkwürdig. Was wird Jessy von mir wollen? Doch nicht mir berichten, dass ihr Mann einen Unfall hatte, es ergibt keinen Sinn. Sie kennt mich gar nicht, weiß nicht mal, dass es mich gibt. Quatsch! Sie versucht mich doch zu kontaktieren.
-Probleme?- fragt Martin.
-Ja, mein Freund hatte einen Autounfall. Ich weiß noch nichts Genaueres, muss noch einmal anrufen.-
Mit gemischten Gefühlen wähle ich die Handynummer von Jessy.
-Jessica Wright.-
-Hallo, hier ist Sonja. Sie haben versucht, mich zu erreichen.-
-Hallo Sonja! Nett, dass Sie sich melden.- Eine erstaunlich ruhige, melodische Stimme mit leichtem ausländischen Akzent. So habe ich mir sie gar nicht vorgestellt.
-Was ist passiert?- frage ich.
-Martin liegt im Krankenhaus. Sie wissen doch schon von dem Unfall. Ich habe Ihre Freundinnen informiert. Haben sie Ihnen nichts erzählt?-
-Ja, doch, aber nur, dass es ein Autounfall war, nichts mehr. Was ist los? Wie geht es Michel?-
-Halb so schlimm, er lebt. Wundern Sie sich nicht, dass ich gerade Sie gesucht habe?-
-Eigentlich ja. Wo haben Sie meine Telefonnummer her?- frage ich.
-Es war nicht schwer herauszufinden. Ihre Nummer taucht tausend mal in Michels Telefonrechnungen auf. Aber das ist kein Thema für ein Telefongespräch. Haben Sie die Möglichkeit, nach Osnabrück zu kommen? Ich möchte Sie persönlich sprechen.-
-Ich bin gerade unterwegs und die Richtung stimmt. Warten Sie Augenblick.- Ich wende mich an Martin.
-Sag mal, wann landest du in Osnabrück? Ich muss doch hin. Wo hältst du da an?-
-Ich schätze, so in drei Stunden. Muss in der Hannoverschen Straße abladen und den Lkw abstellen- sagt Martin.
-Hören Sie? Ich bin in drei Stunden da. Wo wollen wir uns treffen?-
-Kennen Sie sich in Osnabrück aus?-
-Ja, bisschen.-
-Wissen Sie, wo die Möserstraße ist?-
-Ja, nicht weit von dem Bahnhof.-
-Da ist eine Cafeteria, Grand Café, auf der linken Straßenseite, da werde ich auf Sie warten.-
-OK, dann bis später.- sage ich. Jessy legt auf, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
-Alles in Ordnung?- Martin guckt mich besorgt an.
-Mal sehen. Ich weiß nicht genau, was los ist. Du bist ein Gottesgeschenk Martin.-
-Wie meinst du das?- fragt er erstaunt.
-Eigentlich hatte ich gar nicht vor, heute nach Osnabrück zu fahren, hatte andere Pläne. Schicksal?-
-Freut mich.- Martin lächelt und bietet mir eine Zigarette an. -Rauch mal eine mit mir. Willst du erzählen?-
Oh je ... Ja, es wird mir wohl gut tun, jemandem, der mich nicht kennt, meine Geschichte zu erzählen. Die nächsten drei Stunden muss ich sowieso mit dem Mann hier verbringen. Wo soll ich anfangen? Die Angst um Michel macht meinen Kopf total leer.
-Ja, wenn es für dich nicht zu langweilig ist.- Ich bin bisschen unsicher.
-Ach... Ich bin hier genug alleine, nur mit meinen Gedanken. Es ist immer schön, jemanden zu haben, der etwas zu erzählen hat. Außerdem wird das dir bestimmt helfen, dich zu entspannen.
-Hm... wo soll ich anfangen?-
-Am besten mit dem ersten Tag, der dein Leben aus der Bahn geworfen hat. So ist es doch, oder? Du wirkst total durcheinander Sonja. Los, erzähle- ermutigt mich Martin. Seine Art und Weise erinnern mich an Michel. Auch die ganze Situation, der Lkw. Nur das Wetter ist anders. Ich sehne mich nach Regen, nach dem Mairegen, der meine Tränen unsichtbar machen könnte. Meine Augen sind voll. Gleich breche ich in Tränen aus.
Kapitel 2
Die Bilder der letzten drei Jahre laufen plötzlich in meinem Kopf ab, wie im Kino. Ja, es ist schon drei Jahre her. Es war ein regnerischer Maitag. Ich stand an der Straßenbahnhaltestelle, wollte zu meiner Freundin, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Die Straßenbahn kam nicht. Normalerweise fährt sie im 10-Minuten-Takt. Es sind schon 20 Minuten vergangen und nichts. Endlich eine Ansage. Wegen einer Stromstörung fahren die Bahnen nicht mehr, es werden Ersatzbusse gestellt. Na klasse, das fehlt mir noch. In diesem Moment hält ein Lkw direkt vor mir an.
-Kennen Sie sich in Hannover aus?- eine nette Stimme mit ausländischem Akzent weckt mich aus meinen Gedanken.
-Ja, wie kann ich Ihnen helfen?-
-Ich glaube, ich bin zu früh abgefahren von der Autobahn, muss zu VW.- Der Fahrer guckt mich mit seinen lustigen braunen Augen fragend an.
-Na wenn es nicht ein Zufall ist. Ich will gerade auch in diese Richtung. Wenn Sie mich mitnehmen, zeige ich Ihnen den Weg- antworte ich erleichtert. So werde ich nicht mit dem Ersatzbus in die Stadt und dann erst mit der Straßenbahn fahren müssen, spare Zeit.
-Gerne, steigen Sie ein!-
Bin glücklich, dass ich nicht mehr im Regen stehen muss. Bin schon zu spät dran. Anita wartet bestimmt schon auf mich. Ich packe meinen Regenschirm in die Tasche und steige rasch in die gemütlich warme und trockene Kabine.
-Wer hat das Wetter bloß bestellt?- frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
-Wieso? Ich liebe Regen. Es ist mein Lieblingswetter heute, Mairegen.- Erst jetzt schaue ich mir den Fahrer genauer an. Vorher habe ich nur die Augen und das unsrasierte Kinn gesehen. Ein „graumelierter“ Mann, Ende vierzig mit gutmütigem Gesicht und lustigem Blick, wirkt irgendwie vertrauensvoll. Ein schwarzes T-Shirt bedeckt ein gemütliches Bäuchlein. Er sieht einfach kuschelig aus. Seine muskulösen Arme deuten auf einen ehemals gut durchtrainierten Körper.
-Ja, wenn man im Auto sitzt und auf die Bahn nicht warten muss- antworte ich.
-Wie fahren wir jetzt? Ich kann hier nicht lange stehen.-
-Fahren Sie gerade aus, dann die erste rechts, wir müssen zurück auf die Autobahn. Nett, dass Sie mich mitnehmen.-
-Ganz mein Vergnügen- sagt der Fahrer -Es ist immer besser, ein bisschen Gesellschaft zu haben. Passiert leider nicht so oft.-
Die nasse Fahrbahn sieht für mich gefährlich aus, aber der Fahrer führt seinen Lkw so sicher, als ob er darin geboren wäre. Ich habe nicht mal bemerkt, was er transportiert. Kleiner Blick in den Seitenspiegel. Da sind Autos drauf. Die Ladefläche sieht sehr lang aus. Ich habe immer die Fahrer von solchen Transportern bewundert. Wie kann man mit so etwas rückwärts fahren, auf kleinen Flächen lenken?
-Es ist eigentlich alles sehr gut ausgeschildert hier, wie haben Sie es gemacht, dass Sie in Lahe gelandet sind?-
-Bin einfach blöd, habe gerade nach meinen Zigaretten gesucht und nicht aufgepasst, wo ich hinfahre. Einfach eine falsche Spur genommen und es gab keine Möglichkeit mehr, mich richtig einzuordnen. Aber dafür habe ich nette Begleiterin gefunden.-
-Oh, danke!- Ich werde rot. Der Mann scheint sehr direkt zu sein. Na ja, ein Ausländer, die sind generell anders als die Deutschen. -Fahren Sie jetzt Richtung Stöcken, ich sage Ihnen, wann Sie abfahren müssen. Normalerweise fahre ich immer mit Auto dorthin, aber heute habe ich kein zur Verfügung.-
Mein Handy klingelt, es ist Anita.
-Hallo Anita, ich bin spät dran, weiß ich, aber die Straßenbahn fährt nicht mehr, da ist Stromausfall oder so was.-
-Und wo bist du jetzt?- fragt Anita.
-In einem Lkw, der Richtung Stöcken fährt. Jemand hat mich mitgenommen.-
-Ach je! Sonja, ich muss dringend mit Adam zum Zahnarzt. Es dauert bestimmt eine Stunde. Es tut mir so Leid. Kannst du auf mich warten? Da ist eine kleine Bäckerei an der Ecke. Da kannst du dich hinsetzten, sie haben einen sehr guten Kaffee. Sei mir bitte nicht böse, aber Adam hat starke Schmerzen, ich kann nicht mehr warten, er heult wie ein Verrückter.- Ich höre wirklich im Hintergrund den weinenden Sohn von Anita.
-Kein Problem, ich warte auf dich dort. Ruf mich an, falls sich etwas ändern sollte. Bis dann.-
Ich gucke auf die Uhr, es ist schon 18 Uhr. Hoffentlich dauert es nicht so lange bei dem Zahnarzt.
-Planänderung?- fragt der Fahrer.
-Ja, ich muss auf meine Freundin eine Stunde warten.-
-Das ist aber gut! Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen? Möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihre Hilfe. Ich habe Zeit, werde sowieso heute hier übernachten müssen.- Er guckt mich einladend an. Ich kann schlecht „nein“ sagen.
-Ja, gerne- antworte ich. -Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.-
-Freut mich. Ich bin Michel und Sie?-
-Sonja.- Ich werde wieder rot. Es ist mir peinlich, bin doch kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene, siebenundvierzigjährige Frau.
-Ich parke nur und wir können gleich gehen. Da ist eine gemütliche Imbissbude. Bin öfters in Hannover und gehe immer hin eine Kleinigkeit essen und Kaffee trinken. Leider immer alleine. Schön dich heute hier zu haben Sonja.-
Wir kommen am VW-Werk an. Michel sucht einen freien Parkplatz. Der Regen hat nachgelassen, es nieselt nur leicht. Ich nehme meinen Regenschirm aus der Tasche, will nicht nass werden. Wir steigen aus.
-Komm unter den Regenschirm- sage ich zu Michel.
-Gerne, obwohl ich nicht aus Zucker bin. Hab dir schon gesagt, dass ich Regen mag.-
Nicht aus Zucker, aber ganz süß, denke ich mir. Er nimmt mir den Regenschirm ab und bietet seinen Arm an. Bin ein wenig verlegen, aber es gehört sich nicht abzulehnen.
Die Imbissbude ist nicht weit. Eigentlich wollte ich auf Anita in der Bäckerei warten, aber was für Unterschied ist das. So bin ich wenigstens nicht alleine.
Die Verkäuferin in der Imbissbude scheint Michel gut zu kennen.
-Hallo Michel! Wieder in Hannover? Oh, und heute nicht alleine!- sagt sie lächelnd.
-Hi Martha! Schön, dich wieder zu sehen! Ja, habe eine nette Dame auf der Straße gefunden und mitgenommen.- Michel zwinkert in meine Richtung. Verdammt, ich werde wieder rot.
-Was kann ich für dich tun Michel? Wie immer Kaffee und Käsebrötchen? Und für die Dame?-
-Haben Sie auch Tee?- frage ich leise.
-Natürlich. Setzt euch hin, ich mache gleich alles fertig. Scheißwetter heute, keine Kunden und langweilig. Ich freue mich immer, wenn Michel mich hier besucht. Er bringt gute Laune mit.- Die Verkäuferin, eine pummelige kleine Blondine mit riesigen Brüsten, streichelt Michel vertraulich die Wange.
-Oh Martha! Du weißt, dass ich auch sehr gerne hierher komme. Du bist meine Lieblingsverkäuferin und deine Brötchen und dein Kaffee schmecken am besten. In ganz Europa werde ich auch nirgendwo so nett bedient, wie bei dir.-
Martha bereitet unsere Getränke und macht frische Brötchen für Michel.
-Was möchtest du essen Sonja?- fragt Michel.
-Danke, gar nichts, habe nur bisschen Durst.-
Wir machen es uns gemütlich am Tisch.
-Ich fühle mich hier besser als zu Hause- sagt Michel.
-Wo kommst du her?- frage ich.
-Aus Belm in der Nähe von Osnabrück.-
-Ich meine, was für Landsmann bist du, wenn ich fragen darf?-
-Natürlich darfst du fragen, bin Engländer. Und du? Sorry, aber ich höre auch einen fremden Akzent bei dir. Aus Russland?-
-Nein- ich lache -die Russen reden anders, mehr singend. Ich komme aus Polen, lebe hier schon 18 Jahre.-
-Fast so, wie ich. Ich wohne 17 Jahre in Deutschland.-
-Und ständig unterwegs?-
-Nein, erst seit ein paar Jahren.-
-Und wohin geht es weiter?- Martha bringt uns Tee und Kaffee zum Tisch. -Wieder nach Holland?- fragt sie.
-Ja, morgen früh. Dann Wochenende und nach Hause. Endlich wieder im eigenen Bett schlafen.-
-Deine Frau wird sich freuen. Die Arme hat es nicht leicht mit dir. Oder besser gesagt, ohne dich.-
-Eh, sie hat ihre Katzen und vermisst mich bestimmt nicht. Ich vermisse dafür meine Gitarren. Das sind meine Frauen.- Michel lacht laut.
-Spielst du Gitarre?- frage ich.
-Ja, nur für mich, so zum Spaß. E-Gitarre.-
Mein Handy klingelt wieder, Anita.
-Sonja, es tut mir Leid. Die Praxis ist proppenvoll. Es dauert wohl doch länger. Wo bist du, in der Bäckerei?-
-Nein, aber nicht weit. Macht nichts. Habe nette Gesellschaft, bin am Tee trinken. Wir können uns morgen treffen, wenn es dir passt.-
-OK, dann bis morgen um 17 Uhr.- Anita verabschiedet sich schnell.
-Tja, dann muss ich nach Hause- sag ich zu Michel.
-Warum? Hast du es eilig? Bleib noch bisschen, bitte.- Michels Welpenaugen durchbohren mich bis zu meinem Herzen. Der Mann zieht mich magisch an. Das verstehe ich gar nicht, ich kenne ihn doch nicht. Es ist ein Fremder. Sonja, was ist mit dir los? Ist es seine Stimme, seine Augen oder seine süße ausländische Aussprache, die mich so reizen?
-Eigentlich nicht, aber du bist bestimmt müde, will nicht stören,- antworte ich, obwohl mir eine innere Stimme sagt, ich soll bleiben.
-Quatsch! Bin nicht müde. Also bleibst du noch hier.- Michel fragt nicht mehr, er bestimmt.
-OK. Dann nehme ich noch ein Stück Kuchen.- Ich mache es mir bequem in meinem Sessel. -Du scheinst ein interessantes Leben zu führen.-
-Wieso? Es ist immer das gleiche, Autobahn, Straßen, Straßen, Autobahn... Nichts Interessantes. Was machst du so?-
-Bin nur einfache Bürokraft in einer blöden Firma. Nichts ungewöhnliches. Aber was ist mit deinen Gitarren? Was spielst du so?-
-Oh, Michel macht schöne Rockmusik.- Martha setzt sich zu uns. Ich habe hier eine CD mit seinen Songs. Warte, ich stecke sie in den Player.
-Martha, lass das. Es ist nichts besonderes.- Michel versucht Martha aufzuhalten, aber sie ist schneller und gleich kommt Musik aus den Lautsprecher.
-Bist du das wirklich? Es ist echt geil, ich mag Rock.-
Ich merke nicht, wie zwei Stunden vorbei sind. Es ist langsam Zeit, nach Hause zu fahren und ich habe noch einen sehr langen Weg vor mir. Aber die Unterhaltung mit Michel macht mir so viel Spaß, dass ich gar nicht daran denke, nach Hause zu gehen. Es ist, als ob ich ihn schon ewig kenne. Als ob ich ihn in meinem früheren Leben getroffen hätte. Oder mehr, als ob ich auf ihn mein ganzes Leben gewartet hätte.
-Ich muss weg Michel, es ist schon spät, muss spätestens 22 Uhr zu Hause sein.-
-Ich begleite dich zur Straßenbahn, OK?-
-Das ist aber nett.-
Michel verabschiedet sich von Martha und wir gehen raus. Es regnet nicht mehr, aber es ist kühl draußen.
-Willst du meine Jacke haben?- fragt Michel.
-Danke, es geht.- Mir ist wirklich nicht kalt. Seine Nähe macht mich eher heiß. Schade, dass ich ihn nie wieder sehe.
-Sonja?-
-Ja?-
-Ich möchte dich wieder treffen, wäre es möglich?- fragt er, als ob er meine Gedanken lesen könnte. -Ich bin in zwei Wochen wieder da.-
Mein Herz schlägt schneller. Natürlich will ich ihn wiedersehen! Wiedersehen und richtig kennen lernen.
-Ja, es wäre schön- antworte ich und werde wieder rot. Gott sei dank kann er es nicht sehen, es wird dunkel. Wir kommen an der Haltestelle an. Meine Bahn kommt gerade.
-Geh noch nicht- bittet Michel. -Nimm die nächste, bitte.-
Es kommt mir gelegen.
-Gut, ist kein Problem.-
-Darf ich dich morgen Abend anrufen?-
-Ja, würde mich freuen.- Wir tauschen unsere Telefonnummern. Der Wind nimmt zu. Ich fange an zu zittern. Weiß nicht genau, von der plötzlichen Kälte oder von der Aufregung. Michel legt seinen Arm um meine Schulter.
-Darf ich?- fragt er schüchtern?
Sein Körper strahlt unheimliche Wärme aus, ich will nicht weg. Wir stehen so eine Weile, ohne etwas zu sagen. Ich fühle mich in seinen Armen glücklich und geborgen. Oh Gott, möge diese Weile ewig dauern!
-Rauchen wir noch eine?- frage ich um die Spannung zu entschärfen. Michel holt Zigaretten aus der Jackentasche, ohne mich los zu lassen. -Sag mal Sonja, sind wir uns schon mal begegnet?- Michel schaut mir in die Augen.
- Ich habe auch so ein Gefühl- antworte ich leise. Meine Bahn kommt.
-Ich rufe dich morgen an. OK?- sagt Michel und küsst mich auf die Stirn.
-Ich werde warten. Wann?-
-So gegen 21 Uhr. Passt es dir?-
-Ja klar.- Die Bahn hält an. Ich küsse Michel schnell auf die Wange und springe in den Wagon. Michel winkt, wartet, bis die Straßenbahn wegfährt. Es fängt wieder an zu regnen. Der Weg nach Hause scheint mir ganz kurz zu sein. Ich steige an der Noltemeyerbrücke aus und stelle fest, dass ich meinen Regenschirm in der Imbissbude vergessen habe. Der Regen wird stärker. Ich muss noch zehn Minuten zu Fuß laufen. Die kleine dunkle Straße bewirkt, dass ich mich alleine und verlassen fühle. Ein merkwürdiges Gefühl wächst plötzlich in meinem Herzen. Ich habe Sehnsucht! Sehnsucht nach … Ja! Nach Michel. Wie kommt das? Meine Augen werden ganz warm und lassen Tränen auf mein Gesicht strömen. Ich gehe schneller. Hoffentlich ist Robert noch nicht da. Fast laufend erreiche ich unser Haus. Zu spät, Roberts Wagen steht schon da. Ich gehe in die Wohnung. Im Flur sehe ich mein nasses Gesicht im Spiegel. Robert schaut mich an.
-Weinst du?- fragt er.
-Nein, es regnet doch wieder- antworte ich und verschwinde schnell im Bad. Wasche die unsichtbaren Tränen von meinem Gesicht ab und trockne meine Haare. Ein Blick in den Spiegel, ja jetzt kann ich ins Wohnzimmer.
-Wie war es bei Anita? Habt ihr euch gut amüsiert?- fragt Robert.
-War nett, wir haben bisschen Wein getrunken. Bin hundemüde, gehe gleich ins Bett. Hast du schon gegessen?-
-Ja. Will nur noch den Fußballbericht sehen und gehe auch schlafen.
Ich ziehe mich schnell aus und springe in das weiche Bett. Ich möchte gerne sofort einschlafen, aber meine Gedanken lassen es nicht zu. Ich spüre immer noch den warmen Kuss von Michel auf meiner Stirn. Was ist denn heute passiert? Ich kann mir es gar nicht erklären. Was ist mit mir los? Ich wünschte mir, erst morgen Abend aufzuwachen. Langsam wird mir warm. Der Schlaf kommt und mit dem Schlaf ein schöner Traum. Ich liege mit Michel auf einer Wiese. Wir schauen uns die vorbeischwebenden Wolken und erzählen uns Geschichten aus unserm Leben. Es ist angenehm warm.
Kapitel 3
Martin ist ein angenehmer Zuhörer. Er unterbricht nicht, macht keine unnötigen Bemerkungen, er hört einfach zu. Ich weiß nicht, ob ihn meine Geschichte überhaupt interessiert, schaue ihn nicht mal an. Ich gucke auf die Fahrbahn vor uns, sehe aber nur den Film, der in meinem Kopf läuft.
Michel hat wirklich am nächsten Tag um 21 Uhr angerufen. Seine angenehme Stimme kurbelt meine Stimmung auf Hochtouren.
-Na, erinnerst du dich noch an mich?- fragt er. Ich lache. Sein englisches Humor entspricht meinem.
-Wie könnte ich dich vergessen Michel? Du gehörst zu den Menschen, die man nie vergißt, auch wenn man sie nur ein Mal gesehen hat. Hat dir das schon mal jemand gesagt?- antworte ich flirtend.
-Ach, du sagst es nur so. Bin ein durchschnittlicher Niemand, ein Fernfahrer.-
-Hast du schon Feierabend?-
-Nein, noch nicht, aber bald. Bin gerade wieder in Deutschland, auf dem Weg nach Düsseldorf. Da werde ich übernachten. Morgen früh geht es Richtung Osnabrück und endlich Wochenende. Freue mich schon auf meine Badewanne.-
-Und deine Frau freut sich bestimmt schon auf dich- sage ich provozierend. Er hat sie gestern gar nicht erwähnt, was mich um so mehr neugierig gemacht hat.
-Meine Frau? Ach, Jessy! Nein, sie hat sich schon gewöhnt an meine Arbeitszeiten und selbst hat sie viel zu tun, ihr eigenes Leben.-
-Und was hast du vor am Wochenende?-
-Nichts besonderes. Wenn ich Samstags schon zu Hause bin und Jessy nicht gerade arbeiten muss, fahren wir nach Osnabrück zum Frühstück.-
-Arbeitet sie auch Samstags?- frage ich weiter.
-Nur jeden zweiten. Ist auch ehrenamtlich, bei den Katzen.-
-Katzen?-
-Ja, in einem Tierheim.-
-Habt ihr auch eine Katze?-
-Sogar drei. Wir lieben Katzen über alles. Du hast doch auch eine, hast du gestern erzählt, einen Kater, Willy.-
Mir fällt gerade ein, dass ich gestern unheimlich viel gelabert habe. Michel hat nur freundlich zugehört und es ab und zu kurz kommentiert oder eine ähnliche Geschichte aus seinem Leben erzählt. Viel war es nicht und vielleicht deswegen bin ich jetzt so neugierig darauf, was sein Leben anbelangt.
-Interessante Mischung, Katzen und Musik. Hast du auch mit einer Band zusammen gespielt?-
-Ja, aber das ist schon Geschichte.-
-Und warum machst du es nicht mehr?-
-Einfach keinen Bock mehr. Muss außerdem Geld verdienen.-
-Na jedenfalls das, was ich bei Martha gehört habe finde ich echt cool, gefällt mir sehr. Möchte ich auch eine CD von dir haben. Hatte immer eine Schwäche für Gitarre und Gitarristen.-
-Kein Problem. Hast du Internet? Ich kann dir meine Songs senden.-
-Ja, seit ein paar Monaten, aber so richtig kenne ich mich da nicht aus. Bräuchte jemanden, der mir alles zeigt und durch diesen Dschungel hilft.-
-Wenn du willst, kann ich dir am Samstag helfen. Was für einen Messenger benutzt du?-
-Messenger? Was ist das?-
-Ein Programm, in dem man sich mit Leuten unterhalten kann.-
-Ich bin bei Freenet. Da habe ich meine Mail-Box und bin auch bei der Community registriert.-
-Das ist schon etwas. Sende mir per SMS deine E-Mail Adresse, ich schreibe dich Samstagabend an.-
-Dann sind wir verabredet, verstehe ich?-
-Klar! Ich rufe dich jetzt nicht nur an, um die Zeit zu vertreiben, will dich näher kennen lernen.-
-Ach, du sagst es nur so,- antworte ich verlegen.
Seine Hilfsbereitschaft fand ich sehr nett. Hätte ich damals bloß gewusst, wie sich das alles entwickelt, mein großes Abenteuer mit Internet und Michel. Was ich auch noch nicht wusste, ich war schon an diesem Tag über beide Ohren in ihn verknallt. Ich konnte den Samstagabend kaum erwarten. Der Freitag kam mir so lang vor, wie noch nie. Auch der Samstag war nicht besser. Sogar die Fußballübertragung, auf die ich so gewartet hatte, interessierte mich nicht mehr.
Und der Samstagabend kam doch. Eine kurze E-Mail von Michel „Bin in der Community drin, wie finde ich dich dort?“ hatte mein Leben total verändert. Michel führte mich in die Geheimnisse der Internet-Welt geduldig und ausführlich ein, zeigte, wie man einen Messenger installiert, das war der erste Schritt. Ich hätte nie gedacht, dass man sich mit jemandem so gut „schriftlich“ unterhalten kann.
„kennst du myspace?“ fragt er. „nein. was ist das?“. „geh auf www.myspace.de/rockbastard, da bin ich“.
Obwohl ich mir nichts davon verspreche, öffne ich die Internetseite und entdeckte da wirklich den Michel. Eine Musikerseite mit seinen Lieder und noch etwas, was für mich bisschen merkwürdig aussieht. Jede Menge Frauenfotos mit komischen Namen drunter. Auch ein paar Männer, aber nicht so viele. Was ist das zum Teufel? Sammelt er da Weiber oder was? Bin ein bisschen enttäuscht.
„hast du es?“ fragt Michel. „ja, kann aber damit nichts anfangen. das einzige, was mich hier interessiert, ist deine musik.“ „warte ab, du musst dich da erst registrieren, dann wirst du sehen, wie viel spaß es macht.“
Das Ausfüllen des Registrierformulars dauert eine Weile. Michel wartet geduldig, bis ich fertig bin.
„geschafft?“ „ja; und was weiter?“ „unter welchem Namen bist du da?“ „sonja k.“ „ok, ich adde dich, musst du nur genehmigen.“ „wo genehmigen?“ „schau auf der linken seite, in dem roten rahmen, einfach draufklicken und wirst du schon sehen.“
Und wirklich, in ein paar Sekunden habe ich da meinen ersten myspace-Freund. Nur einen myspace-Freund? Bin aufgeregt. Michel zeigt mir noch, wie man da Freunde sucht und addet, alles andere muss ich schon selbst herausfinden. Die Zeit verging wie im Fluge. So viel Zuwendung und Aufmerksamkeit habe ich noch nie in meinem Leben empfunden. Ich habe gar nicht bemerkt, wie der Morgen kam. Meine erste Nacht mit Michel.
Am Sonntag schaltete ich unter Roberts missbilligendem Blick meinen Laptop ein, meldete mich bei myspace und im Messenger an. Michel war auch da. Lange konnten wir uns nicht unterhalten, aber dafür verabredeten wir uns für die nächste Woche. Michel hat mir versprochen, mich sofort anzurufen, wenn er wieder in Deutschland ist.
Der nächste Tag im Büro war unerträglich. Das Telefon klingelte fast pausenlos, wie immer montags. Kunden, Mitarbeiter, unser Chef, alle wollten etwas schnell, sofort und umgehend. So habe ich ganz vergessen, dass Michel sich irgendwann melden wollte. Als das Klingeln mich wohl schon zum hundertsten Mal von meinem Computer weg riß , meldete ich mich ziemlich genervt am Telefon.
-AVIA Security, mein Name ist Pohl, guten Tag!- schreie ich in den Hörer.
-Uiii..., jemand hat schlechte Laune- eine vertraute, warme Stimme bringt mich auf den Boden.
-Störe ich?- Erst jetzt erkenne ich Michel wieder, mein Herz fängt an zu rasen.
-Oh, sorry!- antworte ich verlegen. -Montage sind immer so stressig hier. Du störst natürlich nicht.-
-Ich wollte dir nur einen schönen Tag wünschen. Fahre gleich nach Frankreich und komme erst am Mittwochabend wieder. Kann ich dich dann anrufen?-
-Hm..., schlecht, Robert hat diese Woche Frühschicht und ist abends zu Hause.-
-Robert?- fragt Michel.
-Ja, mein Mann.-
-Na dann am Donnerstag früh, OK?-
-OK, freut mich, bin ab halb sechs erreichbar.-
-Stehst du so früh auf?-
-Nein, erst um sieben, aber du kannst ruhig früh anrufen. Ist besser zu Hause. Im Büro morgens ist viel los.-
-Gut, dann stelle ich mir den Wecker an. Jetzt muss ich Schluss machen, bin fast an der Grenze. Dann bis Donnerstag. Freut mich, dass ich dich hören konnte.-
-Bis dann, pass auf dich auf, freue mich auf dich.-
-Mir kann nichts passieren, bin ein harter Hund- sagt Michel. -Bye, bye Sonja.-
Der Rest des Tages verging für mich schnell und bei guter Laune.
Unsere Telefongespräche sind zur Routine geworden. An Wochenenden trafen wir uns abends im Internet, oft für ganze Nächte. Erstaunlicherweise hatten wir uns immer etwas zu erzählen. Ich hatte noch keinen getroffen, mit dem ich so lange und über alles reden konnte. Unser Treffen in Hannover in zwei Wochen kam nicht zustande, weil Michel unerwartet nach Amsterdam musste. Erst einen Monat später bekam ich eine so sehnsüchtigt erwartete SMS von Michel. „Bin morgen in Hannover, können wir uns treffen?“ Robert hatte an dem Tag Spätschicht und ich konnte mir genug Zeit für Michel nehmen. Nach der Arbeit fuhr ich nach Stöcken, zum VW-Werk-Parkplatz, wo Michel neue Autos laden musste und übernachten wollte. Ich war ein bisschen unsicher. Es war etwas anderes, mit ihm zu chatten und zu telefonieren, als ihn jetzt zu treffen. Michel holte mich von der Straßenbahn ab.
-Hi Sonja, schön dich wieder zu sehen!- Michel umarmt mich und küsst mich vertraut auf die Stirn. Bin etwas verlegen, damit habe ich nicht gerechnet.
-Komm, will dir etwas Schönes zeigen.- Er nimmt mich an der Hand und wir gehen die nächste Straße rein. Es ist ein schöner, sonniger Sommertag. Es hat heute morgen geregnet und die Luft ist frisch und angenehm.
-Mach jetzt deine Augen zu, bis ich dir sage, du darfst sie wieder aufmachen- befiehlt Michel und führt mich weiter.
-Jetzt!- Wir bleiben stehen.
Ich mache die Augen auf und erblicke ein wundervolles Bild, eine Wiese mit lauten Lämmern. Ich bin entzückt.
-Du liebst doch Tiere. Ich dachte, es wäre etwas für dich, als ich auf dem Weg zur Haltestelle die Wiese entdeckt habe- erklärt Michel.
Ich könnte ihn jetzt küssen. Es ist mir danach, aber meine Schüchternheit lässt mich blöd stehen. Michel legt sein Arm um meinen Schulter, mir wird heiß.
-Die Kleinen sind süß, danke dir- sage ich und küsse ihn doch, ganz brav auf die Wange.
-Wollen wir Kaffee oder Tee bei Martha trinken? Sie hat gerade frische Muffin's, wollen wir hin?-
Martha erkennt mich wieder und begrüßt mich sehr herzlich, wie eine alte Bekannte.
-Hallöchen Süße, wie geht es dir? Michel hat dich schon angekündigt. Tee, Kuchen?-
-Nein Martha, ich habe heute schon genug bei dir gesessen, du hast viele Gäste da. Packe uns ein paar von deinen leckeren Muffin's, Tee für Sonja und Kaffee für mich ein. Wir wollen noch ein wenig spazieren gehen, wird uns gut tun nach der Arbeit- antwortet Michel für mich. Nach dem Martha unseren „Proviant“ einpackt hat, gehen wir wieder zu den Lämmern. Wir setzen uns auf eine gegenüber stehende Bank, essen die Muffin's und trinken unseren Kaffee und Tee. Mir fällt ein, dass ich meine Zigaretten im Büro vergessen habe. Michel beobachtet meine Suche in der Handtasche und denkt sich sofort, dass ich keine Zigaretten habe.
-Ich habe auch keine „an“ mir- sagt er. Ich liebe seine Fehler und die süße Aussprache. Besonders das Wort „Blüme“. Ich spreche auch kein sauberes Deutsch und vielleicht verstehen wir uns deswegen so prächtig.
-Dann gehe ich schnell zu Martha, welche kaufen- sage ich.
-Nein, sie hat da keine, aber ich habe im Auto noch eine ganze Stange, komm, wir gehen hin.-
Erst jetzt sehe ich den Lkw richtig an. Damals habe ich gar nicht bemerkt, dass er so groß, lang und blau ist. Auch die Fahrerkabine sieht heute anders aus, wie zu Hause. Ist ja wohl normal, Michel verbringt doch hier sein Leben, na mindestens fünf Tage die Woche, muss also Platz für alles haben. Während ich mich umsehe, sucht er nach den Zigaretten.
-Na, da sind sie- sagt er und reicht mir eine Schachtel Marlboro light. -Nimm die, zu Hause hast du bestimmt auch keine. Ich habe hier genug davon.- Wir rauchen eine.
-Ich freue mich so sehr, dass du gekommen bist. Darf ich dich umarmen?- Ohne auf meine Antwort zu warten, setzt sich Michel rasch zu mir und schließt mich in seine Arme. Die angenehme Wärme, die sein Körper ausstrahlt, geht auf mich über. Ich schließe meine Augen, fühle mich geborgen und wohl. Michel streichelt meinen Rücken, meine Haare und plötzlich küsst er zärtlich meinen Nacken. Ich fange leicht an zu zittern.
-Was ist?- fragt er verlegen. -Mache ich etwas falsch?-
Ich mache meine Augen zu, schaue ihn an.
-Nein, nur... Wir kennen uns doch kaum und...- stottere ich und werde wieder rot.
-Wie, wir kennen uns kaum? Wir wissen fast alles über uns, für mich scheint es, als ob ich dich schon ewig kenne.- Michel lächelt mich an und küsst mich leicht auf den Mund. Ich erwidere sein Kuss, mein Körper überströmt plötzlich ein starkes Verlangen nach dem Mann. Michel zieht diskret die Vorhänge an den Kabinenfenstern zu. Wir sind unsichtbar für die Außenwelt. Seine Hände wandern vorsichtig unter meine Bluse. Ich leiste keinen Widerstand. Ganz im Gegenteil, ich ertaste seine angenehm weiche Haut unter seinem T-Shirt. Wir sind doch erwachsen, worauf sollen wir warten. Es war doch vorauszusehen, dass wir früher oder später im Bett landen. Und … ICH WILL ES AUCH! Ich sitze auf dem Schoß des Mannes, der die letzte Zeit meine ganzen Gedanken beschäftigt. Mein Verlangen wird immer stärker, und, wie ich bereits sogar spüren kann, seins auch.
-Komm wir gehen nach hinten- schlägt Michel leise vor.-
Wir krabbeln in seine Schlafkoje. Ich merke nicht einmal, als ich nackt in seinen Armen liege. Ob er mir anmerken kann, dass ich schon sehr lange keinen Sex mehr hatte? Bei ihm sieht es auch nicht anders aus. Sein angenehmer Duft macht meine Sinne verrückt. Ich gebe mich ihm ganz hin. Wir lieben uns, als ob es das erste und das letzte Mal sein soll, hastig, aber trotzdem sehr zärtlich. Als er in mich eindringt, sehe ich trotz der geschlossenen Augen den blauen Himmel, bunte Schmetterlinge, die ich gleich in meinem Unterleib fliegen spüre. Die sommerliche Wärme steigt mit jeder Bewegung, ich will schreien vor Lust. Michel küsst leidenschaftlich meine Brüste. Der Vulkan in mir bricht gleich aus. Möge der Moment nie vergehen!
- Michel, ich liebe dich,- flüstere ich -ich habe dich schon immer geliebt, wo warst du denn so lange?-
-Sonja? Alles OK bei dir?- Martin guckt mich an und versucht zu raten, was mit mir los ist.
-Ja, bin nur mit meinen Gedanken ziemlich weit weg.-
-Willst du reden? Oder brauchst du ein Schläfchen?-
-Beides. Bin total verwirrt. Sorry. Weißt du, ich bin wirklich von Zuhause abgehauen. Bin verheiratet, liebe einen anderen Mann, will zu ihm.- schreie ich fast.
-Ist in Ordnung, passiert doch öfters. Habe auch mal gemacht. War allerdings damals sechzehn. Habe eine Frau kennen gelernt, acht Jahre älter als ich. Konnte mir mein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. War ein Fehler. Bist du sicher, dass du das Richtige machst?-
-Eigentlich schon. Nur die Umstände, die machen mich fertig. Er ist sehr krank und glaubt nicht, dass ich trotzdem für ihn da bin.- Unsichtbare Tränen landen diesmal in meinem Magen. Es tut weh, aber Martin kann sie nicht sehen. Bin froh. Ich will stark wirken.
-Entspanne dich Sonja. Es dauert noch bisschen, bis wir in Osnabrück sind. Wenn du willst, kannst du einfach deine Augen zu machen und bisschen pennen. Macht mir nichts aus.-
-Lieb von dir, danke.- Ich drehe mich um, will nach Willy schauen. Das was ich sehe, lässt die unsichtbaren Tränen sichtbar werden. Die Schlafkoje.
-Nicht weinen Sonja! Es wird alles gut, glaub mir.- Martin versucht mich zu trösten, aber meine Augen hören nicht auf zu tränen.
-Sonja, beruhige dich bitte, es bringt nichts. Du bist sehr müde. Schlaf ein bisschen, wie dein Willy.-
Der Sound des Motors macht mich noch mehr müde. Meine Augenglieder werden immer schwerer.
Kapitel 4
Osnabrück Bahnhof. Nur noch ein paar Schritte bis zur Grand Café. Ich gehe rein, schaue mich um. Ist Jessy schon da? Eine unsichtbare Hand versucht mein Herz in den Hals zu stecken. Eine Mischung aus Angst und Neugier macht meine Sinne lahm.
-Sonja?- Eine Stimme hinter meinem Rücken erschreckt mich. Ich drehe mich um. Eine schlanke, streng aussehende Dame scheint mich zu röntgen. Es muss Jessy sein. Ich strecke meine Hand aus.
-Ja. Sonja Pohl. Frau Wright?-
-Wir sind doch verabredet- antwortet sie kalt. Ich fühle mich plötzlich wie eine kleine Schülerin, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt hat. -Kommen Sie, wir setzen uns da in die Ecke. Sind Sie gut angekommen?-
-Ja danke. Was ist mit Michel?- Ich kann nicht mehr warten, will es sofort wissen.
-Er lebt. Jetzt können sie ihn haben.- Ihre eisige Stimme wundert mich gar nicht. Sie ist doch seine Ehefrau.
-Wie meinen Sie das?- frage ich.
-So, wie Sie das hören. Ich bin fertig mit ihm.-
-Ich verstehe Sie nicht.-
-Hören Sie auf, die Doofe zu spielen. Ich weiß doch alles.-
Mir wird schwindlig. Was will sie von mir?
-Bitte, sagen Sie mir, wie es ihm geht- flehe ich sie an.
-Es geht im schon gut. Sie wissen doch, dass er krank ist. Wie es ihm weiter geht, hängt jetzt nur von Ihnen ab. Sie wollten es doch so.-
-Frau Wright, sagen Sie einfach was los ist.- Meine Geduld wird von ihr strapaziert.
-Gut. Sie wissen wer ich bin?-
-Ja, Michels Frau.-
-Ehefrau! Sie sind seine FRAU, Sonja.- Ihre Stimme wird weicher. -Als er mir gestern gestanden hatte, dass er nach Bad Oeynhausen fährt, um Sie zu treffen, fiel mir der Stein vom Herz. Ich will Ihnen jetzt alles erzählen. Trinken Sie einen Tee mit mir? Es dauert bisschen. Dann fahre ich Sie ins Krankenhaus. Er will Sie sehen.- Jessy winkt den Kellner heran und bestellt Tee für uns beide.
-Bitte unterbrechen Sie mich jetzt nicht. Bringen wir es schnell hinter uns.- Jessy guckt mich wieder streng an und zündet eine Zigarette an.
-Ja, bitte.- Ich wage nicht, ihr zu widersprechen
-Sie wissen schon, dass wir seit dreißig Jahren verheiratet sind und dass ich nicht seine erste Ehefrau bin? Das wissen doch alle seine Freundinnen.- Jessy konnte sich diese Bemerkung sparen. Will sie mich auf diese Weise verunsichern?
-Ich war damals siebzehn- setzt sie fort. -Mein Vater war ein Berufssoldat, Offizier in den Diensten der Königin, stationiert in Munster. Eines Tages begleitete ich meinen Bruder zu einem Rockkonzert. Da habe ich Michel das erste Mal gesehen, mit der Gitarre auf der Bühne. Ein paar Tage später traf ich ihn in einer Diskothek. Er saß da ganz alleine an der Bar. Das war meine Chance. Ohne lange zu überlegen setzte ich mich neben ihm. „Du bist der Gitarrist von Dark Sky, nicht wahr?“ Er war gerade nicht besonders an einem Gespräch interessiert, aber ich gab nicht auf. So fing es an. Nach ein paar Monaten heirateten wir. Gott, war ich blöd, einen Mann heiraten, den man so gut wie gar nicht kennt. Ich machte mir keine Gedanken. War jung, verliebt, wollte einen Ehemann, ein gemütliches Zuhause und Kinder haben, so wie es sich gehört. Michel war auch bei der Militär wie mein Vater. Was ich aber nicht wusste, nicht für immer in Munster. Einen Monat nach der Hochzeit kam er nach Hause mit einem kleinen Kätzchen unter seiner Jacke. „Für dich Jessy, damit du dich nicht alleine fühlst, wenn ich weg bin“ sagte er. „Weg? Was meinst du?“ ich verstand gar nicht, was er meinte. „Dienst ist Dienst“ antwortete er lächelnd. „Dein Ehemann ist eben ein Soldat, das weißt du doch.“ Ein paar Tage später war er wirklich weg. Zehn Jahre lang. Er kam alle zwei, drei Monate für ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen nach Hause. Das erste Jahr war schwer für mich, aber im Laufe der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Ich war jung, hatte viele Freunde, gute Arbeit und regelmäßig gutes Geld auf dem Konto. Als Ehefrau eines Soldaten bekam ich eine schöne Wohnung zugeteilt. Als ich meinen einundzwanzigsten Geburtstag feierte, besuchte mich mein Bruder mit seiner neuen Familie. Jimmy hatte vor zwei Jahren geheiratet und seine Frau vor einem Jahr einen süßen Jungen zur Welt gebracht. Das Familienglück meines Bruders weckte plötzlich ein neues Verlangen in mir, das Verlangen nach einem Kind. Ich konnte es kaum erwarten bis Michel wieder einen Urlaub hat und nach Hause kommt. Wollte unbedingt mit ihm darüber reden. Endlich kam er. Wieder wie immer unangekündigt und schweigsam. Ich fragte nie, was er gemacht hatte beim Militär, hätte sowieso keine Antwort gekriegt. Es war alles streng geheim und besser, wenn ich es nicht wusste. So erzählte ich ihm immer, was ich in der Zeit, wo er nicht da war, gemacht hatte. Diesmal überfiel ich ihn mit meiner Begeisterung für den kleinen Sohn von Jimmy. Als wir abends im Bett lagen, erzählte ich ihm, dass ich auch ein Kind haben möchte. Seine Reaktion begrub meinen Wunsch nach einem Kind für immer. „Schatz, was willst du denn mit einem Kind. Es kann doch sein, dass ich eines Tages eine Kugel in den Kopf kriege und so bist du nur alleine mit dem Balg. Glaube mir, es ist totaler Blödsinn.“ Am nächsten Tag machte ich einen Termin bei meinem Frauenarzt und ließ mich sterilisieren. Nach zehn Jahren Militärdienst beschloss Michel ins Zivilleben einzutreten. Ich war noch jung genug, um ein Kind zu kriegen, aber es war nicht mehr möglich. Wir blieben in Deutschland. Ich wollte nicht mehr nach England. Für Michel war es nicht einfach, aber bald bekam er eine Arbeitsstelle in Osnabrück und langsam beherrschte er auch die deutsche Sprache. Mein Wunsch nach einem Kind, ersetzte ich durch ehrenamtliche Arbeit in einem Tierheim. Die nächsten zehn Jahre führten wir eine ruhige, nette Ehe, ohne Höhepunkte, aber auch ohne Niederlagen. Ich hoffte, es würde immer so sein. Das Leben wollte es aber nicht so. Michel verlor seine Stelle und fing an als Fernfahrer zu arbeiten. Wieder ging ich nachts alleine ins Bett. Es war zwar nicht so schlimm, wie zu seiner Militärzeit, er war jedes Wochenende zu Hause, aber langsam erlosch das Feuer zwischen uns. Michel kam nach Hause, hörte sich an, was ich in der Woche gemacht hatte und ging in sein Arbeitszimmer Gitarre spielen. Ich dachte, er wird wieder mit einer Band spielen wollen, es geschah aber nichts. Zu der Gitarre kam noch der Computer hinzu. Er verbrachte die Nächte am Bildschirm, ich ging wieder alleine ins Bett. Relativ schnell merkte ich, dass er nachts mit fremden Frauen chattet. Hätte ich sofort reagiert, dann könnte ich vielleicht noch unsere Ehe retten, aber mein innerer Schweinehund ließ es nicht zu. Eines Tages rief mich Michel von unterwegs an. Er sei im Krankenhaus, wäre auf der Autobahn im Lkw umgekippt. Er kam nach Hause, ließ sich untersuchen. Der Befund war erschreckend, ein Tumor im Kopf. Mein erster Gedanke war, was machen wir, wenn Michel nicht mehr arbeiten kann. Da uns es in der Zeit relativ gut ging, Michel verdiente gutes Geld, hörte ich ein Jahr vorher auf zu arbeiten. Gott sei dank, nach ein paar Tagen konnte er wieder arbeiten. Der Alltag trat wieder ein. Ich konnte nicht meckern, ich musste nicht arbeiten, er war nett zu mir. Was wollte ich mehr? Langsam fing ich auch an, mich für den Computer zu interessieren. Es dauerte nicht lange , da lernte ich nette Leute im Internet kennen, entdeckte eine neue Welt. Eines Tages bekam ich Probleme mit dem Rechner. Hatte Angst, dass Michel mich fertig macht, wenn er nach Hause kommt und rief ich eine Freundin an, deren Bruder sich in der Materie auskannte. Jörg, der Bruder meiner Freundin kam am nächsten Morgen vorbei. Er war ein netter, lustiger Mann. Ein Blick in unseren Rechner und er wusste sofort, was Sache ist. In zehn Minuten behob er die Störung. Ich war gerade dabei Brot zu backen und lud ihn zum gemeinsamen Frühstück ein. Es war ein neues Erlebnis für mich. Jörg erzählte von seinem Leben, fragte mich nach meinem. Es stellte sich heraus, dass wir beide ein großes Herz für Tiere haben. Da das Tierheim, wo ich ab und zu tätig war, dringend eine Aushilfe brauchte, fragte ich ihn, ob er diese Aufgabe übernehmen möchte. Jörg sagte sofort zu. Wir sind schnell gute Freunde geworden. Er besuchte mich oft, wenn Michel unterwegs war. Es dauerte nicht lange und aus der Freundschaft wurde mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, was ein Mann ist. Jörg war so wie ich verheiratet, also die Zeit, wo wir uns treffen konnten war auch beschränkt. Trotzdem war ich glücklich.
-Verstehst du es Sonja?- Jessy raucht eine Zigarette nach der anderen. Ich auch.
-Ja, das kenne ich auch- antworte ich. Ich will, dass sie weiter erzählt. -Und jetzt, bist du immer noch glücklich?-
-Ja, es ist etwas passiert, was mich endlich frei macht.-
-Michels Unfall?- frage ich vorsichtig.
-Nein, die Sache macht es mir nur leichter. Jörg hat zwei Kinder, Zwillinge. Die sind fertig mit ihrer Ausbildung, fangen an zu arbeiten und er hat die Scheidung eingereicht. Wir wollen zusammenziehen. Die Sache mit Michel kommt mir gelegen. Jörg hatte mich eingeweiht in die Computerangelegenheiten. Ich brauchte nicht viel Zeit, um dich zu entdecken. So hatte ich auch keine Gewissensbisse mehr, habe nur gewartet, bis der günstigste Moment kommt, Michel zu verlassen. Die letzten zwei Jahre habe ich sehr viel mitgekriegt, wenn es um sein Liebes- und Sexualleben geht. Du warst nicht die einzige, aber diejenige, mit der er die meisten Kontakte hatte. Es war noch eine, aber sie ist mittlerweile seit ungefähr sechs Monaten weg von seiner Kontaktliste und Telefonrechnungen, eine Tatjana aus Hamburg. Ich habe versucht, auch sie heute anzurufen, aber sie hat mich nur ausgelacht, als ich ihr von dem Unfall berichtete. Sie will angeblich nichts mehr mit Michel zu tun haben. Wollen wir jetzt ins Krankenhaus?-
-Ja, natürlich- sage ich.
In diesem Moment klingelt das Handy von Jessy, sie nimmt ab.
-Jessica Wright. Ja, ich bin seine Frau.- Eine Frauenstimme im Telefon erklärt ihr etwas sehr schnell, als ob sie es schnell los werden möchte. Jessy hebt ihre Hand zum Kopf. -Ja, ich bin gleich da- sagt sie. Ihr Gesicht wird kreidebleich.
-Was ist los?- frage ich unruhig. Mein Magen und mein Herz fahren im kosmischen Tempo Richtung Hals.
-Michel ist tot- sagt sie trocken. -Wir fahren jetzt hin. Ich hoffe, du willst mit.-
-Es ist nicht wahr- flüstere ich. -Es kann nicht wahr sein!- Diesmal schreie ich ganz laut. -Du willst mich nur ver...-
-Sonja! Was ist los? Ein Albtraum? Hör auf zu schreien, es ist alles in Ordnung.- Martin schüttelt mich, ich werde wach. Bin schweißgebadet, zittere am ganzen Körper.
-Es ist nicht wahr- flüstere ich wieder und erst jetzt merke ich, dass es wirklich nur ein Albtraum war.
Kapitel 5
Wir sind in Herford angekommen.
-Willst du deine Beine ein wenig vertreten? Da ist ein Kaffeeautomat, komm mit, wenn du willst- Martin trinkt einen großen Schluck Mineralwasser, nimmt einen Lieferschein aus seiner Tasche.
-Ja, eine Tasse Kaffee kann nicht schaden, ich komme mit.- Die Hitze draußen wirkt gar nicht einladend, ich würde eigentlich lieber in der Kabine bleiben, aber mein verspannter Körper schreit nach Bewegung.
-Und dein Kater, will er nicht ein bisschen an die frische Luft?- fragt Martin.
Na Klasse, den Willy habe ich ganz vergessen. Ich klettere nach hinten und wecke ihn. Willy guckt mich an, als ob ich ihn umbringen möchte. Fast gewaltsam hole ich ihn aus seiner Box, lege ihm die Leine an und fülle sein Näpfchen mit Wasser.
-Ich gehe vor- sagt Martin -in der weißen Baracke ist auch die Toilette.-
Willy trinkt schnell und wir verlassen die Kabine. Ich spüre die neugierigen Blicke der Männer, die vor der Baracke ihren Kaffee trinken. Man sieht wohl nicht so oft eine Katze an der Leine hier. Willy erledigt sein Geschäft und ich bringe ihn wieder in die kühle Lkw-Kabine. Langsam bewege ich mich gen Kaffeestube. Es kommt mir alles hier irgendwie bekannt vor. Stimmt, ich war schon mal da, mit Michel. Es sind schon zwei Jahre her. Michel war wieder in Hannover und da ich gerade Urlaub hatte, fuhr ich zusammen mit ihm eine Tour. Es war schön, mal zu sehen, wie seine Arbeit und sein Alltag aussehen.
-Hier bin ich Sonja- Martin ruft mich von seinem Tisch. -Habe auch für dich einen Kaffee geholt. In 15 Minuten bin ich fertig und fahre los. -
Der Kaffee schmeckt scheußlich, ist aber stark. Mein Kopf wird klarer.
-Was beschäftigt dich so?- fragt Martin besorgt.
-Ach, ich will dich nicht mit meinen Problemen belästigen. Mir geht es einfach nicht gut.-
-Es ist doch gut, mit jemanden zu reden, wenn man Probleme hat. Leg los, ich beiße nicht.-
Ja, er hat recht, ich muss das alles loslassen.
-Michel, der Mann, den ich liebe und den ich heute treffen sollte, hatte einen Autounfall, liegt im Krankenhaus. Seine Frau will mich gleich treffen. Ich weiß nicht was los ist.-
-Hört sich nicht gut an. Hast du Angst vor ihr?-
-Das nicht. Ich habe Angst um ihn- antworte ich fast weinend.
-Beruhige dich Mädchen, alles wird gut.-
-Bin mir nicht so sicher- antworte ich leise.
-Wie lange bist du mit ihm zusammen?-
-Drei Jahre, aber es war nicht immer alles so, wie ich es mir vorgestellt habe. Es kann jetzt noch schlimmer sein. Ich habe Angst, weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig ist.- Mein Hals ist wie zugeschnürt. Jetzt kommen die schlechten Erinnerungen zum Vorschein.
Das erste Jahr mit Michel war wunderschön. Wir waren fast jeden Tag in Kontakt. Unsere gelegentlichen Treffen verbrachten wir meistens mit heißen Sex. Wir telefonierten fast täglich, chatteten im Internet, es war wunderbar für mich. Bis ich mit Robert in Urlaub musste. Die zwei Wochen ohne Michel waren qualvoll für mich. Ich vermisste ihn dermaßen, dass ich den Urlaub gar nicht genießen konnte. Als ich wieder zu Hause war, stürmte ich zu meinem Computer, in der Hoffnung eine Nachricht von Michel zu finden. Fehlanzeige! Da war nichts. Als ob es mich für ihn gar nicht gäbe die zwei Wochen. Am nächsten Tag rief ich ihn an. Sein Handy war aus. Erst habe ich mir gedacht, dass er einfach im Ausland ist und habe eine SMS an ihn geschickt. Auch am nächsten Tag meldete er sich nicht. Bis zu nächsten Samstag, wo ich ihn zu Hause vermutet hatte, lebte ich wie im Trance. Mit zitternden Händen schaltete ich abends meinen Computer an, um die E-Mails zu lesen. Da war wirklich eine Nachricht von Michel. „Hallo Sonja, es tut mir Leid, aber ich weiß jetzt, wo mein Platz ist. Lebe wohl. Michel.“ Nichts mehr, einfach so. Die Welt lag plötzlich in Trümmern. Ich wusste nicht mehr, was mit mir passiert. Ich saß vor dem Bildschirm wie versteinert. Nach ein paar Minuten zwang ich mich, auf sein Profil in Myspace zu schauen. Eine neue Freundin! Tatjana, aus Hamburg. Jeden Tag heiße Kommentare von ihr und ähnliche, vielleicht noch heißere von ihm an sie. Die Nacht wurde noch dunkler. Ich lief aus der Wohnung weg, ohne es wirklich zu wissen, stieg in die nächste Straßenbahn und fuhr in die Stadt. Was dann passierte, weiß ich bis heute nicht. Am nächsten Morgen wurde ich von der Polizei nach Hause gebracht. Erstaunlicherweise fragte Robert gar nicht, was mit mir los war. War es ihm egal oder hatte er Angst, dass ich wieder etwas Blödes anstelle? Das interessierte mich nicht. Eine andere hatte mir Michel geklaut!
Die nächsten drei Tage verbrachte ich mit hohem Fieber im Bett und ließ mich noch zwei Wochen krank schreiben. Als ich einigermaßen wieder auf meinen Beinen stehen konnte, schrieb ich eine SMS an Michel: "bitte ruf mich an, ich brauche dich!". Ich hasste mich selbst dafür. Am nächsten Tag rief er an. Als ob nichts wäre. „Hallo Schatz, wie geht es dir?“ Eine Mischung aus Hass, Liebe und Sehnsucht machte mich ganz lahm. „Danke, schlecht und dir?“ In diesem Moment verfluchtete ich die ganze moderne Technik, Internet und Michel zusammen.
-Sonja, wir müssen los, ich muss spätestens in einer Stunde in Osnabrück sein.- Martin weckt mich wieder aus meinem bösen Traum.
-Entschuldige- flüstere ich und gehe hinter ihm her zum Lkw. Wir fahren los. Die kühle Luft aus der Klimaanlage beruhigt mich.
-Alles in Ordnung?- fragt Martin.
-Ja, danke, es geht wieder.-
-Was hast du eigentlich vor, wie soll es weiter gehen mit euch?-
-Ich weiß es nicht. Heute sollte ich Michel in Bad Oeynhausen treffen. Ich ziehe dorthin um. In zehn Tagen werde ich meine neue Arbeitsstelle aufnehmen.-
-Also alles in Ordnung. Kopf hoch, dein Freund lebt doch.-
-Ja.- Mein Hals wird trocken. -Mal sehen, was noch kommt. Es ist so viel passiert in der letzten Zeit.-
Meine Gedanken gehen zurück zu dem Tag, wo Michel mich nach seinem langen Schweigen angerufen hat.
-Sonja, ich hatte sehr schlechte Tage. Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe vor dreißig Jahren. Es bedrückt mich sehr. Es kam wieder alles hoch, als du weg warst. Glaube mir, es gibt keine andere Frau in meinem Leben.-
Ich fragte ihn gar nicht danach. Wie kam er darauf?
-Willst du darüber reden?- frage ich.
-Ja, ich will, dass du es weißt. Ich war schon mal verheiratet, vor dreißig Jahren. Meine Frau und mein Kind sind tragisch umgekommen. Das kann ich nicht vergessen. Es kommt immer wieder hoch. Glaube mir, es hat nichts mit dir zu tun. Ich erzähle es dir am Wochenende, jetzt kann ich nicht. Verzeih mir.- Michel legt auf.
Am nächsten Samstag erzählt Michel, wie er seine Familie verloren hatte. Wir weinten zusammen.
Nach und nach ging es wieder besser zwischen uns. Ich lernte ihn immer besser kennen und akzeptierte seine schlechten Tage. Wir trafen uns wieder, telefonierten stundenlang, es ging alles gut. Ich erfuhr, dass er unglücklich mit Jessy sei, aber sie nicht so einfach verlassen könne. Ich habe mich damit abgefunden. Meine Liebe zu Michel wurde immer stärker. Es verging keine Stunde, keine Minute, keine Sekunde, ohne das ich an ihn dachte. Er wurde ein Teil von mir. Ich war schon so weit, dass ich Robert nicht mehr wahrnahm. Es zählte nur Michel. Bis vor einem Monat dachte ich, es wird sich nichts ändern und unsere Beziehung weiter so bleibt. An eine gemeinsame Zukunft glaubte ich gar nicht. Bis zu dem Tag vor einem Monat.
-Wir sind bald da Sonja.- Martin holt mich wieder in die Gegenwart. -Sag mal, was willst du jetzt mit dem Kater? Bis du nach Bad Oeynhausen kommst, dauert es bestimmt noch ein bisschen. Bei der Hitze kannst du ihn doch nicht mitschleppen.-
Daran habe ich gar nicht gedacht.
-Hast du eine Idee?- frage ich Martin.
-Wenn du nichts dagegen hättest, könnte ich ihn mit nehmen, zu mir nach Hause. Ich wohne doch in Osnabrück und da kannst du ihn später abholen. Ich habe jetzt eine Woche frei- schlägt Martin vor. -Ich hatte auch bis vor kurzem eine Katze. Sie ist gestorben, aber das alte Katzenklo habe ich noch.-
-Das wäre super. Wenn es dir keine Probleme bereitet, wäre ich dir sehr verbunden.- Ich blicke kurz nach hinten, wo Willy in seiner Box vor sich hin schlummert.
In der Nähe vom Bahnhof hält Martin an. Wir tauschen unsere Telefonnummern, Martin gibt mir seine Adresse.
-Du brauchst deinen Koffer jetzt doch nicht, den kannst du auch hier lassen. Es sieht außerdem nach Gewitter aus.- Martin ist unbezahlbar.
Ich bedanke mich für seine Hilfe und begebe mich auf den Weg zum Grand Café. Meine Knie werden immer weicher, der Magen steigt bis zum Hals und das Herz flattert irgendwo im Bauch. Die extrem trockene Luft und die Abgase von den unzähligen Autos lassen mich kaum atmen. Ich bin früh dran, Jessy kommt erst in einer dreiviertel Stunde in die Cafeteria. Völlig erschöpft erreiche ich endlich unseren Treffpunkt. Der klimatisierte Raum bewirkt Wunder. Ich bestelle ein Glas eiskaltes Mineralwasser mit Zitrone und zünde eine Zigarette an. Nervös beobachte ich die Eingangstür. Ich weiß gar nicht, wie Jessy aussieht. Michel pflegte immer, seine Frau der Internet-Öffentlichkeit nicht zu zeigen. Ich müsste auf die Toilette, aber die Angst sie zu verpassen, lässt mich in dem bequemen Sessel sitzen bleiben. Die Zeiger der an der Wand hängenden Uhr scheinen sich gar nicht zu bewegen. Ich hole mir die Tageszeitung und versuche die Zeit mit Lesen zu vertreiben. Es funktioniert leider nicht, ich kann mich auf keinen einzigen Satz konzentrieren. Der Kellner nähert sich meinem Tisch und fragt freundlich, ob er mir noch etwas anbieten könnte. Der Eiskaffee wäre hier sehr gut. Ich nehme sein Angebot dankbar an. Die Tür geht auf. Eine verschwitzte Blondine mit zwei tobenden Kinder betritt den Raum. Gott sei dank, setzen sie sich in die weiter entfernte Ecke. Zum Glück darf man hier rauchen. Eine Zigarette gleich zehn Minuten, so nehme ich die Zeit wahr. Meine Augen wandern an der Glaswand entlang, ich beobachte die vorbeigehenden Passanten. Jessy muss schlank und größer als ich sein. So beschrieb Michel seine Frau , als ich ihn nach ihrem Aussehen gefragt hatte. Eine „Bohnenstange“ mit langem schwarzem Zopf öffnet die Tür. Nein, sie kann es nicht sein, zu jung, Jessy ist achtundvierzig. Ich kann nicht mehr, muss aufs Klo. Ich stehe auf, drehe mich noch zu der Tür und gehe langsam zur Toilette.
-Erwarten Sie Jemanden?- fragt der Kellner. Das kommt mir sehr gelegen.
-Ja, ich warte auf eine Bekannte, will sie nicht verpassen.-
-No problemo- sagt der junge Mann -ich passe auf. Wie sieht sie aus?-
-Schlank, ziemlich groß, langhaarig, Mitte Vierzig. Ihr Name ist Wright, meiner Pohl.- Ich könnte den Mann für seine Hilfsbereitschaft auf der Stelle küssen.
Der Blick in den Spiegel erschreckt mich selbst. Man sieht mir die Reise und die Hitze an. Auch die letzte Nacht ohne Schlaf hinterließ Spuren in meinem Gesicht. Ich mache mich schnell frisch, Jessy muss mich so nicht sehen, und gehe zurück in die Cafeteria.
-Frau Pohl, ihr Gast ist da- der Kellner zeigt mir diskret eine verdammt gut aussehende Dame an meinem Tisch. Mein Herz fängt wieder flatternd an das Bauchinnere zu erkunden. Jessy sieht mich, legt ihre Zigarette in den Aschenbecher, steht auf und streckt ihre Hand in meine Richtung aus. Wie in meinem Albtraum. Nur die Frau hier sieht anders aus. Ihre weichen Gesichtszüge lassen sie viel jünger auszusehen, als sie wirklich ist, mindestens fünf Jahre. Ein leichtes Sommerkleid betont ihre makellose Figur. Die langen, hellbraunen Haare sind wahrscheinlich wegen der Hitze zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
-Frau Pohl? Ich bin Jessica Wright.- Ihre Stimme ist angenehm leise und klingt irgendwie warm. Ihr englischer Akzent erinnert mich sofort an die erste Begegnung mit Michel.
-Sonja Pohl- stelle ich mich vor und werde sofort rot. Meine Schüchternheit meldet sich wie immer total unwillkommen.
-Sind Sie gut angekommen?- fragt Jessy freundlich. Der Ton wundert mich, schließlich ist sie die betrogene Ehefrau.
-Ja, danke. Ich hatte Glück, bin von Hannover bis nach Osnabrück per Anhalter gekommen.-
-Mit einem Lkw?- Ihr leichtes Lächeln, das in diesem Moment auf ihrem Gesicht erscheint, wirkt auf mich wie eine Ohrfeige. Nur ruhig bleiben Sonja, du bist hier die Böse. Ich reiße mich zusammen.
-Ja, mit meinem Gepäck war es optimal- antworte ich schon bisschen sicherer.
-Ich freue mich, dass Sie meine Einladung angenommen haben Sonja. Darf ich Sie duzen? Ich bin Jessy- sagt sie locker.
-Habe nichts dagegen, bitte.- Ich werde leicht ungeduldig, will schnell erfahren, was mit Michel los ist. Sieht sie es nicht? -Sagst du mir, wie es Michel geht?-
-Er liegt im künstlichen Koma. Ist nichts Lebensbedrohendes, es geht nur um die Reduzierung der Schmerzen. Seine Rippenbrüche und Kopfverletzungen sind bestimmt nicht angenehm. Er darf nicht so viel Schmerzmittel nehmen- erzählt Jessy ausführlich.
-Und wie ist es passiert?- Ich will alles wissen.
-Ironie des Schicksals, ein Lkw hat seinen Wagen auf der Autobahn gerammt.-
-Wann?-
-Gestern Abend.-
-Ich habe mit ihm noch telefoniert, er wollte nur kurz in die Firma, weil er im Lkw mein Geburtstagsgeschenk vergessen hatte, war auf dem Weg dorthin- sage ich.
-Ja, stimmt. Nach dem Abendbrot hatten wir noch ein paar Sachen geklärt und dann bemerkte er, dass er angeblich seine Brieftasche im Lkw vergessen hatte.-
-Michel ist doch ein erfahrener Fahrer. Wie konnte es passieren? Hatte euer Gespräch etwas damit zu tun? Ich glaube, es wurde schon alles geklärt, vor einem Monat.-
-Kann sein, dass er bisschen verärgert war. Hat mir erzählt, dass er heute nach Bad Oeynhausen will und gefragt, ob ich seine Brieftasche gesehen hätte. Ich habe wohl überreagiert. Er ist wild aus dem Haus raus gelaufen und schnell los gefahren. Zwei Stunden später rief mich die Polizei an. Es ist auf dem Rückweg passiert.- Jessy nimmt die nächste Zigarette, ohne die letzte zu Ende geraucht zu haben. Ihre Hände zittern leicht.
-Wann kann man ihn im Krankenhaus besuchen?-
-Wahrscheinlich morgen Nachmittag, heute hat es keinen Sinn. Wenn du willst, kannst du bei mir übernachten und morgen fahren wir zusammen hin. Ich war schon da. Du brauchst keine Angst um ihn haben, es ist alles OK.-
Ihr Angebot verwirrt mich bisschen.
-Wenn es dir nichts ausmacht, gerne- antworte ich unsicher.
-Ich trinke noch einen Kaffee, habe heute Nacht kein Auge zu gemacht. Willst du auch einen?-
Nachdem wir unsere Tassen schweigend ausgetrunken haben, fahren wir los. Jessy fährt den Wagen sehr vorsichtig. Wir haben genug Zeit, es ist keine Eile geboten. In fünfzehn Minuten erreichen wir Belm. Sie parkt in einer kleinen Straße vor einem gemütlichen Häuschen.
-Da sind wir, steig aus.- Wir gehen rein in die Wohnung. Der Duft vom frisch gebackenem Brot erinnert mich, dass ich heute noch nichts gegessen habe. Mein Magen knurrt laut. Es ist mir peinlich.
-Ich mache uns ein paar Schnittchen- sagt Jessy -habe auch Hunger. Willst du dich in der Zeit erfrischen? Bei dem Wetter kann nur eine kalte Dusche helfen.- Ihre Gastfreundlichkeit ist mir unheimlich.
-Ja, gerne.-
-Da am Ende des Flurs ist das Badezimmer. Ich bringe dir gleich frische Handtücher und einen Schlafrock- ruft Jessy aus der Küche.
Nachdem ich mich erfrischt habe, springt sie auch unter die Dusche.
-Es kommt bestimmt Gewitter- sagt sie, als wir uns an den Tisch gesetzt haben.
-Ja, es ist schwül. Hoffentlich regnet es auch richtig. Backst du das Brot selbst?- frage ich. Ich weiß doch, dass sie es tut. Michel lobte immer ihr Brot.
-Ja, schmeckt es dir? Ich mag das gekaufte nicht. Man weiß nie, was da drin steckt.-
Wir essen langsam, ohne ein Wort zu sagen. Die Strapazen der letzten Stunden haben uns beide erschöpft.
-Ich schlage vor, dass wir uns erst ein Stündchen hinlegen, du bist bestimmt auch müde.-
Jessy führt mich in ein Zimmer im ersten Stock. Als sie die Tür aufmacht, springen uns zwei schwarz-weiße Kätzchen entgegen.
-Ach, da seid ihr! Darf ich vorstellen? Mimi und Johny, meine Babys. Die hast du schon bestimmt auf den Fotos gesehen. Willst du eine Decke? Das Kissen ist frisch bezogen, Michel hat es nicht geschafft, die letzte Nacht hier zu schlafen.- Jessy zeigt mir eine kleine Couch. -Leg dich hin, ich wecke dich später- sagt sie und verschwindet schnell in ihrem Schlafzimmer.
Ich fühle mich schlapp, aber der Schlaf kommt nicht. Ich stehe auf, sehe mich in dem Zimmer um. Das muss Michels Studio sein. Seine zwei Gitarren hängen an der Wand. Computer und viele mir unbekannte Geräte besetzen einen großen Schreibtisch. Also hier entstehen seine musikalischen Werke, die ich so sehr bewundere. Die Höhle des Meisters. Ich lege mich wieder auf die Couch.
Im Halbschlaf sehe ich Szenen aus den letzten drei Jahren. Ich fühle mich krank, genau so, wie vor zwei Jahren, als Martin mich während meines Urlaubs vergessen hat. Danach war nichts mehr so, wie vorher. Mein Vertrauen wurde zerstört. Trotzdem konnte ich nicht aufhören ihn zu lieben. Mein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Ich konnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen. Binnen zwei Monaten habe ich zehn Kilo verloren. Robert konnte sich das alles nicht erklären. Um ihn nicht noch mehr misstrauisch zu machen, erzählte ich ihm, dass ich Probleme auf der Arbeit hätte. Daraufhin änderte er sein Verhalten mir gegenüber. Er wurde ruhiger und einfühlsamer, bemühte sich meine Wünsche zu erfüllen, kaufte die besten Schmackazien, damit ich endlich anfange wieder normal zu essen. Alles umsonst. Ich war einfach liebeskrank. In jeder neuen myspace-Freundin von Michel sah ich eine Rivalin. Meine Eifersucht erreichte ihren Höhepunkt. Michel fing an zu drohen, den Kontakt mit mir zu unterbrechen. Mein gesundheitlicher Zustand hatte sich dermaßen verschlechtert, dass ich nicht mehr fähig war zu arbeiten. Nach gründlicher Untersuchung stellte sich heraus, dass ich in Folge der ständigen Nervosität, schwere Schäden im Magen-Darm-Bereich hatte. Dazu kamen noch Probleme mit der Gallenblase, immer häufigere Schmerzen und Koliken. Ich musste operiert werden. Drei Tage vor der OP traf ich mich mit Michel. Da er mich in die letzten drei Monaten nicht gesehen hatte, erschrak ihn mein Anblick so sehr, dass er mich nicht mal richtig ansehen konnte. Es tat sehr weh. Ich wünschte mir nichts mehr, als mich nur in seinen Armen auszuweinen. Michel blieb kalt. Obwohl er mich vor der OP angerufen und getröstet hat, wollte ich nur sterben. Ich überlebte die Operation. Mein Zustand stabilisierte sich langsam, genau wie unsere Beziehung. Nur mein Vertrauen wollte nicht zurückkehren. Michel schwor, dass er nie etwas mit Tatjana hatte, ich glaubte ihm nicht. Trotz der schönen Momente, die wir danach zusammen erlebt haben, wurde ich meine Zweifel nicht los. Jeder Tag, an dem er sich nicht bei mir meldete, versetzte mich in Panik. Ich nahm ihm nicht ab, dass er auch mal schlechte Tage hatte, dass ihn die Erinnerungen an seine verstorbene Ehefrau immer öfters depressiv machen. Ich vermutete nur eine neue Geliebte, Huren, die mir Michel weg nehmen wollten. Die einzige Frau, die ich akzeptieren konnte war Jessy. Meine Obsession wurde noch stärker, als er mir eines Tages sagte, dass er mich liebt, aber nicht so, wie ich es mir wünschte, nicht so, wie ich ihn liebe. Was sollte es bedeuten. Was wollte er mir damit sagen?
Ich fange an zu weinen. Die Tränen fließen in Strömen auf das Kissen, auf dem auch Michel geschlafen hat. Ein leises Klopfen an der Tür reißt mich aus meinem Gedanken.
-Sonja, schläfst du noch?- Jessy kommt rein. Ich kann meinen Zustand nicht verbergen.
-Komm, ich habe uns einen starken Drink vorbereitet. Ich glaube, wir brauchen es beide.-
Ich stehe auf und gehe gehorsam hinter ihr her in die Küche. Jessy reicht mir eine Packung Taschentücher.
-Hör auf zu heulen, es ändert nichts. Morgen sieht alles besser aus- Jessy versucht mich zu trösten.
-Trink, es wird dir gut tun.-
Ich putze meine Nase und nehme einen kräftigen Schluck. Jessy holt Zigaretten und einen Aschenbecher. Der Alkohol und eine Zigarette beruhigen mich.
-Sag mal Jessy, warum wolltest du, dass ich, ausgerechnet ich nach Osnabrück komme?-
-Ich weiß, dass du Michels beste und einzige Freundin bist. Er möchte es bestimmt auch. In einer Woche gehe ich zurück nach England und dann hat er niemanden hier. Er braucht dich.-
-Woher weißt du das, hat er es dir gesagt?-
-Nicht direkt, aber ich glaube, es ist das Beste, was ich für ihn noch machen kann. Es läuft schon sehr lange nichts mehr zwischen uns. Du hast damit nichts zu tun.-
-Wie kam es dazu?-
-Weiß ich nicht so richtig. Vielleicht, wegen seiner Arbeit, vielleicht, weil wir uns damals entschieden haben, keine Kinder zu haben. Irgendwann haben wir uns voreinander entfernt. Jeder von uns hat eigenes Leben gelebt. Eines Tages hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Ich bin froh, dass Michel die Scheidung eingereicht hat. So ein Eheleben hat keinen Sinn mehr.-
Ja, die Scheidung. Das hatte Michel mir vor einem Monat erzählt. Seitdem stellte ich mein Leben auf den Kopf.
Kapitel 6
Vor einem Monat, am Montag kurz vor meinem Geburtstag rief mich Michel abends an. Ich merkte sofort, dass er sehr aufgeregt war.
-Was ist mit dir los Schatz?- frage ich besorgt.
-Ich habe endlich den Strich unter mein bisheriges Leben gezogen.-
-Wie meinst du das? Was ist passiert?- Ich werde unruhig.
-Ich trenne mich von Jessy. Gestern haben wir es geklärt. Wir werden uns scheiden lassen. Morgen habe ich einen Termin beim Anwalt.-
-Und was weiter?-
-Ich muss mir noch gut überlegen, wie es weiter laufen soll. Habe schon einen Plan, aber es ist alles nicht nur von mir anhängig. Ich brauche noch bisschen Zeit.-
Mein Herz bleibt stehen.
-Wofür Michel? Was hindert dich noch?-
-Egal. Jetzt weißt du es schon, als erste, wie immer.- Michel versucht seiner Stimme einen fröhlichen Ton zu geben. -Sei geduldig. Du bist die einzige, mit der ich darüber reden kann. Schön, dass es dich gibt.-
-Danke- sage ich leise. Eine neue Hoffnung lässt mein Blut schneller fließen. -Wo bist du eigentlich?-
-Bin auf dem Weg nach Hause. Morgen früh gehe ich zum Anwalt und dann wieder zur Arbeit. Ich habe eine Tour nach Frankreich. Bin pünktlich zu deinem Geburtstag wieder in Deutschland. Halte deine Ohren steif Baby, ich melde mich.-
Ich war wie elektrisiert. Was hat Michel vor? Ist er jetzt für mich frei? Meine Verwirrung entging Robert nicht. Als er nach Hause von der Arbeit kam, sah er sofort, dass mich etwas beschäftigt.
-Ist etwas?- fragt er vorsichtig.
-Ach nichts, wieder Probleme im Büro. Es wird schon- antworte ich gleichgültig und stelle ihm sein Essen auf den Tisch.
Diese Nacht habe ich kein Auge zugekriegt.
Michel rief am Donnerstag an, kurz bevor Robert nach Hause kam.
-“Happy birthday to you...“- singt er am Telefon. -Schatz, ich wünsche dir, dass du glücklich bist. Bleib gesund und munter. Ich liebe dich Baby, du bist mein bester Freund.-
-Danke Schatz, ich liebe dich auch. Bist du wieder in Deutschland?-
-Ja, auf dem Weg nach Hamburg. Morgen Abend bin ich wieder zu Hause. Wir sehen uns im Internet. Bye, bye Baby, Robert kommt gleich nach Hause. Hast du das Essen fertig?-
Auf dem Weg nach Hamburg! Ein kalter Stich im Herz wirft mich beinahe auf den Fußboden. Nein, es kann nicht sein, er trifft sie doch nicht. Nein! Sonst hätte er mich doch nicht angerufen.
Am nächsten Tag hatte ich nicht so viel Zeit für Internetunterhaltung mit Michel. Ich musste meine Geburtstagsparty vorbereiten. Schade, dass Michel nicht dabei sein darf, dachte ich mir.
Die Party verlief wie immer ganz angenehm und lustig. Mir machte es nichts aus, dass ich schon ein halbes Jahrhundert wurde. Nur die Gedanken an Michel betrübten leicht meine Laune.
Am Sonntag Abend kam ich auf eine verrückte Idee. Wenn Michel jetzt frei wird, dann können wir doch endlich zusammen sein, zusammen leben. Der beste Ort dafür wäre Bad Oeynhausen. Wir hatten uns dort ein paarmal getroffen und Michel war immer sehr begeistert von dem Städtchen. Gleich am Montag setzte ich mich vor dem Computer und suchte nach Arbeitsangeboten für mich. Eine Wohnung dort zu finden sollte gar nicht so schwer sein. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich eine Stelle genau auf mich geschnitten fand. „Mertens-Security sucht eine/n Verwaltungsmitarbeiter/in zu sofort. Branchenkenntnisse sind von Vorteil, jedoch nicht die Voraussetzung. Fühlen Sie sich angesprochen? Rufen Sie uns an, Tel. ...“. Und wie ich mich angesprochen fühlte! Rasch stellte ich meine Bewerbungsunterlagen zusammen und rief am Dienstag früh Herrn Mertens an. Ich habe einen Vorstellungstermin gleich für den nächsten Tag bekommen. Das Gespräch mit Herrn Mertens verlief zu meiner Zufriedenheit. Ich durfte ab dem 1. September anfangen. Ich wollte meine Freude sofort mit Michel teilen, konnte kaum erwarten, bis er wieder anrief. Am Donnerstag rief er nicht an, aber dafür Herr Mertens. Seine Nachricht machte mich euphorisch. Die Dame, die jetzt noch als Verwaltungskraft dort arbeitet heiratet nächste Woche und zieht mit ihrem Mann zusammen. Herr Mertens fragte, ob ich ihre Wohnung übernehmen möchte. Er musste nicht zweimal fragen. Ich sagte sofort zu. Einen Besichtigungstermin wollten wir demnächst vereinbaren. Da kam mir eine hervorragende Idee in den Kopf. Ich beschloss, Martin zu überraschen.
Als er am Freitag sich wieder am Telefon meldete, fragte ich ihn, wann er einen freien Tag hat.
-Wieso?- fragte er?
-Ich möchte gerne dich wieder sehen. Wollen wir uns mal in Bad Oeynhausen treffen?-
-Ja, warum nicht. Ich habe vom 20. bis 25. August frei. Welcher Tag passt dir am besten?-
-Dann gleich am zwanzigsten, OK?-
-Kein Problem. Ich freue mich schon auf unsere kleine Cafeteria. Und bis dahin habe ich auch dein Geburtstagsgeschenk fertig.-
-Super! Ich habe auch eine Überraschung für dich Schatz.-
-Was denn?- fragte er ungeduldig.
-Wenn ich dir jetzt erzähle, ist es dann keine Überraschung mehr, sei geduldig.-
Am Wochenende fuhr ich mit meiner Schwester die Wohnung besichtigen. Ich war begeistert; drei Zimmer, gute Lage, nicht weit zur Arbeit. Um die Möbel musste ich mich nicht kümmern. Gegen eine kleine Abstandszahlung konnte ich fast alles übernehmen. Ich unterschrieb den Mietvertrag, die Wohnungsschlüssel konnte ich am 20. August abholen. Es war alles perfekt. Michel wird bestimmt auch begeistert, dachte ich mir.
Die nächsten Tage war ich wie verwünscht. Alles schien plötzlich so leicht und einfach. Michel rief mich regelmäßig an. Die Versuchung, ihm alles zu erzählen war groß, aber ich blieb stark. Michel hatte sehr gute Laune und sagte jedes Mal, dass es ihm so gut geht, wie noch nie und, dass alles so läuft, wie er sich es wünscht.
Nur noch eine unangenehme Sache musste ich erledigen. Ich konnte doch nicht so einfach verschwinden, irgendwann musste ich doch mit Robert reden. Ich schob das Gespräch bis auf den letzten Tag. Zwei Tage vor dem geplanten Treffen im Bad Oeynhausen teilte ich meinem Mann mit, dass ich ihn verlassen würde. Er tat mir sehr Leid, ich habe ihm Unrecht getan, das war mir bewusst. Ganz kurz erzählte ich ihm, dass ich mich verliebt hatte und dass es nichts mit ihm zu tun hätte. Robert reagierte überraschend gelassen. Sagte mir, dass er es schon länger vermutet hätte und wünschte mir viel Glück in der neuen Beziehung. Das war's. Am nächsten Tag zog ich bei meiner Schwester ein.
Kapitel 7
Ich verbrachte die halbe Nacht mit Jessy. Es hatte keinen Sinn unsere jetzige Situation immer aufs neue zu analysieren. Ich erzählte ihr kurz, was im letzten Monat passiert war.
-Es freut mich, dass du ehrlich bist Sonja. Ich hoffe, dass ihr glücklich zusammen werdet und dass er dich auch liebt, so, wie du ihn liebst.- Jessy legt ihre Hand auf meine. Unter anderen Umständen könnten wir sogar Freundinnen werden. -Wollen wir jetzt schlafen gehen? Es ist schon spät und morgen haben wir noch ein paar Sachen zu erledigen.-
-Ja, stimmt. Ich muss noch meinen Koffer und den Kater abholen. Ich denke, es wäre am besten einen Pkw zu mieten. Kennst du eine Autovermietung in der Nähe?-
-Hier gibt es nur eine, aber dann musst du den Wagen hierher zurückbringen. Es ist besser einen in Osnabrück von Europcar zu nehmen. Ich fahre dich morgen hin, du erledigst deine Sachen, ich meine und dann treffen wir uns im Krankenhaus.-
-Ich weiß nicht wie ich dir danken soll. Du bist so lieb zu mir.- Ich fange wieder an zu weinen. Jessy umarmt mich. In diesem Moment sehen wir einen Blitz und kurz danach ist ein lauter Donner zu hören. Schwere Regentropfen kündigen einen starken Regen an.
-Na endlich- sagt Jessy. -Die Hitze war nicht mehr zu ertragen. Jetzt werden wir besser schlafen können. Komm, es reicht für heute. Gute Nacht Sonja.-
Wir gehen in unsere Betten. Der Regen und der Alkohol helfen mir sofort einzuschlafen.
Am nächsten Morgen fahren wir nach Osnabrück. Jessy fährt mich zu Europcar, zeigt mir, wie ich zu Martin fahren soll und wir verabreden uns für 16 Uhr vor dem Krankenhaus.
Es regnet immer noch, die Luft fühlt sich wie in der Sauna. Ohne Probleme finde ich das Haus von Martin.
-Ah, da ist die Mama- begrüßt mich Martin in der Tür. -Willy vermisst dich schon.- Erst jetzt sehe ich mein Kätzchen hinter den Beinen von Martin.
-Ich hoffe, er hat dir keine Probleme gemacht.-
-Ach was, wir haben uns sogar befreundet. Darf ich dir einen Kaffee anbieten? Frisch gebrüht.-
-Gerne- antworte ich und nehme Willy auf den Arm.
-Setzt dich bitte da in den Sessel hin, ich hole die Tassen. Du kannst hier ruhig rauchen.- Martin verschwindet in der Küche und Willy kuschelt auf meinem Schoß.
-Alles in Ordnung bei dir? Dein Freund am Leben? Wie geht es dir?-
-Danke es geht. Ich gehe heute Nachmittag ins Krankenhaus zu ihm.-
Ich erzähle Martin wie alles gelaufen ist und auch ein wenig mehr, was meine Geschichte mit Michel betrifft. Willy sitzt eine Weile bei mir, aber nach ein paar Minuten springt er runter und verschwindet im Flur. Martin lacht.
-Er geht zu meiner Tochter, sie schläft noch.-
-Deine Tochter?-
-Ja, sie wohnt bei mir. Sie studiert noch. Meine Ex-Frau ist vor zwei Jahren gestorben und Marianne zog bei mir ein. Zu zweit ist es leichter.-
Willy erreicht sein Ziel, Marianne steht auf und setzt sich zu uns. Sie ist eine fröhliche junge Dame. Willy scheint auch mit ihr gut befreundet zu sein.
-Lassen Sie ihn noch bei uns. Nach dem Besuch im Krankenhaus können Sie ihn abholen- sagt Marianne.
-Danke, aber ich will gleich danach nach Hause, nach Bad Oeynhausen. Muss noch ein paar Vorbereitungen treffen, falls Michel doch morgen aus dem Krankenhaus entlassen wird.-
Gegen 14 Uhr verabschieden wir uns. Willy ist nicht besonders begeistert, als ich ihn in die Transportbox packe. Ich will noch kurz in die Stadt, mir eine Jacke kaufen. Es kann sein, dass es bald kühl wird, es regnet immer noch. Damit habe ich nicht gerechnet und keine Jacke mitgenommen.
Pünktlich um 16 Uhr parke ich vor dem Krankenhaus. Jessy wartet schon auf mich.
-Alles erledigt?- fragt sie. -Ich habe schon im Krankenhaus angerufen, Michel ist wieder wach.-
-Ja, ich habe Willy und meinen Koffer abgeholt.-
-Gut. Dann gehen wir rein. Er wartet schon auf uns.-
Ich hasse Krankenhäuser. Damals, als Robert operiert wurde, besuchte ich ihn jeden Tag. Beim ersten Mal ging es noch, aber bei den drei nächsten OP's konnte ich mich jedes Mal übergeben, wenn ich nur durch die Tür trat. Diesmal ist es anders. Die Sehnsucht nach Michel ist stärker als meine Aversion gegen diese Einrichtungen. Wir steigen in den Aufzug ein und fahren in die vierte Etage.
-Es ist das Zimmer Nummer 411. Geh vor, ich warte hier zehn Minuten. Sag ihm bitte, dass ich auch hier bin. Er weißt nicht, dass du mitkommst, soll eine Überraschung sein.- Jessy setzt sich in die Ecke für Besucher und ich gehe den Flur entlang nach dem Zimmer 411 zu suchen. Es befindet sich am andern Ende des Korridors. Ich klopfe leise an der Tür.
-Herein!- höre ich Michels Stimme.
Ich zögere einen Moment. Die Angst, etwas Schlimmes hinter der Tür zu sehen, macht mich fast ohnmächtig. Langsam drücke ich die Klinke. Michel sitzt auf dem Bett und trinkt Kaffee. Er wirkt sehr überrascht, als er mich sieht.
-Sonja! Na mit dir habe ich gar nicht gerechnet. Wie hast du mich hier gefunden?- Martin ist total verblüfft. Ich kann ihm gar nicht anmerken, dass er sich freut, mich zu sehen.
-Jessy hat mich erreicht und von dem Unfall erzählt. Sie ist auch da, kommt in zehn Minuten hier her.-
-Das sie sich immer einmischen muss. Ich würde dich schon anrufen.-
-Ist doch in Ordnung, oder?- Ich weine fast. Was geht hier vor?
-Na ja, egal, trotzdem schön, dich zu sehen.-
-Wir waren doch verabredet heute- sage ich leise.
-Ich habe es nicht vergessen, aber siehst du doch, höhere Gewalt. Und ich habe mich so gefreut auf das Eis mit dir.- Michel lacht, als ob nichts passiert wäre. Trotz dem blassen Gesicht, schwarzen Ringen unter den Augen und dem Verband auf seinem Kopf wirkt er fröhlich.
-Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?- Ich nähere mich unsicher dem Bett um Michel zu küssen und umarmen.
-Ach, Kleinigkeiten. Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Bin ein harter Hund, weißt du doch. Setzt dich endlich hin, da ist ein Stuhl.-
Ich drehe mich um, hole den Stuhl und setze mich drauf. Ich fühle mich sehr unwohl. Habe mir seine Begrüßung anders vorgestellt. Michel scheint sehr gute Laune zu haben.
-Sonst alles OK bei dir?- frage ich.
-O ja Schatz! Ich bin so glücklich. Abgesehen von dem Unfall läuft alles so, wie ich es mir gewünscht habe.-
-Das heißt?- Ich verstehe immer noch nichts.
-Ich wünschte mir immer eine Familie, eine Frau die mich liebt und stets für mich da ist. Du hattest Recht, man kann von der Liebe nicht weg laufen. Du hast mir die Augen aufgemacht, du, mein bester Freund.-
„Mein bester Freund“? Was meint er zum Teufel?
-Ach, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen, dein Geburtstagsgeschenk.- Martin holt aus dem Nachttisch ein Päckchen raus. -Sorry, bisschen dreckig, aber ich hatte es bei mir als der Scheiß passiert ist.- Er reicht mir das Päckchen. -Schau mal rein. Habe ich extra für dich gemacht, zusammen mit Julia.-
Ich reiße langsam das Papier auf. Was kann es sein? Bestimmt eine CD mit seinem neuen Lied, das er mit Julia gemacht hat. Julia ist seine Partnerin, sie singt oft mit ihm. Ja, es ist eine CD und ein kleines weißes Lämmchen vom Sheepworld. Es trägt ein Schildchen auf dem Hals, „Danke dir für alles mein Freund. Ich werde dich nie vergessen“.
-Danke schön- sage ich und versuche Michel einen Kuss zu geben.
-Vorsicht, meine Rippen.- Michel schubst mich leicht zur Seite. Ich setze mich wieder auf den Stuhl.
-Ach Sonja, ich bin so glücklich, ich muss dir gleich alles erzählen- sagt Michel.
In diesem Moment geht die Tür laut auf und ein kleines Mädchen, ungefähr zehn, stürmt in das Zimmer rein, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
-Onkel Michel!- schreit sie und springt auf das Bett.
-Melanie, mein Sonnenschein! Ihr seid aber früh hier, wo ist Mama?- Michel drückt das Kind an seine Brust, ohne Rücksicht auf seine gebrochenen Rippen zu nehmen.
-Sie kommt gleich, ich bin gelaufen um dich schneller zu treffen.-
Ich starre Michel verblüfft an und stehe auf um die Tür zu schließen. In diesem Moment erscheint eine Frau vor mir. Ich betrachte sie kurz. Mitte dreißig, langes braunes Haar, tolle Figur, mit enger Jeans und enger Lederjacke angezogen. Ihr hübsches Gesicht kommt mir bekannt vor. Tausende von Bilder laufen in der Lichtgeschwindigkeit vor meinen Augen ab. Das ist... Tatjana aus Hamburg! Ich bleibe stehen wie versteinert.
-Melanie, lass Michel in Ruhe!- ruft sie fröhlich lachend und wendet sich an mich.
-Hallo Sonja, nett, dass du vorbei gekommen bist. Wir kennen uns doch- höre ich wie von Weitem. Tatjana reicht mir ihre Hand.
Ohne mich umzudrehen laufe ich aus dem Zimmer raus. Tränen strömen über mein brennendes Gesicht. Ich laufe schnell durch den Korridor. Weg, weg von hier!
-Sonja, warte! Was ist los?- höre ich Jessy hinter mir rufen. Ich halte nicht an, laufe die Treppe runter und bleibe erst vor dem Gebäude stehen. Ich will schreien vor Schmerz, aber ein riesiger Kloß in meinem Hals verhindert es. Draußen ist es regnerisch, trüb und dunkel wie in meinem Herz. Dank der kühlen Regentropfen werden die Tränen auf meinem Gesicht unsichtbar. Genau so, wie die in meinem Inneren. Sie kann keiner sehen, aber gerade die unsichtbaren Tränen bereiten mir tierische Schmerzen. Ich stehe regungslos auf dem Parkplatz vor dem Leihwagen. Autoschlüssel, wo sind die? Verdammt, in der ganzen Aufregung habe ich meine Tasche vergessen, sie liegt auf dem Bett bei Michel. Nein, da gehe ich nicht wieder hin! Ich zittere am ganzen Körper. Die neue Jacke, die mich vor der Kälte schützen sollte, ist jetzt ganz nass und macht es noch schlimmer. Mein Kopf dröhnt. Warum kann ich mich nicht einfach in dem Regen auflösen, für immer verschwinden?
-Sonja, Mädchen, was machst du bloß hier? Du holst dir noch eine schlimme Krankheit! Komm rein!- Jessy zieht mich an der Hand. Was will sie von mir? Ich will keinen sehen, sie soll mich in Ruhe lassen! Ich lasse mich von ihr in das Krankenhausgebäude führen. Wir setzen uns auf ein Sofa in der Eingangshalle, Jessy reicht mir ein Taschentuch und streichelt mein nasses Gesicht.
-Beruhige dich, bitte. Ich bin genau so schockiert, wie du. Du hast deine Tasche vergessen, da ist sie.-
Ich kann kein Wort rausbringen. Jessy umarmt mich und versucht mich zu trösten, was total sinnlos ist.
-Komm, wir fahren zu mir- sagt Jessy -So kannst du doch nicht nach Hause.-
-Danke dir Jessy, aber ich möchte jetzt doch alleine sein, ich fahre gleich nach Bad Oeynhausen.-
-Ich weiß nicht, aber wenn du meinst, dass es so besser für dich ist.- Sonja widerspricht mir nicht.
-Michel will, dass ich die beiden in unserem Haus übernachten lasse. Frechheit! Was denkt er sich eigentlich? Das habe ich ihm auch gesagt. Der Junge spinnt!- Jessy wirkt sehr empört.
-Ja, hast du recht. Erst ich, dann Tatjana und ihre Tochter, verstehe- sage ich teilnahmslos.
-Nein, du bist etwas anderes. Die Tussi kommt mir nicht ins Haus! Der Scheißkerl hat uns beide rein gelegt- zischt Jessy.
Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.
-Sei mir nicht böse Jessy, aber ich will jetzt nach Hause. Ich rufe dich morgen an.-
-OK! Wir müssen uns noch mal treffen bevor ich nach England abreise. Ich mag dich irgendwie.- Jessy drückt mich herzlich und gibt mir einen Kuss.
Ich gehe langsam zum Parkplatz, steige in den Wagen rein. Willy wird wach und laut miauend versucht er, sich aus dem Transportkorb zu befreien. Ich lasse ihn raus und er platziert sich sofort auf meinem Schoß. Seine große Augen scheinen zu fragen, was passiert ist. Mein Blick fällt auf die Handtasche, aus der ein Stück Geschenkpapier raus guckt. Ich hole die CD raus und stecke sie in den Player. Das Sheepworld-Lämmchen schmeiße ich in den Transportkorb, Willy springt gleich hinter her und fängt an damit zu spielen, wir fahren los.
Kapitel 8
In wenigen Minuten lande ich auf der Autobahn. Das schlechte Wetter lässt es nicht zu, schnell zu fahren. Die Autos vor mir sind kaum zu sehen. Ich versuche, mich auf die Fahrt zu konzentrieren. Trotzdem - die Gedanken in meinem Kopf lenken mich ab.
Es ist alles vorbei! Meine Liebe, meine Träume und meine Pläne liegen in Trümmern. Was habe ich bloß falsch gemacht? Ist es alles nur meine Schuld? Wer, wenn nicht ich, redete Michel ein, dass man vor der Liebe nicht weg laufen soll? Natürlich ich Idiot! Er hat mir doch nie gesagt, dass er seine Zukunft mit mir sieht. Habe ich ihm das gesagt? Auch nicht. Ich habe immer nur versucht, ihn an mich zu binden. Ich habe alles vermasselt, nur ich. Ich habe ihm gezeigt, wie man glücklich wird, habe aber vergessen ihm zu sagen, dass er mit mir glücklich sein soll.
Ich schalte den CD-Player an. Julias normalerweise starke Soul-Stimme klingt irgendwie anders, diesmal weich und fast weinend. Ich drehe den Ton lauter, um die Gedanken in meinem Kopf zu übertönen.
„Why don't you love me, like I love you?“
erst jetzt nehme ich das Lied aus den Lautsprecher wahr und versuche den Song-Text zu verstehen.
Please show me something
because I know it's getting late
Please tell me what you think of me
ohohohoh
I wrote you letters everyday for a year
you didn't write back, I never heard a single word
So tell me, just tell me,
release me from my pain....
see me, believe me,
look me in the eyes and answer
why dont you love me, like I love you?
You could have loved me if you'd tried
but the effort was too much
with a burning torch in the night
just to feel your velvet torch
I asked you what you wanted from me
you didn't answer, you walked away
So tell me, just tell me,
release me from my pain....
see me, believe me,
look me in the eyes and answer
why dont you love me, like I love you ?
Dicke Tränen fließen wieder aus meinen Augen. Ich will nicht mehr weinen, aber der Schmerz in mir lässt nicht nach.
Die Musik hört plötzlich auf, das Autobahn-Radio schaltet sich automatisch an. Eine männliche Stimme berichtet von den Hindernissen auf meinem Weg. „... Stau nach einem Unfall vor dem Kreuz Bad Oeynhausen, bitte fahren Sie vorsichtig“. Es gießt wie aus den Kübeln und deswegen fahre ich jetzt schon ziemlich langsam. Ich sehe nur die roten Heckleuchten vor mir. Zur Sicherheit reduziere ich das Tempo.
„Why don't you love me, like I love you?“
schreit mein Herz immer lauter.
Die Autos vor mir werden immer langsamer.
„Why don't you love me ..?“
die Tränen ätzen mein Gesicht.
Jetzt geht nichts mehr, ich halte den Wagen an.
„Why don't you…?“
will ich schreien!
Ein kräftiger Stoß von hinten … es wird dunkel und still...
… Regentropfen auf meinem Gesicht, es tut gut … warum ist der Regen so rot? … mein Körper schwebt nach oben, über die schwarze Regenwolken, mir ist kalt … es wird heller und wärmer … die Wolken bleiben unter mir … weiße Lämmerchen grasen auf der blauen Wiese … nein, die sind nicht alle weiß, eins ist schwarz … das ist kein Lämmchen, das ist mein Kater Willy … Willy läuft zu mir, schaut mich fragend an ...
“Why?“
...
WHY?!!!
Texte: Überarbeitete Version.
Großer Dank an "mailchen" für ihre Hilfe.
Das Lied "Why don't you love me" stammt aus dem Album Lost Soul von Erick Oddy
Story frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Personen und Situationen sind zufällig.
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen liebenden als Warnung und dem Menschen, den es mal gab.