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In Ernststadt, einer sehr ernsten und kleinen Stadt mitten in Deutschland lebte einmal eine alte Dame namens Hermine Bohn.

Frau Bohn war sehr alt. Das sah man schon an den runzeligen Falten in ihrem runden Gesicht.
Ihre weißen Haare trug sie immer in einem Knoten , der, wenn sie lachte, lustig auf ihrem Kopf hin- und her wippte. Wenn sie spazieren ging, dann tat sie das furchtbar langsam, in gebückter Haltung und auf einen Stock gestützt.
Frau Bohn hatte kleine, verschmitzt dreinblickende, wasserblaue Augen.
Die alte Dame lebte, mit ihrem ebenfalls sehr alten Kater Fritz, in der
Blauwunderstraße Nr.7 / Ecke Tiergartenstraße.

Wenn man die Blauwunderstraße entlang ging, fiel einem das Haus Nr. 7 sofort ins Auge. Alle Häuser waren grau und in Reih- und Glied aneinandergereiht. Sie ragten hoch in den Himmel und viele Leute wohnten darin. Nur das Haus Nr.7, welches genau auf der Ecke zur angrenzenden Tiergartenstraße stand, war anders.

Das Haus von Frau Bohn war ziemlich klein, blau gestrichen und hatte eine grüne Haustüre und grüne Fensterläden.
Unter dem Küchenfenster, mit Blick zum vorderen Teil des Grundstückes, stand eine kleine weiße Holzbank.
Neben dem Haus befand sich ein großer Garten.
Hier wuchsen allerlei bunte Blumen und Frau Bohn hatte sogar ein kleines Gemüsebeet angelegt.
Manchmal sah man sie, wie sie das Unkraut zwischen den Salatköpfen herauszupfte, oder sich einen frischen Kohlrabi zum Mittagessen schnitt.
Irgendwie kam es einem so vor, als schiene die Sonne immer nur auf das Haus Nr.7.

Vielleicht gab es im Garten von Frau Bohn deshalb so viele Hummeln und Schmetterlinge.
Das Schönste aber war der große Apfelbaum, mitten auf der, mit Gänseblümchen und gelben Butterblumen gesprenkelten, Wiese.
Er hatte starke knorrige Äste und überragte das kleine blaue Haus um gut zweieinhalb Meter.
Unter seinem prächtigen Blätterdach gab es immer ein schattiges Plätzchen und wenn man in die Krone hinaufsah, war alles von hellgrünem Licht durchflutet.
Am unteren, dem stärksten Arm des Baumes, hing eine alte Schaukel.

Jeden Tag kamen die Kinder aus der Blauwunderstraße nach der Schule in Frau Bohns Garten.
Hier konnte man toll ausruhen und spielen.
Und wo sollten die Kinder auch sonst hingehen?

Ihre Eltern waren den ganzen Tag im Büro, denn in Ernststadt wurde sehr viel gearbeitet.
Jeden Morgen gingen die Erwachsenen schon früh aus dem Haus und kamen abends spät und sehr müde wieder zurück.
Dann waren sie so müde, dass sie keine Kraft mehr hatten, ihren Kindern den Rücken zu kraulen oder ihnen beim Zubettgehen noch einen Gute – Nacht - Kuss zu geben.
Sie fragten dann immer: „Hast du deine Hausaufgaben auch ordentlich erledigt? Denn du willst ja, dass später mal ein guter Bankdirektor oder Bürgermeister oder Zahnarzt aus dir wird.“
Und weil die Kinder von Ernststadt alle sehr artig und fleißig waren, hatten sie nicht nur ihre Hausaufgaben ordentlich gemacht, sondern auch schon die Zähne gründlich geputzt und alle Schulsachen für den nächsten Tag bereitgestellt.

Die Kinder wollten ihren Eltern gute Kinder sein. Deshalb gehorchten sie auch immer brav und gingen jeden Tag pünktlich zur Schule, obwohl kein Erwachsener da war, um das zu überprüfen. In der Schule von Ernststadt gab es nämlich keine netten jungen Lehrerinnen, sondern graue Computer, an denen die Kinder Rechnen und Schreiben lernten.

Aber weil selbst das artigste und gewissenhafteste Kind irgendwann mal ein Abenteuer braucht, gingen sie heimlich nach der Schule zu Frau Bohn.
Denn ein Abenteuer- das war es immer bei Frau Bohn.

Frau Bohn zeigte ihnen wie man Apfelpfannkuchen backt, auf Grashalmen pfeift, ein Dach aus Reisigzweigen und einer alten Decke baut, wie man Papierflieger bastelt und mit kleinen Kieseln Schnippen spielt.
Aber am Tollsten waren Frau Bohns Geschichten.

Wenn Frau Bohn auf ihrer kleinen weißen Bank saß und Fritz sich gemütlich auf ihrem breiten Schoß zusammenrollte, dann setzten die Kinder sich alle still und mit großen Augen und roten Wangen um sie herum und horchten ihren Worten.
Frau Bohn erzählte ihnen von schönen Prinzessinnen, die bei den Zwergen wohnten und hundert Jahre schliefen. Von Töchtern, die mit Tauben sprachen und stolzen Königssöhnen, die sie zur Frau nahmen. Sie erzählte von Feen und Elfen, von klitzekleinen Mädchen, nur so groß wie ein Daumen und von verzauberten Fröschen. Und sie erzählte von alten Frauen, wie sie eine war, die in den Wolken die Betten ausschüttelten.
Die Kinder konnten gar nicht genug davon bekommen und riefen immer: „Frau Bohn, erzähle uns noch eine Geschichte, bitte!“
Aber Frau Bohn lachte nur und sagte: „Morgen, Kinder. Morgen erzähle ich euch wieder etwas.“ Und dann sahen die Kinder sich noch die vielen wunderschönen Bilder in Frau Bohns Büchern an und konnten nicht aufhören zu staunen. Denn sie hatten keine Bücher mit Bildern drin.

Danach gingen sie wieder nach Hause. In ihre grauen Häuser zu ihren müden Eltern. Aber sie waren nicht traurig, denn ihre Träume in der Nacht leuchteten in den schillerndsten Farben.

Und am nächsten Tag versammelten sie sich alle wieder bei Frau Bohn im Garten.
So ging es den ganzen Sommer lang und auch den Herbst hindurch.
Eines Tages war es sehr kalt.
Die Kinder hatten schon den ganzen Vormittag auf Schnee gehofft, um mit Frau Bohn bald einen Schneemann bauen zu können.
Als sie durch das kleine Gartentor stürmten, trat gerade ein strenger Herr in grauem Anzug und steifem Hut durch die grüne Haustüre auf den Gehweg.
Frau Bohn folgte ihm mit ernster Miene und nickte ihm zum Abschied zu.
Als der Herr um die Ecke verschwunden war, setzte sie sich schwerfällig auf die weiße Bank vorm Küchenfenster und seufzte tief. Ihre Augen schauten sehr traurig drein.

„Frau Bohn, was hast du denn?“ fragten die Kinder und Frau Bohn sagte: „Ach wisst ihr Kinder, die Leute denken, dass ich umziehen sollte.“
„Was? Aber wohin denn umziehen?“
„Drüben, am anderen Ende der Stadt, da gibt es ein Haus für so alte Damen, wie ich eine bin. Da muss ich nicht mehr soviel arbeiten, denn da kocht man für mich und wäscht meine Wäsche. Außerdem ist es da immer warm und ich hätte auch ein eigenes Zimmer. Und wenn es mir mal nicht so gut geht, dann ist da auch sofort ein Doktor, der mir helfen kann.“
„Geht es dir denn schlecht, Frau Bohn?“
„Naja, wenn man so eine alte Dame ist, wie ich eine bin“, antwortete Frau Bohn, „dann funktioniert der Körper nicht mehr so gut. Dann schmerzt einem auch mal der Rücken oder man vergisst so Manches, zum Beispiel, die Rechnungen zu bezahlen.“
„Aber Frau Bohn! Was wird dann aus dem Haus Nr.7 und dem Garten? Und aus Fritz?“
„Fritz darf mit mir kommen. Und das Haus…“

Hier schwieg Frau Bohn. Sie saß da und ließ den Blick über ihr Grundstück schweifen. Sie betrachtete das kahle Gemüsebeet, sah die Sträucher, die im Sommer voll roter Beeren hingen und schaute hinauf in die Gabel des mächtigen Apfelbaumes.
Die Kinder standen da und ließen betroffen die Köpfe hängen.
„Geht jetzt nach Hause, Kinder. Heute muss ich nachdenken. Und zum Nachdenken, bin ich am Liebsten allein.“
Frau Bohn versuchte zu lächeln, aber irgendwie sah sie so nur noch trauriger aus.
Die Kinder gehorchten und verließen nach und nach das Grundstück.

Als auch das letzte der Kinder gegangen war, füllten sich Frau Bohns wasserblaue Augen mit Tränen. Sie streichelte Fritz, der auf ihrem Schoß schlief. So saß sie an diesem Tag noch lange auf ihrer Bank.

Am nächsten Morgen beschlossen die Kinder zum Ersten Mal nicht zu gehorchen.
Sie gingen nicht zur Schule.
Gemeinsam schlugen sie den Weg zur Blauwunderstraße Nr.7/ Ecke Tiergartenstraße ein. Wenn sie Frau Bohn auch nicht zum Bleiben bewegen konnten, so wollten sie ihr doch wenigstens beim Packen helfen.
Gerade als die Kinder Frau Bohns Garten betraten, öffnete sich die grüne Türe und der Herr im grauen Anzug mit dem steifen Hut kam aus dem Haus.

„Wo ist Frau Bohn?“ trat ihm ein größerer Junge entgegen. „Haben Sie sie etwa schon weggebracht?“
„Nein“, sagte der Herr, „Das ist nicht mehr nötig. Frau Bohn ist in der letzten Nacht gestorben. Und ihr macht jetzt besser, dass ihr in die Schule kommt. Oder wollt ihr nicht, dass etwas Vernünftiges aus euch wird?“
Und genau da fing es an zu schneien.
Ich weiß nicht, aber ich glaube, in diesem Moment dachten sie alle an das Gleiche. Ich glaube, sie dachten an Frau Bohn, wie sie die Betten ausschüttelt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Else

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