Diese Geschichte erzählte mir ein alter Seemann in der Taverne „Three Horses“. Der Mann war uralt, viel zu klein für einen Seemann, hatte keine Zähne und keine Haare auf dem Kopf. Für eine Flasche Rum konnte er viele Geschichten über Seeräuber erzählen, aber diese eine werde ich nie vergessen…Hör zu:
In den guten alten Zeiten lebte ein Piratenkapitän namens Black Bill. Er und seine Crew plünderten und brandschatzten Schiffe, und waren die grausamsten und blutdürstigsten Piraten, die Angst und Schrecken verbreiteten. Black Bill hatte einen schwarzen Bart, schwarze Kleidung, sein Schiff lief unter schwarzem Segel. Man nannte ihn Black Bill nicht nur weil er schwarze Kleidung trug, oder einen schwarzen Bart hatte, sondern wegen seiner schwarzen Seele. Für ein bisschen Gold konnte der Pirat ein Kind ohne mit der Wimper zu zucken, umbringen. Die Leute sagten, dass ein Blutbad zu veranstalten und wahllos zu morden ihm ein Vergnügen bereitete. Wenn man am Horizont sein schwarzes Segel sah, zitterten die Menschen vor Angst und fürchteten um ihr Leben. Nicht nur Besatzungen von Handelsschiffen hatten Angst von dem schwarzen Schiff, auch die von Kriegsschiffen und anderen Piratenschiffen fürchteten eine Begegnung mit ihm.
Eines Tages geriet sein Schiff in einen gewaltigen Sturm. Die Wellen waren bis zum Himmel hoch. So einen Sturm konnte kein Schiff überstehen und kein Seemann überleben. Das Piratenschiff wurde von den Wellen verschluckt, Black Bill, vier seiner Männer und ein Schiffsjunge retteten sich in eine Schaluppe. Das Meer tobte fürchterlich bis zum Abend, aber die Schaluppe mit sechs Piraten blieb verschont. Am nächsten Tag hatte der Sturm sich gelegt, das Wetter war heiter. Die Piraten in der Schaluppe waren dem Meer überlassen, sie wussten nicht in welcher Richtung Land war. Sie hatten kein Wasser und keinen Proviant, am Tag schien die Sonne unbarmherzig herab und in der Nacht war es bitterkalt. Die Schaluppe trieb drei Tage im offenen Meer, bevor die Piraten eine Insel sahen. Als sie strandeten, stellten sie fest, dass sie auf einer mitten im Ozean liegenden Insel gelandet waren. Die Insel war unbewohnt, mit Wald und kleinen Bergen. Sie kamen an Land und fielen erschöpf auf den Sand. Nach dem sie sich ein wenig ausgeruht hatten, fanden sie Wasser und ein paar Muscheln zum essen. Sie schliefen unter Palmen, da sie zu schwach waren eine Hütte zu bauen. So überlebten die Piraten drei Tage, aber sie waren ständig hungrig.
Am vierten Tag wachten sie auf und sahen mit großem Erstaunen ein schönes Mädchen am Strand. Es stand einfach da: Barfuß, nur mit einem schneeweißen Hemd bekleidet. Das Mädchen war nicht älter als zehn Jahre. Es hatte große blaue Augen und blonde Haare, die in der Sonne wie Gold schillerten. Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens. Seine ganze Erscheinung strahlte vor Freundlichkeit. Die kleine Schönheit sah aus wie ein Engel, aber den Piraten war sie unheimlich. Was zum Teufel macht sie hier, dachten die Piraten. Angst packte ihre Herzen mit kalter Hand. Die Schöne lief den Piraten entgegen, und die Seeräuber merkten erschrocken, dass sie im Sand keine Spuren hinterließ. Die Piraten standen wie erstarrt da, es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Nur der Schiffsjunge konnte das Mädchen fragen:
„Wer bist du? Wo kommst du her?“
Aber er erhielt keine Antwort. Das Mädchen kam direkt zu Black Bill, streckte ihm die Arme entgegen und sprach:
“Bill! Umarme mich! Ich zeige dir eine Höhle, wo ihr ein Dach über dem Kopf haben werdet. Aber dafür musst du mich umarmen!“
Von Angst und Wut erfüllt zog Black Bill seinen Krummsäbel und wollte das Mädchen erschlagen, aber er konnte seinen Arm nicht mehr bewegen, er knurrte nur: „Wir sechs starken Männer können uns selbst eine Hütte bauen! Scher dich weg!“
Das Mädchen sagte kein Wort, drehte sich um und ging in den Wald. Es hinterließ keine Fußabdrücke im Sand. Es war, als ob es nie hier gewesen wäre.
Kurze Zeit später, kam ein starker Regenschauer. Die Piraten wurden nass und verfluchten diese Insel und das Mädchen, das sie für einen bösen Geist hielten.
Es vergingen noch zwei Tage. Aus den Palmenzweigen bauten die Piraten für sich eine kleine Hütte, und hofften, dass dieses teuflische Mädchen nicht mehr kommen würde.
Aber das Mädchen erschien wieder, mit schnellen Schritten lief es durch den Sand, lächelte die Piraten wie ein Engel an, verbeugte sich zur Begrüßung vor jedem und lief dann direkt zu Black Bill. Es strahlte Bill an und sagte: „Bill! Ich will dich umarmen! Ich zeige dir ein Schiff, das auf der anderen Seite der Insel, in einer Bucht liegt, aber lass mich dich umarmen!“
Bills Kehle war wie zugeschnürt, trotzdem schrie er voller Angst:
„Geh weg! Zum Teufel! Wir können selbst das Schiff suchen!“
Das Mädchen sagte kein Wort und ging in den Wald. Wieder hinterließ es keine Fußabdrücke im Sand und es war ihnen, als ob sie es nie gesehen hätten.
Die Piraten brauchten drei Tage, um die Insel zu umrunden. Sie suchten nach dem Schiff, da sie die verfluchte Insel verlassen wollten, aber sie fanden keines.
Es vergingen noch ein paar Tage, dann kam das Mädchen wieder. Viele goldene Ketten hingen um seinen Hals. Um Beine und Arme waren goldene Reifen und auf jedem Finger war ein kostbarer Ring zu sehen. Ein goldenes Diadem thronte auf dem Kopf. Mit Engelslächeln kam die Kleine zu Bill, die goldenen Ketten und Reifen klirrten verführerisch. Sie hob ihre Arme zu ihm und flehte ihn an:
„Bill! Lass dich umarmen! Ich zeige dir, wo der Schatz vergraben ist, lass mich dich aber umarmen!“
Die Augen des Pirat strahlten vor Freude, er rang nach Atem: So viel Gold! Bills Habgier war größer als seine Angst und so erlaubte er dem Mädchen, ihn zu umarmen. Schnell umschlang sie Bill mit ihren Armen und drückte sich fest an ihn. Black Bills Gesicht lief rot an, er schrie voller Entsetzen: „Lass mich los!“
Aber das Mädchen lachte kalt und fragte:
„Hast du deine Opfer losgelassen?“
Die anderen Piraten waren wie erstarrt, konnten nicht einen Finger bewegen, sie zitterten nur vor Angst, hörten Bills Schreie und konnten nichts machen.
Das Mädchen ließ ihn nicht los, sondern drückte fester. Bills Schreie wurden lauter, die Tränen schossen aus seinen Augen und er brüllte:
„Hab Erbarmen! Ich sterbe!“
Das Mädchen hielt ihn fest und fragte:
„Hast du Erbarmen mit deinen Opfern gehabt?“
Dann klammerte es sich mit ihren Armen an Bill, umfasste ihn gleich einer Zange und drückte ihn noch fester an sich. Black Bill winselte: „Es ist meine Ende! So helft mir doch!“ Mit höhnischem Lächeln flüsterte das Mädchen die Frage Bill zu: „Hast du mal jemandem geholfen?“ Black Bill schrie. Sein Schrei war knochenmarkbetäubend. Dann ließ das Mädchen ihn los, Bill fiel tot in den Sand, er atmete nicht mehr. Das unheimliche Mädchen lächelte die anderen Piraten mit ihrem Engelslächeln an, drehte sich um und ging langsam in den Wald. Es hinterließ keine Fußabdrücke im Sand, als ob es sie nie an diesem Ort gewesen wäre.
Nach ein paar Minuten erwachten die Piraten aus ihrer Starre. Sie sahen den toten Black Bill und blickten sich angsterfüllt um. Durch das schreckliche Geschehen verloren sie den Verstand. Zwei von ihnen fingen an mit einander zu kämpfen, sie kämpften gegeneinander, bis sie sich gegenseitig umbrachten. Zwei andere rannten mit Schreien davon, quer über die ganze Insel. Nach drei Tagen sprang einer von der Klippe in den Tod. Ein Anderer erhängte sich an einem Baum. Nur der Schiffsjunge überlebte. Er musste noch lange auf der Insel leben. Der Junge hatte Angst diesem schrecklichen Mädchen wieder zu begegnen, aber er sah es nie wieder. Nach einigen Jahren fand der Junge ein kleines Schiff in einer Bucht und konnte so die Insel verlassen.
Der Schiffjunge lebte sehr, sehr lange. Er erzählte jedem, den er traf, die Geschichte von Black Bill. Ihr fragt euch bestimmt, wer dieses Mädchen war. Vielleicht ein böser Zauberer, vielleicht sogar der Teufel selbst. Vielleicht aber auch nur der Geist eines kleinen Mädchens, der sich für alle Seelen, die Black Bill auf dem Gewissen hatte, rächen wollte.
Texte: Cover Bild von Autorin
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2009
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