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Es lebte einmal, vor langer Zeit, in einem afghanischen Bergdorf ein Bauer, namens Jusuf. Er hatte drei jüngere Schwestern: Fatima, Leyla und Güldschan. Ihre Eltern waren schon sehr früh gestorben und so wohnten die Geschwister in einem kleinen Haus. Sie waren nicht reich, hatten nur vier Schafe und ein kleines Stück Land. Alle drei Schwestern waren schöne Mädchen, aber am schönsten war Güldschan, die Jüngste. Güldschan hatte lange Haare, sie waren schwarz wie Rabenfeder. Ihre schönen Augen leuchteten wie Sterne am Nachthimmel, und ihr Körper war geschmeidig wie der einer Gazelle.
Die Schwestern waren fleißig und während Jusuf faul im Schatten der großen Pappeln lag, verrichteten seine Schwestern die ganze Arbeit. Sie arbeiteten auf dem Feld, kochten, putzten und versorgten das Vieh. Im Winter knüpften die Mädchen aus Schafswolle die Teppiche, diese verkaufte der Bruder und füllte somit seinen Geldbeutel. Am schönsten waren die Teppiche, die Güldschan knüpfte. Sie konnte die schwierigsten Ornamente, Blumen und Vögel auf ihre Teppiche zaubern. Ihre kunstvollen Teppiche brachten am meisten Geld ein.
Eines Tages kam ein Fremder zu Jusufs Haus. Man konnte gleich sehen, dass der ein wohlhabender Mann war. Sein langer weißer Bart bildete einen scharfen Kontrast zu dem schwarzen Kaftan und dem schwarzen Turban. Vorne auf dem Turban prangte ein großer Rubinstein. Der Mann ritt ein Kamel und begleitet wurde er von einer Schafherde, die ein Sklave vor sich hertrieb.
Der Fremde stellte sich als Scheich Achmed aus dem Lande Bachatsch vor. Scheich Achmed wollte die Älteste der Schwestern, Fatima, zur Frau nehmen. Er lobte Jusufs Schwestern. Als Brautgeld bot er Jusuf 40 Schafe und einen Sklaven. Für so einen armen Mann wie Jusuf waren 40 Schafe ein Reichtum.
Jusuf konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte noch nichts von dem Land Bachatsch gehört, aber er stellte dem fremden Scheich keine Fragen. Jusuf freute sich über die Schafe und gab dem Scheich seine Schwester Fatima. Güldschan und Leyla weinten, da ihnen dieser Scheich unheimlich war, und weil sie sich nicht von Fatima trennen wollten.
Güldschan nahm all ihren Mut zusammen und fragte den unheimlichen Fremden:
„Wo liegt das Land Bachatsch?“
Jusuf wurde böse. Er gab Güldschan eine Ohrfeige und entschuldigte sich vor dem Scheich:
„Oh, ehrwürdiger Scheich, verzeih! Meine jüngere Schwester kann ihren Mund nicht halten!“
So verging ein Jahr und Jusuf nahm sich eine Frau aus Nachbardorf. Jetzt konnte er es sich das Brautgeld leisten. Seine zwei Schwestern, seine Frau und der Sklave arbeiteten fleißig und Jusuf konnte ein gutes Leben führen.
Im nächsten Sommer kam Scheich Achmed wieder, und wieder hatte er eine Schafherde bei sich, die ein Sklave zum Haus trieb. Er wollte noch eine Schwester zu Frau nehmen:
„Ich habe einen Palast und jede Menge Sklaven. Ich brauche auch viele Frauen. Du hast gute Schwestern, sie sind gut erzogen! Als Brautgeld gebe ich dir 60 Schafe und noch einen Sklaven dazu!“
Güldschan wusste, dass sie nichts fragen durfte, aber sie machte sich Sorgen um ihre Schwester Fatima. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: „Wie geht es meiner Schwester Fatima? Warum ist sie nicht mitgekommen?“
Der Bruder gab Güldschan wieder eine Ohrfeige und schimpfte fürchterlich. Aber der Scheich lächelte und sprach:
„Deine Schwester erwartet ein Kind. Für sie ist es
beschwerlich so einen langen Weg zu reiten.“
Der Bruder freute sich über die Schafe, und so verließ die zweite Schwester, Leyla das Haus.
Ein weiteres Jahr verging. Jusuf war jetzt der reichste Mann im Dorf, er besaß über 100 Schafe. Alle respektierten und beneideten ihn. Er nahm sich eine zweite Frau und war mit seinem Leben sehr zufrieden. Nur Güldschan war traurig, sie vermisste ihre beiden Schwestern und machte sich Sorgen um sie.
Nach einem Jahr kam Scheich Achmed wieder zu Jusufs Haus und verlangte nach Güldschan. Das Mädchen fragte nach ihren Schwestern und bekam sogleich vom Bruder einen Schlag ins Gesicht. Der Scheich aber lachte und sagte:
„Bald wirst du deine Schwestern wiedersehen! Ich nehme dich als dritte Frau.“
Als Brautgeld gab der Scheich 100 Schafe und noch einen Sklaven. Jusuf aber sagte:
„Vergib mir, dem Unwürdigen, dass ich das sage, aber Güldschan kann die schönsten Teppiche knüpfen. Das bringt Geld, sehr viel Geld.“
Achmed gab dem Bruder einen Beutel voll Gold. Jusuf griff gierig danach und sagte:
„Oh, ehrwürdiger Scheich! Wenn ich sechs Schwestern hätte, hätte ich dir alle sechs gegeben!“
Das glaubte Güldschan ihm sofort. Sie war wegen Jusufs Geiz verärgert, aber andererseits freute sie sich ihre Schwestern wieder zu sehen. So gab Jusuf auch seine jüngste Schwester dem Scheich. Güldschan stieg auf das Kamel und reiste mit dem Scheich ins ferne Land Bachatsch.

Einen ganzen Tag ritt Güldschan mit dem Scheich, bis sie zu einer Stadt kamen. Am Abend, als die Wachen das Tor schließen wollten, gingen die beiden zu Fuß aus der Stadt. Der Scheich hatte nichts bei sich, außer einem zusammengerollten Teppich. Als die Nacht kam, und die Sterne auf dem schwarzen Himmel leuchteten, blieb der Scheich stehen. Er warf den Teppich auf den Boden und sagte: „Teppich roll dich aus!“
Sofort rollte sich der Teppich aus. Der Scheich setzte sich darauf und befahl Güldschan, neben ihm Platz zu nehmen. Guldschan tat es und der Scheich befahl dem Teppich:
„Bring mich zu meinem Palast!“
Der Teppich stieg in die Luft und sie flogen über Berge, Flüsse, Städte und Dörfer. Güldschan hatte Angst, aber sie konnte ihre Augen nicht von dem Teppich abwenden: Solch schöne Muster hatte sie noch nie gesehen! Der Teppich hatte sehr kunstvolle Muster mit vielen seltsamen Vögeln. Die wunderschönen Ornamente prägte sie sich gut ein.
Am nächsten Tag flogen sie über eine Wüste. Die Wüste war grenzenlos, und die Sonne brannte glühend heiß herab.
Endlich brachte der Teppich sie zu einer Oase, die inmitten der Wüste lag. Dort sah Güldschan einen kleinen, weißen Palast mit einem Garten voller Palmen und schöner Blumen. Aber kein Mensch war zu sehen.
Güldschan fragte: „Wo sind meine Schwestern?“
„Oh Allah! Großes Unglück ist geschehen! Alle meine Frauen und Kinder, auch die Sklaven, starben. Eine schreckliche Krankheit brach aus! Keiner überlebte, außer mir!“
Güldschan traute dem unheimlichen Scheich kein Wort, aber sagte nichts. Sie bat ihn nur:
„Zeig mir die Gräber, wo meine Schwestern sind! Ich will sie beweinen.“
Der Scheich zeigte ihr ein Steingrab, wo die Schwestern begraben lagen. Güldschan erblickte das Grab, grämte sich und weinte. In ihren Klagen war so viel Leid, dass selbst ein Stein geweint hätte.
So weinte sie den ganzen Tag. Der Scheich wurde böse, ständig ihre Klagen hören zu müssen und schimpfte:
„Hör auf zu weinen! Dein Bruder sagte, dass du gute Teppiche knüpfst. In deinem Gemach ist viel Wolle. Zeig mir, wie du knüpfen kannst!“
Güldschan fand in ihrem Gemach viel Wolle, aber sie konnte nicht knüpfen, da ihr Herz voller Trauer war. Sie konnte nur weinen.
Am nächsten Tag schlich sie aus dem Palast und eilte zum Grab ihrer Schwestern. Den ganzen Tag weinte sie dort. Als der Mond am Himmel erschien, hörte sie aus dem Grab die Stimmen ihrer Schwestern: „Achmed ist kein Scheich, sondern ein schwarzer Magier, ein Diener des Schaitans! Einmal im Jahr muss er das Blut einer Jungfrau trinken, um stark zu bleiben. Jedes Jahr holt er ein Mädchen zu sich. Alle Steine die du siehst, sind die Gräber der armen Jungfrauen. Rette dich, Güldschan! Nach drei Monaten wirst du auch sterben! Du hast nicht viel Zeit!“
Als Güldschan das hörte, überlegte sie, wie sie von diesem schrecklichen Ort fliehen konnte. Am Tag lag der fliegende Teppich ausgebreitet im Gemach des Magiers. Aber der Magier verbot dem Mädchen sein Gemach zu betreten. Ab und zu verließ der böse Scheich die Oase und flog mit dem Teppich für ein paar Tage weg. Güldschan beobachtete den Magier ständig. Sie sah, wie er vor dem Schlafengehen den fliegenden Teppich zusammenrollte und ihn unter seinen Kopf als Kissen legte. Nur so schlief er.
Das Mädchen dachte: „Wenn er diesen Teppich so hütet, dann hat er Angst, dass ich mit dem Teppich fliehen könnte!“
Güldschan schmiedete einen Plan, wie sie dem bösen Magier entkommen könnte. Ab diesem Zeitpunkt saß sie Tag und Nacht in ihrem Gemach und knüpfte einen Teppich, der genauso aussah, wie der fliegende Teppich. Sie arbeitete schnell, da sie nicht viel Zeit hatte. Als ihr Teppich nach drei Monaten fertig war, tauschte sie die Teppiche gegeneinander aus. Sie nahm den fliegenden Teppich an sich. Der Magier merkte nicht, dass er einen anderen Teppich hatte. Zum Schlafen rollte er den Teppich zusammen und legte ihn unter seinen Kopf.
Als er fest schlief, schlich sich Güldschan aus dem Palast, legte den Teppich auf den Boden und befahl: „Roll dich aus!“
Der Teppich breitete sich auf dem Boden aus. Güldschan setzte sich auf ihn und sagte: „Bring mich aus dieser Wüste!“
Der Teppich flog los. Güldschan hoffte, dass der böse Magier ohne Teppich die Oase in der Wüste nicht verlassen konnte.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, landete der Teppich mit Güldschan am Wüstenrand. Das Mädchen setzte sich in den Schatten eines Baums und wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Zu ihrem Bruder konnte sie nicht zurück: Es war eine Schande für eine Frau, ihren Mann zu verlassen. Güldschan wusste, dass niemand ihr glauben wurde, dass ihr Gemahl ein böser Zauber sei. Sie grübelte und grübelte, wohin sie gehen sollte. Dann sagte sie zu sich selbst: „Die Leute erzählen, dass die Frauen im Harem des Emirs ein gutes Leben haben. Sie müssen nicht arbeiten und haben viel Gutes zu essen!“
So beschloss Güldschan zum Emir zu fliegen.
Als es dunkel wurde, befahl sie dem Teppich:
„Bring mich nach Kabul zum Emir!“

Der Teppich flog unter dem Nachthimmel dahin. Die Sternen flimmerten. Bald sah Güldschan die Minarette der großen, ruhmreichen Stadt Kabul.

Sie landete im Palastgarten und versteckte sich.
Wie soll ich vor die Augen des mächtigen Emirs treten, dachte Güldschan ängstig. Da sie keinen Rat wusste, fragte sie den Teppich:
„Was soll ich nur machen?"
Der Teppich rollte sich von selbst aus. Güldschan setzte sich auf den Teppich und er flog sie zum Thronsaal. Er landete vor dem Thron des Emirs. Das Mädchen wartete und wartete, schließlich schlief sie ein.
Am Morgen kam der Emir in Begleitung seines Wesirs und mehrerer Würdenträger. Verwundert erblickten sie auf dem Teppich ein wunderschönes Mädchen!
Güldschan wurde wach. Als sie den Emir sah, nahm sie ihren Mut zusammen und sprach:
„Der Scheich Achmed aus dem Lande Bachatsch schickt mich zu dem mächtigen Emir von Kabul, möge Allah sein Leben verlängern! Nehmt dieses bescheidene Geschenk!“
Dem Emir gefiel das schöne Mädchen. Er befahl, Güldschan in seinem Harem bringen zu lassen.
Und so landete Güldschan im Harem des Emirs. Sie war mit ihrem Dasein sehr zufrieden. Sie führte ein angenehmes Leben im Palast, mit 40 anderen Frauen des Emirs. Güldschan ging jeden Tag im Garten spazieren, atmete den Duft der Blumen ein und erfreute sich am Gesang der Vögel. Sie badete im marmornen Bassin, roch nach Rosenöl und Moschus, trug prächtige Kleidung und Schmuck. Güldschan konnte Lokum, Halwa und Zuckerkand essen, so viel sie nur wollte. Einige der Frauen des Harems sangen, die anderen bewegten ihre geschmeidigen Leiber in anmutigen Tänzen. Güldschan aber verlangte nach Wolle und Seide, sie knüpfte Teppiche, da sie diese Arbeit liebte. Den fliegenden Teppich aber versteckte sie gut in ihrem Gemach: Man konnte nie wissen, vielleicht wird sie ihn eines Tages noch brauchen!

Impressum

Texte: Cover und Illustration von Autorin
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2009

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