„Du“, unterbrach ich die gemütliche Stille, „sag mal, glaubst du wirklich, dass wir in zehn oder 20 Jahren noch genauso befreundet sind? Dass ich dich in zehn oder 20 Jahren… nachts um halb eins anrufen kann, weil ich wegen einem Streit mit meinem Mann nicht schlafen kann?“ Nachdenklich lehnte ich an der Schulter meines besten Freundes, eine Tasse Hagebuttentee in der Hand.
„Aber das habe ich doch schon einmal gesagt. Wieso sollte das in zehn oder 20 oder meinetwegen 50 Jahren anders sein? Wieso sollten wir nicht mehr befreundet sein?“ Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Draußen tobte ein Schneesturm, und wir waren froh über die Kuscheldecke, die unsere Füße warm hielt.
„Menschen… ändern sich“, stammelte ich vor mich hin. „Du weißt was ich meine.“
Stille.
Ich wusste, dass er keine Gegenargumente hatte. Dass ein Mensch sich zum Negativen entwickeln konnte, hatten wir beide schmerzhaft erfahren müssen.
„Was, wenn ich auch… anders werde? Was, wenn das noch einmal passiert?“ Ich nahm einen Schluck Tee, der so heiß war, dass ich mir beinahe die Zunge verbrannt hätte.
„Du würdest nie so werden.“
„Das hättest du bei ihr auch geschworen, bis die ganze Lügerei ans Licht kam.“ Mein Ton war wohl etwas schärfer geworden als beabsichtigt.
„Och Sarah“, flüsterte er liebevoll, bevor er mir meine Tasse wegnahm und sie auf den Tisch stellte. Ehe er weiter sprach, suchte er meinen Blick. „Ich war blind. Schon als du nicht mehr mit ihr klargekommen bist hätte ich Verdacht schöpfen sollen. Immerhin war sie deine beste Freundin. Aber was die Liebe eben mit einem Menschen anstellt… nein Sarah. Du weißt wer du bist. Du hast es nicht nötig, jemandem etwas vorzuspielen. Ich kenne niemanden, der so auf moralisches Handeln und Denken besteht. Du wärst wirklich die Letzte auf der Welt, die lügen und betrügen würde, um an ein Ziel zu kommen. Nein, nicht du.“ Er hatte noch nicht bemerkt, dass mir bei seinen Worten die Tränen gekommen waren. Erst, als einer der salzigen Tropfen seine Hand befeuchtete, erkannte er, dass ich weinte. Ich wich seinem fragenden Blick aus, indem ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrub. Dann spürte ich, wie er vorsichtig über meinen Rücken strich.
„Ich…“, murmelte ich verlegen in seinen grünen Strickpulli, „ich… danke.“
„Ich weiß zwar nicht wofür, aber, bitte“, sagte er, und es hörte sich ganz so an, als ob er dabei lächeln würde. „Immer wieder gerne.“
Zögerlich schielte ich nach oben um ihm in die Augen zu sehen. „Sowas… Liebes hab’ ich lang nicht mehr gehört“, flüsterte ich mit gebrochener Stimme, sodass meine Worte fast im Pfeifen des Sturms draußen untergingen.
„Na dann wurde es ja wirklich Zeit.“ Er schenkte mir sein strahlendes Lächeln, dann nahm er mich in den Arm. Ich war so glücklich über seine Worte. Seit herausgekommen war, dass seine Freundin – meine ehemalige „Seelenverwandte“, wie sie es immer zu sagen pflegte – ein falsches Spiel mit ihm gespielt hatte, war ich immer für ihn da gewesen, um ihn zu trösten. Und immer war da die Angst, mich eines Tages auch in ein Netz aus Lügen zu verstricken.
„Wie kommst du überhaupt auf so abstruse Ideen?“, riss er mich aus meinen Gedanken. Ich antwortete nicht sofort. Ja, wieso? Letztendlich…
„Ich glaube, ich habe nur schreckliche Angst, dich noch einmal zu verlieren… dann wäre es ja nicht das erste Mal, dass ich…“
„Moooment. Das letzte Mal habe ICH gedacht, dass du sie nur aus Eifersucht schlecht machen willst. Das letzte Mal habe ICH dir nicht geglaubt. Das letzte Mal war einzig und allein ICH Schuld!“ So wie er von Wort zu Wort lauter und energischer wurde, jagte er mir fast ein wenig Angst ein. Aber gleich darauf wurde er wieder ruhig. „Das letzte Mal hätte ich Idiot für eine Lügnerin fast meine beste Freundin aufgegeben. Das wäre der größte Fehler meines Lebens geworden.“ An irgendetwas schien er zu denken, denn er blickte ins Leere. „Eigentlich stellt sich doch die Frage“, murmelte er, fast wie zu sich selbst, „ob nicht ich eines Tages daran Schuld bin, wenn du mich nicht mehr sehen willst, und nicht andersrum. Ich war der, der dir ihretwegen wehgetan hat. Ich habe ihretwegen dein Leid in Kauf genommen…“ Er schien auf einmal ganz vernarrt in den Gedanken, sich selbst Vorwürfe machen zu wollen.
„Moment mal“, unterbrach ich ihn. „Du warst einfach nur verliebt. Und eben in sie, und nicht in mich. Da kann niemand was dafür – auch du nicht. Niemand konnte für das ganze Gefühlschaos irgendetwas, außer vielleicht sie. Du hast am allerwenigsten Schuld. Du hast immer auf mich geachtet. Hast immer aufgepasst, dass ich nicht in meiner Trauer versinke. Wärest du nicht gewesen, wer weiß, was aus mir geworden wäre, so ganz ohne Halt. Du kannst nur etwas dafür, dass ich normal am Leben teilgenommen habe. Und allein schon deshalb würde ich dich nie im Leben fortschicken.“ Während des letzten Satzes schaute ich ihm instinktiv in die Augen, und dieser Blick blieb bestehen.
Der Schneesturm im Zwielicht der Abenddämmerung war nur noch lauter geworden. Eines der Teelichter auf dem Couchtisch war schon ausgegangen. Und wir beide saßen auf dem dunkelbraunen Ledersofa, zugedeckt mit einer roten Elchdecke von Ikea und sahen uns wortlos in die Augen.
Ja, unsere Freundschaft würde bleiben.
Für immer.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für das Licht am Ende des Tunnels.
Für den Goldtopf am Ende des Regenbogens.
Für mein Wölfchen.