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Ein durchschnittlicher Mensch hätte im Umkreis von hunderten Meilen kein Festland erahnt, aber der Pirat hoch oben am Mast sah, wie sich am Horizont ein feiner dunkler Streifen absetzte. Sie waren am Ziel. Endlich, nach elf langwierigen und mühevollen Wochen hatten sie die Insel erreicht.
Die Augen, scharf wie der Säbel des Captains, waren der Grund, weshalb Indira auf diesem Piratenschiff verweilen durfte. Frauen an Deck brachten Unglück, das wusste jeder alte Seemann – aber so oft, wie Indiras Augen der Mannschaft schon den Hals gerettet hatten, konnte niemand hier auf der „Slàinte“ wirklich noch daran glauben. Trotzdem war das Leben als Frau auf einem Schiff voller einsamer Männer keineswegs ein Kinderspiel, denn jedes Mal, wenn sie von ihrem Mast runterkletterte, ruhten die Augenpaare auf ihr; manchmal, obwohl Captain Redhead ein strenges Verbot ausgesprochen hatte, auch die ein oder andere Hand. Dass Indira sich wehrte, schien sie für diese stinkenden, bärtigen Männer nur noch interessanter zu machen.
Inzwischen konnte man das Land am Horizont deutlich sehen. Zumindest sie konnte das. Eilig fasste sie an ihr Signalhorn, um mit einem langen, tiefen Ton die Aufmerksamkeit der Mannschaft zu erlangen.
„Land in Sicht! Land in Sicht! Die Insel liegt Steuerbord!“
In die träge Menge kehrte allmählich etwas Leben zurück. Die jüngeren waren die ersten, die an die Reling eilten und nach dem lang ersehnten Festland Ausschau hielten. Aber nicht alle regten sich, einige waren nicht einmal von Indiras Hornstoß aufgewacht und schnarchten weiter in voller Lautstärke, am Mast oder an einem der zahlreichen Fässer gelehnt. Die Mannschaft war alt; trotzdem war die Slàinte eines der meist gefürchteten Piratenschiffe um Umkreis.
„Nicht glotzen, Männer! Bewegt eure Ärsche und bereitet den Landgang vor!“ Captain Redhead, dessen rote Lockenpracht für seinen Namen gesorgt hatte, stand urplötzlich mitten unter ihnen. Er war ganz das, was man sich unter einem schottischen Piraten vorstellte: Er war schmächtig und groß – ein richtiger Hüne – mit langen, rostroten Haaren, einem farblich passenden Vollbart und kleine, tiefliegende Augen. Spätestens seine Vorliebe für Whisky verriet, dass er vom Norden der Brittischen Inseln stammte. In diesem Fall war Norden keineswegs übertrieben: Seine Heimat, nicht fern von Thurso, lag an der Nordküste des schottischen Festlandes.
„Na, genehmigt sich Fräulein eine Pause, um ihre zarte Haut zu schonen?“ Redheads Gesicht war plötzlich vor Indiras aufgetaucht.
„Ich, äh, ich…“ stammelte die Piratin.
„An die Arbeit, Miststück!“ Indira wurde von Redheads Atem, der nach verfaulten Zähnen, Fisch und Whisky stank, übel.
„Aye, Sir!“ Schnell wandte sie sich den Segeln zu. Sonst kam ihr immer eine Sonderbehandlung zuteil – sie hatte den schlechtesten Schlafplatz, sie durfte nicht mit auf die Eroberungszüge an Land. Aber wenn es um körperliche Arbeit ging, verlangte man von ihr genauso viel wie von den durchtrainierten Männern.
Mit all ihrer Kraft half Indira beim einholen der Segel. Von den rauen Seilen hatte sie ausgeprägte Schwielen an den Handflächen – aber das machte der jungen Frau wenig aus. Hauptsache war, dass sie hier war, auf diesem Schiff, auf der Slàinte. Selbst die andauernde Demütigung war es wert.
Das Festland am Horizont rückte schneller näher, als Indira es lieb war. Sie musste sich vorbereiten – ganz ohne, dass der Captain irgendetwas merkte. Im Prinzip war die Planung seit Wochen ausgereift. Vor allem musste Indira einen kühlen Kopf bewahren – was ihr nach all den Erfahrungen und all den Gelegenheiten, in denen sie zwangsweise für diese Situation hatte üben müssen, nicht sonderlich schwer fiel.
Als das Segel endlich eingeholt war, gönnte sich die Piratin einen kurzen Moment, um zu verschnaufen. Nicht mehr lange, und sie würden den Anker werfen. Die Mannschaft würde, auf die Beiboote aufgeteilt, ans Festland rudern, das Dorf plündern und – so der Plan – die Tochter von Guillaume de Lavué entführen, die hier ihre Mutter besuchte, um Guillaume zu erpressen. Nicht, dass seine Tochter Marie irgendetwas Verwerfliches getan hätte. Ihr wurde zum Verhängnis, dass sie das Kind ihres Vaters war. Als Bürgermeister von La Rochelle, einer florierenden Hafenstadt an der Westküste Frankreichs, war er dafür verantwortlich gewesen, dass der letzte Captain bei seinem Plünderungsversuch geschnappt – und dann zum Vergnügen der Bürger an einem Seil mitten auf dem Marktplatz aufgeknüpft wurde. Der heutige Landgang war nicht mehr als ein Rachefeldzug, bei dem dutzende Unschuldige ihr Leben lassen mussten.
Die Piraten störte das natürlich wenig.
Schon machten sich daran, die Säbel in die Beiboote zu packen. Noch wenige Minuten, dann würden sie sich auf den Weg machen.
Während Indira mithalf, die Schweren Whiskyfässer aus dem Weg zu räumen, damit man auch das dritte Beiboot benutzen konnte, versuchte sie, sich das Dorf, das sie besser sehen konnte als alle anderen Piraten, möglicht genau einzuprägen. Sie musste es vor den anderen Piraten kennen. Sie musste ihnen eigentlich in jedem Punkt einen Schritt voraus sein. Aber für diesen Moment hatte sie sich vorbereitet. Angst und Vorfreude ließen ihr Herz schneller schlagen. Heute würde alles ein Ende haben.
„Viel Spaß mit den Ratten, Miststück!“, verabschiedete sich der Captain von Indira. Sie würdigte ihn keines Blickes, fegte stattdessen das Deck, wie man es ihr aufgetragen hatte. Die kleinen Boote sausten Richtung Wasser, bis ein lautes Platschen davon zeugte, dass die Boote angekommen waren. Indira legte den Besen weg. Jetzt war sie alleine.
Sie schlich also unter Deck zu ihrem Schlafplatz, um ein Stück Draht unter ihrem Kopfkissen hervorzuziehen. Ein feines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Nun eilte sie zur anderen Seite des schmalen Ganges. De Tür zur Kabine des Captains war, wie erwartet, verschlossen. Niemand auf dem Schiff wusste, dass Indira Erfahrung mit Einbruch und Diebstahl hatte. Nun machte sie sich mit dem Draht am Schloss zu schaffen. Doch nichts regte sich. Sie wartete auf das erlösende Knacken. Doch vergeblich. Nein. Der Plan durfte nicht schon jetzt scheitern! Indira zog den Draht wieder aus dem Schloss, um ein wenig an ihm zu biegen. Dann probierte sie es erneut. Wieder tat sich nichts. Sie rüttelte an der Tür – und da, endlich, das Schloss schnappte auf.
Das Zimmer hinter dieser Tür hatte keiner der Mannschaft je zu Gesicht bekommen. Indira hatte es sich luxuriös vorgestellt – aber nicht SO luxuriös. Gold und Edelsteine glitzerten im ganzen Zimmer verteilt. Das war aber nicht das, was Indiras Aufmerksamkeit erregte, sie interessierte sich viel mehr für den Tisch und seine Schublade. Langsam ging sie um den massiven, dunklen Holztisch herum, um die Schublade zu öffnen. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen, aber sie ging recht schwer auf. Das Holz knarrte. Und dann sah Indira ihn: Den Dolch. Ein kleiner Stein fiel ihr vom Herzen. Die zweite Hürde war geschafft. Der Dolch war da. Nun konnte sie es zu Ende bringen.
Normalerweise lernten Mädchen in England, wo Indira gelebt hatte, nur Kochen und Nähen, nicht aber das Schwimmen. Ohne diese Fähigkeit wäre sie allerdings nie auf ein Piratenschiff gekommen. Nach langem Suchen fand sie vor etwa einem Jahr in einer kleinen Stadt an der Küste einen alten Seefahrer, der es ihr beibrachte. Das war damals eine der ersten Vorbereitungen für ihr lang ersehntes Ziel gewesen.
Den Dolch am Gürtel befestigt kletterte Indira an einem der Seile, die die Beiboote gehalten hatten, hinunter ins Wasser. Als einer ihrer nackten Füße – sie hatte Jacke und Schuhe ausgezogen – die Wasseroberfläche berührte, erschauderte sie. Sie hatte sich das Meer ein wenig wärmer vorgestellt. Sie überwand ihre Scheu und lies das Seil los. Eiskaltes Salzwasser umspülte ihren Körper, und vor lauter Schreck hätte Indira fast nach Luft geschnappt. Das Gefühl der Schwerelosigkeit, die das Wasser bot, hatte sie lange nicht mehr gespürt. Schnell ruderte sie mit den Armen, um wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Kaum tauchte sie auf, rang sie nach Luft – sie war tiefer eingetaucht, als sie es erwartet hatte. Die Luft kam ihr auf einmal sehr warm vor. Sie blickte sich um. Bis zum Ufer gab es noch einen beträchtlichen Weg zurückzulegen. Indira schwamm los. Sie musste es endlich hinter sich bringen. Mit regelmäßigen Atemzügen paddelte sie auf die Insel zu. Nur langsam gewöhnte sie sich an die Temperatur des Wassers.
Die Mannschaft der Slàinte war schon lange hinter den Dünen verschwunden. Die kleinen Boote hatten sie an den Strand gezogen. Indira ärgerte sich: Das Schwimmen dauerte noch länger, als sie erwartet hatte. Sie beschleunigte ihre Züge. Noch etwa 100 Meter trennten sie vom warmen Sand.
Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel herab und wärmte Indiras ausgekühlten Körper in Rekordzeit. Die Kleidung triefte, doch die Piratin konnte ja schlecht ohne jegliche Kleider durch das Dorf spazieren. So drückte sie ihre pechschwarzen Haare aus, bevor sie sich, einsam am Stand stehend, entkleidete, um wenigstens ein wenig Wasser raus zu wringen. Es widerstrebte ihr, die nassen Sachen wieder anzulegen, doch es half ja nicht. Als alles wieder an seinem Platz war, machte Indira sich auf den Weg. Das Dorf war nicht sehr weit weg. Bestimmt plünderten die Piraten schon die Häuser. Getrieben von dieser Überlegung beschleunigte die junge Frau ihren Schritt, und so dauerte es nicht lange, bis die ersten Häuser in Sicht waren. Noch brannte nichts. Das war gut. Doch als Indira sich zwischen den ersten Häusern versteckt hielt, hörte sie plötzlich einen markerschütternden Schrei. Die arme Frau durfte nicht allzu weit weg ein Messer in die Brust gestochen bekommen haben. Also waren sie ganz in der Nähe. Mit dem Schrei der Frau kam Leben in das Dorf: Scheinbar waren die Piraten noch nicht lange hier, und die Einwohner bemerkten sie erst jetzt.
Indira musste zusehen, wie immer mehr Menschen aus ihren Häusern eilten, und zuhören, wie immer mehr Leute nicht mehr dazu kamen, weil ein Säbel oder Messer ihren Lebensfaden durchschnitten hatte. Die erstickten Schreie, die gurgelnden Worte, bereiteten Indira Gänsehaut. Erst einmal hatte sie diese Geräusche vernehmen müssen. Das war fast zwei Jahre her. All die Bilder, die sie damals gesehen hatte, spielten sich erneut vor ihrem inneren Auge ab. Am liebsten wäre sie davongerannt. Aber sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Es war bald vorbei. Sie musste es nur durchziehen.
Vorsichtig spähte Indira durchs Fenster des Hauses. Niemand war zu sehen. Also eilt sie im Schutze der Mauern weiter zum nächsten. Doch auch hier war niemand zu sehen. Als sie durchs Fenster der nächsten Hütte blickte, wurde ihr schlecht. Einer Frau, nicht viel älter als Indira, war der Rock hochgeschoben und die Kehle aufgeschlitzt. Schnell wand sich die Piratin dem nächsten Haus zu. Dort konnte sie nur zwei reglose Füße hinter dem Bett herausstehen sehen. Indira wurde nervös. War ihr Plan zum Scheitern verurteilt? Sie musste diesen Bastard finden. Auch im nächsten Haus war keiner der Piraten zu entdecken. Dann aber hörte sie das Wimmern eines Mädchens im Haus nebenan.
Nicht noch einmal. Indira schlich sich zum Fenster. Und tatsächlich: Dort war er. Und ein Mädchen, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als die Piratin. Das Mädchen stand mit dem Rücken zur Wand und weinte, weil sich ihr ein Pirat zu nähern versuchte.
Er würde es nicht noch einmal tun. Indira zückte den Dolch.
Ohne jede Vorsicht sprintete Indira zur Tür der Hütte. Schnell fand sie das Zimmer. Redhead stand mit dem Rücken zu ihr, und das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Niemand sah sie. Lautlos schritt sie auf die beiden zu, den Dolch in der Hand, während Redhead schmutzige Bemerkungen zum Körper des jungen Mädchens machte und ihr zwischen die Beine griff. Dieser Bastard hatte sich schon einmal an einem unschuldigen Mädchen vergriffen. Damals, vor zwei Jahren. Der alte Captain hatte die Plünderung eines südenglischen Klosters befohlen. Es war ein kleines, schlichtes Kloster, ohne Reichtum. Aber er wollte kein Gold. Er wollte die jungen Novizinnen.
Indira war dort gewesen. Sie hatte sich im Beichtstuhl versteckt, und war deshalb die einzige Novizin gewesen, die die Plünderung überlebt hatte. 17 andere waren vergewaltigt und ermordet worden. Eine davon hieß Hannah. Sie war 13 Jahre alt gewesen.
Der Hass flammte erneut in Indira auf. Als sie direkt hinter Redhead stand, nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, hob den Dolch und stieß ihn dem Hünen in den Rücken. Der stöhnte überrascht auf, während das junge Mädchen erschrocken kreischte.
„Für die Novizinnen“, raunte Indira dem Captain ins Ohr. „Für meine Schwester“. Dann zog die den Dolch mit einem Ruck wieder aus dem Rücken des Mannes, legte ihn am Hals an und zog daran. Blut spritzte, dann sackte Captain Redhead, Mörder ihrer Schwester, vor Indiras Füßen zusammen. Es war getan. Der Tod von Hannah war gerächt.
Überwältigt von all den Gefühlen sachte auch sie zusammen. Erschöpfung machte sich in Indiras Körper breit. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Aber es war getan.

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Tag der Veröffentlichung: 03.10.2010

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