Cover

„Hier bist du also.“
Die Worte rissen mich unsanft aus meinen Gedanken. Es war Helena, die Tochter der Frau, die mir ein Zimmer in ihrem Haus vermietete. Unschlagbar günstig, vor allem für eine Studentin, die ihr Studium selbst finanzieren musste. Im letzten Jahr, also seit ich hier wohnte, hatten Helena, die zwei Jahre jünger war, und ich uns angefreundet.
„Ja, hier bin ich.“ Ich war mir nicht sicher, was ich antworten sollte. Die kleine Bank unter dem Apfelbaum am Rande des Grundstücks, das an die Felder des nicht weit gelegenen Bauernhofs angrenzte, hatte ich mir zu so später Stunde bewusst ausgewählt, um alleine zu sein.
Helena sah mich aus pralinenfarbenen Augen an.
„Was ist denn los mit dir?“
„Ich sehe mir die Sterne an“, antwortete ich, „man konnte schon lange nicht mehr so viele sehen. Irgendwie ist ihr Anblick beruhigend... und tröstend.“
Mit einem Kopfschütteln setzte sich Helena neben mich auf die Bank. Ein Lufthauch blies über meine nackten Arme und ließ mich frösteln; man merkte langsam, dass der Sommer sich dem Ende neigte.
„Du siehst so... traurig aus. Betrübt. Wieso, wenn die Sterne dich trösten?“ Ich schätzte Helenas naiven und doch liebenswürdigen Charakter. Ihre Eltern schienen bei ihrer Geburt schon gewusst zu haben, dass ein Name, der vom griechischen Wort für „Sonnenschein“ abgeleitet war, zu ihrer Tochter passen würde.
„Es sind nicht die Sterne. Es ist der Geruch. Der Geruch des Herbstes.“ Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie scheinbar keine Antwort darauf hatte. So blieb es still, bis auf das Rascheln der Bäume im Wind und dem monotonen Surren der nicht weit gelegenen Autobahn.
Ich seufzte.
„Ja, der Herbst hat einen Geruch. Jede Jahreszeit riecht ganz besonders. Ich könnte dir aber keinen der Düfte beschreiben. Sie sind... einfach einzigartig.“ Unzufrieden über meinen Erklärungsversuch starrte ich weiterhin in den Sternenhimmel.
„Aber wieso macht dich der Geruch des Herbstes denn traurig? Der Sommer kommt doch wieder...“
Ich musste lachen. Es war ein freundliches Lachen, als würde ein Vater lachen, wenn sein Sprössling noch nicht schreiben kann, aber die Welt zu verstehen glaubt.
„Ich trauere nicht dem Sommer hinterher. Nicht deshalb bin ich traurig.“ Eigentlich hätte ich Helena lieber wieder fortgeschickt, um mit meinen Gedanken alleine zu sein, aber ihre kindliche Art weckte in mir jedes Mal erneut den Wunsch, ihr das Leben zu erklären. Außerdem war ihre Neugierde sowieso nicht mehr zu bremsen.
„Jetzt sag schon, was hast du gegen den Herbst?“
„Also gut“, murmelte ich, „ich will dir die Geschichte erzählen.“
Ich hielt kurz inne, um meine Gedanken zu entwirren.
„Vor gut drei Jahren, ich war gerade 17 geworden, traf ich einen Freund aus Grundschultagen wieder. Damals, zwei Klassen über mir, war er mein großes Vorbild gewesen. Als wir uns wieder gefunden hatten, verstanden wir uns auf Anhieb wieder. Wir tauschten Handynummern aus und waren kurze Zeit später wirklich gute Freunde. Es schien verrückt, aber wir hatten uns unabhängig voneinander erschreckend ähnlich entwickelt, hatten dieselben Hobbies, denselben Musikgeschmack, sogar dieselbe Weltanschauung. So dauerte es auch nicht lange, bis unsere Freundeskreise ebenfalls zusammenwuchsen. Er selbst war in den vielen Tagen vom kleinen Abenteurer in Latzhose zum geheimnisvollen Gentleman herangewachsen.“
Ich hielt kurz inne; ein feines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus.
„Das war einer der Gründe, weshalb ich mich in ihn verliebte.“
„Aber er war nicht in dich verliebt?“, kombinierte Helena.
„Anfangs sah es so aus als hätte ich Glück. Wir hatten uns schon öfter über das Thema unterhalten, so wussten wir, dass keiner von uns beiden schon einmal eine Beziehung gehabt hatte. Ich hoffte, weil er mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Aber nein, er war nicht verliebt. Trotzdem war jede Minute mit ihm wundervoll. Er spielte gerne meinen Beschützer. Wir haben so viel zusammen unternommen – ich war auch ohne seine Liebe glücklich.“
Dann musste ich lachen, als ich mich daran erinnerte, dass er eines Tages urplötzlich in meiner Zimmertür stand und noch Wochen später stolz darauf war, dass sein Überraschungsbesuch gelungen war.
„Na ja, eines Tages, auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes, lernte er ein Mädchen kennen. Ich glaube, sie hieß Anne. Die beiden verstanden sich sofort. Keine Woche später bat er um ein Gespräch, in dem er mir offenbarte, dass er sich in sie verliebt hatte. Er hielt es wohl für seine Pflicht, mir das als erstes zu sagen. Sie hatte anscheinend auch Interesse an ihm gezeigt.“
Ich hoffte, dass Helena den abwertenden Ton nicht bemerkt hatte.
„An diesem Abend wusste ich, dass Hoffnung aussichtslos war. Ich wusste, dass auch die Zeit mir seine Liebe nicht bringen könnte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen“, ich atmete tief ein, denn der Gedanke allein schmerzte schon, „und küsste ihn. Das, was ich danach sagte, sucht mich noch jetzt in meinen Träumen heim.“
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen, um die Tränen zu verbergen, die ich nicht weiter zurückhalten konnte.
„Was hast du gesagt?“, flüsterte Helena, fast als hätte sie Angst, ich könnte sie verstehen. Erst reagierte ich nicht, doch dann richtete ich mich wieder auf und sah in den Himmel. Zu den tröstenden Sternen.
„, Dein erster Kuss ist meiner. Jetzt tu, was du willst.’ Das ganze spielte sich an der Haustür ab; er war schon am gehen. Als er die Straße entlang schlenderte, rief ich ihm noch ein ,Ich liebe dich’ hinterher.“
Die Erinnerungen an diesen Abend brachten all die Gefühle mit sich, die sich wie ein unsichtbares Korsett um meine Brust legten und mir das Atmen erschwerten. Aber nicht nur um Atem, auch um Beherrschung musste ich ringen. Ich kämpfte mit den Erinnerungen, den Tränen; ich kämpfte mit mir. Als ich weiterredete, wusste ich nicht, wie viel Zeit vergangen war. Eine halbe Minute? Fünf?
„Wie zu erwarten war kam er mit Anne zusammen und die beiden hatten nur noch Augen füreinander. Ich bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Das hatte ich wahrscheinlich auch meiner Aktion zu danken.“
Wieder musste ich tief durchatmen, um meiner Emotionen Herr zu werden. Ich erschrak, als ich Helenas Stimme wieder hörte.
„Aber was hat das jetzt mit dem Herbst zu tun?“, wollte sie wissen.
„Im September hatte ich ihn wieder gefunden, und im April das zweite Mal verloren. Ich war lange traurig, ja am Boden zerstört, und war auch seitdem nicht mehr verliebt. Keine Sorge, heute kann ich damit leben. Aber an jenem Tag, an dem es das erste Mal im Jahr nach Herbst riecht – wenn es so riecht wie zu der Zeit, in der ich ihn bei mir hatte – dann kommen wieder all diese Bilder, all die Augeblicke, in denen ich so wunschlos glücklich war. Wenn es das erste Mal nach Herbst riecht, dann merke ich, dass ich eine so schöne Zeit, voller Spaß, Zufriedenheit und Glück, seitdem nicht mehr hatte.“ Nur der Blick zu den Sternen half mir, die Worte klar auszusprechen; andernfalls wären sie im Schluchzen untergegangen.
„Deshalb macht mich der Geruch des Herbstes so traurig. Er erinnert mich an das verlorene Glück.“
Wieder herrschte Schweigen, und ich war ganz froh darum. Ich nutzte die Zeit, um gegen all das zu kämpfen, was mich zu übermannen drohte. Meine Augen waren bereits feucht. Ich lauschte dem Rauschen des Waldes, der hinter den Feldern begann und beobachtete ein Flugzeug, das hoch oben im Nachthimmel blinkte, um mich abzulenken.
„Liebst du ihn immer noch?“, flüsterte Helena. Sie war sichtlich mitgenommen von meiner Geschichte.
Die erste Träne lief über meine Wange.
„Ich weiß es nicht“, seufzte ich, ohne mir noch Mühe zu geben, den anderen Tränen Einhalt gebieten zu wollen. Sofort nahm mich Helena in den Arm. Es tat gut. Tröstete mehr als der Anblick von weit entfernten Himmelskörpern.
„Du liebst ihn noch.“ Jetzt war es keine Frage, viel mehr eine Feststellung, in der fast ein bisschen Mitleid zu vernehmen war. „Ich fürchte, du liebst ihn sehr.“
„Aber...“, versuchte ich zu erwidern, bevor ein Schluchzen doch wieder verhinderte, dass ich weiterredete. Ich versuchte es erneut. „Aber es ist drei Jahre her...“
„Was sind drei Jahre schon für die Liebe. Kennst du den Spruch ,Die Wurzel der Liebe ist in der Ewigkeit’? Es ist einfach wahre Liebe, und nicht nur eine Schwärmerei. Morgen rufst du ihn an, versprichst du mir das? Mit Anne ist er bestimmt nicht mehr zusammen. Und selbst wenn ihr nur wieder Freunde werdet – du brauchst ihn, das merkt man.“
Ich kam aus meinem Schluchzen kaum raus.
„Aber er will mich bestimmt nicht mehr sehen!“, seufzte ich.
„Unsinn. Morgen rufst du ihn an.“ Sie war nicht nur naiv wie ein kleines Kind, sondern mindestens genauso stur. Das war ihr letztes Wort. Ich sah ihr in die Augen und musste ihrer Sturheit wegen lächeln.
„Ich werde ihn anrufen. Versprochen.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für mein Wölfchen. In das ich nicht verliebt bin. Das ich liebe.

Nächste Seite
Seite 1 /