Cover

Langsam nahm der Horizont einen angenehmen Rotton an. Würde ich im kühlen Lufthauch nicht frösteln, es hätte den Anschein eines Sommerabends. Um mich herum sangen die Vögelchen ganz unaufdringlich, und der Wind umspielte die saftig grünen Blätter der Bäume. In den Häusern, die sich Seite an Seite die Straße entlang reihten, kochten Mütter und Ehefrauen für ihre Schützlinge, und so konnte man den Geruch von frischem Fett, Gegrilltem und einer Spur von süßem Gebäck erhaschen.
Ja, die Welt konnte schön sein.
Aber ich konnte ihre Schönheit durch den Tränenschleier meiner Augen nicht sehen. Es war kalt hier im Park. Die Bank stand schief, ihr Holz war ungemütlich und direkt neben mir stand ein Mülleimer, um den die ganze Fliegenpopulation dieses Viertels tanzte.
Ich hatte keine Schokolade, die ich aus Frust in mich reinstopfen könnte.
Heiße Tränen liefen mir über die Wange, um wenig später von meinem Halstuch aufgesogen zu werden. Ich war froh, alleine zu sein, mich nicht für meine Trauer rechtfertigen oder auf gute Laune machen zu müssen. Einfach nur einmal weinen zu können.
Wieso?
Ich war sauer. Sauer auf mich. Sauer, weil ich ein Talent hatte, mich selbst unglücklich zu machen, und sauer, dass meine Hormone es als Spaß sahen, mich und meine Gefühle darin tatkräftig zu unterstützen. Aber was sollte man von einem 16-jährigen Mädchens anderes erwarten als einen Körper, der jegliche Gefühlsregungen fehlinterpretierte?
Oder war es am Ende gar keine Interpretation? Konnte es wirklich sein, dass…
„Nanu, wieso denn so traurig?“, drang eine Stimme zu mir vor – eine Stimme, die mir allzu vertraut war. Ich sah auf und mein Blick kreuzte den der erwarteten Person: Meinem Geschichtslehrer. Also, meinem „Beinahe-Lehrer“, auch Referendar genannt. Mit keinem Lehrer verstand ich mich auch nur annähernd so gut.
„Hallo“, flüsterte ich, da seine blauen Augen meine Stimme sofort ersterben ließen.
„Hallo“, antwortete er, während er neben mir auf der Parkbank Platz nahm. „Was ist denn mit dir los?“
Das fragte er noch. War nicht er an meinem tränengetränkten Halstuch Schuld?
„Ähm…“, stammelte ich, dann atmete ich einmal bebend ein, „schlechter Tag heute.“ Ich hasste Lügen, aber was sollte ich schon anderes tun. „Is’ schon ok“, schluchzte ich weiter.
„Na, das sieht aber nicht danach aus.“ Mitleidig sah er mir in die Augen.
Frische Tränen kamen zum Vorschein.
„Wissen Sie, das ist ne lange Geschichte, kompliziert und so.“ Mit einer Ecke des Tuchs tupfte ich meine Augen ab.
„Ich verstehe schon, du willst nichts erzählen.“ Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen.
Und wie gerne ich es würde. Ihm alles sagen, mich ausheulen und dann getröstet werden. Aber es war unmöglich. Mit einem erneuten Schluchzen legte ich den Kopf in meine Hände. Ich wollte ihn nicht weiter ansehen müssen.
„Ich lass dich schon in Ruhe“, sagte mein Lehrer, und er bemühte sich, sanft zu klingen. Er stand auf und legte seine warme Hand auf meine Schulter. Ich erschauderte unter der Berührung und hielt den Atem an. Dann kramte er in seiner Tasche, bevor er sich noch einmal an mich wendete:
„Wenn irgendetwas ist, ich hör dir zu“, murmelte er leise, denn er war vor mir in die Hocke gegangen. Dann legte er etwas neben mir auf die Bank und hauchte ein leises „Wir sehen uns“.
Wieder erbebte mein Körper unter einem Schluchzen. Ich wollte nicht neben mich schauen. Ich wollte einfach meine Ruhe. Das denkbar Schlechteste war eingetreten. Jeder hätte vorbeikommen dürfen, wenn nur dieser Eine ganz weit weg geblieben wäre.
Plötzlich schlug die Turmuhr der nicht weit entfernten Kirche. Es war acht Uhr abends, und deshalb beschloss ich, mich zusammenzureißen. Immerhin musste ich wieder nach Hause, und rote Augen würden nur unnötige Fragen aufwerfen.
Nach einigen Minuten, in denen ich mich um einen ruhigen Atem und positive Gedanken bemühte, richtete ich mich wieder auf und blickte der Welt entgegen. Ein tiefer Atemzug begrüßte die frische Luft außerhalb meiner gekauerten Haltung.
Entschlossen stand ich auf. Im ersten Moment waren meine Beine noch etwas wackelig vom vielen Sitzen, doch durchaus fähig, die wenigen Schritte nach Hause zu gehen. Ich wollte gerade nach meiner Tasche langen, als ich sah, was neben mir lag:
Ein kleiner Schokoriegel.
Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen, und noch vor dem ersten Schluchzen hatte ich mich wieder gesetzt.
Würde er mich nur weniger gut verstehen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für den Mann mit den eisblauen Augen.

Nächste Seite
Seite 1 /