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Jemand trat hinter sie, doch sie wollte sich nicht umdrehen. Durch ihren Tränenschleier hätte sie sowieso nichts gesehen. Nora sah aus dem Fenster, so gut sie konnte. Es war ein großes Fenster, wie alle hier, in diesem riesigen Schloss. Der Garten war mit einer gleichmäßigen Schicht Laub bedeckt, das in allen Farben von gelb bis rot schillerte. Sie hätten bestimmt geleuchtet und ihre volle Pracht gezeigt, hätte die Sonne geschienen. Doch heute Abend gewitterte es. Es herrschte eine eigenartige Stimmung draußen. Und hier drinnen stand Nora vor einem der Fenster im Korridor und weinte. Sie wollte sich nicht umdrehen, niemand sollte sie so verweint sehen.
Nora schluchzte, als sie plötzlich ein seidenweißes Stofftaschentuch neben ihrem Ohr erblickte. Kurzerhand nahm sie es, ohne zu sehen, wem es gehörte oder sich wenigstens zu bedanken. Erst wischte sie die Tränen von ihren Wangen, dann schnäuzte sie sich. Das Taschentuch steckte sie in ihrem Ärmel.
Draußen wehte ein kräftiger Wind, denn die Bäume neigten sich dem Boden entgegen. Die Blätter auf dem Boden wirbelten durcheinander. Niemand war draußen zu sehen. Kein Wunder, es war ein grauer und stürmischer Tag. Wer wollte da schon etwas unternehmen?
Nora stand noch sehr lange, schluchzend, schniefend und nachdenkend. Als sie einsah, dass durchgängiges durchs-Fenster-Blicken nichts half, ihre Probleme zu lösen, beschloss sie, wieder auf ihr Zimmer zu gehen. Sie drehte sich um und rannte direkt einem Jungen in die Arme. „Herr Stofftaschentuch“ war viele Minuten regungslos und unbemerkt hinter Nora stehen geblieben. Und obwohl Nora dem Jungen nicht einmal ins Gesicht geschaut hatte, verharrte sie in seinen Armen. Den Kopf an seine Brust gelehnt, fing sie erneut das weinen an. Wie gut es tat, in den Arm genommen zu werden.
Nora dachte wieder an ihre Probleme. Sie würde schon alles so hinbekommen, wie sie wollte. Sie musste nicht weinen und verzweifeln, nur weil sie keinen Weg fand.
Nach weiteren Minuten löste sie sich sanft aus der Umarmung, um dem Jungen nun endlich ins Gesicht zu sehen. Emanuel war es gewesen. Damit hätte sie nicht gerechnet. Auch wenn Emanuel einer von Noras besten Freunden war. Dass er sie einfach mal in den Arm nehmen würde?
Nora lehnte sich wieder an Emanuels Brust. Sie wollte diese Momente genießen. Aus der Umarmung Kraft schöpfen. Und einfach mal nichts sagen. Emanuel hätte Nora nicht besser helfen können.

Er hatte sie doch nur in den Arm genommen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Emanuels dieser Welt. Es gibt viel zu wenige davon.

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