Cover

1

Eine Stadt, so schön wie nur wenige: Nakomaree. Nicht groß oder weltbedeutend, jedoch reich, nicht nur an Geld, auch an Vernunft in der Bürgerschaft, reich an Wissen, sei es in Bibliotheken oder Wissen eines Fachs. Nakomaree war nicht einmal die Hauptstadt von Markatia, dem reichsten Land Feriessas, es war nur eine Stadt an der Küste, doch so schön und anmutig, dass sie jedem bekannt war. Der große Wald, der Nakomaree umgab, schien etwas Magisches zu haben. Die Häuser waren hoch und elegant, absolut harmonisch in der Gestalt. Sie schienen ein Hauch von Nichts zu sein, waren jedoch robust wie die Burgen eines Königs.
Die Einwohner Nakomarees bevorzugten ein harmonisches Leben im Einklang mit der Natur. Seltene Pflanzen wurden in Gärten angebaut und vermehrt, Bäume wurden nur vereinzelt gefällt und die Tiere wurden mit vielen Freiheiten gehalten. Warum die Einwohner Nakomarees das taten, wurde erst klar, wenn man eines wusste: Alle waren sie Zauberer. Sie wussten ihren Bestand in der Zukunft zu sichern. Doch versteht es nicht falsch, sie waren zwar Zauberer, aber sie konnten nicht etwa das Abendessen auf den Tisch zaubern. Zauberer wurden Menschen genannt, die aus Zeichen der Götter lesen konnten. Sie konnten Karten legen und somit grundlegende Fragen beantworten, wenn diese Antworten auch selten genau, sondern als Orakel zu verstehen waren. Wenn die Zauberer nicht gerade aus Karten lasen, dann suchten sie nach bestimmten Anordnungen von Bäumen oder Kreisen aus bestimmten Pflanzen, eben nach Zeichen der Götter.
Nakomaree hatte keinen König, nur einen Herzog. Herzog Wilhelm Marius Marado, Neffe des Königs, verheiratet und Vater einer einzigen Tochter. Dieser Zeit lernte er gerade das Lesen von Tierspuren. Er war nicht sonderlich hübsch, sein Haar haselnussbraun, wie auch seine Augen. Auch des Herzogs Haut war braun mit einem leichten Gelbstich, unter seinem linken Auge zeichnete sich eine lange Narbe ab, und die untere Hälfte seines Gesichtes war bedeckt von einem Vollbart. Wilhelm hatte mit seinen 52 Jahren immer gut gegessen und war dementsprechend ziemlich dick. Nie konnte man ihn ohne einen Hut auf dem Kopf antreffen (was wahrscheinlich eine Methode zum Überdecken erster kahler Stellen in der Haarpracht war). Und trotz seines Aussehens hatte er natürlich eine Frau. Kassandra Sophia Alexa ist elf Jahre jünger als er und wurde damals, mit 17 Jahren, an ihn versprochen. Ganz im Gegensatz zum Herzog war Kassandra von unmenschlicher Schönheit. Ihr goldblondes Haar wand sich in Locken bis zu ihren Schultern hinab, ihre Augen leuchteten wie der Himmel eines Sommertages und ihre Haut war hellbeige und ebenmäßig. Kassandra war sehr dünn, sah jedoch nicht ausgezehrt aus, und manchmal, meistens im Herbst, bekamen ihre Haare einen unerklärlichen Rotstich.
Der Herzog hatte eine Tochter, die, den Göttern sei Dank, äußerlich zum Großteil ihrer Mutter glich. Ihr Name war Soraja Isabella Eleonora, sie war 15 Jahre alt und ritt und tanzte für ihr Leben gerne. Ihr Haar trug sie leicht gewellt und noch länger als ihre Mutter, denn es reichte bis zu ihren Schulterblättern. Außerdem war es dunkelbraun und glänzte in jedem Licht. Ihre Augen waren blau bis türkis, sie hatten die Farbe des südlichen Ozeans. Sorajas Haut war fast weiß und wies keinerlei Makel vor. Ihre Augenbrauen hatten die Farbe ihrer Haare, sie hatte lange, schwarze Wimpern und lange Beine. Eines allerdings hatte sie von ihrem Vater: Auch sie hatte einen etwas runden Bauch, der jedoch lange nicht so schlimm war wie der des Herzogs. Eine Seltenheit war sie auch: Sie war eine der wenigen Mädchen, die in jedem ihrer Ohrläppchen ein kleines Loch hatte und sich dort Schmuck hinhängen konnte.

Aus der Schrift der Weisen Markatias,
von Meister Herbe

2

Soraja, von ihren Freunden Sori genannt, legte die Schriftrolle lachend beiseite. Sie hasste das Tanzen! Insgeheim ging sie viel lieber zu Sir Dietrichs Sohn Flavio, einem ihrer wenigen Freunde, und ließ sich das Fechten oder Bogenschießen beibringen. Davon durfte ihr Vater nur nichts mitbekommen! Niemand durfte es mitbekommen. Fechten war nun mal ein Sport für Männer. Und Soris Vater würde ihr Hausarrest geben und ihr den Kontakt mit Flavio verbieten! Deshalb war Flavio auch immer so vorsichtig beim Fechten. Sori würde gerne einmal seinen vollen Einsatz sehen! Doch er sorgte sich darum, sie nicht mit einem Schnitt des Degens zu verletzen und sie somit an ihren Vater zu verraten. Als ob Verletzungen nur vom Fechten kommen würden!
„Soraja! Komm doch bitte runter! Soraja!“ Ihr Vater rief nach ihr. Was war denn nun schon wieder? War wieder ein adliger Herr gekommen, um für seinen Sohn um ihre Hand anzuhalten, wie jeden Tag? „Soraja Isabella Eleonora! Komm sofort runter!“ Sori beeilte sich, in den Hausflur zu kommen, um ihren Vater nicht noch mehr zu verärgern. Schnell trippelte sie die Stufen der Treppe hinunter und kam keuchend neben ihrem Vater an. „Ach du…“ Soraja hatte ganz vergessen, dass sie ja heute wieder zum Tanzen musste! „Moment, ich ziehe mich schnell um, dann komme ich!“. Schon war sie auf dem Weg zur Treppe. „Moment Fräulein!“ Soraja blieb augenblicklich wie zu einer Statue erstarrt stehen. Ihr Vater war sehr erzürnt. „Hast du etwa deinen Tanzkurs vergessen? Wie siehst du überhaupt aus? Dass du dich so blicken lässt…“ Ja, in einem schlichten gelben Kleid ließ sie sich sehen. Johann, ihr fünf Jahre älterer Tanzpartner, stand im Anzug vor der geöffneten Tür. Ohne ihrem Vater zu antworten sprintete sie nun die Treppe hinauf. Welches Kleid sollte sie nur anziehen? Sie stürzte in ihr Zimmer, stellte sich vor dem Kleiderschrank und riss die Türen auf. „Was wollten wir heute noch mal tanzen? War es Tango…“, murmelte sie vor sich hin. „Nein, heute tanzt ihr Walzer, Fräulein Soraja.“ Franziska, Soris Kindermädchen, stand in der Tür, ein hellblaues Kleid in der Hand. „Franziska, erst einmal sollst du mich Sori nennen. Aber ausnahmsweise sehe ich darüber hinweg. Du bist ein Schatz! Komm, hilf mir doch bitte schnell, das Kleid anzulegen, ja?“ „Aber natürlich Sori!“ Franziska trat lächelnd auf sie zu, während diese ihr gelbes Kleid ablegte. Dann half sie ihr in das Tanzkleid und schnürte das Korsett des Kleides. „Bekommt ihr auch genug Luft?“ Franziska, die nun ihr zwölftes Kindermädchen war, und Soris Mutter kümmerten sich wenigstens um ihr Wohlbefinden, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater und den elf Kindermädchen davor. „Ja, so ist es gut.“ Schnell schnappte Sori sich den passenden Hut vom Ständer, gab Franziska einen Kuss auf die Wange und eilte wieder hinunter. Diese aber lief ihr hinterher. „Sor… Fräulein Soraja, eure Schuhe! So wartet doch!“ In ihrer Hektik hatte Sori die Schuhe vergessen. Sie lief Franziska entgegen. „Danke“, flüsterte sie ihr zu, denn vor ihrem Vater durfte sie sich eigentlich nicht bei einer Angestellten bedanken. Sori schlüpfte in die Schuhe und kam ein zweites Mal keuchend an der Tür an. Johann begrüßte sie nicht gerade freundlich. „Da bist du ja endlich!“ Dieser eingebildete… „Ja, da bin ich.“ Soraja versuchte, ihren Ärger zu verbergen. „Jetzt geht doch endlich, oder wollt ihr zu spät kommen?“ Auch der Herzog nörgelte. Johann griff nach Soris Hand. „Auf Wiedersehen, Herzog Wilhelm!“ Mit diesen Worten schleifte er Sori regelrecht mit zur Kutsche. „Auf Wiedersehen Johann, und amüsiert euch schön!“
Soris Vater war schon immer von Johann begeistert gewesen. Er war auch derjenige, der ihn als Tanzpartner ausgesucht hatte. Wahrscheinlich wollte ihr Vater auch, dass Soraja Johann einmal heiratete. Weshalb sonst sollte er jeden anderen Antrag ablehnen?
Als die Tür geschlossen war, riss Sori ihre Hand los. „Sag mal geht´s noch? Befingere mich nicht immer!“ Mit diesen Worten stieg sie trotzig in die Kutsche ein.
Sie war schön, wunderschön. Das Holz außen musste wohl Kirschholz sein, denn es war sehr dunkel. Innen war das Holz fast weiß, die Sitze mit rotem Polster bezogen und sogar Bilder hingen an den Wänden. Auch die Vorhänge für die Fenster waren rot, und die ganze Kutsche wirkte sehr edel.
Johann stieg ein und rutschte einmal öfter viel zu nah an sie ran. Was hielt dieser aufgeblasene Adlige nur von sich? „Johann, ich warne dich. Setze dich sofort ans andere Ende der Kutsche, oder du wirst was erleben!“ Soraja war sauer. Man konnte nicht übersehen, dass Johann keine Gelegenheit ausließ sich an sie ranzumachen. „Mir gefällt es, wenn du sauer bist. Komm her!“ Mit diesen Worten legte Johann Sori den Arm um die Schultern. Jetzt reichte es! Sori holte einmal tief Luft. Sie schubste Johann von sich weg. Dann verpasste sie ihm eine Ohrfeige. „Und ich mag es, wenn du Schmerzen hast, du…“ Einen Ausdruck verbot sie sich. Zufrieden setzte sie sich wieder gerade hin und schlug die Beine übereinander.
Von da an war die Fahrt angenehm ruhig und amüsant, denn immer, wenn Sori in Johanns Richtung schielte, konnte sie sehen, wie sich ihre Hand rot auf Johanns Backe abgezeichnet hatte, und sie war sehr bemüht, nicht jedes Mal zu kichern.

3

Soraja und Johann waren beim städtischen Tanzlehrer angekommen. Der Weg dorthin war gar nicht so kurz gewesen, doch ihr Vater musste ja für alles das teuerste suchen. Die Tanzsäle allerdings beeindruckten Sori jedes Mal aufs Neue. Sie stand mitten im größten der Säle. Über ihr thronte ein riesiger Kronleuchter aus Gold und verschiedensten Edelsteinen, und jede Tür war von Goldbordüren umrandet. Die Wände waren mit Rosenpapier tapeziert und ebenfalls mit Gold verziert. Der Boden war aus Kirschholzparkett, ganz passend zu den Tapeten. Eine sehr romantische Ausstrahlung hatte dieser Raum. Nur die Personen außen herum waren absolut unpassend!
Außer Johann und Sori waren noch drei andere Tanzpaare hier, von denen eines Flavio mit seiner Freundin Lorena war. Wie die anderen hießen, wusste sie zum Großteil nicht. Nur der Name des so überaus hübschen und schüchternen Mädchens war ihr schon einmal zu Ohren gekommen, und sie hatte einen wundervollen Namen. Sie hieß Melanie Eruanna Beoran. Ihrem reifen Auftreten nach zu urteilen war sie ungefähr so alt wie Johann, vielleicht auch älter. Sie hatte auch schon einmal mit dem Mädchen gesprochen, aber nur über Belanglosigkeiten wie das Wetter.
„Darf ich euch nun bitten, mit dem Tanz zu beginnen?“ Der Lehrer holte Soraja unliebsam aus ihren Beobachtungen. Johann trat mit einem unerklärlichen Lächeln auf sie zu. Als sie sich an den Händen hielten, flüsterte er ihr zu: „Wirst du mich hier auch schlagen? Ich glaube wohl kaum!“ Mit diesen Worten trat Johann noch einen Schritt näher an sie ran. Seinen Mundgeruch konnte man doch sowieso schon von fünf Metern Entfernung riechen! Niemand würde sich wohl ausmalen wollen, wie es Sori auf einem Abstand von wenigen Zentimetern erging. „Und, Achtung! Eins, zwei drei…“ Sori konnte die Schritte schon so lange auswendig, dass sie wieder die schüchterne Melanie inspizierte. Bei jeder Drehung schwang ihr langes, glattes und blondes Haar von einer Schulter zur anderen. Ihr Kleid war ebenfalls blau, allerdings ein eher dunkler Ton, ähnlich dem Meer. Dieses Kleid schien extra für Melanies Augen eingefärbt worden zu sein, denn sie hatten exakt dieselbe Farbe. Melanie tanzte ohne einen kleinsten Fehler und so anmutig, dass Soraja sich in ihren Bann ziehen ließ. Sie bewegte sich so grazil! „Aua!“ Soraja erschrak. „Sag mal, dann so oder was?“ Sori verstand nicht, was Johann von ihr wollte. „Was hab ich denn jetzt sch… oh, entschuldige. Bin ich dir auf den Fuß getreten?“ Johann stand nur noch auf einem Bein, das andere hatte er eigenartig angewinkelt. „Nein, wir tanzen heute nur Flamingo!“, erwiderte er mit einem etwas verachtenden Unterton. Dann flüsterte er ihr zu: „Warte nur, bis ich bei deinem Vater um deine Hand anhalte, Prinzessin! Dann kannst du dir so etwas nicht mehr leisten.“ Dieser… Er wollte sie tatsächlich heiraten! Scheusal. Mistkerl. „Nicht mit mir…“ konnte man auf ihren Lippen lesen, da sie keinen Ton herausbekam. Entschlossen stieß Sori ihren Tanzpartner von ihr und lief schnurstracks zur Tür.


4

„Sag mal, was hast du dir dabei gedacht?!“ Soris Vater war empört gewesen, als sie klitschnass zu Hause ankam. Sie war einfach aus dem Tanzunterricht gegangen und nach Hause gelaufen. Unterwegs hatte es allerdings zu regnen begonnen, was Soraja aber nicht davon abhielt, weiter zu gehen. „Dieser Johann will mich heiraten!“ Sie saß mit verschränkten Armen vor ihrem Vater. „Na dann freu dich doch! Endlich hast du einen Verehrer! Macht dich das nicht stolz?“ Ihr Vater war ja sogar glücklich darüber! „Ich habe mehr Verehrer als jedes andere Mädchen hier in Nakomaree, und wenn es jemanden gibt, den ich nicht heiraten möchte, dann ist das Johann! Papa, er ist vier Jahre älter als ich und benimmt sich, als wäre ich das erste Mädchen, dass ihm begegnet ist! Außerdem hat er heute seinen Arm um mich gelegt, als wir in der Kutsche saßen, obwohl ich ihm schon so oft gesagt habe, er soll es lassen! Darauf soll ich etwa stolz sein?“
Darauf hatte der Herzog keine Antwort mehr. Deshalb stand Sori trotzig auf, um in ihr Zimmer zu gehen. Schnell stolperte sie die Treppen hinauf. Ihr Vater wollte Johann also als Schwiegersohn! Wer weiß, ob er nicht schon lange um Johanns Plan wusste? Wie konnten die beiden nur über Sorajas Leben entscheiden?

5

Sauer fiel Sori in ihre Tür, knallte sie hinter ihrem Rücken zu und warf sich auf ihr Bett. Warum wollte nur immer jeder über ihr Leben verfügen? Ihr Vater hatte sie zum Tanzen angemeldet. Er hatte ihr Zimmer gestalten lassen und ihre Kindermädchen eigenhändig ausgesucht. Bis Soraja doch einmal durchgegriffen hatte, ihr rosa Zimmer heimlich selbst strich und dekorierte und sich in aller Öffentlichkeit über die Kindermädchen beschwerte. Die Mädchen kündigten darauf alle von selbst und Soraja durfte endlich beim zwölften Kindermädchen mitbestimmen. So kam Franziska in ihr Haus. Doch davor wurde wirklich jedes Essen, jede Aktion, alles für sie bestimmt! Und nun fing ihr Vater wieder an. Eine Träne kullerte über ihre Wange. Warum konnte sie nicht all das machen, was die anderen Kinder machen durften? Sori wäre so glücklich über ein Leben, in dem sie auch einmal schmutzig werden musste, auch einmal arbeiten. Aber hier hatte sie ja nichts zu tun!
Sori hörte, wie sich die Tür leise öffnete, doch wollte sie nicht nachsehen, wer es war. Auch sagte sie nichts, lag einfach mit ihren klitsch-nassen Kleidern auf ihrem Bett und weinte. Die Tür schloss sich wieder. Sori wollte nicht aufsehen! Sollte doch kommen, wer will. Wäre es ihr Vater oder Johann, sie würde das schreien anfangen, Johann würde sie wieder treten. Sie hörte die Schritte auf sie zukommen. Sori schluchzte. Dann legten sich dünne, zarte Hände auf ihre Schultern. Franziska! Soraja blickte auf. „Süße, was ist denn los?“ Franzi war besorgt um sie, das konnte man ganz deutlich in ihrer Stimme hören. Sori setzte sich auf und Franziska lies sich neben ihr nieder, um sie in den Arm zu nehmen. „Ach Franzi, Johann hat mir heute gesagt, er würde mich heiraten wollen, und Vater freut sich noch darüber! Und mich fragt wieder niemand. Ich find das so… so gemein!“ Sie schniefte. Franziska wartete einen Augenblick, dann antwortete sie mit ihrer angenehmen Stimme. „Johann wird dich nicht heiraten, wenn du etwas dagegen hast. Wir beide werden das schon schaffen, oder? Wir lassen uns doch nicht den Willen deines Vaters aufdrücken!“ „Ach Franziska, es ist so schön, dass du da bist.“ Wieder schniefte sie. „Sonst ist ja niemand für mich da. Mutter sorgt sich lieber um arme und kranke Leute in Markatia, als ihre Zeit mit mir zu verbringen, Vater hat sowieso nur Zeit für andere adlige Männer und Freunde habe ich nicht, weil alle denken, ich wäre so arrogant wie mein Vater oder andere hohe Tiere. Nur du bist da! Dankeschön!“ Sie kuschelte sich an Franzis Schulter. „Ich bin immer für dich da, Sori. Was hältst du von einem warmen Bad? Du bist ganz kalt, und außerdem musst du dich mal wieder entspannen! Na, was sagst du?“ Sori setzte sich wieder hin und lächelte sie verweint an. „Gute Idee!“

6

„Sag mal, Sori, gibt es denn jemanden, dem dein Herz gehört? Also, wenn ich das fragen darf, wenn es nicht zu direkt…“ „Ja Franzi, du darfst es fragen. Und nein, ich habe mein Herz noch nicht verschenkt. Die Jungen beachten mich doch gar nicht! Letzte Woche erst wieder liefen ein paar an mir vorbei und lachten über mich. Du weißt warum!“ Sori stand hinter dem Paravent und zog sich aus, während Franziska das Bad einließ. „Ach Sori, lass dir doch von diesen unreifen Jungen nichts einreden! Du bist wunderschön so wie du bist. Und außerdem: Du hast doch so viele Verehrer!“ „Die nicht an mir, sondern am Titel meines Vaters interessiert sind…“ ergänzte Sori verärgert. Franziska konnte dem nichts mehr entgegenbringen. Stattdessen drehte sie den goldenen Hahn der Badewanne zu, prüfte noch einmal die Temperatur des Wassers und lies dann noch ein paar Rosenblätter in das fertige Bad fallen. Schon trat Soraja hinter dem Paravent hervor. Sie kannte Franziska zwar noch nicht lange, aber gut genug, um sich nackt nicht mehr vor ihr zu schämen. „Und außerdem siehst du doch fantastisch aus!“, stellte Franziska mit einem breiten Grinsen fest. Sie wusste wenigstens, wie man Sori aufheitern konnte, denn diese erwiderte ihr Lächeln und stieg vorsichtig und langsam in die Marmorwanne. „In solchen Momenten ist die Welt schön. Franzi, setz dich auf den Sessel und merke dir diesen Tag. Wir werden heute nichts anderes mehr tun, als uns zu entspannen. Heute soll das Leben einmal zeigen, was es zu bieten hat.“ Franziska war ganz erstaunt, woher Sori auf einmal diese Gelassenheit hatte. Aber wahrscheinlich war es wirklich nur das Bad.
Die beiden Mädchen ließen sich also nun von den betörenden Düften der Rosen und den zärtlichen Klängen der leisen Musik, die Franziska aufgelegt hatte, bezaubern. „Franziska, hast du eigentlich einen Freund?“ Sori lag mit geschlossenen Augen in der Badewanne, während Franzi ihre Fingernägel schnitt. Als Soraja die Frage stellte, hörte sie abrupt auf. „Ähh, also, nein, ich habe keinen Freund, ab.. schon gut. Nein, habe ich nicht.“ Stotternd brachte sie eine Antwort hervor, womit sie Sorajas Neugierde noch mehr weckte, denn die drehte sich um und sah Franziska an. „Aber?“ Franzi blickte zu Boden, als ihr Blick sich mit Sorajas kreuzte. „Nichts, nichts aber…“ Doch Soraja gab nicht auf. „Warum hast du mir dann so zögerlich geantwortet? Franzi, was ist los? Ist deinem Freund wohl etwas zugestoßen?“ „Nein, ich habe keinen Freund und hatte auch keinen, aber… na ja… auch egal.“ „Ach Franzi, erzähl schon!“ „Du musst mir aber hoch und heilig versprechen, dass du es für dich, und nur für dich behältst!“ „Ja, mach ich. Und was ist jetzt los?“ „Also, mir… ich…“ Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach die Unterhaltung. „Verdammt, was ist da los? Franzi!“ Soraja war heftig zusammengezuckt und dabei Wasser aus der Badewanne gespritzt. Sie zitterte. „Franzi! Verdammt was ist da? Franzi, ich hab Angst!“ Auch Franziska war erschrocken. „Ich geh schnell runter, um zu sehen, was passiert ist!“ „Aber dann bin ich alleine! Franzi…“ „Keine Sorge. Dir passiert schon nichts, solange hier noch viele viele andere Personen sind, die dir im Zweifelsfall helfen könnten. Ich beeile mich auch!“ Mit diesen Worten war Franziska schon aus der Tür. „Franzi…“ Soraja brachte nur noch ein Flüstern raus. Zitternd drückte sie sich in eine Ecke der großen Wanne. Was wohl geschehen sein mag? Am Ende war nur etwas nebenan an der Baustelle für den neuen Tempel hinuntergefallen. Ja, das war es bestimmt! Es wird schon nichts passieren. Sori zitterte aber trotzdem. Sie lauschte. Ganz leise könnte sie draußen Schreie hören! War etwa jemand von der schweren Last eines großen Marmorsteines erschlagen worden? Sori atmete flach, ihr Herz schlug schnell. Noch immer war Franzi nicht zurück. Niemand kam an der Tür zum Badezimmer vorbei! Das hätte Sori doch gehört. War wirklich nichts Schlimmes geschehen? Daran mochte Sori nur zu gerne Glauben, aber ihr Verstand sagte ihr etwas anderes. Sie begann zu schwitzen. Sollte Sori vielleicht schon einmal aus der Wanne steigen? Wenn wirklich etwas geschehen war… vielleicht sollte sie das. Sie stand vorsichtig auf, nahm sich eines der großen Handtücher und wickelte sich darin ein. Noch immer konnte man weder Schritte noch Worte aus dem Palast hören. Also trocknete Sori sich ab, wickelte dann ihre langen Haare in das Handtuch und machte sich gerade auf den Weg zum Schrank, um ihren Bademantel zu holen, als sie plötzlich hörte, wie viele Angestellte im Palast durcheinander redeten. Dann vernahm sie Schritte. Franziska! Schon flog die Tür auf.
„Piraten! Piraten überfallen die Stadt! Zieh dir was an und komm!“
7

Wie vom Blitz getroffen ließ Sori den Bademantel fallen, den sie gerade noch in der Hand gehalten hatte. Piraten! Es war doch etwas Schreckliches geschehen. Was sollten sie jetzt tun? „Sori, los!“ Franziska hatte Soris gelbes Kleid, das sie nach dem Bad wieder anziehen wollte, in den Händen, bereit, ihr beim anziehen zu helfen. Endlich erwachte Soraja aus ihrem Schock, warf ihr Handtuch vom Kopf, lief zu Franziska und zog das Kleid an. Dann schleifte Franziska ihren Schützling die große Treppe geradewegs in die Eingangshalle hinunter. „Franziska, wo gehst du denn hin! Sie kommen doch als erstes in die Halle!“ „Dein Vater hat allen befohlen, sofort in den Keller zu gehen.“ „Aber man kann doch auch von den oberen Stöcken in den Keller!“ „Nicht der Keller. Der geheime Keller!“ „Alle in den geheimen Keller? Der ist doch viel zu kl… Ahh!“ Sori stolperte und fiel hin. Unsanft kam sie mit verdrehtem Fuß auf einer unteren Stufe auf, und als sie aufstehen wollte und ihr der Fuß nicht mehr gehorchte, sondern einfach wieder wegknickte, fing sie das Weinen an. Kurzerhand packte Franzi sie, nahm sie auf den Rücken und stieg vorsichtig Stufe für Stufe hinunter. Sie waren viel zu langsam. „Franzi, lass mich sitzen und gehe du in den Keller! Die wollen doch eh nur mich. Bring dich lieber in Sicherheit!“ „Wenn ich dich sitzen lasse, dann lässt mich dein Vater hängen! Lieber will ich zusammen mit dir von Piraten geschnappt werden, als dass du die Qualen alleine tragen musst und ich an einem Galgen hänge. Es ist doch gar nicht mehr weit!“ Jetzt fing auch Franziska an zu weinen. Nur noch ein paar Stufen, dann wären die unten angekommen und Franziska könnte schneller laufen. Noch fünf Stufen. „Franzi, schnell…“ Soraja konnte unter ihrem Schluchzen nur noch flüstern. Plötzlich stolperte Franzi, doch sie konnte sich gerade noch am Geländer halten. Wieder ertönte ein dumpfer Knall. „Das sind die Kanonen…“ murmelte Franzi. Endlich kamen die beiden in der Halle an. Franziska eilte hinter die Treppe, wo sich viele Angestellte, Küchenmädchen, Butler und Kellner zur verborgenen Tür drängten. Daneben stand der Herzog. „Nun macht schön! Ihr müsst da alle rein passen. Jeden Moment sind die Piraten da! Los!“ Als er Franzi und Soraja erblickte, eilte er ihnen entgegen. „Mensch, den Göttern sei Dank, Soraja, du bist da. Was ist geschehen?“ Sori versuchte, ihrem Vater zu Antworten, konnte aber nur noch schluchzen und schniefen. „Auf der Treppe ist sie gestürzt und hat sich den Fuß verletzt. Ich musste sie tagen.“ Franziska war ebenfalls aufgelöst und konnte nicht ohne schluchzen reden. „Gut gemacht Franziska.“ Der Herzog hatte noch nie jemanden gelobt. Doch das war jetzt auch nicht von Belang, denn die Traube an der Tür zum geheimen Keller wollte einfach nicht kleiner werden. Die Frauen weinten, einige schrieen, und selbst den Männern stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Manche von ihnen hatten den letzten Piratenangriff miterlebt und wussten um die Dinge, die noch geschehen sollten. Damals war Soraja sieben Jahre alt und schon der Grund des Angriffes gewesen. Die Piraten überfielen immer wieder reiche Städte an der Küste und nahmen die Kinder der Adeligen mit, um Geld von ihnen zu erpressen oder die Flotten fern zu halten. Da letzte Mal hatten sie Soraja nicht bekommen, dafür sieben andere Adelstöchter, von denen eine nie wieder zurückkam. Ihr Vater hatte darauf vertraut, dass Markatia schon dafür sorgen würde, dass die Mädchen ohne die Übergabe des Lösegeldes zurückkämen. Die anderen Väter zahlten und bekamen ihre Töchter unversehrt zurück. Das andere Mädchen aber soll seitdem auf den Inseln von Reldisee als Gefangene leben. Seit acht Jahren schon.
Gellende Schreie ertönten. Wieder war ein haus bombardiert worden, und die Bürger schrieen vor Angst, Verzweiflung oder vielleicht auch vor Schmerzen. Die Piraten dürften nicht mehr weit entfernt sein. Man hörte schon vereinzelt die Schüsse ihrer Kanonen oder das Klirren, wenn Schwert auf Schwert traf.
Nun kam die Leibgarde des Herzogs, komplett bis auf die Zähne bewaffnet aus dem linken Seitenflügel des Palastes. Es waren nur sechs Soldaten, doch vielleicht würden sie die Piraten aufhalten könne, bis alle sicher im Keller waren. Die Schüsse wurden immer lauter, die Traube nur um weniges kleiner. Der geheime Keller war zu klein für alle.
Der Herzog gab dem Kommandanten der Leibgarde das Zeichen zu ihm zu kommen, und einen kurzen Moment später erteilte er seiner Garde Anweisungen. „Bringt alle, die nicht mehr in den geheimen Keller passen, in den Weinkeller und verriegelt die Türen. Dann kommt schnellst möglich wie…“ Piraten standen an der verriegelten Eingangstür und versuchten, sie einzureißen. Die, die noch oben waren, schrieen. „Wir sind verloren! Sie kommen!“ Die Soldaten hatten Probleme, die übrigen Personen geordnet Richtung Kellertreppe zu bringen. Die Tür bebte. Als der Herzog sein Schwert zog, sah Soraja, die immer noch auf Franzis Rücken war, zurück, und ihr Blick kreuzte sich mit dem ihres Vaters. „Papa, nicht!“ Die Wörter waren nicht laut, und der Lärm um Sori herum verschluckten sie, doch ihr Vater, in dessen Augen Tränen standen, verstand. Er lächelte sie an, wie er es noch nie getan hatte. Wie es ein richtiger Vater tat, der seine Tochter über alles liebte. Während Soraja sich auf Franzis Rücken immer weiter entfernte, gab die Tür ruckartig nach. Der Herzog drehte sich nun zur Tür und lief den Piraten entgegen, um seine Tochter zu retten. „So viele Piraten...“ flüsterte Soraja. „Franzi, sie kommen! Sie laufen einfach an Vater vorbei. Franzi!“ Diese reagierte und schickte die Leibgarde den Piraten entgegen, mit einer Selbstsicherheit, wie Soraja sie selten bei einem Soldaten gesehen hatte. Soraja sah noch einmal zu ihrem Vater, bis er im Tumult des Kampfes nicht mehr zu sehen war. „Papa!“, rief sie noch einmal. Die Leibgarde wurde gnadenlos niedergerissen, und die Frauen liefen zu langsam, als dass sie es noch schaffen könnten. Sie waren verloren. Sori drückte ihren Kopf jetzt ganz stark an Franziskas Schulter. Diese stoppte ruckartig. Zwei der Piraten hatten sie eingeholt.
8

Sori stand an einer der drei Luken, die glücklicherweise genau über ihren Fußfesseln war, und sah hinaus. Nakomaree brannte. Die Stadt ihres Vaters war nun nicht mehr als ein Flammenmeer. Sori dachte an ihren Vater. Ob er noch lebte? Wohl kaum. Die werden ihn einfach niedergeschlagen haben. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass er sie als seine Tochter unendlich liebte, aber nicht fähig war, es zu zeigen.
Unter Deck waren duzende, hauptsächlich junge Menschen angekettet. Die Piraten waren wohl an mehreren Orten zuvor gewesen, denn viele der Gefangenen kannte Soraja nicht. Einige waren wahrscheinlich aus dem Süden, denn sie hatten sonnengebräunte Haut und dunkle Augen. Viele der Kinder und Frauen weinten immer noch. Soraja blickte einmal rund um sich herum. Welch ein Anblick. Überall saßen sie, mit roten, geschwollenen Augen, mit Platzwunden, offenen Knien oder kleinen Schnittwunden und rüttelten an ihren Fußfesseln. Oder sie saßen einfach nur da und starrten in die Leere. Langsam ließ Sori sich wieder nieder.
Neben ihr saß ein kleines Mädchen, sie war vielleicht halb so alt wie sie selbst. Die Kleine schluchzte und schniefte, konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Sori rutschte etwas näher an sie ran. „Hey kleine. Ich bin Soraja. Magst du mir sagen, wie du heißt und wie alt du bist?“ Das Mädchen blickte auf und sah mich mit ihren vor Tränen glitzernden, großen Augen an. „Ich… ich bin… ich heiße An... Angelina. Sieben.“ „Hallo Angelina. Hast du denn einen Spitznamen?“ Soraja bemühte sich, das kleine Mädchen abzulenken. „Lina nennen wir sie“. Der junge Mann neben Angelina sah nicht einmal auf, um mit Sori zu reden. „Und wie wäre es, wenn du sie selbst sprechen lässt? Wer bist du überhaupt, und wie heißt du?“ Soraja war über sein Benehmen nicht gerade erfreut. „Ich bin ihr Bruder Karon. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ Selbst jetzt hielt er es nicht für nötig, Soraja anzusehen. „Mit Soraja. Entschuldige bitte, dass ich versucht habe, deine Schwester etwas aufzumuntern.“ „Er ist 19“, gab Lina mit einem breiten Lächeln bekannt. „Dann ist er ja schon verheiratet!“ Soraja wollte ihr Gespräch mit Lina fortsetzen, doch wieder hinderte Karon sie daran. „Nein, das ist er nicht.“
In diesem Moment kam ein Pirat die Treppen herunter, eine Schriftrolle in der Hand. „So ihr Landratten, der Kapitän möchte ein paar von euch sehen. Alegro, Landuna, Coranie, Marado und Felderio. Alle, die so heißen, aufstehen, und zwar flott! Macht schon!“ Soraja stand als erste auf. Zu ihrer Verwunderung erhoben sich auch Lina und Karon, und noch ein paar andere. Die beiden Piraten, die dem mit der Schriftrolle gefolgt waren, ketteten die, die aufgestanden waren, nun von ihren Fußfesseln los und schubsten und zogen sie die enge Treppe hinauf, die zum Deck führte.

9

„Julietta Landuna, Tochter des Schatzmeisters von Xigonia?“ Ein zierliches Mädchen machte einen Schritt nach vorne. Der Kapitän hatte anscheinend nur die zu sich hinauf bestellt, die er für besonders ertragsreich hielt. „Angelina und Karon Alegro, Kinder des Herzogs von Laduria?“ Die beiden gingen nach vorne. Herzogskinder also! Soraja hätte es den beiden nicht zugetraut, denn sie waren schlicht gekleidet und Karon wies keinerlei Manieren vor. Soraja stand als einzige noch hinten. „Soraja Isabella Eleonora Marado, einzige Tochter des Herzogs von Nakomaree?“ Zögernd stellte sie sich zu den anderen. „Schlimmer Name…“ Mit diesen Worten hakte der Kapitän den letzten Namen auf der Liste ab. „Dann fehlt ja nur der Sohn vom Xigonia-Herzog! Gut gemacht, Mannschaft! Dafür werden wir uns jetzt besaufen. Bringt die Landratten wieder unter Deck! Jetzt wird gefeiert!“
Es hatte schon das Dämmern angefangen. Die Piraten, die Soraja und die anderen nach oben geholt hatten, drängten sie die Treppe hinunter und ketteten sie unter Deck wieder an ihre Plätze. Die anderen Gefangenen sahen sie erstaunt, entsetzt oder neugierig an. Als die Piraten glaubten, alle Gefangenen seien angekettet, gingen sie wieder nach oben und gesellten sich zu den anderen trinkenden Piraten. Doch sie glaubten nur.

10

Alle Gefangenen schliefen schon, denn es war tief in der Nacht, und auch vom Deck waren keine Laute mehr zu hören. Nach endlosem Grübeln hatte selbst Soraja in den Schlaf gefunden, jedoch schlief sie unruhig und hatte Albträume. Sie träumte davon, dass ihr Vater tot in der Eingangshalle lag. Dann träumte sie von den Mengen im geheimen Keller, die immer noch um ihr Leben bangen. Und sie träumte von Franziska, wie sie von einigen Piraten rumgeschubst und geschlagen wurde. Plötzlich schreckte sie aus ihren Träumen. Dort bewegte sich doch etwas! Im Schein der Laternen an Deck, der über die Treppe bis hier runter reichte, konnte man kaum etwas sehen. Irgendjemand lief hier doch… Noch ganz verschlafen sah sie um sich. Da! Karon lief umher! Er stand nur zwei, drei Meter von Sori entfernt und sah sich die schlafenden Gefangenen an. Was wollte er von ihnen? Und wie kam er überhaupt los? „Karon…“ flüsterte Sori. Der drehte sich sofort um und sah sie an. „Warum schläfst du nicht? Verd… sei bloß still Soraja!“ „Wie bist du losgekommen?“ „Ich wurde erst gar nicht angekettet. Aber halt jetzt die Klappe…“ „Was willst du tun? Hast du etwa vor zu fliehen?“ „Was denn sonst? Natürlich will ich das! Wehe, du verrätst uns.“ „Wer ist wir?“ „Denkst du, ich geh hier ohne meine Schwester weg?“ „Und wie willst du sie los bekommen?“ „Ich suche gerade nach geeignetem Schmuck… ah, wie ich sehe, hast du Ohrringe! Gib mal einen her…“ „Wenn du mich auch loskettest, gerne!“ „Aber zu dritt machen wir zu viel Aufruhr…“ „Dann gehe ohne deine Schwester. Entweder beide oder keiner!“ Die beiden waren etwas lauter im Gespräch geworden. „Na, dann nehm ich dich eben mit… aber gib den Ohrring schnell her!“ Mit einem Seufzer nahm Sori ihren Ohrring aus dem Loch und hielt ihn Karon entgegen. „Aber zuerst öffnest du meine Fesseln, damit ich sicher sein kann, dass ich mitkommen darf.“ Ohne noch etwas zu sagen machte Karon sich an ihre Fußfesseln, und schon nach einigen Sekunden war ein leises Klicken zu hören. Sofort ging Karon zu seiner Schwester, um sie sanft zu wecken. Währenddessen machte Sori ihre Fußfessel los, stand langsam auf und streckte ihren ganzen Körper bis in die Zehen. Schon stand Karon mit seiner Schwester neben ihr. „Jetzt schleichen wir alle ganz leise die Treppen rauf. Gleich rechts an der Treppe liegt ein Pirat, also erschreckt nicht. Geht einfach nach links, dort werdet ihr ein kleines Rettungsboot sehen. Soraja, kannst du es losbinden?“ „Ja, wenn es dieselbe Technik wie bei den normalen Flottenschiffen ist, sollte es ganz schnell gehen.“ „Gut, dann geht voraus, aber leise!“
Die Mädchen schlichen zur Treppe, dann hinauf auf das Deck. Der Himmel war sternenklar. Die Flucht sollte keine Probleme machen. Soraja nahm Lina an die Hand und führte sie zum Ruderboot. Es war noch nicht benutzt worden. Sori hatte keine Probleme, das Boot los zu bekommen. Langsam lies sie es ins Wasser gleiten. Dann befestigte sie die Strickleiter am Schiff. Aber wo war Karon eigentlich? Als hätte Sori sofort eine Antwort gebraucht, hörte sie, wie in der Kajüte des Kapitäns etwas zu Boden fiel. Karon weckte die Piraten! „Lina, klettere hinunter! Schnell!“ Sie flüsterte dem Mädchen die Sätze ins Ohr. Diese nahm verängstigt Sprosse für Sprosse. „Hey! Stehen bleiben!“ Ein Pirat hatte sie gesehen! Und mit seinem Geschrei weckte er die ganze Mannschaft. Da kam Karon wieder ans Hauptdeck. „Schnell, Soraja, runter! Ich halte sie auf!“ Die Piraten fingen an lauthals zu lachen. Doch Karon zog das Schwert, das er anscheinend Aus der Kajüte geholt hatte, lief in Richtung Rettungsboot und erwartete die Piraten. Sori kletterte schnell zu Angelina hinunter ins Boot und schloss sie in die Arme, als diese das weinen begann.
Oben am Deck hatte Karon schwer zu kämpfen. Als er einen kurzen Moment Zeit hatte, schlug er auf das Seil der Strickleiter und die Halterung des Bootes ein. „Karon! Nein, Karon, du musst doch mit!“ Lina schrie nach ihrem Bruder. Der aber kämpfte weiter gegen die Piraten, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte. Lina löste sich aus Soris Umarmung und versuchte, näher an das Schiff zu paddeln. „Lina, komm wieder her. Das geht doch nicht!“ Soraja packte sie an den Schultern und nahm sie wieder in den Arm. Sie hatte wohl gerade ihren Bruder verloren. Da begann das kleine Boot zu wackeln, weil ein Pirat ins Wasser stürzte. Nein, es war kein Pirat! Karon hatte sich ins Wasser fallen lassen und schwamm jetzt mit beeindruckender Schnelligkeit zum Boot. Dann zog er sich hoch. Lina fiel auf ihren erschöpften und total durchnässten Bruder.
„Nein, lasst die Feiglinge davonpaddeln“, befahl der Kapitän der Piraten. „Aber dieser scheiß Junge hat vier von uns ins Grab gebracht und weitere vier total verletzt! Zum Teufel mit ihm! Wir sollen uns nicht an ihm rächen?“ Einer der Piraten war damit nicht einverstanden. Die anderen raunten bestätigend. „Bald wird ein Sturm aufziehen, und die verdammten Idioten werden auf der einsamen Insel rasten. Da erledigen „die“ sie dann…“

11

Der Piratenkapitän hatte leider Recht. Schon nach einer viertel Stunde hatte es das Regnen angefangen, nach weiteren 15 Minuten war ein Gewitter aufgezogen, das das Meer unruhig machte. Immer größere Wellen brachten das kleide Boot der drei zum schwanken. Land war noch lange nicht in Sicht.
Lina stand vom Kampf auf dem Piratenschiff immer noch unter Schock. Seit sie das Schiff verlassen hatten klammerte sie sich an Karon, der immer erschöpfter vom Rudern wurde. Was sollten sie nur tun? Jeden Moment könnte das Boot kentern, und die drei würden in den tobenden Wassermassen ertrinken. Sori war vom verdächtigen wackeln des Bootes schlecht geworden. Sie schloss die Augen in der Hoffnung, nur schlecht zu träumen. Aber immer noch plätscherten Regen und Wellen, und der beißende Schmerz des kalten Windes verlosch nicht. Alle drei waren sie bis auf die Haut durchnässt, und der kalte Nordwind brachte sie zum frieren. Sori dachte an ihren Vater. Er wollte sie retten. Und er hatte sie geliebt. Warum hatte der Herzog seiner Tochter nicht schon früher seine Gefühle zeigen können? Das letzte Mal, als sie mit ihrem Vater geredet hatte, hatten die beiden gestritten. Sori spürte etwas Warmes auf ihrer Wange. Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinunter. Jetzt hatte Sori nicht einmal mehr Franziska, die sie hätte trösten können! Schon auf dem Piratenschiff hatte sie Franzi nicht finden können. Sie hätte sie mitgenommen! Aber sie war einfach weg. Jetzt saß sie mit zwei wildfremden Leuten aus einem weit entfernten Land in einem kleinen Rettungsboot, das jederzeit kentern konnte.
Plötzlich wackelte das Boot so heftig, dass Sori aus den Gedanken gerissen wurde. Lina kreischte. Fast wären die drei jetzt im Meer geschwommen. Sori hatte die Augen sofort wieder geöffnet. „Karon, was sollen wir machen? Wir kentern! Ka…“ Sori verstummte. Land! „Karon, sieh nur! Da! Da hinten! Eine Insel! Land!“ Karon drehte sich um, und Sori sah ihn das erste Mal lächeln. Sie vergaß ihre Seekrankheit und half Karon beim Rudern.
Die drei schienen gerettet, bis eine riesige Welle das Boot verschlang. Einen kurzen Augenblick lang war nur noch das Tosen des Wassers und das Pfeifen des Windes zu hören, bis Karon auftauchte und nach Luft schnappte. Sofort tauchte er wieder unter, um nach Lina zu suchen. Sie konnte nicht schwimmen. Als dann Sori auftauchte, sah sie niemand anderen an der Oberfläche. Auch sie wusste, dass Lina nicht schwimmen konnte, und so tauchte auch sie ab. Sie fand Lina recht schnell, bewusstlos, und so nahm sie das Mädchen unter die Arme und zog sie an die Wasseroberfläche. Sie sah Karon, der einige Meter vor ihr Luft holte, und wusste, dass es ihm gut ging. Deshalb schwamm sie auf die Insel zu, Lina unter dem Arm, und kämpfte gegen die Wellen. Die Insel war näher, als sie anfangs gedacht hatte, aber die dunklen Wolken und der Regenvorhang hatten das Land verhüllt. Sori war erschöpft, trotzdem kam sie einigermaßen gut voran. Karon hatte sie inzwischen gesehen und schwamm ebenfalls Richtung Insel. Er war schon fast da. Noch ein, zwei Minuten, und die Mädchen wären auch auf der Insel. Eine große Welle schnappte nach den beiden, doch Sori konnte wieder auftauchen. Ihre Kräfte schwanden dahin. „Nur noch ein paar Sekunden“, redete sie sich ein. „Nur noch ein paar Sekunden“. Doch dann wurde alles schwarz um sie herum.

12

Stark hustend wachte Soraja auf. Das Licht der Sonne blendete sie, und so lies sie die Augen geschlossen. Nochmals hustete sie kräftig. Wo war sie? Was war geschehen? Die Piraten… Das Gewitter… sie hatten die Insel erreicht!
Lina, die gerade dabei war, Karon beim Feuer machen zu helfen, bemerkte, dass Soraja erwacht war. Schnell rannte sie zu ihr. „Soraja, Soraja! Endlich bist du wach. Karon! Sie ist wach! Lina bekam sich gar nicht mehr ein. Sie rannte zurück zu ihrem Bruder, um ihn zu Sori zu ziehen. Sieh doch Karon, sie ist wieder gesund!“ „Morgen Soraja…“ murmelte er, um sich wieder umzudrehen und zum Feuer zu gehen. Lina sah ihm nach. „Als du noch geschlafen hast, war er fast immer an deiner Seite und hat sich um dich gekümmert…“, stellte das junge Mädchen fest. Sie kratzte sich an der Nase. Dann drehte sie sich wieder zu Soraja um, die inzwischen auf dem Sand saß. „Komm, wir gehen zum Feuer. Karon hat es gemacht!“ Die beiden standen auf, und nachdem Sori noch etwas wackelig auf den Beinen war, half die kleine Lina ihr. Bei Karon angekommen setzte sie sich wieder. Der Junge aber beachtete sie nicht. Stattdessen wandte er sich an seine Schwester: „Lina, geh doch mal noch etwas Holz holen, ich fürchte, es war zu wenig.“ Das lies Angelina sich nicht zweimal sagen, also rannte sie davon und war schon kurze Zeit später nicht mehr zu sehen. „Warum machst du das?“ Fragte Sori nun. „Wenn es Nacht wird, brauchen wir Feuer, um…“ „Nicht DAS! Warum bist du so abweisend zu mir? Ich habe deine kleine Schwester gerettet! Ist das dein Dank? Und warum hast du dich so um mich gekümmert, als ich noch bewusstlos am Stand lag?“ Karon grummelte: „Ich habe dich mitgenommen, also musste ich auch dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst. Jetzt, wo du es bist, mach, was du willst! Ich stehe nicht mehr in deiner Schuld.“ „Und wie gedenkst du von hier fort zu kommen?“ „Keine Sorge, mir fällt schon noch was ein…“ mit diesen Worten stand er auf und ging den Strand entlang. Soraja wollte ihm gerade etwas nachrufen, als Lina wieder kam. Sie hatte die Arme voll von Holz und rannte dennoch, was einen sehr lustigen Anblick bot. Außerdem verlor sie viele von den Ästen auf dem Weg. Sori musste lachen. „Was? Warum lachst du?“, keuchte Lina. Sie war ganz außer Atem. „Dreh dich um und siehe selbst“, war Soris Antwort. Lina legte ihren Kopf schief, wie ein Kanarienvogel, doch dann sah sie den Weg entlang, den sie gegangen war, und lachte mit Sori. Nur Karon, der ebenfalls Linas Ankunft bemerkt hatte, lachte nicht, er brachte noch nicht einmal ein Lächeln auf die Lippen. „Und wer sammelt das ganze Holz jetzt noch mal ein?“ ärgerte er sich. Kurzerhand stand Soraja auf, nahm Lina an die Hand und begann, Ast für Ast unter ihren Arm zu klemmen. Nach dem dritten blieb sie stehen und drehte sich um. „Wir werden gleich noch nach etwas essbarem suchen, also warte nicht auf uns, es wird eine Zeit lang dauern.“

13

„Sieh mal, die Blumen da!“ Lina war von der vielfältigen Blütenpracht überwältigt. Davon war Sori nicht überrascht, denn sie hatte noch keine Blume von denen, die hier auf der Insel wuchsen, zuvor gesehen. Es gab knallrote Blumen, die der kleinen Lina bis zur Hüfte oder weiter reichten, und jede der Pflanzen hatte nur eine einzige Blüte. Dann gab es himmelblaue Blumen, ganz klein, die sich wie ein Teppich über den Inselboden verbreiteten. Sogar die Bäume hatten riesige Blüten, in Lila, und sie hingen – ganz genau wie kleine Karaffen! – von der Baumkrone herunter. All diese Farben schillerten in der warmen Mittagssonne, die am wolkenlosen Himmel stand und all ihre Kraft darauf setzte, die Erde zu erwärmen. Sori war unter ihrem dreckigen, gelben Kleid ein wenig warm, doch hier hatte sie ja nichts anderes, was sie hätte anziehen können.
„Sieh doch! Da hängen Früchte! Ganz viele!“ Lina hatte einen Baum voller köstlich aussehenden, runden Früchte gefunden. „Jetzt komm schon und hilf mir, sie zu pflücken!“ Also nahm Sori Angelina auf die Schultern und ging auf den Baum zu, um die Früchte aufzufangen, die Lina in ihre Arme warf. Die runden, dunkelvioletten und etwa orangengroßen Kugeln waren ziemlich schwer, und so konnte Angelina Sori nicht allzu viele zuwerfen. Sie hatten etwa ein dutzend oder etwas mehr gepflückt, als Sori Lina zurief, es seien genug. Diese kletterte flink den Baum hinunter und half Soraja dann, die vielen, so köstlich aussehenden Früchte mit zurück zu Karon zu tragen. Unterwegs kamen sie wieder an einem alten Schiffsfrack vorbei. Sori blieb stehen und starrte es an. Es musste schon viele Jahre dort liegen. Sehr viele Jahre… „Sori, was ist denn los? Sori?“ Lina riss Sori aus ihren Gedanken. „Nein,… nein, schon gut. Komm, es wird gleich dunkel, und mein Magen meldet sich schon. Vielleicht hat Karon ja tatsächlich ein paar Fische gefangen!“
Lina sah Sori etwas besorgt an, stellte jedoch keine weiteren Fragen und ging ebenfalls weiter. Was Soraja wohl hatte… es war doch nur ein Schiffsfrack!

14

Karon sah die beiden Mädchen endlich hinter einer Baumgruppe hervortreten. Er hatte sich schon Sorgen gemacht, denn sie waren viele Stunden fort gewesen und es dämmerte schon. Karon selbst hatte in der Zwischenzeit ein paar Fische gefangen. Sie waren zwar groß, jedoch etwas mager. Aber sie sollten die drei schon für das Erste satt machen.
Die Mädchen hatten also tatsächlich Früchte gefunden und auch noch gepflückt! Selbst, wenn Karon nicht viel von Pflanzen verstand: Die Früchte sahen nicht gerade appetitlich aus, in diesem lila-braun. Sie waren entweder noch nicht reif, oder, was Karon viel mehr glaubte, schon zu lange am Baum und so vergoren.
„Karon, Karon! Sieh mal, wir haben ganz viele Früchte gefunden! Sieh doch! Sehen sie nicht köstlich aus?“ Linas Euphorie war nicht mehr zu bremsen, so stolz war sie auf ihr selbst „gefangenes“ Essen. Sie drückte Karon eine der Früchte in die Hand, doch der beachtete sie kaum noch. Mürrisch legte er die Frucht zur Seite, worüber Lina sehr empört war. Inzwischen hatte sie selbst angefangen, eine der Früchte zu schälen, nun aber sah sie Karon entgeistert an:
„Jetzt probier doch endlich! Freust du dich denn gar nicht, dass wir etwas Essbares gefunden haben?“
„Ach Lina, wer weiß, ob die Früchte nicht schon voller Würmer sind. Viellei…“
„ICH weiß!“ Breit grinsend hielt Soraja eine der Früchte, die sie geschält hatte, vor Karons Nase.
„Und sie schmecken köstlich! Komm, probier mal.“
Lina sah zu Sori hoch und fing dann das lachen an. „Siehst du, Karon, ich habs dir doch gesagt!“ Schnell schälte sie ihre Frucht, die sie immer noch zwischen den Händen hielt, weiter, und als das rote, saftige Fruchtfleisch freigelegt war, biss sie gierig hinein. Karon wollte noch immer nocht probieren.
So saßen die beiden Mädchen neben ihrem Berg aus Früchten und erzählten sich gegenseitig von ihren schönsten Kleidern und den größten Hüten und lachten und amüsierten sich prächtig, während Karon ein paar Meter näher am düsteren Wald am Lagerfeuer kauerte und die mageren Fische weiter briet.

15

Die Fische schmeckten gegen Soris Erwartung wirklich gut. Richtig saftig waren sie! Fast so gut wie zu Hause… wie gerne würde sie doch wieder dorthin, zu ihren Freunden, zu ihrer Familie. Es graute sie schon vor der ersten Nacht, die sie hier auf dem Sandboden verbringen sollte. Einfach auf der blanken Erde, ohne Kissen, ohne Decke. Und es dämmerte schon, also hatte sie nicht mehr lange Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Noch heute von hier zu fliehen war nicht möglich. Wie sollten sie eigentlich überhaupt von hier fort?
„Sag mal, Karon, hast du überhaupt schon eine Idee, wie eir hier wieder weg kommen?“
„Ich lass mir schon noch was einfallen!“, maulte Karon. Er war wirklich nicht gut gelaunt.
„Ich glaube, niemand von uns möchte länger als nötig auf dieser Insel bleiben“ Heute haben wir vielleicht Glück gehabt mit dem Essen, und auch das Wetter hat mitgespielt. Aber wer weiß, wie das morgen aussieht?“
Karon sah von seinem Fisch auf. „Warum sagst du mir das? Denkst du etwa, ich mache mir keine Sorgen? Aber, hallo, wir sind auch einer einsamen Insel, wo es nur so von Fischen wimmelt, und ihr habt dutzende Früchte aufgetrieben. Was machst du dir so viele Gedanken? Ich kann nun mal kein Schiff herbeizaubern.“
Soraja starrte ihn entsetzt an.
„Wer weiß, ob diese gottverdammte Insel wirklich unbewohnt ist? Wir wissen nicht ein mal ihre Größe. Vielleicht ist es auch gar keine Insel, vielleicht sind wir 15 Minuten Fußweg von der nächsten Piratensiedlung entfernt!?“ Soraja kam mehr und mehr in Rage.
„Man, warum schiebst du gleich solche Panik? Das ist doch absurd! Das Piratenschiff war nicht lange genug unterwegs, als dass wir an irgendeiner der größeren Inseln angelangt sein könnten.“ Karon wusste nicht, ob er sich ärgern oder einfach lachen sollte.
„Und woher willst du wissen, wie lange WIR unterwegs waren? Wie lange WIR auf dem Meer getrieben sind?“ Soraja war inzwischen aufgestanden und unterstrich ihre Worte mit wilden Gesten.
„Wir ha…“ Eigentlich wollte sich auch Karon nun vor Wut erheben, aber er gefror in seiner Bewegung. „Soraja, wo ist Lina? Verdammt, wo ist meine Schwester?“ Karon sah sich verängstigt um. Da, wo Angelina gewesen war, neben dem Turm aus Früchten, lagen nur mehr Schalen und Fischgräten.
„Lina! Hey, Angelina, wo bist du?“ Sori rief direkt in den Wald hinein, denn die einzige Möglichkeit, so schnell zu verschwinden, ohne, dass die beiden es gemerkt hätten, war, zwischen den großen Bäumen in den dunklen Wald zu flüchten.
„WAS willst du eigentlich? Wahrscheinlich ist MEINE Schwester weggelaufen, weil DU so laut wurdest!“, warf karon Sori mit einem wütenden Gesichtsausdruck an den Kopf.
„Ich… du bist genauso laut geworden…“ Stammelte Soraja, etwas verwirrt von Karons Anschuldigungen.
„Aber du hast angefangen. Hätte ich dich nur nicht mitgenommen!“
Sori rang nach Atem. „So ist das? Du bereust es, auch meine Fesseln gelöst zu haben? Hey, schon vergessen, wer deine Schwester wieder aus dem Meer gefischt hat? Ohne mich hätte sie nicht weglaufen können, stimmt. Sie wäre schon längst Tod!“ Kurz rang Soraja nach Fassung, dann redete sie weiter auf den völlig erstarrten Karon ein.
„Tschüss, ICH suche jetzt nach Angelina, du kannst ja weiter rumschreien.“ Mit diesen Worten trat sie zwischen zwei großen, fremdartigen Bäumen hindurch in den Wald ein, wo sie einen kleinen Trampelpfad erkennen konnte, den sie sofort verfolgte.
Karon hingegen stand wie angewurzelt da. Was bildete sich diese hochnäsige Adelstochter eigentlich ein? Ihn so zu beschimpfen! Er hätte Lina auch aus den Tiefen des Meeres retten können.
Karon sah zu dem Ort, an dem Soraja in den Wald getreten war. Er sollte sich auch auf die Suche nach seiner Schwester machen. Raschen Schrittes ging er auf die Baumlücke zu und war wenig später zwischen Bäumen und Sträuchern verschwunden.

16

„Hab keine Angst, Menschenkind!“, sagte eine raue, tiefe Stimme.
„Du glaubst, es sei ein Mensch?“, entgegnete eine andere.
Gleich darauf war die erste wieder zu hören: „Sie es dir doch an, du Trottel! Sieh nur, die Ohren. Kreisrund! Und wie du sehen kannst hat es weder einen Tierkörper noch einen Tierkopf noch sonst irgendetwas Tierisches an sich. Und für jemanden von uns ist es viel zu groß! Also, was bleibt dann noch übrig?“
Eine dritte Stimme, die etwas höher war als die beiden anderen, mischte sich ein. „Aber, es heißt doch, seit vielen jahrhunder…“
„Ja, ja, verflucht seien sie, diese Sagen und Märchen, denn das einzige, was sie bewirken, ist, dass erwachsene Männer sich davor fürchten. Nichts als Ärger! Seit vielen Jahrhunderten hat kein Mensch mehr diese Insel betreten… sieh es doch so: Es wird mal wieder Zeit!“ Die erste Stimme war mit jedem Wort lauter geworden.
„Aber…“, stotterte die dritte, „Aber… also, was ist… na, wenn es uns angreift?“
Der erste, der scheinbar der Vorgesetzte war, fing laut an zu grölen.
„Angreifen? Ha! Ich sagte doch, ihr habt alle Schiss. Sie es dir doch an! Es ist noch ein klines Kind, weiblichen Geschlechts, wenn ich mich nicht irre. Ich erinnere mich noch, bei manchen Menschen konnte man nur an der Länge der Haare und am Bartwuchs feststellen, ob es denn weiblich oder männlich war… zurück. Los, geht von ihm weg! Geht ihr nicht, wie verängstigt es ist?“ Er senkte seine Stimme wieder zum ruhigen Murmeln, das er anfangs benutzt hatte.
„Kleines Menschenkind, wir werden dir nichts tun, wir helfen dir! Komm, komm mit uns!“

17

„Man, wo kann sie nur sein? Angelina!“
Sori und Karon durchforsteten den dichten Wald. Doch obwohl sie hinter jedem Dickicht, in jeder kleinen Kuhle und zwischen allen Bäumen nach Lina suchten, blieben die erfolglos. So weit konnte das kleine Mädchen doch gar nicht gelaufen sein! Aber die durften nicht aufgeben. Angelina musste doch irgendwo sein! Sori ärgerte sich. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre… aber nein! Karon war es doch, der laut geworden war. Bestimmt war Lina deshalb davongelaufen. Wenn sie nur wüssten, wo hin! Sori blickte sich um. Wo war Karon auf einmal?
„Hey, Karon, wo bist du?“, sagte sie vorsichtig. Keine Antwort.
„Karon!“, rief sie nun etwas lauter. „Verdammt, w steckst du? KARON!“
Auf einmal trat er hinter einem der merkwürdigen Bäume hervor. „Man, werd doch nicht gleich so hysterisch!“, lachte er verbittert.
Sori atmete erleichtert auf. „Wo warst du?“ Die Wut war ihr trotzdem aufs Gesicht geschrieben.
„Ach, ich habs mir hinter dem Baum da gemütlich gemacht und wollte dich eigentlich erschrecken, wenn du vorbeiläufst, aber nachdem du gleich das Heilen anfängst…“ Zufrieden mit sich selbst säuberte er demonstrativ seine Fingernägel.
So ein… Sori drehte sich mit einem „hmpf“ um und kämpfte sich weiter durch den dunklen Wald. Was bildete sich der überhaupt ein?
„Ah!“ Karon erschrak fürchterlich, als im Baum neben ihm ein Pfeil einschlug, nur wenige Zentimeter überseiner Hand, mit der er sich festhielt, um nicht hinzufallen.
„Sori, duck dich! Da schießt jemand auf uns!“ Karon hatte sich sofort auf den Boden gekauert und versuchte nun, die Schützen in den Baumwipfeln zu erkennen, als ein zweiter Pfeil auf ihn zu rauschte und nur knapp sein Ziel verfehlte. Sori, die immer noch stinksauer war, dachte natürlich, dass Karon nur wieder versuchte, ihr Angst einzujagen, und ging trotzig weiter, ohne sich auch nur ein mal kurz umzudrehen, bis sie einen starken, stechenden Schmerz in der linken Schulter spürte. Sofort wurde alles um sie herum schwarz, und ohne einen Laut sackte sie bewusstlos zu Boden.
„Nein! Sori!“, waren Karons Worte, die er unmittelbar danach ausrief, ohne Vorsicht. Der Junge sprang entsetzt auf und lief zu Soraja, die regungslos zwischen Wurzeln, Beeren und Kräutern lag. Vorsichtig hob er ihren Körper an, der schlaff und leblos wirkte. Als er Soraja vorsichtig schüttelte, änderte sich nichts. Gegen jede Vernunft wendete er sich den Bäumen zu:
„Kommt heraus, ihr Mörder!“, schluchzte er unter versteckten Tränen, die Hände von Sorajas Blut verschmiert. Und tatsächlich regte sich etwas in den Bäumen.

18

Sie war noch immer nicht wach. Und Lina war immer noch verschwunden. Er hätte auf diesem blöden Piratensciff bleiben sollen. Dann würde er jetzt unter Menschen in einem kleinen Haus sitzen und darauf warten, dass sein Vater ihn vin der Pirateninsel holt, anstatt neben dem Lager eines ihm fast unbekannten Mädchens zu weilen, das unter einem Baldachin lag, und um ihr Leben zu bangen, obwohl diese Elfen, bei denen er gelandet war, alle Wundern verschlossen hatten. Sie verstanden Karon nicht, und so konnte er sie auch nicht fragen, ob sie Lina gesehen hätten. Wenn er vor zwei Tagen doch zum Reittraining gegangen wäre, hätten die Piraten ihn nicht mitnehmen können. Aber dann wäre Lina ganz alleine gewesen…
„Mensch?“ Karon schreckte auf. Sofort stand er mit dem Blick zur einzigen Seite ohne Blätter vor Soraja.
„Sei mir gegrüßt, kleiner Mensch, und entschuldige bitte, dass ich erst jetzt zu dir kommen konnte.“ Karon kannte die Elfen nur aus den Kindermärchen, doch war das, was vor ihm stand, nicht annähernd so, wie es die Geschichten erzählten. Dort waren sie böse, man erzählte sich, sie wären arrogant und sähen ihr Volk als das beste an. Sie schmückten sich mit Gold, Silber und Edelsteinen, und sie bauten riesige Paläste. Doch hier, hier wo er war, gab es kein einziges befestigtes Haus, nur Zelte und Baldachine; alles war aus Holz und sonderbaren Gewächsen.
„Ich bin Yarsol“, holte der Elf ihn aus seinen Gedanken, „der Älteste der Elfen. Bei euch Menschen wäre ich außerdem so etwas wie ein Kaiser, wenn es diese Bezeichnung noch gibt.“
Karon wusste nicht, was er sagen oder tun sollte, und seine Ratlosigkeit blieb nicht verborgen. Der Elf lächelte, dann deutete er Karon, er solle sich auf einen der Stühle setzen, die zwischen den beiden standen, setze sich dann auf den anderen und erzählte weiter.
„Darf ich fragen, wie der Mensch heißt, der als erster nach so vielen hunderten von Jahren wieder mein Reich betritt?“ Um den Jungen nicht noch weiter zu verunsichern, lächelte er ihn weiter an, was seine Worte erheblich sanfter wirken ließ.
„Oh, entschuldigt, Kaiser Yarsol, dass ich so unhöflich bin. In Landuria, das ist ein Land bei uns Menschen, nennt man mich Karon Alegro, ich bin der Sohn des Herzogs von Landuria.“ Jetzt, wenn es um Formalitäten und Höflichkeit ging, kamen die Worte wie von selbst aus Karons Mund. 19 Jahre Erziehung hatten ihre Spuren hinterlassen.
„Schön, dich kennenzulernen, Karon. Nenne mich einfach nur Yarsol, wir legen hier keinen großen Wert auf Stände und Adelstitel. Sag, wer ist das Mädchen, das meine Schützen angeschossen haben?“ Yarsols Blick wanderte zum Krankenbett.
„Sie heißt Soraja, doch viel weiß ich nicht über sie. Wir trafen uns auf dem Schiff der Piraten, die uns entführt hatten, und als ich meine Schwester befreien wollte, um zu fliehen, nahm ich Soraja auf ihr Flehen hin ebenfalls mit. Sie war die einzige, die zu dieser Nachtstunde nicht geschlafen hatte.“ Die Erinnerungen trafen Karon schwer. Yarsol hatte den Kopf ruckartig angehoben.
„Du sagtest gerade etwas von deiner Schwester. Wo ist sie?“
Karon biss sich auf die Lippe. „Ja, das würde ich auch gerne wissen“, murmelte er. Besorgt starrte er an Yarsol vorbei in den Wald. „Sie ist noch ein kleines Kind, und als Soraja und ich… nunja, wir stritten uns, und deshalb lief sie in den Wald hinein.“ Demütig senkte er den Blick und sah zu Boden. Was war er nur für ein Idiot gewesen.
„Ein kleines Kind, sagst du?“ Dieser Satz ließ Karon wieder aufblicken. Doch in Yarsols Gesichtsausdruck war absolut nichts zu lesen.
„Dann kenne ich deine Schwester wohl schon“, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln.
„Sie ist hier? Wo?“, fragte Karon bestimmt und sprang von seinem Stuhl auf, der so zu Boden fiel. Soraja wachte davon nicht auf.
„Immer mit der Ruhe, junger Mensch. Komm mit mir, ich bringe dich zu deiner Schwester. Die Kentauren passen auf sie auf. Sei froh, dass die Zwerge sie gefunden haben! Meine Schützen hätten mit deiner Schwester das gleiche gemacht wie mit deiner Freundin. Um sie brauchst du dich aber keine Sorgen machen. Ihr Körper ist groß und kräftig, sie wird wieder genesen. Folge mir nun.“

Impressum

Texte: Cover ist komplett von mir -> Copyright liegt bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /