Cover

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Unauffällig konnte man ihn gewiss nicht nennen. Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Mädchen traf es wohl ein wenig besser.
Eigentlich wollten wir, ganz unter uns, einen schönen Nachmittag auf dem Markt verbringen. Einem Mittelaltermarkt. In altertümlichen Gewändern die vielen Stände mit Schmuck durchstöbern und heimlich den Rittern und Wikingern ohne Hemd hinterher gucken. Nur wir vier, einen Nachmittag lang vor Hausaufgaben und anderen Pflichten flüchten und sich ganz und gar dem Zauber des Mittelalters hingeben.
Und dann kam er. Und wie. Fröhlich durch die Gegend hüpfend. Seine Gewandung erinnerte ein bisschen an Robin Hood. Unter dem tannengrünen Filzhut kringelten sich ohrlange, schokobraune, weiche Locken; die Augen wurden von langen schwarzen Wimpern bekränzt und seine Wangen mit zarten Sommersprossen verziert. Also, sein gutes Aussehen konnte man ihm gewiss nicht abschreiben. Aber er war eben ein typischer 17-jähriger – seine Gedanken drehten sich um Autos, Alkohol und Frauen. Woher ich das weiß? Er sprach von nichts anderem – also, na ja, fast. Er redete ständig von Mädchen. Und versauten oder zumindest anzüglichen Sachen. Ja, ok, im nächsten Satz schwärmte er von den Schreibfedern am Stand nebenan, also hatte er vielleicht noch ganz wenige andere Dinge im Kopf – sonst wäre er ja auch nicht auf dem Mittelaltermarkt.
Er kam also her wie ein Frosch in Robin Hood Kostüm und war irre stolz, uns gleich gesehen zu haben. Noch viel stolzer war er allerdings, Mitwirkender zu sein.

Dieser lästige Elftklässler, auch bekannt unter dem Namen Adrian, lief uns nun also hinterher wie ein kleiner treuer Dackel, und das, obwohl er ganz offensichtlich nicht sehr an dem ganzen Schmuck interessiert war – und erst recht nicht an den nackten Oberkörpern. Ständig erzählte er uns, was er alles Tolles besäße oder prahlte damit, dass er das Schwertkämpfen besser beherrsche als die Jungen, die sich auf der Wiese mit Holzschwertern bekämpften. Außerdem fand er sehr viel Gefallen daran, eine von uns, Verena, zu kitzeln. Er tat es ständig und überall – richtig nervig eben.
Nach einer zweiten Runde um den Markt – inzwischen hatten wir Unterstützung von einem weiteren Mädchen namens Claudia bekommen – breiteten wir unsere Umhänge auf der Wiese in der Mitte des Platzes aus und legten uns darauf, um uns ein wenig zu erholen – nicht nur vom Laufen. Auf meinem Umhang lagen wir zu zweit; die anderen kuschelten sich zu dritt auf einen weiteren Umhang. Froh darüber, endlich wieder Ruhe zu haben – nunja, ICH war froh darüber – unterhielten wir uns über den Jungen im grünen Shirt, der geschätzte sechs Meter weiter rechts auf der Wiese saß. Seine hellbraunen Haare lockten sich spiralförmig bis auf die Schultern, was wirklich gut aussah.
Kurz darauf gingen einige von uns wieder fort; sie wollten sich etwas zu essen kaufen oder „mal für kleine Burgfräulein“. Mit meiner Erklärung, dass sie dem Schild „Austritt“ folgen sollten, wurde ich zwar anfangs mit ungläubigen Augen angesehen; aus der Dringlichkeit heraus schienen sie mir aber zu glauben. Nun waren wir also nur noch zu zweit; Verena und ich dösten auf meinem Umhang und genossen die Frühlingssonne.
Auch wenn ich mich innerlich noch etwas über Adrian aufregte, bald schweiften meine Gedanken ab und flogen mit dem lauen Wind davon. Nur vage bekam ich mit, dass die anderen drei wiederkamen, und das auch nur, weil ich den Geruch ihrer Bratwürstchensemmeln wahrnahm. Vielleicht war ich sogar kurz vor dem Einschafen; auf jeden Fall erschrak ich ganz schön, als uns jemand ansprach.

„Das passiert wenn man die Nacht durchfeiert – man schläft mitten am Tag auf einer Wiese ein.“
Ich zuckte innerlich zusammen. Wollte er nicht seinem Vater am Stand helfen? Noch überlegte ich, ob ich nicht einfach meine Augen geschlossen und die Klappe halten sollte. Aber bevor ich mich für oder gegen diese Idee entscheiden konnte, sprach Adiran schon weiter:
„Rutscht mal ein bisschen ihr beiden, ich will mich auch sonnen!“
Was? Auf meinem Umhang? Wenn wir doch zu zweit schon nicht übermäßig viel Platz hatten? Und noch bevor ich reagiert hatte legte er sich zu uns – glücklicherweise nicht neben mich, sondern auf die andere Seite. Verena rutschte notgedrungen weiter zu mir, und ich verwährte ihr den Platz nicht, war doch auch ich gegen die enge Gesellschaft des Elftklässlers. Sie legte letztendlich ihren Kopf auf meine Seite – sie war sowieso kleiner als ich – und rutschte so weit weg von unserem Besuch wie nur möglich. Dadurch kam sein Gesicht in mein Blickfeld.

„Du hast grüne Augen“, stellte ich wehmütig fest. Sie hatten die Farbe von Jade. Ein helles, aber intensives grün, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wieder stachen auch die langen schwarzen Wimpern hervor.
„Ja“ war alles, was er darauf antwortete. Sein herzliches Lächeln wich ihm nicht von den Lippen, und die Sommersprossen passten perfekt ins Bild. Die grünen Augen funkelten mich weiter an.
Nach ein paar weiteren Sekunden bemühte ich mich, meinen Blick von ihm zu wenden, um nicht negativ aufzufallen. Irgendwie war er doch nicht so blöd wie ich dachte. Gerade wirkte er ganz natürlich... fast normal möchte man sagen! Ich wollte es zwar erst nicht wahr haben, aber das plötzliche Pochen meines Herzens offenbarte mir eine gewisse Sympathie für ihn – weshalb auch immer. Ich schielte noch einmal in seine Richtung, und als ich sah, dass er seinen Kopf immer noch in meine Richtung gedreht hatte, guckte ich verstohlen weg.

Bei diesem einen vertrauten Moment schien es leider vorerst zu bleiben. Er verschwand von jetzt auf gleich spurlos, und wir zogen weiter unsere Runden vorbei an verschiedensten mehr oder weniger brauchbaren Gegenständen auf dem Mittelalter – und immer wieder, wenn ich mich unbeobachtet glaubte, hielt ich Ausschau nach einem grünen Filzhut. Bei den Germanen hielten wir ein echtes Schwert in der Hand, genauer gesagt einen schweren Zweihänder – fast zu schwer für manche Mädchen unter uns. Am größten Stand des Marktes setzten wir uns Normannenhelme auf und fotografierten uns gegenseitig kichernd in unseren spärlichen Kriegerkostümen; dann gingen wir nochmals zum Ritterlager, um heimlich die Männer anzuschmachten und rasteten letztendlich am Ausgang des Lagers, um Muskeln und lange Haare noch etwas länger bestaunen zu können. Wir diskutierten angeregt über die positiven und negativen optischen Eigenschaften vieler Gewandeter und dachten uns Geschichten zu ihren mittelalterlichen Charakteren aus. Gerade waren wir im Gespräch über einen muskulösen Schotten mit langen blonden Haaren und einem echten Kilt, als wir zur Abwechslung einmal wieder in unseren Schwärmereien gestört wurden.
„Ich kenne den blonden Schotten. Leider muss ich euch sagen dass er verheiratet ist – der wird sich nicht ganz so einfach verführen lassen.“
Mir war noch gar nicht aufgefallen, dass seine Stimme so angenehm und einzigartig war. Vorher kam sie mir immer nur sehr eigenartig vor. Das war sie zwar immer noch, doch hatte sie auf unbeschreibliche Weise eine beruhigende Wirkung. Vielleicht, weil sie mir langsam vertraut wurde?
„Was willst DU denn schon wieder hier? Wolltest du nicht deinem Vater helfen und Geld verdienen?“, stellte Verena fragend fest.
„Ich wollt ja nur mal nach euch sehen und aufpassen, dass ihr nicht über irgendwelche Ritter herfallt. Und wie es scheint, tue ich ganz Recht damit auf euch aufzupassen!“, entgegnete er mit einem verschmitzten Grinsen. Dann ließ er sich elegant neben uns in einem Schneidersitz auf die Wiese nieder.
„Ich such nich mal das „Abtritt“ – Schild, da ist es schöner als bei dem“, antwortete Verena. „Geht jemand mit?“ Mit diesen Worten erhob sie sich wie auch Kati und Patricia; geschlossen gingen sie in die besagte Richtung und verschwanden alsbald um eine Ecke. Zu dritt blieben wir am Eingang des Lagers zurück.
Ich bereute es, den anderen von meiner Idee, ihn mit Robin Hood zu vergleichen, erzählt zu haben. Claudia, die mit mir sitzen geblieben war, diskutierte nun mit ihm darüber, ob diese Aussage richtig sei. Sie erzählte ihm zwar nicht, dass der Vergleich von mir stammte, ich fühlte mich trotzdem etwas unwohl dabei. Um meine Verlegenheit nicht preiszugeben, hütete ich mich, irgendetwas zu sagen – zu schnell hätte meine Stimme etwas verraten. Außerdem sah er jetzt, ohne seinen Hut, gar nicht mehr so aus. Während sich die anderen beiden angeregt unterhielten, tat ich so, als beobachtete ich angestrengt die vorbeilaufenden Besucher; tatsächlich belauschte ich allerdings ihr Gespräch und schielte ab und zu in die Richtung, in die ich viel lieber gestarrt hätte. Durch seinen Hut wurden die Locken wohl etwas nach unten gedrückt; jetzt schienen die Haare noch etwas kürzer zu sein. Das Muster, dass die späte Nachmittagssonne im Spiel mit den Blättern der Schatten spendenden Bäumen auf ihn malte, tanzte in kleinen Lichtreflexen über sein Gesicht. "Also, sein gutes Aussehen konnte man ihm gewiss nicht abschreiben." Dachte ich, als er angehüpft kam. Ich werde mich verbessern: Er sah ungeheuerlich gut aus.
Ich vergaß wohl etwas mein Umfeld, als ich das Schattenspiel beobachtete; glücklicherweise sah ich ihn sehr unauffällig an und man hätte genauso denken können, ich würde das Gespräch aufmerksam verfolgen. Letztlich kehrte ich in die Realität zurück, als die Anderen wiederkamen.
„Jetzt bist du immer noch da? Sag mal, merkst du nicht, dass du nervst?“, ging ihn Verena an, das scheinbar kein Fan von Adrian war. Ärgerlich warf ich ihr einen möglichst bösen Blick zu – zu meinem Unglück war sie nicht die einzige, die ihn wahrnahm. Das ganze lockenumgebene Gesicht reagierte auf meine Mimik – er zog seine Augenbrauen etwas ungläubig nach oben, seine Augen strahlten und sein Mund verzog sich zu einem übertrieben schiefen Grinsen. Ich sah verschämt zu Boden, in der Hoffnung, dass die Farbe meines Gesichtes nicht innerhalb der nächsten Sekunden in ein intensives rot wechselte. Die Hoffnung war nicht sehr groß, und an der Reaktion der anderen Mädchen sah ich, dass sie ebenso vergebens war.
Plötzlich erhob sich Adiran. „Ich sollte vielleicht wieder meinem Vater helfen. Man sieht sich“. Seine Worte waren trocken und ernst, doch das Lächeln wollte nicht ganz verschwinden. Dann ging er zielstrebig davon.
Wehmütig sah ich ihm hinterher, bis er zwischen den Zelten verschwand. Als ich mich wieder zu den anderen Mädchen umdrehte, stockte mir der Atem. Ich wurde mit gemischten Gefühlen erwartet: Während drei von ihnen ein spekulierendes Lächeln nicht unterdrücken konnten, sah mich die Vierte mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an.
„Was ist denn mit DIR los?“, war das erste, das ich gefragt wurde. Mein Blick warf wohl oder übel Fragen auf, ich starrte aber nur auf den Boden vor mit und errötete erneut. Patricia antwortete an meiner Stelle:
„Sie findet unseren Robin wohl etwas sympathischer als du.“ Das Grinsen auf ihren Lippen wurde dabei mit jedem Wort breiter.
Und ich – ich zählte die Grashalme vor meiner Nase.
„Achso, DAS ist mit dir los – das Mädel ist verliebt!“ Das Wort traf mich wie ein Schlag – verliebt.
„Also, verliebt würde ich es nicht nennen“, waren meine ersten Worte zum Thema. Auf eine Antwort brauchte ich nicht lange zu warten:
„nein, wirklich nicht. Bis über beide Ohren verliebt. Ja, das trifft es tatsächlich besser.“
18, 19, 20. Ich zählte die Grashalme weiter.
Zu meinem Glück beließen die Anderen es dabei und ich musste nicht noch mehr Ausreden vor mich hin stottern. Stattdessen packten wir wieder unsere Sachen. Ein Teil des großen Marktes wartete noch auf unseren Besuch – die Ausstellung mittelalterlicher Nutz- und Haustiere. Kein anderer Bereich wäre wohl besser geeignet gewesen, die Aufmerksamkeit von 16-jährigen Mädchen auf sich zu ziehen – trotzdem musste ich zwischen Lamm und Hausschwein einige Sticheleien hinnehmen. Aber wenigstens nur dazwischen und nicht, wie erwartet, die GANZE Zeit.
Hatte ich die Tiere bisher nur oberflächlich betrachtet, so blieb ich nun bei einem prächtigen Pferd stehen: sein Fell glänzte in schwarzbraun, die Mähne und der Schweif waren dunkler als manch sternlose Nacht. Das Tier war riesig, ich ging ihm gerade bis zu den Schultern, und sein ganzer Körper – selbst die Fesseln – berichteten von einer unglaublichen Stärke. Die Muskeln waren so präsent, dass sie ein beeindruckendes Muster auf dem Körper hinterließen.
Als das Pferd leise schnaubte, wurde ich in die Realität zurückgeholt. Die anderen Mädchen waren schon sehr viel weiter – ich hastete nun an Zäunen und Käfigen vorbei, um eilig wieder aufzuschließen und niemanden auf meinen Zwischenstop aufmerksam zu machen.
Es waren mehr Tiere da, als wir erwartet hatten, und noch bevor wir wieder zurück am Hauptplatz waren, bemerkte Kati die Uhrzeit. In fünf Minuten würden sie und ich abgeholt werden. Da die restlichen drei auch bald nach Hause mussten, gingen wir geschlossen Richtung Rathaus – dort wollte mein Vater auf uns warten.
Wir eilten also an den Tieren vorbei, quer über den Platz und schlängelten uns dann durch die Besucher, die an den Ständen beschäftigt und so auch leider im Weg waren. Gerade noch pünktlich waren wir am Rathaus angelangt, von meinem Vater, der uns nach Hause fahren sollte, noch keine Spur. Um die strömenden Massen nicht zu blockieren, suchten wir uns einen Platz etwas abseits des Weges.
„Abhauen, ohne sich zu verabschieden? Jaja, so haben wirs gern.“
Mir stockte der Atem. Diese eine Stimme war mir in so wenigen Stunden so vertraut geworden. Insgeheim hatte ich zwar gehofft, sie an diesem Abend noch einmal zu hören, wirklich damit gerechnet hatte ich allerdings überhaupt nicht.
Ich war mir nicht sicher, ob ich der Stimme hätte antworten können, ohne, dass meine eigene dabei abbrechen würde. Letztendlich waren andere sowieso schneller.
„Wir hatten es eilig; wir müssen nach Hause“. Es verwunderte mich, dass gerade Verena antwortete – und sich sogar noch Mühe gab, ihre Abneigung gegen ihn nicht zum Ausdruck zu bringen.
Ein Lächeln war die einzige Antwort, die sie bekam.
In der Masse erspähe ich meinen Vater.
„Da ist er, wir können gehen“, brachte ich wie automatisiert hervor. Meine Stimme war dabei nicht mehr als ein etwas lauteres, furchtbar zitterndes Flüstern. Währenddessen zeigte ich in die Richtung, in der ich inzwischen auch unser Auto entdeckt hatte. Wir wendeten uns gerade zum Gehen, als ich vor Schreck erstarrte.
„Das Pferd heißt Ludwig – nach Ludwig dem XIV, du weißt schon. Ein stattlicher Hengst; er gehört dem blonden Schotten. Der ist ein Freund meines Vaters, also, falls du Sehnsucht nach dem Tier hast, vielleicht kann ich da vermitteln.“
Ich wagte es nicht, auch nur ein einziges mal zu atmen. Adrian war ganz nah an mein Ohr gekommen und hatte über meine Schulter gesprochen, und das, was er mir sagte, hauchte er. Bei jedem Wort spürte ich die Wärme seines Atems in meinem Nacken.
Gegen jede Vernunft drehte ich mich um – gegen jede Vernunft, denn mein Gesicht sprach wohl Bände über meine Überraschung, meine Verlegenheit.
Und er? Nunja, Standardantwort: Ein umwefendes, strahlendes, leicht schiefes Grinsen.
Errötend sah ich zu Boden.
„Du fällst auf, wenn du den Anderen nicht hinterherläufst“, flüsterte er mir zu. Ich spähte hinter mich; es lagen wohl schon etwa zehn Meter zwischen uns.
„Ich geh dann mal“, antwortete ich möglichst gelassen – obwohl ich nicht sehr viel Hoffnung hatte, wirklich ruhig zu wirken. Wie auch, wenn mein Herz so laut schlug, dass er es mit Sicherheit deutlich hörte.
Noch einmal sah ich ihn an, und wider meinen Erwartungen war da jetzt kein Grinsen mehr auf seinen Lippen. Stattdessen schien mich sein Blick auf völlig angenehme Art und Weise zu durchbohren.
„Überleg’ dir das mit meinem Angebot“, sagte er, nun wieder mit voller Stimme.
Angebot? Ich sah ihn fragend an. Er verstand.
„Ludwig.“ Er versuchte, das Grinsen zu unterdrücken. Als er aber die Erleuchtung in meinen Augen aufblitzen sah, musste er lachen.
„Nun denn, ich denke, wir sehen uns.“
„Ja.“ Ich drehte mich um und kämpfte mich möglichst schnell einen Weg durch die Besucher. Wenn ich mich nicht beeilte, würden die Anderen mein Fehlen spätestens am Auto bemerken. Den Ausgang hatte ich schon hinter mir gelassen.
Als ich endlich bei den Anderen war, holte mein Vater schon den Autoschlüssel aus der Tasche. Bevor ich letztendlich ins Auto stieg, spähte ich zum Rathaus – dort stand niemand, den ich kannte.

2



Was war eigentlich in mich gefahren? Gestern hatte ich mich von diesem Elftklässler und seinem Charme einwickeln lassen wie ein toter Fisch. Und ich hatte mich benommen wie es peinlicher nicht mehr ging. Und nach diesem äußerst unangenehmen Auftritt würde ich ihm heute in der Schule begegnen.
Ich stand im voll gefüllten Schulbus, zwischen kleinen Kindern und Büchertaschen eingezwickt. Nicht, dass ich etwas gegen Kinder hätte, aber diese laut schreienden Fußballnarren um mich herum störten mich dann doch ein klein wenig.
Heute war ausgerechnet Montag. Montag! Heute würden wir ihn bestimmt sehen – in der zweiten Stunde schon. Da hatte er nämlich auch Chemie, im Zimmer nebenan; und jeden, wirklich jeden Montag kam er vor der zweiten Stunde an uns vorbei, um eine von uns in die Seite zu pieksen und zu kitzeln. Wunderbare Aussichten für den heutigen Tag!
Der Bus hielt. Waren wir etwa jetzt schon da? Meine Überlegungen hatten zu viel Zeit in Anspruch genommen, eigentlich wollte ich für die erste Stunde lernen – Erdkunde. Das war wohl jetzt überflüssig – in ziemlich genau sieben Minuten würde der Unterricht beginnen. Ich ging also schnurstracks zu unserem Klassenzimmer, dessen Tür schon aufgesperrt war, setzte mich auf meinen Platz in der zweiten Reihe und bereitete mich seelisch auf weitere Fragen oder zumindest einigen Andeutungen vor. Wie ich aber sogleich feststellen sollte, war eine von meinen gestrigen Begleitern krank, und zwar genau die, von der ich das Fragegewitter auf mich zustürmen sah. Das blieb mir also erspart.
Trotzdem erreichte mich nach etwa 15 Minuten Unterricht ein kleiner Zettel:
Du willst also was von unserem Robin Hood? Übrigens hab ich mitbekommen, dass du noch bei ihm geblieben bist. Habt ihr euch geküsst?


Ich bekam einen Hustenanfall, als ich ihn las. GEKÜSST? Schnell kramte ich einen Stift aus meinem Mäppchen.
Nein, will ich nicht. Und nein, wir haben uns nicht geküsst!!!


Die nächste Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Wieso denn jetzt auf einmal doch nicht?


Welch dumme Frage.
Vielleicht, weil er ein Idiot ist? Vielleicht, weil er typisch Junge ist – Frauen, Autos, Fußball?


Hätte ich das nur nicht geschrieben.
Autos? Fußball? Stimmt doch beides nicht. Und dass er sich für Frauen interessiert, das ist ganz normal. Das war gestern so süß mit euch!


Ich gab ihr den Zettel ohne Antwort zurück. Wir waren nicht süß gewesen. Er war aufdringlich und ich hatte mich total angestellt. Ich hoffte inständig, dass er der gleichen Meinung war wie ich.
Die restliche Erdkundestunde wurde ich nicht weiter mit Fragen durchbohrt. Jedoch war mir sehr wohl bewusst, dass mit jedem Ticken der Wanduhr die Begegnung mit ihm näher rückte. Was mir ziemliche Bauchschmerzen bereitete.
Ich war kein Freund vom Erdkundeunterricht, und erst recht konnte ich den dazugehörigen Lehrer nicht leiden. Aber als es zum Stundenende klingelte, war ich fast ein wenig traurig. Die vier Wände des eigenen Klassenzimmers boten mehr Schutz, als ich es jemals gedacht hätte.
Aber es half nichts. Ich packte meine Sachen zusammen, wartete auf meine Banknachbarin und wir gingen gemeinsam zum Chemiesaal – nach meinem Empfinden viel zu schnell.
Als wir die große Aula betraten, in deren Erdgeschoss sich die drei Chemiesäle befanden, atmete ich erleichtert auf – am Zimmer neben unserem stand noch niemand. Wir schlenderten also zu unserem Ziel – Bedauernswerterweise war die Tür noch zu. Ich wollte ihm doch aber nicht begegnen…
Da kam mir die rettende Idee.
„Möchte jemand noch schnell mit auf die Toilette kommen?“ Es war zwar nur eine alberne Ausrede, aber dafür würde ich den Gestank in Kauf nehmen. Natürlich begleitete mich jemand, und stolz auf meinen Plan eilte ich mit ihr den Gang entlang. Zu spät wollte ich gewiss nicht kommen, das gab womöglich Ärger.
Als wir beide wieder auf dem Weg zurück waren, kamen mir die Zweifel: War er jetzt wirklich schon im Klassenzimmer? Aber ich konnte nicht darauf warten, denn erstens würde es meiner Begleitung auffallen und zweitens meinen Chemielehrer verärgern. Letztendlich bogen wir um die Ecke, und in dem Moment, in dem ich die offene Tür unseres Saales erblickte, stockte mir der Atem: Denn daneben standen Robin und meine Banknachbarin. Sie wendete sich gerade von ihm ab, ich hatte allerdings gesehen, wie er ihr einen Zettel zugesteckt hatte. Da ein Großteil meiner Klasse noch vor der Tür stand, beeilte ich mich möglichst nicht, denn, wie gesagt, ich vermied jegliche Begegnung mit ihm. Glücklicherweise verschwand er kurze Zeit später zwischen seinen Klassenkameraden – der Weg zu Chemie war frei.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich meine Freundin auf den mysteriösen Zettel ansprechen sollte. Eigentlich war ich zu neugierig, um es nicht zu tun, allerdings fürchtete ich mich gleichzeitig davor. Was wollte er von ihr? Oder gar sie von ihm? Ich wurde daraus nicht schlau. Da ich sicherlich lieber zu wenig wissen wollte als zu viel, verschwieg ich, dass ich die Übergabe mit angesehen hatte.
Chemie war schön. Immerhin hatte es mit Denken, Verknüpfen und Lernen zu tun, und es war so herrlich verständlich – ganz im Gegensatz zu solchen Dingen wie Gefühle. Durch meine Begeisterung für das Fach vergaß ich nun für 45 Minuten alle Robin-Hood-Probleme.
Und dann klingelte es. Wie ein Schlag kamen alle Erinnerungen, alle gemischten Gefühle wieder hoch. Mein Magen zog sich zusammen. Aber ich war doch gar nicht… mich ging dieser Typ doch überhaupt nichts an!
Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als den Chemiesaal zu verlassen – ich konnte ja schlecht meinen Lehrer darum bitten, mich unter seinem Tisch zu verstecken.
Da kam mir eine Idee – hastig packte ich alles in meine Büchertasche und drängte die Anderen förmlich aus dem Saal, um schnellstmöglich mit ihnen zu unserem Klassenzimmer zu gehen – vielleicht würde der Lehrer von nebenan ja ein wenig überziehen, und, was fast noch besser war, selbst, wenn er es nicht tat, ich würde im Pulk meiner Klasse ungesehen bleiben und so einer Begegnung entgehen.
Vor der vertrauten Holztür unseres Zimmers glaubte ich mich in Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass ER in genau dieser Stunde genau im Zimmer neben uns Unter…
„Du hast ja einen Sonnenbrand von gestern!“ Ich biss mir aus Versehen auf die Zunge. Diese allzu geringe Wahrscheinlichkeit war wohl nicht klein genug. Hinter mir stand – oh welch ironisches Schicksal – der gefürchtete Elftklässler. Wieder zog sich mein Magen zusammen. Diese Stimme…
„Hallo? Jemand anwesend?“ Ich hörte genau, wie breit sein Grinsen gerade war. Sehr breit.
„Oh, ähm, ja, hallo“, stotterte ich hilflos vor mich hin. Man, war das wieder peinlich!
„Tut´s denn sehr weh?“, fragte er, seinem Blick nach zu urteilen mit echter Neugierde und einem Stück Mitleid.
„Weh tun? Was?“ Ich wusste nicht, was er meinte.
„Na, der Sonnenbrand, der deine Schulter ziert!“ Langsam entwickelte sich das Grinsen wieder.
„Ach so, der… ne, da ist nichts“, log ich verlegen. Ich wollte ja nicht wie das letzte Weichei dastehen. In Wahrheit war jeder Schritt mit der Büchertasche, deren Riemen am Sonnenbrand rieben, die reinste Qual.
„Sicher? Das sieht echt schlimm as!“ Wieder der besogte Blick.
„Das geht schon“, versicherte ich ihm.
„Na dann“, antwortete er, wohl nicht ganz davon überzeugt. Nachdem er sich kurz umgedreht hatte, wandte er sich wieder zu mir:
„Du, mein Lehrer kommt. Man sieht sich!“ Und mit diesen Worten schenkte er mir wieder ein umwerfendes, strahlendes Lächeln. In diesem Moment wusste ich wieder, warum ich mich gestern hatte um den Finger wickeln lassen.
Ich starrte ihm noch kurz hinterher, bis mir jemand die Sicht versperrte – meine Lehrerin.
Sie führte mich zurück in die Realität: Unterricht.
Nachdem sie ihren Schlüssel aus der Tasche gekramt hatte, sperrte sie unser Klassenzimmer auf. Noch immer etwas benommen ging ich auf meinen Platz und holte meine Geschichtssachen aus der Büchertasche. Dann setzte ich mich hin.
Dieser Elftklässler war mir wohl doch nicht ganz egal. Nein, ganz sicher nicht. Aber… wieso?
„Wir haben jetzt Mathe!“, flüsterte mir meine Banknachbarin zu. Ups.
„Oh, ja, danke“, murmelte ich, bevor ich die Schulsachen schnell austauschte. Ich war wohl etwas verwirrt.
Der restliche Schultag ging ziemlich an mir vorbei. Ich wurde nicht abgefragt, wir schrieben keine Exen, und es passierte zumindest nichts, was besonders lustig oder besonders ärgerlich war – das hätte ich wahrscheinlich noch so nebenbei mitbekommen.
Zu Hause angekommen, erledigte ich widerwillig meine Hausaufgaben. Der Anruf meiner Freundin kam mir da ganz gelegen.
„Hey, sag mal, hast du Lust, später noch mit mir in dieses süße italienische Café in der Nähe vom Einkaufszentrum zu gehen?“
„Öhm, ja, gute Idee. Sonst versauere ich noch hier an meinem Schreibtisch! Wann willst du denn hin?“
„Wie wärs mit 16 Uhr? Ein Nachmittagskaffee?“
Ich sah auf die Uhr.
„Tee. 16 Uhr geht klar, aber nur mit Nachmittagstee!“, lachte ich – ich konnte den bitteren Geschmack von Kaffee auf den Tod nicht ausstehen.
„Ja, ok“, kicherte meine Freundin am anderen Ende der Leitung.
Wir verabschiedeten uns, und nachdem ich aufgelegt hatte, räumte ich meine Schulsachen zusammen. Meinen Geldbeutel wie mein Handy verstaute ich in meiner Handtasche – nicht, dass ich so ein typischer Handtaschensuchti wäre, nein, dieses gute Stück war schon alt – aber nutzbar und nebenbei sogar ansehnlich.
Ich blickte erneut auf die Uhr: Eine knappe Stunde hatte ich noch. Da ich aber nichts mehr tun musste, beschloss ich, schon früher loszugehen. Dafür würde ich auf den Bus verzichten und den Weg durch den Park nehmen – was ungefähr 20 Minuten zu Fuß bedeutete. Doch das Wetter war schön, und frische Luft bekanntlich gesund – außerdem hätte ich etwas zu tun. Gut, dass meine Eltern erst später heimkommen würden – das ersparte mir wertvolle Zeit, die sonst für Diskussionen über Hausaufgaben, Lernen und Verantwortung draufging. Trotz alledem würde ich wohl eine halbe Stunde zu früh da sein – kurzerhand packte ich also noch ein Buch in meine Tasche.
Der strahlende Sonnenschein lockte die ganze Stadt aus den Häusern: Im Park spielten ein paar Jungs Fußball, junge Mütter fuhren mit ihren Kinderwägen die Wege entlang und tauschten die besten Hausfrauentipps aus und Menschen jeden Alters gingen hier spazieren, um die Sonne zu genießen. Es war wirklich ein schöner Tag.
An meinem Ziel angekommen bedauerte ich etwas, dass das Café keine Außenplätze besaß. Schließlich schritt ich durch die hölzerne Eingangstür und betrat das wundervolle, mediterrane Café. Schnell fand ich einen schönen Tisch in der nähe der Bar. Dort setzte ich mich auf eine der sandfarbenen Ledersitzbänke und holte mein Buch hervor. In Cafés zu lesen war viel schöner als überall sonst, aber wieso, das wusste ich nicht.
Noch bevor ich allerdings mir der ersten Seite fertig war, quietschte etwas neben mir. Neugierig blickte ich auf und fand neben meinem Tisch ein kleines Mädchen mit knallroten Kringellocken vor. Sie musste etwa zwei Jahre alt sein. Als ich sie anlächelte, quietschte sie noch einmal fröhlich. Ich rutschte auf der Bank zu ihr hin.
„Hallo, Kleine“, sagte ich, während ich mein Buch wieder zur Seite legte.
Wieder gab sie einen hohen Ton von sich – dann rannte sie davon. Lachend sah ich ihr nach, wie sie hinter der Bar verschwand. Als sich eine der Angestellten dort nach unten beugte, wurde mir klar, dass das Mädchen wohl hier her gehören musste.
Ich wollte mich gerade wieder meinem Buch zuwenden, als ich in meinem Augenwinkel wieder das Kupferrot aufblitzen sah. Kaum wendete ich mich wieder zu ihr, quietschte sie erneut.
Hinter dem Mädchen erschien ihre vermeindliche Mutter.
„Julia, lass die Kunden in Ruhe!“ Sie zog das Kind zu sich, dann richtete sie sich an mich.
„Entschuldigen sie bitte! Ich musste sie heute leider mit hier her nehmen.
Ich aber verteidigte die Kleine. „Nein, nein, schon gut. Sie können die gerne bei mir lassen“ Ich kümmere mich um sie.“
„Wirklich? Danke, danke! Das ist total nett von Ihnen“, sagte sie, mit einem Hauch von Staunen in ihrem Gesicht.
„Nichts zu danken, Frau…“ Fragend sah ich sie an.
„Einfach Maria“, antwortete sie.
„Ok. Ich kümmere mich schon um Julia, keine Sorge.“
Die Kleine war wirklich zuckersüß. Erst laß ich ihr aus meinem Buch vor – auch, wenn es kein Kinderbuch war, aber es stand nichts verwerfliches darin – und als sie keine Lust mehr hatte, kitzelte ich sie durch. Ihr Lachen war dabei so hell wie das klingeln kleiner Silberglöckchen. Julia machte mich glücklich – mit ihr vergaß ich die Zeit.
Diese holte mich ein, als auf einmal meine Freundin vor uns beiden stand – ebenfalls nicht alleine.
Was zur Hö… was machte dieser Typ schon wieder hier?
„Hey Sarah, du ist ja auch schon da“, stellte meine Freundin fest.
„Ja“, sagte ich abwesend. Auf einen Schlag machte alles einen Sinn. Vor Chemie. Der zettel. Und dass sie urplötzlich mit mir Kaffee trinken wollte, hatte mich auch etwas verwundert. Diese Kupplerin.
„Hallo“, sagte der unerwünschte Besuch. Er und meine Freundin betrachteten Julia mit Neugierde.
„Ich wusste nicht, dass das mit dem Kinder kriegen so schnell geht“, flüsterte er mir zu, auf seinen Lippen sein verzauberndes Lächeln. Er trat näher und strich Julia über ihre Lockenpracht. Mir wurden die Knie weich.
„Ausgeliehen“, brachte ich mühsam hervor. „Julia ist ausgeliehen“, sagte ich nun mit einer nur wenig kräftigeren Stimme. Bevor ich weiter redete, atmete ich einmal tief durch. Irgendwie musste ich mich ja zur Ruhe zwingen, denn durch das große Gewirr aus Gedanken und Gefühlen brachte ich keinen normalen Satz mehr raus.
„Die Tochter einer Angestellten hier“, stotterte ich weiter.
Sogar die kleine Julia bemerkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Als ich die Ratlosigkeit in ihrem unschuldigen Kindergesicht sah, beschloss ich, mich für sie zusammenzureißen.
„Setzt euch doch hin“, forderte ich die beiden auf.
„Gugg Julia, das ist meine Freundin Michi“, erklärte ich, während ich auf sie zeigte, „und das“, mein Finger wanderte weiter, „ist der Adrian.“
Julia beobachtet die beiden neugierig, als sie gegenüber Platz nahmen. Mit jeder ihrer kleinen Bewegungen fingen ihre roten Locken an zu tanzen.
„Die ist ja echt süß“, stellte Michi fest; dabei schenkte sie der Kleinen ein herzliches Lächeln. Julia aber schein andere Leute interessanter zu finden – sie kommunizierte mit unserem Robin: Erst grinste sie, dann zog sie ihren Mund zu einem Schmollen zusammen, darauf legte sie ihren Kopf schief. Adrian machte alles nach. Julia hatte wohl einen guten Geschmack!
langsam, aber sicher, gewöhnte ich mich an die Gesellschaft des Elftklässlers. Immer wieder sah ich verstohlen zu ihm hin, um festzustellen, dass auch er mich beobachtete und den Blick dann schnell wieder zu Michi oder Julia zu wenden. Inzwischen hatten wir uns etwas zu trinken bestellt: Einen Latte, zwei Mal Tee und ein Glas Wasser für die Kleine. Ja, auch Adrian mochte keinen Kaffee.
Julia war inzwischen ziemlich müde geworden – sie saß ruhig auf meinem Schoß mit dem Kopf an meine Seite gekuschelt und beobachtete uns – meistens aber den Jungen hier. Er versuchte immer, die bestmöglich zu unterhalten: Er schnitt Grimassen, grinste sie breit an oder machte komische Geräusche. Seine Wirkung auf kleine Kinder blieb niemandem verborgen.
Ich wusste nie so recht, was ich sagen sollte. Meistens redete ich nur, wenn ich etwas gefragt wurde – die größte Zeit aber lauschte ich dem Gespräch der beiden.
Er war schon wirklich süß. Er ging auf Mittelaltermärkte, war gut in der Schule, hatte ein gutes Händchen für Kinder und sah einfach zum anbeißen aus.
Die Erkenntnis kam aus dem Nichts: Er war zu perfekt, um keine Freundin zu haben!
Julia riss mich – glücklicherweise – aus meinen Gedanken. Sie krabbelte von meinem Schoß, ging auf die andere Seite des Tisches und kletterte dort auf die Sitzbank, um sich an Adrian zu kuscheln. Er war erst überrascht, legte dann aber seine Hand auf ihre kleine Schulter.
Ich war eifersüchtig. Auf beide. Julia hatte mich für ihn zurückgelassen und mein Schoß war leer; allerdings würde ich das auch tun, um meinen Kopf auf Adrians Schoß zu betten.
Julia sah mich müde mit ihren blauen Äuglein an, bevor sie ihr langsam zufielen.
Da blickte ich auf die Uhr: Es war schon halb sieben vorbei. In einer halben Stunde würde das Café schließen. So lange würde ich noch warten, um Julia nicht alleine zu lassen – ich hatte versprochen, auf sie aufzupassen, außerdem hatte ich sie in den wenigen Stunden sehr lieb gewonnen.
Ein lautes Klirren holte mich wieder aus meinen Gedanken – dem Kellner war eine Tasse hinuntergefallen. Meine Aufmerksamkeit galt allerdings Julia: Sie war noch nicht richtig eingeschlafen und deshalb furchtbar erschrocken, dass ihr ganzer kleiner Körper gezuckt hatte. Vor schreck fing sie das Weinen an.
Sofort war ich auf den Beinen, hob die Kleine auf meinen Arm und drückte sie an mich.
„Julia, alles ok, nichts passiert. Nicht weinen Julia. Bssst… alles ok meine Süße!“ ich beruhigte sie, schaukelte sie, während ihr Kopf auf meiner Schulter lag und Julia nicht aufhörte zu schluchzen. Den Schmerz, den die Berührung mit meinem Sonnenbrand auslöste, ignorierte ich.
„Julia? Julia, hör auf zu weinen.“ Ich erstarrte. Adrian stand hinter mir, ganz nah, und er streichelte über die tränennasse Wange der Kleinen. Ich dagegen musste mich darauf konzentrieren, weiterzuatmen.
Julia unterbrach ihr schluchzen und sah auf. Jeder hätte sich beruhigt, wenn er erst die tröstende Stimme gehört und dann den liebevollen Blick dieses Jungen gesehen hätte. Mir hätte wohl sogar seine Nähe gereicht – er war kurz davor, mich zu berühren. Die Kleine war währenddessen ganz ruhig geworden, sie schlang ihre Arme um meinen Hals und vergrub ihr Gesicht in meinem Haaren. Da sah ich, wie hinter Julias Retter ihre Mutter erschien.
„Normalerweise dauert es ewig, bis Julia nicht mehr weint. Wie habt ihr das geschafft?“, staunte sie. Ich wollte Adrian als den Zauberer darstellen, aber er fing schon das Sprechen an.
„Teamwork. Sarah nahm sie an sich und schaukelte sie, und meine Stimme brachte sie letztlich zum Schweigen. Eine wirklich reizende Tochter haben sie!“ Dabei war er todernst.
„Danke, ja, sie ist wirklich süß, vor allem, wenn man sie innerhalb einer Minute ruhig bekommt. Ich bin wirklich beeindruckt. Ihr habt nicht zufällig Lust, das hier öfter zu machen?“, fragte Maria, deren Angebot wohl an uns beide gerichtet war, denn ihr Blick wanderte vom einen zum anderen. Wieder war Adrian schneller.
„Also, ich würde es machen. Sarah?“ Wie sollte man bei den durchdringenden Blick nein sagen können? Schüchtern nickte ich also.
„Ihr bekommt natürlich was dafür. Bis jetzt hat es noch niemand geschafft, sie so gut zu beschäftigen und nie wurde sie so schnell wieder ruhig. Auch das soll honoriert werden!“
Sie wischte ihrer Tochter, die inzwischen ihre Mutter ansah, die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich mach jetzt Schluss, und Julia muss ins Bett. Könnt ihr jeden Dienstag kommen?“ Mit diesen Worten nahm sie Julia zu sich.
Ich blickte Adrian schüchtern an, dann nickten wir beide gleichzeitig.
„Sollen wir gleich nach der Schule kommen? Dann müssten wir nur hier Hausaufgaben machen.“, fragte er nun und nahm mir die Worte aus dem Mund.
„Das ginge? Ja, das wäre perfekt! Ach, und übrigens – eure Getränke heute gehen aufs Haus, als kleine Belohnung für heute“, merkte sie an.
Wir packten also unsere Sachen, bedankten und verabschiedeten uns. Als wir das Café verließen, war es schon etwas düster.
Nun wandte ich mich an Michi:
„Ich muss los, meine Eltern wissen gar nicht bescheid, und dann darf ich nur bis 19 Uhr. Wir sehen uns morgen in der Schule?“
„Ja, ich geh doch schwer davon aus“, lachte sie.
Zum Abschied umarmten wir uns. Ich drehte mich schon Richtung Bushaltestelle – nur mit dem Bus währe ich noch pünktlich zu Hause – als mir jemand auf die Schulter tippte.
„Und ich? Mir sagst du nicht tschüss?“, schmollte Adrian. Ich drehte mich um, und er streckte die Arme aus. Ich schluckte. Zögerlich machte ich es ihm nach und ging auf ihn zu. Die Umarmung war kurz, jedoch intensiv, und meine Sinne waren in diesem Moment geschärft. Zu schnell ließen wir wieder voneinander ab.
„Wir sehen uns“, murmelte ich, und nun ging ich stramm zur Bushaltestelle. Dort setzte ich mich hin und wartete. Die Eindrücke, die ich in diesem kurzen Moment in seinen Armen hatte, waren intensiv. Ich hatte seinen Geruch wahrgenommen – besser als „unheimlich angenehm“ konnte ich ihn nicht beschreiben. In diesem kurzen Moment umspielte uns ein lauer Windhauch. Erst in seinen Armen war mir aufgefallen, dass er ziemlich groß war – bei der Umarmung war mein Kopf nur etwas über seiner Schulter. Und es war kuschelig warm gewesen.
Und wieder überkam mich dieser Gedanke: Zu perfekt um nicht vergeben zu sein. Diese Überlegung schmerzte, denn ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Nun musste ich jeden Dienstag mit ihm verbringen, im Wissen, dass er zu perfekt war. Was hatte ich mir da eingebrockt.
Der Bus fuhr um die Kurve. Schnell kramte ich meinen Geldbeutel aus der Tasche. Dabei fiel ein Zettel aus meiner Tasche. Ich hob ihn auf und las:
Wir müssen uns ja noch für die Dienstage absprechen. Vielleicht bringen wir Julia ja irgendetwas zum Spielen mit, oder alte Kuscheltiere.


Darunter stand eine Nummer – eine Handynummer. Und in geschwungener Schrift, ganz unten auf dem Zettel:
Adrian.




3



Wieder und wieder starrte ich auf den kleinen Zettel. Er hatte ihn nicht hastig geschrieben, nicht spontan entschieden, mir noch schnell eine Nachricht zukommen zu lassen. Aber wann hatte er es getan? Vor dem Café wusste er noch nichts von Julia, und als wir uns mit der Kleinen amüsiert hatten, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Michi hatte den Zettel auch nicht geschrieben – ihre Schrift kannte ich. Es würde wohl ein Mysterium bleiben.
Der Zettel war geschnitten. Ein kariertes Stück Papier. 19 mal 12 Kästchen groß. Seine Nachricht hatte er mit blauer Tinte verfasst – sie an sich war nicht in einer außergewöhnlich schönen Schrift geschrieben – jedoch schöner als die meisten anderen Jungs jemals schreiben würden. Immer wieder zog mich allerdings das an, was ganz unten stand: Sein Name, mehr gemalt als geschrieben, mit perfekten Ausläufen und einer wunderschön geschwungenen Schrift.
Ich traute mich nicht, ihn anzuschreiben – anrufen stand erst garnicht zur Diskussion. Die Nummer hatte ich eingespeichert. Jedes Mal, wenn ich meine Namensliste durchgehen würde, würde sein Name als erstes erscheinen – Adrian eben.
Ein kurzes Seufzen entfuhr mir, als ich das Blatt unter dem heiligen Zettel erblickte: Meine Mathehausaufgaben. Die Ziffern und Variablen tanzten und verspotteten mich, denn durch meine Gefühlslage verstand ich noch weniger von Zahlen, Gleichungen und Funktionen als sonst. Letztendlich schlug ich das Buch wie meine Hefte zu und kapitulierte. Immerhin war es schon 22 Uhr vorbei – schlechte Zeit für Hausaufgaben.
Außerdem war ich todmüde. Ich hatte heute viel erlebt, zu viel, um wieder nur ein paar Stunden zu schlafen. Meinen Schlafanzug hatte ich nach dem Duschen schon angezogen, also putzte ich mir die Zähne, kämmte meine noch leicht feuchten Haare durch und krabbelte erschöpft unter meine Decke. Das Buch, das griffbereit auf dem Nachtkästchen lag, würde heute geschlossen bleiben. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich friedlich schlummerte.
Der laute, hohe und schräge Ton meines Weckers riss mich aus meinen Träumen. Wovon die gehandelt hatte, wusste ich zwar nicht; alles jedoch war besser als ein Dienstag in der Schule. Wirklich alles. Selbst mein Vater, wenn er singt. Und das musste was heißen.
Widerwillig setzte ich mich auf. Juhu. Diensttag! Langsam setzte ich einen Fuß af den Boden, dann den anderen. Der Spiegel an der Wand präsentierte mir verschmierte Schminke und zottelige Haare. Selber Schuld, wer sich nicht abschminkt und mit nassen Haaren ins Bett geht.
Ich wackelte, noch vom Schlaf benommen, ins Badezimmer, um mich mit einem Schwall kaltem Wasser endgültig aufzuwecken. Dann beeilte ich mich, die Unansehnlichkeiten möglichst gut zu beseitigen. Nach und nach kamen mir dabei die Erinnerungen an den gestrigen Tag, wenn auch nur etwas verschwommen. Das einzige, an das ich mich genau erinnern konnte, war dieser eine Moment der Umarmung: Sein Geruch, die Wärme, die sein Körper ausgestrahlt hatte, sein Atem in meinem Nacken und die unschuldigen, aber durchdringenden grünen Augen.
Durcheinander von meinen Gedanken packte ich die Schulsachen für den schrecklichen Tag zusammen: Mathe, Physik, Informatik, Latein und Religion. Informatik musste ich gleich zwei Stunden ertragen.
Die Natur von mir als verliebtes Mädchen wäre es gewesen, mindestens die Hälfte meiner Zeit damit zu verbringen, meinen Kleiderschrank auf geeignete Kleidung zu durchwühlen. Aber ich hätte in diesem Moment nicht sagen können, was ich an hatte. Es würde schon passen. Dafür bemühte ich mich, meine Haare, die immer noch in alle Richtungen abstanden, durch einen Zopf zu bändigen. Ich bereute es, die Haare gestern aus Faulheit nicht trocken geföhnt zu haben.
Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigte, dass ich es eilig hatte. Ich schnappte mir noch einen Apfel. Schwang die Büchertasche auf den Rücken und verlies das Haus. Mehr als die zehn Minuten bis zur Bushaltestelle würde ich für mein provisorisches Frühstück nicht brauchen.
Die Zeit bis zu Michis Ankunft vor dem Klassenzimmer ging ziemlich an mit vorbei. Als ich allerdings ihr Grinsen sah, das sie mir schenkte, wurde ich gewaltsam dazu gezwungen, nachzudenken.
Mist. Sie war die Kupplerin. Sie wollte etwas zu ihrer Idee hören. Und zum gestrigen Abend.
„Hallo Michi.“ Meine nicht vorhandene Begeisterung dafür, ihr jetzt Rede und Antwort stehen zu müssen, war nicht zu überhören. Sie setzte zwar einen mitfühlenden Blick auf, aber ich hatte keine Hoffnung, dass sie ablassen würde.
„Ja, du bist gut, auch wenn ich das nicht noch einmal zugeben werde“, fing ich an. „Und gestern war es ganz nett.“
„Soso, ganz nett. Man hat ja auch nicht gesehen, dass deine Augen geleuchtet haben, als er auf einmal dastand. Und nicht mal ich habe gemerkt, wie du das eine Mal die Augen erst verdreht und dann geschlossen hast. Als er Julia auf deinem Arm getröstet hat. Nein. Hab ich wirklich nicht gesehen. War ganz nett. Ja.“ Ganz so ironisch hätte sie das nicht sagen müssen Aber…
„Ja, du hast ja Recht.“ Ich blickte auf den Boden und wurde wahrscheinlich wieder rot.
Da nun aber Verena und Patricia, von mir illegalerweise Dici genannt, um die Ecke kamen, die vom ganzen gestrigen Tag keine Ahnung hatten, schwiegen wir nun. Ich wollte nicht noch jemanden, der mich ohne Unterbrechung ausfragte. Und das verstand Michi.
„Hallo Leute!“, begrüßte Verena und fröhlich. Wir umarmten uns, dann begrüßte ich Dici.
„Wir hatten gerade de voll coole Idee“, freuten die beiden sich.
Und dann erzählten die munter drauf los:
„Also, morgen ist doch Feiertag“, begann Verena. Dici setzte den Satz fort:
„Und da dachten wir uns, wir könnten uns doch heute Abend treffen. Bei mir.“
„Und außerdem“, beendete Verena den Schwall von Ideen, „könnten wir ja diesen Adrian einladen. Meinte Dici zumindest.“
Irgendwas machte ich gehörig falsch. Ich wurde ihn einfach nicht mehr los. Auch, wenn ich das eigentlich gar nicht wollte. Aber ich wusste, wie sehr ich mich in seiner Gegenwart wieder anstellen würde. Nämlich schrecklich – schrecklich peinlich!
Michi allerdings schien von diesem Plan restlos begeistert zu sein:
„Hey, das is echt ne prima Idee. Da können wir ihn ja gleich in der ersten Pause fragen! Aber, was wollen wir machen?“ Die drei stürzten sich nur so in die Organisation. Dann klingelte es zum Stundenbeginn, und gleich darauf kam auch schon der Mathelehrer um die Kurve. Da hätte ich mich lieber ausfragen lassen, als Mathe zu haben!
In dieser Stunde waren sowohl Planung als auch Neugierde erst einmal gebändigt. Matheunterricht hieß absolute Stille. Worüber ich im Übrigen heute sehr froh war. Aber wie das eben so mit den Mathestunden ist, als es zum Stundenende läutete, war ich total fertig. Die anderen drei präsentierten mir af dem Weg zu Physik ihre Pläne.
„Also, wir haben gedacht, wir könnten Filme guggen“, startete Dici.
Verena machte weiter: „Ja, und wir könnten Singstar spielen! Sarah, könntest du deine vielen Spiele mitbringen?“
„Ich weiß doch gar nicht, ob ich schon wieder weg darf.“ Ich biss mir auf die Zunge. Das hätte ich anders formulieren sollen!
„Wieso „schon wieder“?“, fragte Verena. So ungern ich sie auch anlog, ich tat es zu meiner Verteidigung – und ganz gelogen war es ja nicht.
„Na, ich war ja den ganzen Sonntag nicht zu Hause“, murmelte ich.
„Achso. Aber das erlaubt dir deine Mutter bestimmt. Wenn ja, dann bringst du’s mit, ok?“
„Ja, klar, Dici hat ja fast nichts.“ Ich versuchte mich in einem gemeinen Lächeln.
Und dann begann die Physikstunde.
Während die drei anderen Mädels nun per Zettelchen absprachen, wer was mitbringen wollte, vertiefte ich mich ganz in die Lateinvokabeln. Vielleicht würden wir heute was schreiben. So verging die zweite Stunde. Und als ich danach zum Computerraum gehen wollte, erinnerte mich Michi daran, was die drei vorhatten: Adrian besuchen. Ihn fragen, ob er den heutigen Abend mit uns verbringen wollte.
Nicht schon wieder zu ihm. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren würde, ihn zu sehen.
„Wisst ihr, ich müsste mal wo hin, und zwar ziemlich dringend… fragt ihr ihn, wir treffen uns oben bei Informatik.“
Mit diesen Worten begab ich mich in den ersten Stock. Ich sollte tatsächlich mal „wo hin“, bevor irgendjemand der drei auf die Idee kam, nachzusehen, ob ich nach der Treppe wirklich rechts abbog oder ob es eine faule Ausrede war und ich somit gleich nach links zum Computerraum gehen würde.
Bis die Anderen endlich kamen, war ich tierisch nervös. Wieso, das wusste ich nicht. Ich war doch gar nicht bei ihm gewesen! Gespannt wartete ich nun auf den Bericht – ihren fröhlichen Gesichtern nach hatte sie wohl Erfolg gehabt.
Und so war es auch. Er würde kommen. Und ich würde auch da sein.
Mit dieser Erkenntnis lebte ich den restlichen Schultag. Keine Lateinarbeit. Umsonst gelernt! Um 18 Uhr bei Dici. Eine halbe Stundefrüher käme Kati, die fünfte im Bunde, bei mir vorbei, denn ihr Weg und meiner waren beinahe derselbe. Ihr Vater lud mich ins Auto und wir fuhren zu den Anderen.
Dachte ich zumindest.
Es verwirrte mich etwas, als wir den Weg über den Bahnhof nahmen, und als wir dort am Parkplatz stehen blieben, verstand ich die Welt nicht mehr. Dann öffnete sich die Beifahrertür, und ein Mann – nunja, eigentlich ein älterer Junge, mit schokobraunen Locken und grünen Augen stieg ein. Ach du… Nun begriff ich. Ihn hatte ich schon komplett vergessen gehabt!
Ich fühlte mich, als ob mein Bauch mit einem Mal überfüllt war. Nein, nicht von Schmetterlingen. Nicht mal von Kanarienvögeln. Bussarde traf es wohl besser. Vorerst trübte sich sogar mein Blick, und reflexartig hielt ich eine Hand an meinen Bauch.
Gut, dass das keiner mitbekam.
Nur langsam gewöhnte ich mich wieder daran, ruhig zu atmen. Wir waren schon fast auf der Autobahn, als ich schließlich auch in der Lage war, den Gesprächen zu lauschen, anstatt mich unter Kontrolle halten zu müssen.
Es ging um Mathe. Genauer hinzuhören, machte also keinen großen Sinn. Stattdessen bemühte ich mich um Gelassenheit – oder viel eher um den Schein dazu. Ruhe würde ich den restlichen Tag nicht mehr finden, und gelassen war ich in seiner Gegenwart noch nie gewesen. Was blieb mir also anderes übrig, als mch zu meinem eigenen Schutz möglichst von ihm fern zu halten? Mein Verlangen jedoch sträubte sich dagegen. In Wahrheit wollte jede einzelne Faser meines Körpers seine Nähe. Doch dort war es für mich beinahe unmöglich, gerade Sätze rauszubekommen. Die Folgen wollte ich mir lieber nicht ausmalen.
Als das Auto stehen blieb, hob ich den Kopf. Wir waren schon da! Wir gingen also zu dritt den schmalen, von Sträuchern gesäumten Fußweg entlang bis zur Hausnummer 16. Hier sollte ich also nun Stunden in der süßen Hölle verbringen. Die Tür öffnete sich. Es hatte wohl schon jemand geklingelt.
„Hey ihr drei! Michi und Verena sind schon da. Kommt rein!“ Natürlich wunderte sich sonst niemand über unser Mitbringsel – ich war ja die einzige, die ihn vergessen hatte.
Wir gingen sofort hoch in Dicis Zimmer, wo Michi gerade dabei war, Mikrofone an die PlayStation zu schließen. Wenigstens hatte ich an die Spiele gedacht. Während die Anderen also meine Tasche plünderten und dich Lieder aussuchten, bemühte ich mich, mir meiner Lage bewusst zu werden: Etwa die nächsten vier Stunden hatte ich mich gut zu benehmen, da der süßeste Junge der Schule jede meiner Bewegungen beobachten würde. Bei diesen Gedanken wurde mir schlecht.
„Sarah, was möchtest du denn singen?“, fragte mich Verena.
„Öhm… legt einfach was rein, ich wird’ schon was finden.“ Wieder in der Realität angekommen setzte ich mich auf Patricias Bett und beobachtete den Streit um die Lieder. Letztendlich konnten sie sich doch entscheiden.
Ich musste nun immer die Lieder mitsingen, für die sich sonst nur ein Sänger fand – aber ich tat es gerne, denn während dem Singen konnte ich sonst keine peinlichen Dinge tun oder in Gespräche verwickelt werden.
So schaffte ich es ziemlich lange, mich gegen meinen Willen von ihm fernzuhalten.
Ich saß gerade wieder auf dem bett – beim Singen stand ich immer lieber – als all meine Bemühungen zunichte gemacht wurden.
„Hast du schon was Neues von Julia gehört?“, flüsterte mir Adrian zu – er hatte sich neben mich gesetzt und versuchte, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Meine Aufmerksamkeit allerdings hatte er sofort.
„Öhm… nein… wie auch?“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, irgendeine Möglichkeit zu haben, ihre Mutter zu kontaktieren.
„Hätte ja sein können“, meinte er knapp. „Du warst heute Morgen gar nicht dabei! Warst du krank oder so?“
Diese Frage verwirrte mich. „Nein… ich… hatte noch was zu tun.“
„Achso.“ Jetzt blickte er wieder zu den Sängerinnen. Doch ich hätte mich nicht in Sicherheit wähnen dürfen, denn kurz darauf wendete er sich wieder an mich.
„Sag mal, hast du morgen schon…“
Ein Handy klingelte. SEIN Handy klingelte. Schnell war das Spiel auf Pause und der Fernseher auf lautlos gestellt.
„Soso, ‚Schatz ruft an’!“, grinste Kati, die auf das Display geguggt hatte.
Schatz ruft an.
Ich rang nach Luft.
Schatz.
Dass Adrian mit dem Handy im Flur verschwand, bekam ich nicht ansatzweise mit.
Stattdessen hielt ich krampfhaft die Tränen zurück. Wollte er mich nicht gerade noch nach einem Treffen fragen? Aus der Traum.
Er hatte eine Freundin.
Als er den Raum wieder betrat, saß ich auf dem Schreibtuschstuhl. Kein Platz für ihn. Ich starrte nur in die Luft, die so leer war wie mein Kopf in diesem Moment.
Die süße Hölle war auf einmal bitter und voller Schmerz.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichten sollen all denen gewidmet sein, die dort vorkommen.

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