„Zieh den Bauch ein. Brust 'raus. Und streck den Arm richtig durch. Achte auf den korrekten Winkel! Und lass dein Ziel nicht aus den Augen.“
Die Worte des Lehrers klangen streng und klar definiert, doch gerade der ruhige und melodische Klang, der niemals aus der Ruhe zu bringen war, war der Grund dafür, warum sich jeder Schüler, auch Arrow hier, besonders viel Mühe gab. Ihr Lehrer nickte anerkennend, ein stilles Lob, welches die klaren blauen Augen des Mädchens glänzen ließ.
Achar, der allwissende Lehrer und Gelehrte ihres Stammes sprach so gut wie nie ein Lob aus, von daher wogen solch kleine Gesten seines Respekts nur umso schwerer.
„Achar! Achar!“, ertönte ein aufgeregter Ruf, der der besagten Fee tatsächlich so etwas wie ein genervtes Seufzen entlockte.
„Wann bekomme ich endlich die Ruhe, die ich verdiene?“
Er wandte sich von seiner Schülerin ab und wurde fast von River umgerannt, der zwar schon fast das stolze Jugendalter erreicht hatte, aber dennoch besorgniserregend klein gewachsen war. So klein gewachsen, dass man ihn für eine Nymphe gehalten hätte, wären da nicht die hauchfeinen Membran zwischen seinen Schulterblättern, die in allen Farben des Regenbogens schillerten.
„River?“, fragte Achar mit seiner ruhigen Stimme, sodass der Jüngling abrupt stehenblieb und mit großen Augen zu ihm aufblickte.
Es war einfach seltsam. Feen waren große und anmutige Geschöpfe, denen unerwartet viel Stärke innewohnte, die rau und schlicht atemberaubend war, doch Achar war... anders. Wann immer man in seine Nähe kam, wurde man von einer seltsamen Ruhe erfasst, die einen fast vergessen ließ, was man eigentlich von ihm wollte. So ging es auch River in diesem Moment. Er musste sich sammeln und seine Gedanken sortieren, ehe er fragen konnte: „I-Ich benötige dein... Eure Hilfe, Achar“, stammelte er. „Die ehrenwerte Nimyah hat mich damit beauftragt, einen schwarzen Schilling zu suchen, für die Forschungszwecke der dritten Stufe.“
Es kostete Achar keinerlei Anstrengung seine dichten, dunklen Augenbrauen nicht verwundert zu heben. Er bemerkte eine ruhiger werdende Bewegung aus den Augenwinkeln und sagte deshalb ohne hinzusehen: „Nicht aufhören, Arrow.“
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf den Jungen vor ihm.
„Bist du dir sicher, River? Der schwarze Schilling ist der seltenste aller Käfer, draußen im Dschungel. Selbst ich habe noch nie einen zu Augen bekommen. Ich glaube, Nimyah wollte sich mal wieder nur einen Scherz mit dir erlauben.“
Seine seelenruhige aber dennoch durch und durch plausible Erklärung leuchtete River ein, weshalb er schmollend den Mund verzog und sichtlich beleidigt die Arme vor der noch immer hageren Brust verschränkte.
„Das ist wirklich nicht mehr witzig! Nur, weil ich so klein bin, macht sie sich ständig über mich lustig.“
Die Feuchtigkeit in seinen ungewöhnlich warmen braunen Augen verdeutlichte, dass ihm die Sache näher ging als er für gewöhnlich erkennen ließ. River war von Natur aus ein unverwüstlicher Bursche, ihn nun so schwach und verletzlich zu sehen machte Achar betroffen, auch wenn er Nimyah lange genug kannte, um zu wissen, dass sie dem Jungen auf diese Weise nur helfen wollte. Ihre Späße sollten dazu beitragen, dass River über sich hinauswuchs und seinen kleinen Wuchs nicht unnötig als ein Problem oder Hindernis darstellte. Der Lehrer wusste, worauf River in diesem Augenblick abzielte und doch schwieg er erst einmal. Und dann blickte ihn der Junge auch schon flehend an.
„Könntet Ihr nicht mit ihr reden? Auf Euch hört sie doch!“
Seine Unschuldsmiene zeigte keine Wirkung, doch Achar gab zu, dass er in Versuchung geriet zu schmunzeln und ihn ebenfalls ein wenig zu foppen.
„Du solltest Nimyah lieber einmal selbst darauf ansprechen und sie darum bitten, ein wenig mehr Rücksicht auf dich zu nehmen. Du musst deine Probleme selbst bekämpfen, River, sonst verlierst du den Respekt der Feen.“
River, und selbst Arrow hinter ihm, verdrehte stöhnend die Augen. Einer der Leitsätze des Stammes, bezüglich des Respekts, wurde so oft erwähnt, dass selbst die kleinsten ihrer Sippe ihn im Schlaf aufsagen konnten. Sehr zu ihrem Leidwesen. River hätte damit rechnen müssen, dass Achar keinen Anteil an seinen Kämpfen nahm und so zog er schmollend von dannen.
Der Gelehrte verschwendete keinen Gedanken daran und wandte sich abermals an Arrow, um ihr Kampftraining fortsetzen zu können. Es schien jedoch, als würde er heute auf eine harte Probe gestellt werden, denn noch bevor er den Mund aufmachen konnte, vernahm er ein gutes Stück von ihnen entfernt erneut seinen Namen. Stumm bat er eine höhere Macht um mehr Geduld, dabei warf er einen Blick nach oben zum Himmel, der zum Großteil von dichtem und immergrünem Geäst und Laubwerk verdeckt wurde. Blaue Flecken machten deutlich, dass die Sonne schien, doch den Pflanzen bot dies wohl mehr Vorteile, als jenem Stamm der Feen, der sich am Rande des Dschungels niedergelassen hatte. Seit über zehn Generationen lebten sie schon hier, meistens streng an ihren Regeln festhaltend.
Irgendwo dort, tief im Dickicht des Dschungels, lebten zwei Drachen namens Vaughn und Kressida, von denen niemand wusste, wer genau sie eigentlich waren. Achar vermochte nicht zu sagen, ob sie eine ganze Stadt oder eine Gefolgschaft besaßen, doch die Umstände gefielen ihm nicht. Nicht die Tatsache, dass sie zwei Drachen als Nachbarn hatten, sondern der Umstand, dass auf der anderen Seite des Regenwaldes, nahe des fruchtbaren Landes, ein dritter Drache regierte, der auf den Namen Astad hörte und, unglücklicher Weise, so manches Mal mit ihnen zusammenarbeitete. Von so vielen Drachen eingekesselt zu sein, setzte den Stamm zu sehr unter Druck, wie Achar fand. Ständig mussten sie darauf achten, dass niemand den unsichtbaren Grenzen zu nahekam. Und dann waren da noch diese Vorfälle, vor einigen Jahrzehnten, bei denen immer mal wieder vereinzelt einige Feen verschwanden. Sie waren nie wieder aufgetaucht und auch Überreste waren nie gefunden worden. Nie waren Anhaltspunkte oder Beweise gefunden worden, doch dieses Kribbeln in Achars Nacken gab ihm zu verstehen, dass nur ein Drache dahinterstecken konnte. Doch um den Frieden zu wahren hatte der Stamm nie Vorwürfe erhoben und dies, obwohl sie sonst keinen Krieg und keine Auseinandersetzung scheuten. Er selbst war der Beweis...
„Seit wann ignorierst du mich?“, schnalzte Nimyah, die mit einem Mal neben ihm stand und das so dicht, dass es glatt den Anschein erweckte, als wäre da etwas zwischen ihnen.
Du hast mir gerade noch gefehlt, dachte Achar, sprach es aber nicht aus und ließ sich auch nichts dergleichen anmerken.
„Was gibt es?“, erwiderte er gelassen, ohne auf ihre Provokation einzugehen. So war es schon immer gewesen. Nimyah versuchte ihn aus der Reserve zu locken und Achar reagierte noch unterkühlter als sonst. Nur einmal hatte sie ihn eiskalt erwischt, doch das war lange her...
Achar war sich nicht sicher, ob sie ihn daran erinnern wollte oder welchen Grund es sonst geben sollte, warum sie ihn nun mit der Schulter anstieß und auf den abgelegenen Pfad neben ihnen deutete.
„Du wurdest zum Ältesten zitiert. Frag nicht, warum“, raunte sie ihm ins Ohr und zwinkerte dann Arrow zu. „Ab hier übernehme ich dein Training.“
Argwöhnisch, aber ohne das Gesicht zu verziehen, legte Achar den Kopf schief.
„Seit wann bist du im Kampftraining bewandert?“, versuchte er Nimyah eines Besseren zu belehren, doch seine Freundin lachte nur.
„Hey, ich bin immer noch Lehrerin, so wie du!“
Auf dem Weg zum Ältesten, der von allen nur liebevoll Pom Pom genannt wurde, schlich sich die einen Meter neunzig große Fee vom Pfad und verschwand zwischen zwei riesigen Palmen, um Abseits der Gemeinde etwas von der Ruhe zu bekommen, die Achar sich so sehnlichst wünschte. Selbst am Rande eines Urwalds wohl ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Geräuschkulisse um ihn herum verstummte niemals auch nur für eine Sekunde.
Vögel krakelten aus vollem Halse, Katzenartige fauchten und brüllten in der Ferne und dank seiner spitzen Ohren konnte er selbst die Insekten auf der feuchten Erde kreuchen und fleuchen hören.
Ganz intuitiv trugen ihn seine Füße Richtung Bach, der sich durch mehrere Reiche schlängelte und im Land von Vaughn und Kressida schließlich in einen reißenden Fluss überging. Es würde Pom Pom mit Sicherheit nicht stören, wenn er einen Umweg machte.
Sein Name war auf seine rundliche Form und sein ruhiges Gemüt zurückzuführen, beides mehr als ungewöhnlich für eine Fee. Dennoch durfte man sich von seiner äußeren Erscheinung nicht täuschen lassen, denn er trug den Krieg im Herzen. Wenn es um den Stamm und dessen Sicherheit und Regeln ging, dann wurde er zu einer gnadenlosen Bestie, die ein Schwert schneller schwingen konnte, als jeder ausgebildete Krieger. Achar hatte früh gelernt, dass es nie gut ausging, wenn man sich ihm widersetzte. Achar fragte sich, warum Pom Pom nach ihm rufen ließ. Seine Tage waren nun wirklich schon voll genug. Der Unterricht der ersten und zweiten Stufe, in den Morgenstunden, dann folgte der Einzelunterricht in den Mittagsstunden. Nachmittags trafen sich alle Lehrer und Gelehrten um die täglichen Entwicklungen zu besprechen und notfalls Rücksprache mit den Eltern zu halten. Der Abend galt dann endlich ihm allein, doch selbst dann war er noch mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag beschäftigt. Oder aber Nimyah scharwenzelte um ihn herum und buhlte um seine Aufmerksamkeit. So sehr ihm ihr Verhalten manches Mal auch auf die Nerven fiel, tat es dennoch gut zu wissen, dass es immer jemanden gab, auf den er sich im Notfall verlassen konnte.
Achar atmete tief ein als der Geruch von fließendem Wasser an seine Nase drang. Das leise Plätschern des Bachs beruhigte ihn und rief ihm unwiderruflich vor Augen, dass auch das Leben einem Fluss glich. Immer am fließen, stetige Veränderungen und Hindernisse, die man umgehen konnte, wenn man nur stark und hartnäckig genug war.
Achar hätte bei diesem Gedanken schmunzeln können, käme ihm sein eigenes Leben nicht so endlos vor. Er verrichtete jeden Tag dieselben Dinge, all die Veränderungen, die es in seinem Leben gegeben hatte, lagen schon seit geraumer Zeit zurück. Und er konnte nicht einmal sagen wie lange genau, denn eine Fee alterte so langsam, dass es völlige Zeitverschwendung wäre ihre Lebensjahre auf irgendeine Art und Weise festhalten und dokumentieren zu wollen. Fakt war jedoch, dass er sich trotz seines frischen und jungen Erscheinungsbildes unangenehm alt fühlte, also wie mochte sich da wohl Pom Pom fühlen?
Barfuß, so wie Achar es bevorzugte, watete er kurz durch den angenehm kühlen Bach, ehe er auf dem festgetrampelten Pfad aus Laubwerk und Geäst zurückkehrte. Besagter Pfad führte aus dem Dorf heraus, zu einer kleinen und hölzernen Hütte, in die Pom Pom sich zurückgezogen hatte. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters war ihm der Trubel des Stammes zu viel geworden und Achar könnte schwören, dass er irgendwann auch einmal so werden würde. Er sehnte sich ja jetzt schon nach Ruhe und Frieden. Es mochte paradox klingen, doch aus genau diesen Gründen konnte er sich nicht vorstellen, dieses Dorf, diesen Ort, jemals zu verlassen. Mit zuckenden Mundwinkeln strich er über den rauen Stamm eines alten Baumes.
Die Natur hier beruhigte ihn, war sanft und doch so widerstandsfähig, sie ließ sich nicht beirren und tat einfach nur das, was für sie bestimmt war. Ein stiller Seufzer brach sich seiner Kehle bahn.
Im Grunde tat er ja nichts anderes. Nämlich einfach nur das, was von ihm verlangt wurde. Und dass, obwohl er die anderen Seiten des Dschungels durchaus schon kennengelernt hatte. Aber auch diese Erinnerungen lagen alle zu weit zurück, als dass er sie bereitwillig wieder ausgegraben hätte.
Seine Überlegungen fanden ein jähes Ende als vor ihm Pom Poms Hütte auftauchte, die mit ihrer Einfachheit und dem Dach aus getrockneten Palmenblättern heute einen alles andere als friedlichen Eindruck machte. Aus dem türlosen Inneren war eine hitzige Diskussion zu vernehmen, ein Bruchteil davon wurde allerdings in einer Sprache geführt, die Achar auf diese Entfernung nicht einmal identifizieren konnte. Ein leises Gefühl der Vorahnung ergriff von ihm Besitz und dennoch trugen ihn seine Füße ohne Unterlass weiter, einfach, weil er nicht anders konnte.
Achar betrat die Hütte ohne sich anzukündigen, legte sich in Gedanken jedoch eine Ausrede für diese Unhöflichkeit zurecht, wie etwa die hier anherrschende Lautstärke. Pom Pom hätte sich zwar nicht daran gestört, doch vor möglichen Gästen wollte die Fee sich nun wirklich keinen solchen Patzer erlauben.
Achar wusste nicht, womit er gerechnet hatte, aber ganz gewiss nicht mit solch derart chaotischen Zuständen. Der Älteste des Stammes hatte sich zu seiner vollen Größe von einem Meter fünfundneunzig aufgebaut und die Hände in die speckverhüllten Hüften gestemmt, die runden Wangen aufgeblasen und besorgniserregend rot. Sein sonnengebleichtes kurzes Haar stand wirr von seinem Kopf ab und schmeichelte ihm genauso wenig, wie die weit aufgerissenen dunklen Augen, die heute nicht an tiefschwarz glänzende Edelsteine erinnerten, sondern vielmehr an einen Mann, der vollkommen den Verstand verloren hatte.
Vor ihm stand ein Soldat in einer Stahlrüstung, der ein kleines Bündel in den Armen trug und so am herumzappeln war, dass der leise Verdacht aufkam, er wolle das ominöse Bündel so schnell wie möglich wieder loswerden. Was auch immer es sein mochte, es schien der Auslöser für jene hitzige Debatte zu sein, die in jenem Moment ein Ende fand, als sie Achar bemerkten und ihre Köpfe herumrissen. Die feindseligen Worte erstarben auf ihren Lippen und es schien als habe Pom Pom nie die Kontrolle verloren. Ein Lächeln erhellte seine Züge als er erkannte, wer genau da zu ihnen gestoßen war.
„Ah, Achar, mein Junge, da bist du ja!“, stieß er mit seiner voluminösen Stimme aus und deutete dann auf den runden Tisch, an dem für gewöhnlich alle seine Gäste Platz nahmen.
„Setz dich und höre dir die Neuigkeiten an. Wie du siehst, ist es von aller größter Dringlichkeit.“
Achar biss die Zähne zusammen, um sich sein Misstrauen nicht anmerken zu lassen. Er kam zwar näher, dachte jedoch nicht im Entferntesten daran, sich nun hinzusetzen und blieb lieber neben beiden Parteien stehen , um notfalls dazwischengehen zu können.
„Ehrenwerter Ältester“, grüßte Achar formell, was er unter normalen Umständen niemals so höflich geäußert hätte. Er musterte den wohl ungebetenen Gast, konnte aufgrund seines hässlichen Stahlhelmes jedoch nicht mehr erkennen, als kalte braune Augen, in denen nicht das kleinste Gefühl auszumachen war. Es war ein Wunder, dass das Bündel in seinen Armen, von denen Achar vermutete, dass es nur ein Neugeborenes sein konnte, sich nicht ununterbrochen lauthals die Seele aus dem Leib schrie.
Achars Gesicht spiegelte wohl ausreichend Neugier wider, denn Pom Pom fuhr unbeirrt fort, obwohl er keinen Platz genommen hatte.
„Mein Junge, so wie es aussieht, stehen wir vor einem Problem. Dieser Soldat hier ist ein Abgesandter des grünen Drachen Astad und der werte König meint, uns den Befehl erteilen zu müssen, uns um die Aufzucht dieses Kindes hier zu kümmern.“
Achar schwieg und hörte sich in Ruhe an, was die alte Fee zu sagen hatte, verstand anfangs aber nicht, warum dies ein Problem darstellen sollte. Gut, dass König Astad mal wieder einen gnadenlosen Befehl aussprach war ärgerlich und eine bodenlose Unverschämtheit, doch bei der Aufzucht und Erziehung von Kindern waren nie nennenswerte Probleme aufgetaucht, auch wenn es die ein oder anderen Zöglinge gab, die ein paar Startschwierigkeiten hatten.
Achar geriet in Versuchung das gut versteckte Bündel genauer zu betrachten, hielt sich aber zurück und räusperte sich, um bloß nicht anmaßend zu wirken.
„Ihr regt Euch so sehr darüber auf, aber was genau ist so ungewöhnlich daran? Hat uns der Drachenkönig nicht schon um weitaus unangenehmere Dinge gebeten?“
Pom Pom verzog bei seinen Worten das runde Gesicht zu einer hässlichen Fratze und stieß ein Knurren aus, welches Hinweise auf sein wahres Wesen gab, darüber konnten auch seine schillernden Flügel nicht hinweg täuschen.
„Als ob diesem Ungeheuer jemals eine Bitte über die Lippen gekommen wäre“, spuckte er aus, ehe er auf das Kind deutete. „Sieh es dir an, dann kannst du meine Ablehnung nachvollziehen.“
Achar hätte es niemals laut zugegeben, aber spätestens jetzt war seine Neugier geweckt. Er trat an den Soldaten heran, ließ sich von dessen stechenden Blicken nicht einschüchtern und schlug ein Stück des benutzten Tuches zurück, woraufhin ihm sämtliche Selbstbeherrschung abhanden kam. Es war eine Menge nötig um Achar aus der Fassung zu bringen und dies so, dass es für jeden ersichtlich war, doch die kleine Harpye, deren rußschwarze Haut eindeutig war, schaffte dies mühelos. Achar entglitten die Gesichtszüge und einen derben Fluch ausstoßend sah er Pom Pom an.
„Ist er von allen guten Geistern verlassen? Wie kommt er auf den wahnsinnigen Gedanken, dass wir unseren gesamten Stamm so leichtfertig in solch immense Gefahr bringen?“
Pom Pom nickte ohne Unterlass, schien auf seiner Seite zu sein und dennoch wirkte er hilflos, als sich der Soldat zu Wort meldete.
„Weil es keine andere Möglichkeit gibt und dies ein Befehl des Königs ist. Ich erspare Euch die Details seiner grausamen Drohungen, aber ich kann Euch versichern, wir alle wurden bestraft, weil auch wir nicht mit dieser Situation einverstanden sind. Zudem muss die Existenz dieses Wesens vorerst geheim bleiben und wo ginge dies besser als hier, abgeschieden und inmitten eines Feen-Stammes?“
Achar war ehrlich sprachlos, obwohl ihm auf die Schnelle gleich ein dutzend guter Gründe einfielen, sich nicht hierauf einzulassen. Doch anhand von Pom Poms immer fahler und blasser werdender Gesichtsfarbe wurde ihm klar, wie ernst die Lage war und dass er sich keinen abfälligen Kommentar leisten durfte. Pom Pom überging den Soldaten und blickte Achar unverwandt an.
„Wenn wir uns wirklich darauf einlassen, möchte ich dich darum bitten, dieses Kind unter deine Fittiche zu nehmen“, ließ er dann ohne zu zögern die nächste Bombe platzen.
Der einsetzende Schwindel hätte Achar beinahe das Gleichgewicht gekostet, doch er hielt sich tapfer und schüttelte vehement den Kopf, ignorierte dabei auch seine einsetzenden Kopfschmerzen.
„Bei allem Respekt, aber dann hätte ich keine Zeit mehr für all meine anderen alltäglichen Arbeiten. Davon abgesehen muss ein Vertrag aufgesetzt werden, der sämtliche Bedingungen festlegt“, erklärte er abwehrend, doch der Ausdruck von Mitleid, der über das Gesicht des Stammes-Ältesten huschte war ein Symbol, welches seinen ganz persönlichen Untergang darstellte.
„Dann werden wir das wohl tun müssen.“
Der Wolfsmensch räkelte sich in den Laken, kostete nicht nur das Gefühl der kühlen Seide aus, sondern auch die nackte Haut, die sie dabei immer wieder streifte. Die vergangene Nacht war wild und zügellos gewesen, aber längst nicht mehr so neu und aufregend wie es für die junge Frau noch vor einigen Jahren der Fall gewesen war. Ganz gleich welch Routine und Langeweile auch aufkam, ganz gleich, ob sie alle Stellungen kannte oder nicht, gegen ihre Instinkte kam sie nicht an. Sie konnte nicht sagen wie oft sie ihre Gene schon verflucht hatte, doch sie wusste von ihrem Vater, dass es durchaus möglich war, dagegen anzukämpfen. Die Frage war nur, ob es ihr das alles wert gewesen wäre. Sie war jung, sie hatte keine Lust sich damit auseinanderzusetzen und es erschien ihr schlichtweg einfacher, sich diesen seltsamen Trieben hinzugeben, statt sie bekämpfen zu wollen.
Selbst in ihrem derzeitigen Halbschlaf fielen ihr auf die Schnelle mehr Nachteile als Vorteile ein. Zum Beispiel, dass sie trotz ihrer Wundheit und ihrer überstrapazierten Sinne nach wie vor das Verlangen besaß, einen Schwanz in sich aufzunehmen. Es hörte niemals auf und war ein stetiges Summen und Brennen, welches direkt unter ihrer Haut umherzukriechen schien und ihr keine Ruhe ließ. Sie hätte lieber Flöhe ertragen als das hier!
Teal geriet in Versuchung den Mann auf der anderen Seite des Bettes hinauszutreten, weil sie das alles so satt hatte, da drang plötzlich ein Pochen an ihre empfindlichen Ohren. Sie versuchte es auszublenden, weil sie sich noch eine Weile länger dem Schlaf hingeben wollte, da wurde ihr mit einem Schlag klar, dass dies kein Pochen oder möglicherweise ein Klopfen war, nein! Das waren Schritte und sie kamen ihrem Zimmer unaufhörlich näher!
„Oh, scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte sie leise, nachdem sie die Augen aufgerissen hatte. Sie sprang senkrecht im Bett auf, nahm keine Rücksicht und stieß Kash, oder wie auch immer er heißen mochte, aus dem Bett.
„Du musst auf der Stelle verschwinden“, fauchte sie ihn an, während sie gleichzeitig all seine Gewänder einsammelte, um sie ihm in die Arme zu drücken, noch während diese noch nicht vollständig geöffnet waren. In einer Seitenstraße der Stadt, direkt neben dem Anwesen von König und Königin, stand Kestrels Werkstatt, in der sie gemeinsam mit ihm lebte. Die Schritte, die da an ihre Ohren drangen, stammten von niemand geringerem als ihrem Vater und wenn er mitbekam, dass sie diese Woche nun schon zum vierten Mal Herrenbesuch hatte, würde er ihr jene Predigt zum Thema Selbstbeherrschung halten, die ihr schon längst zu den Ohren 'rauskam.
Unsanft stieß sie Kash in die Richtung ihres Fensters, gleichzeitig griff sie nach einer übergroßen Bluse, die zur Not reichen musste, um ihre Nacktheit zu verbergen.
Kash, der sehr zu ihrem Missfallen öfter in solche Situationen zu geraten schien, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und besaß auch noch die Dreistigkeit, ihren Leib genüsslich und mit einem anzüglichen Grinsen zu mustern, vermutlich, um sich diesen wundervollen Anblick ganz besonders gut einzuprägen.
„Falls du das einmal wiederholen willst, weißt du ja, wo du mich findest“, raunte er zwinkernd, dann tat er ihr den Gefallen, in fließenden Bewegungen aus dem Fenster zu klettern. Gerade noch rechtzeitig! Just in dem Moment, wo der Halbmensch in den unzähligen Schatten der einsetzenden Morgendämmerung verschwand, wurde beherzt an die Tür ihres Zimmers geklopft.
„Teal, steh bitte auf, man verlangt nach dir“, ertönte die Stimme ihres Vaters. Dass er keinerlei Anstalten machte unbedacht hier hereinzuplatzen, entlockte Teal einen Seufzer der Erleichterung, erweckte allerdings auch ihr Misstrauen. Dass jemand zu dieser frühen Stunde nach ihr rufen ließ konnte nichts Gutes verheißen. Sie blickte prüfend an sich herunter, befand, dass sie passabel genug aussah und riss schwungvoll die Zimmertür auf, noch ehe ihr Vater im Flur um die Ecke verschwinden konnte. Er stand sogar noch vor der Tür, sichtlich erstaunt darüber, dass seine Tochter nicht noch im Tiefschlaf war. Sein Mund öffnete sich bereits, da musste Teal auf eine Notlüge zurückgreifen, um ihm zuvorzukommen.
„Ich habe nicht gut geschlafen. Ein Albtraum“, sagte sie schnell. Anhand von Kestrels Mienenspiel war zu erkennen, dass sein Misstrauen geweckt war, doch es war anscheinend nicht groß genug, um sich zu einem Kommentar hinreißen zu lassen.
„Fior wartet vor der Tür auf dich. Ich richte ihm aus, dass du gleich bei ihm bist“, meinte er bloß, mit einem letzten prüfenden Blick auf ihre Bluse. Die junge Frau verstand den Wink und tat wenigstens so, als würde sie sich schämen, dann schloss sie die Tür und beeilte sich, sich angemessen zu kleiden. Ihr Lieblingskleid fiel in ihr Blickfeld, aus sattem, braunem Leder, welches vorne kürzer war als hinten, doch da diese Art von Kleidern in der Werkstatt ihres Vaters wahnsinnig unpraktisch war und sie nicht wusste, womit sie es hier zu tun bekommen sollte, musste wohl etwas anderes her. Beim Griff in den Schrank zog sie also ein enges, freizügiges Korsett heraus, welches nicht hinten, sondern vorne zugeschnürt wurde und mit seiner Cremefarbe sowohl ihre braune Haut betonte, als auch ihre silbergrauen Augen. Dazu nahm sie sich eine ebenso helle und kurze Hose, die auf den ersten Blick unschuldig wirkte, allerdings so knapp war, dass sie ihr genügend Beinfreiheit schenkte und ihrem Vater definitiv einen empörten Spruch entlocken würde.
Teal hatte schon als kleines Mädchen keine hochgeschlossene Kleidung gemocht und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Davon einmal abgesehen gab es an ihrem Körper nicht den kleinsten Makel, den sie hätte verstecken müssen. Sie besaß ein gesundes Selbstvertrauen und es hatte noch nie geschadet, wenn sie jemandem ihre Kurven präsentierte. Teal summte leise als sie in ihre schweren und abgenutzten Stiefel schlüpfte, die bisher jeden noch so harten Schlag in der Werkstatt abgefangen hatten und vermutlich gar nicht mehr so lange durchalten würden. Als Teal schließlich vor dem Spiegel stand und sich ihren Haaren widmete, verstummte ihr Gesang schließlich. Die störrische Pracht, die mehr rot als braun war, ließe sich nur unter größter Anstrengung bändigen, weshalb sie mit dem Gedanken spielte sie kurzerhand so zu lassen wie sie waren, doch da sie die wilden Locken sowieso nur als störend empfinden würde, band sie sie schließlich zurück und zu einem Knoten. Eine höhere Macht schien sich über sie lustig machen zu wollen, denn prompt fiel ihr die ein oder andere Locke in die Stirn. Teal schimpfte zwar leise darüber, hielt sich ansonsten aber nicht länger damit auf und verließ ihr kleines Reich mit der Frage im Kopf, was ausgerechnet Fior zu dieser Tageszeit von ihr wollen könnte.
Es war still in ihrem Haus, in dem alles voller Werkzeug und skurrilen Erfindungen stand, selbst die Stimme ihres Vaters konnte sie nicht ausmachen. Ihre Sinne vernahmen lediglich das Knistern und Knacken des Feuers in der großen Stube und den Geruch eines frisch gebackenen Laibes Brot, den Kestrel jeden Morgen zum Frühstück herstellte. Natürlich knurrte ihr der Magen, aufgrund ihrer nächtlichen Aktivitäten und so schnappte sie sich im Vorbeigehen den Knust und schob ihn sich genüsslich in den Mund, ehe sie zur Tür ging, wo ihr Vater und die rechte Hand der Herrscher der Stadt standen.
„Ihr habt gerufen?“, frotzelte Teal mit noch vollem Mund, was ihr einen missbilligenden Blick von dem Zentauren einbrachte. Einer Begrüßung gleich stieß sie ihn freundschaftlich mit der Schulter an. Er war immer so streng und korrekt, erlaubte es sich niemals ausschweifend zu werden und war dadurch erst recht ein Opfer ihrer Späße geworden. Meistens verkraftete er dies auch recht gut, aber wenn er doch ein seltenes Mal schlechte Laune hatte, ging man ihm lieber aus dem Weg. Er rollte mit den Augen und nahm sie dann, sehr zu ihrer Verblüffung, an die Hand, um sie mit nach Draußen zu ziehen, wo ihr Vater sie nicht belauschen konnte. Okay, das war keine normale Situation, das war weit mehr als ungewöhnlich.
„Fior? Alles in Ordnung?“, wollte sie wissen, doch an dem Zentauren war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Die Drahtbrille auf seinem vernarbten Gesicht drohte wie immer herunterzurutschen und seine dunkelbraunen Augen blickten wach und besorgt wie eh und je.
Ich frage mich, ob ihn je einer mit verstrubbeltem Fell gesehen hat, dachte sie nachdenklich, während Fior augenscheinlich nach den richtigen Worten suchen musste.
„Du hast einen Auftrag von Laina und Silas erhalten, allerdings sind sie gegenwärtig nicht im Anwesen, deswegen muss ich dich über alles aufklären. Es wird dir allerdings nicht gefallen“, erklärte er zögernd. Dass die Könige nicht zugegen waren, konnte Teal nicht überraschen. Die beiden ließen sich ihre Zweisamkeit nicht nehmen und da die ganze verdammte Stadt mit ihnen befreundet war, nahm es ihnen auch niemand übel.
Fiors Wortwahl war trotz allem seltsam. Teal war schon immer offen für Neues gewesen, also wie kam er darauf, dass ihr ein Auftrag nicht gefallen könnte? Hing es damit zusammen, dass er sie auch von ihrem Vater weggezogen hatte?
„Du machst dir Sorgen, dass mir etwas geschehen könnte“, stellte sie leise fest und beobachtete, wie er daraufhin nur noch verlegener wirkte. Selbstbewusst hob sie das spitze Kinn, während sie auf den Weg neben ihnen deutete.
„Nach dir. Erklär mir, worum es hier geht.“
Der Zentaur ließ sich nicht zweimal bitten und erklärte ihr auf dem Weg zum Anwesen, was überhaupt los war.
„Nun, so wie es aussieht, scheinen gewisse Dinge ins Rollen geraten zu sein. Mir ist nicht bekannt was genau Laina und Silas auf der letzten Audienz mit den Anderen besprochen und verhandelt haben, doch neuerdings ist da so ein eigenartiges Blitzen und Funkeln in ihren Augen zu erkennen, eine gewisse... Blutrünstigkeit. Ich sage es nur ungerne, aber ich glaube, sie haben dich aus einem ganz bestimmten Grund für diesen Auftrag ausgewählt.“
Er spricht wie immer in Rätseln, dachte Teal angesäuert, konnte aber nicht leugnen, dass ihre Neugier dadurch nur angestachelt wurde. Es schien eine ziemlich große Sache zu sein, so nervös, wie Fiors Blick hin und her huschte. Sowohl ihr Vater, als auch Laina fand, dass sie von viel zu sprunghafter Natur war, um mit so viel Verantwortung betraut zu werden und obwohl der Wolfsmensch empört darüber war, konnte sie nicht einmal widersprechen. Sie war sich über ihre Laster vollkommen im Klaren, doch sie fand, dass ihre positiven Eigenschaften überwogen und so konnte sich wohl niemand beschweren.
Fior schien ihren vorwurfsvollen Blick nicht zu bemerken und ließ sich Zeit damit fortzufahren. Sie stand kurz davor ihn anzustoßen, da setzte er endlich fort.
„Ausgehend von Skyes prächtiger Entwicklung, wollen sie sich ein Bild davon verschaffen, wie sich die übrigen Harpyen entwickeln.
Die Herrscher von Beleah spielen zum Glück mit offenen Karten, ebenso wie Vaughn und Kressida. Einzig und allein Astad und Vashti hüllen sich in zu viele Geheimnisse. Toti ist bereits vor einigen Tagen zu Vashti aufgebrochen. Da sie keinerlei Gefühle für die Harpyen entwickeln kann haben Silas und Laina befunden, dass sie am besten dazu geeignet ist, den blauen Drachen auszuspionieren.
Was uns schließlich zu dir und dem grünen Drachen Astad bringt...“
Teal hatte Mühe ihm zu folgen und all die neuen Informationen zu verarbeiten. Der Name Vashti war ihr gänzlich unbekannt, weshalb sie sich nicht vorstellen konnte, wohin genau Toti aufgebrochen war. Deren fehlende Verbindung zu den Harpyen und zu Skye war in ganz Dumiah kein Geheimnis, weshalb es ihr wohl nicht schwerfallen würde, die Dinge nüchtern zu betrachten. Da sie alle hier so eng miteinander befreundet waren wurmte es Teal, dass die Fee sich nicht angemessen abgemeldet und verabschiedet hatte, dabei lag ihr diese Kühlheit als Fee vermutlich nur im Blut. Der Wolfsmensch schüttelte leicht den Kopf, um den Gedanken an diese Geheimniskrämerei zu vertreiben. Aller Offenheit in dieser Stadt zum Trotz waren König und Königin mit Sicherheit nicht dazu verpflichtet, sie über jede einzelne Entscheidung und jedes Geheimnis in Kenntnis zu setzen. Die Denkweise eines Drachen war nicht immer zu verstehen und niemand wusste dies wohl besser, als der Zentaur Fior, der längst weitergesprochen hatte und Teal somit in eine peinliche Lage brachte.
„Entschuldige, Fior, ich bin in Gedanken abgeschweift und habe nicht zugehört. Ich kenne weder eine Vashti, noch diesen Astad“, unterbrach sie ihn rasch, während sie längst durch das Tor des Anwesens getreten waren und durch die Flure, auf dem Weg zum Arbeitszimmer waren. In der frühen Morgendämmerung wirkte hier alles gespenstisch ruhig, was vermutlich nur daran lag, dass alle Bewohner ausgeflogen waren. Teal wollte fragen, ob ihre Schwester Skye mit Laina und Silas unterwegs war, musste sich aber konzentrieren um Fior folgen zu können.
„...gedauert, die nötigen Infos zusammenzutragen. Astad, der grüne Drache passt mit seiner grünen Färbung eher schlecht in sein Steppen-Reich, weshalb manch einer munkelt, er wolle sich sein Nachbarreich, den Dschungel von Vaughn und Kressida, unter den Nagel reißen. Sein ursprünglicher Plan war es, alle überlebenden Harpyen auszulöschen, aber da er auf allen Konferenzen sehr schweigsam ist, kann niemand beurteilen, wie es um seine Harpye oder seine derzeitige Meinung steht. Kannst du mir folgen?“
Fiors gehässiger Blick traf sie in jenem Moment, als er ihr den Vortritt ins Arbeitszimmer ließ. Teal verdrehte die Augen, dann suchten ihre Augen den Raum ab. Das Chaos auf Lainas Schreibtisch war nicht so groß wie üblich, doch sowohl die Wärme im Raum, als auch die Weinkelche mit den letzten Resten darin deuteten darauf hin, dass hier bis vor Kurzem noch gearbeitet worden war.
„Das war unnötig. Fahre fort“, ließ der Wolfsmensch sich zu einem hochnäsigen Kommentar hinreißen. Sie nahm auf dem Sofa im Raum Platz und schenkte dem Zentaur dann ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Von da an kehrte ihr Misstrauen zurück, denn Fior wirkte mit einem Mal wieder so unsicher und nervös wie zu jenem Zeitpunkt, als Teal und er sich kennengelernt hatten. Zwar hieß es, die rechte Hand der Königin sei ihr Vorgesetzter, doch er war nicht der Typ für strenge Befehle und klare Anweisungen, sondern eher der Kumpel, der rasch rot anlief, wenn man aus Versehen zu vulgär wurde. Dabei wusste Teal, dass er hervorragend darin war, sich anderen anzupassen. Wo er bei Teal noch schüchtern und korrekt sein wollte, kam er in Lainas Nähe wesentlich mehr aus sich heraus. Gerade dieses wandelbare, diese Vielseitigkeit war der Grund gewesen, warum Teal ihn so schnell ins Herz geschlossen hatte.
Auch seine Loyalität war beeindruckend.
„Laina und Silas haben sich nur sehr vage ausgedrückt und scheinen dir die Entscheidung überlassen zu wollen. Sie möchten dich in Astads Reich infiltrieren um herauszufinden, ob die dort lebende Harpye in einem gesunden Zustand ist. Ob du mit offenen Karten spielen und dem Drachen deine Aufwartung machen willst, oder du dich lieber heimlich einbringst, ist dir überlassen, doch unsere scheinbar geisteskranken Herrscher rechnen damit, dass deine Anwesenheit bis zum Winter andauern wird.“
Teal entgleisten die Gesichtszüge und sie bemühte sich auch nicht, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit offenem Mund starrte sie Fior an, nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte.
„Bitte was?“, hauchte sie, schloss die Augen und schüttelte kurz und kräftig den Kopf. „Fior, ich bitte dich, ich bin wohl kaum die richtige Person, um einfach in das Territorium eines fremden Drachen einzudringen und ihn dann auch noch schamlos auszuspionieren. Die Königin sollte sich persönlich darum kümmern und nicht jemanden schicken, der... ich ist. Ein einfaches Mädchen.“
Es war nicht so, dass Teal sich aus der Verantwortung ziehen wollte, aber sie konnte sich nicht daran erinnern jemals darum gebeten zu haben, solch große Aufträge ausgehändigt zu bekommen. All ihrer Instinkte zum Trotz mochte sie ihr recht simples Leben, welches daraus bestand ihrem geliebten Vater zur Hand zu gehen, kleinere Dinge zu erfinden und ihren sexhungrigen Instinkten nachzugeben. Seit einiger Zeit spielte sie auch den Aufpasser von Skye, war damit in gewisser Weise zu ihrer großen Schwester geworden, doch all dies genügte ihr. Die Vorstellung daran, nun all ihre Lieben zurücklassen zu müssen behagte ihr nicht und verursachte einen Knoten in ihrem Magen, den Fior nun nicht unbedingt auflöste.
„Du kannst mir glauben, einen so vorlauten Wolfsmenschen wie dich dorthin zu schicken halte auch ich für keine gute Idee. Aus diesem Grund möchte ich persönlich dich darum bitten, dir eine Möglichkeit zu überlegen, uneingeschränkt mit mir in Kontakt zu bleiben. Wie du dir sicher vorstellen kannst, hat Laina sich nicht von dieser hirnrissigen Idee abbringen lassen“, erwiderte er.
Anfangs nickte Teal noch hektisch, stimmte seiner Bitte ohne zu zögern zu, dann aber ging das Nicken in ein heftiges Kopfschütteln über.
„Was denkt sie sich nur dabei?“, kreischte sie schon fast. Sie konnte gar nicht in Worte fassen wie es sich anfühlte zu sehen, wie sich Fiors Züge plötzlich veränderten. Sie wurden weicher und liebevoller.
„Das weißt du nicht?“, fragte er, doch Teal blieb stumm. „Teal, du bist neben Laina die mit Abstand herzlichste, offenste und liebevollste Person in dieser Stadt. Du freundest dich mit jedem an, du hast sogar Skye damals auf der Stelle in dein Herz geschlossen.
Ja, es ist gefährlich dort draußen, aber wenn jemand in dieser Welt überlebt, dann du! Du magst ja so manches Mal recht vulgär und laut sein, aber du ist noch nie jemandem gegenüber ausfallend geworden und eines kannst du mir glauben: Dafür wirst du von sehr vielen bewundert!“
Erneut wusste Teal nichts zu sagen, denn dies hörte sie zum ersten Mal. Hin und wieder hatte sie sich zwar mal gewünscht ein Vorbild zu sein, dass dem nun aber so war kam dann doch recht unerwartet. Ihr gingen so viele Dinge durch den Kopf, unter anderem, dass sie noch nie solch zärtliche Worte aus Fiors Mund gehört hatte und sie ihm dafür am liebsten um den Hals gefallen wäre. Dann kam ihr ihr Vater in den Sinn, denn der würde niemals zulassen, dass sie einfach so den Schutz der Stadt hinter sich ließ. Der Zentaur sagte, Astad gehöre eine Steppe, nahe dem fruchtbaren Land und des Dschungels, also wäre die Witterung nicht gänzlich anders als in der Tundra. Höchstens noch ein wenig staubiger. Aber sie würde all ihre Freunde, ihre Familie für sehr lange Zeit nicht mehr sehen und diese Tatsache schnürte ihr unangenehm die Kehle zu.
„Haben sie gesagt, wann genau ich aufbrechen soll?“, brachte sie schließlich über die Lippen. Fior schwieg im ersten Moment, doch dass seine sonst so warmen und dunklen Augen mit einem Mal an Glanz einbüßten, war ihr auch so Antwort genug. Ihn seufzen zu hören war ebenfalls ungewohnt.
„Es steht dir frei, diesen Auftrag auch abzulehnen, aber ich fürchte, dass würden du oder Laina strikt ablehnen.“
Ihr kennt mich viel zu gut, dachte Teal, beinahe schmunzelnd über sich selbst. Natürlich würde sie nicht nein sagen, denn dies war ihre Chance auf ein richtiges Abenteuer! Sie könnte neue Orte entdecken, neue Leute kennenlernen und so ungeheuer viel lernen. Aber sie würde auch Heimweh haben, so viel war sicher!
„Sie lassen dir genügend Zeit zur Vorbereitung, gar keine Frage. Auf dem Tisch siehst du die Karte mit der eingezeichneten Route und du kannst selbst entscheiden, ob du ein Pferd haben möchtest oder nicht. Hast du denn irgendwelche Fragen?“, fuhr Fior leise fort.
Teal lehnte sich auf dem Sofa zurück und nahm sich einen Moment Zeit, um ausreichend über das Alles nachzudenken, dabei nahm sie aber auch die Landkarte zur Hand. Das war ein verdammt weiter Weg und er führte verdammt weit von Dumiah weg.
Sie würde das Land gen Südwesten verlassen, erst das Niemandsland passieren und dann Beleah. Im Anschluss folgte der Lereos-Wald. Noch hinter diesem befand sich der Masha-Fluss, der den gesamten Kontinent durchzog und mal zu einem Bach und dann wieder zu einem reißenden Fluss wurde. Er führte an einer Wüste vorbei, direkt in fruchtbares Land. Dahinter lag dann die Steppe, mit Anschluss an einen riesigen Dschungel. Je nachdem welches Tempo sie an den Tag legte, würde sie eine gute Woche unterwegs sein.
Teal versuchte, den dicken Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Abenteuer hin oder her, dort draußen lauerten Gefahren, die ihr nie zuvor im Leben begegnet waren, also würde sie damit fertig werden? Ein einsamer Wolfsmensch war nicht schwach und leicht unterzukriegen, aber gegen eine größere Gruppe von Feinden besaß er niemals eine Chance. Friedensabkommen hin oder her, doch außer Laina war keinem anderen Drachen zu trauen. Und auch wenn Teal es niemals laut äußern würde, so glaubte auch sie nicht daran, dass alle Harpyen so friedliebend waren wie ihre geliebte Skye, die es liebte Schabernack zu treiben und die Natur zu erkunden.
Teal war so in Gedanken versunken, dass sie überhaupt nicht zur Kenntnis nahm wie Fior neben das Sofa getreten war. Als er ihr nun besorgt die Hand auf die Schulter legte, zuckte sie regelrecht zusammen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er sanft. Durch die Gläser seiner Brille hindurch erkannte sie, dass seine Augen längst wieder ihren üblichen moorbraunen Ton angenommen hatten, seine Sorge um sie schien seine Wut also in den Schatten zu stellen.
„Natürlich“, sagte sie schnell. „Ist es in Ordnung, wenn ich mich in mein Zimmer zurückziehe und alles sorgfältig plane? Ich komme danach noch einmal zu dir.“
Sie erhob sich mitsamt der Karte und den anderen Papieren auf dem Tisch, bei denen es sich offenbar um die restlichen, benötigten Informationen handelte und wirbelte damit so schnell zu dem Zentauren herum, dass dieser sie nur erschrocken anstarren konnte. Er nickte unbeholfen und lief anschließend rot wie eine Tomate an, als Teal ihm um den Hals fiel.
„Was würde ich nur ohne dich tun?“, flüsterte sie ihm ins Ohr und drückte ihm anschließend einen liebevollen Kuss auf die Wange.
Natürlich wusste sie, dass Fior sich nichts aus körperlicher Nähe machte und dennoch freute sie es, dass er keine Sekunde zögerte, die Arme um ihre Taille schlang und sich an sie schmiegte.
„Dich heillos in deinen Affären verstricken“, brummte er und brachte sie somit lauthals zum Lachen.
Leise fluchend starrte ihre Schwester auf einen Haufen Papiere, die quer über dem Fußboden verteilt waren. Noch hatte die junge Frau mit den wilden Haaren sie nicht bemerkt, aber das machte nichts, denn auf diese Weise konnte sie sie noch länger beobachten und versuchen herauszufinden, warum sie heute so nervös und hibbelig war.
Forschend neigte sie den Kopf, lauschte dem flatternden Herzschlag des Wolfsmenschen und versuchte zu entziffern, was auf all diesen Papieren stand. Bisher hatte Teal sie immer an ihre Seite genommen und ihr erklärt, woran sie dieses Mal arbeitete, dass es dieses Mal nicht so war, irritierte das junge Mädchen. Unbekannte Situationen jagten ihr Angst ein und Angst war ein abscheuliches Gefühl. Sie wünschte sich, solch ekelerregenden Gefühle einfach auslöschen zu können, aber Großvater Kestrel hatte ihr erklärt, dass auch alle negativen Empfindungen ihre Daseinsberechtigung besaßen und so konnte sie nichts anderes tun, als darüber zu schmollen.
Nicht fähig ihrer Neugierde standzuhalten kam Skye ihrer Schwester einen winzigen Schritt näher, worauf diese erschrocken den Blick hob und dann ein sehr eigenartiges Gesicht machte. Das junge Mädchen war noch nicht so gut darin all die unzähligen Emotionen und Gesichtsausdrücke zu deuten, doch Teal sah ein wenig traurig aus und auch ein wenig wütend, aber das ergab für Skye keinen Sinn.
„Kleines, wer hat dir erlaubt, alleine herumzustreunen?“, rügte Teal sie, stieß wie so oft aber auf taube Ohren. Skye antwortete nicht und kam noch näher, um sich recht plump neben den Wolfsmenschen fallen zu lassen.
„Was machst du da?“, fragte sie mit ihrer kratzigen Stimme, aus der ihre wahre Herkunft niemals zu verleugnen wäre. Teal zögerte lange, nicht sicher was und wie viel sie dem Kind sagen konnte. Dass sie das Reich verließ würde Skye so oder so erfahren, aber ihre Reaktion war nicht abzuschätzen. Trotz ihrer Herkunft war dieses Mädchen kein Freund von Risiken und schon gar nicht von Veränderungen jeglicher Art.
„Ich muss eine Reise vorbereiten“, erwiderte sie schließlich und erwähnte absichtlich nicht, dass sie diejenige war, die die Reise bestreiten würde. Syke rutschte ganz vertraut so nahe an sie heran, dass sie ihren Kopf an Teals Schulter ablegen konnte, dabei fixierten ihre tiefschwarzen und pupillenlosen Augen das heillose Durcheinander, von dem Teal selbst alles andere als begeistert war.
„Okay, eine Karte ist sinnvoll“, dachte Skye laut und deutete mit ihren permanent gekürzten Krallen auf die Schmierzettel daneben. „Aber was ist das?“
Teal seufzte in Gedanken.
„Oh, nur ein paar Notizen“, meinte sie vage, dabei war dies wohl die Untertreibung der vergangenen letzten Jahre. Dankbar dafür, dass Skye noch nicht lesen gelernt hatte, ging Teal in Gedanken alle Unterlagen durch. Sie hatte sowohl auf der Karte ihre bevorzugte Route eingetragen, als auch handschriftlich festgehalten, wo und wann sie Pausen einlegen würde. Sie hatte all ihre Ausgaben kalkuliert und auf einer Liste festgehalten, welch Proviant und Utensilien sie alles benötigen würde. Das seichte Pochen hinter ihren Schläfen dehnte sich zu einem unangenehmen Schmerz aus, der daher rührte, dass sie noch keine Entscheidung bezüglich ihres Vorgehens getroffen hatte. Sich in das Reich dieses Astads zu schleichen erschien viel zu riskant, doch selbst das konnte sie nicht beurteilen, da sie seine Stadt, deren Namen sie nicht kannte, noch nie gesehen hatte. Sie erwartete kein solch herzliches Reich wie Dumiah, aber eine Vorwarnung seitens Fior oder Laina wäre doch recht nett gewesen.
„Wohin gehst du?“, riss Skye sie aus ihren weiteren Überlegungen, was Teal einen Fluch entlockte, der eigentlich nicht für die Ohren eines Kindes bestimmt war. Sie hatte vergessen, wie aufmerksam Skye war, also was hatte sie verraten?
Schätze, sie anzulügen hat keinen Zweck, dachte sie noch, dann legte sie der Kleinen ihre Hand auf die zarte, viel zu knöcherne Schulter und begann zu erklären.
„Naja, ich habe einen Auftrag von unseren Herrschern bekommen und muss dafür in ein anderes Königreich reisen“, fasste sie sich kurz, worauf Skyes Blick wieder auf die große Karte fiel.
„Es ist sehr weit weg, oder?“, murmelte sie, sichtlich getroffen von dieser Neuigkeit. Teal nickte langsam und fügte hinzu: „Deswegen werde ich wohl ein wenig länger wegbleiben. Versprich mir, dass du dich benimmst, in Ordnung?“
Syke nickte eifrig.
„Aber natürlich! Ich würde euch nie Ärger machen“, stimmte sie zu und von ihren kleineren Streichen abgesehen, stimmte dies sogar. Syke war ein auffallend braves Mädchen, auch wenn die ein oder andere Wette dagegenhielt.
„Das weiß ich doch“, meinte Teal und stupste sie sanft an. „Aber ich gehe davon aus, dass Fior sich einen Großteil der Zeit um dich kümmern wird und da er schon so viel um die Ohren hat möchte ich dich bitten, ihm heimlich ein wenig unter die Arme zu greifen. Machst du das für mich?“
Bei der Aussicht auf ein Geheimnis war Skye auf der Stelle Feuer und Flamme, weshalb sie hastig nickte und ein breites Grinsen ihre schmalen Züge erhellte. Kleine, spitze Reißzähnchen kamen zum Vorschein und offenbarten eine Prozedur, die Teal jedes Mal aufs Neue Herzschmerz bereitete. Damit Skye sich uneingeschränkt in der Stadt bewegen konnte, ohne Angst zu schüren, waren Bedingungen von Nöten, wie etwa das Schleifen ihrer Klauen und Zähne. Ihre Läufe wurden in speziell angefertigen Stiefeln versteckt und ihre schwarzen Haare wurden regelmäßig auf Schulterlänge zurückgeschnitten. Einzig und allein ihre ledernen Schwingen durfte sie offen zeigen, weil sie sagte, dass es äußerst unangenehm war, wenn sie sie unter ihren Gewändern versteckte.
Liebevoll wuschelte Teal ihr durchs Haar.
„Braves Mädchen.“
Der Stolz, der daraufhin Skyes Gesicht erhellte, würde ihr den Abschied wohl nur noch schwerer machen.
„Was wirst du tun?“, fragte das Mädchen und versuchte erfolglos, all die Notizen zu entschlüsseln. Teal wusste, was sie mit dieser Frage meinte und sie wusste, dass sie auch hierbei nicht mit einer Lüge durchkam, dafür waren Skyes Instinkte schlicht zu präzise.
„Ich werde wohl eine deiner Schwestern besuchen. Die Sache ist die, Skye, es gibt noch einige wenige Harpyen mehr, allerdings werden sie gut behütet. Ich soll herausfinden, ob es ihnen genauso gut geht, wie dir,“
Ganz gefährlich, dachte Teal und biss sich auf die Zunge, während sie jede ihrer Regungen genau im Auge behielt. Im ersten Moment sah es so aus, als würde Skye die Bedeutung dieser Worte nicht verstehen, da sie mehrmals blinzelte. Dann aber rutschte sie erneut näher an Teal heran, legte den Kopf wieder auf ihre Schulter und griff nach ihrer Hand.
„Bitte erzähl mir mehr“, verlangte sie und brachte den Wolfsmenschen dazu, erstaunt die Augen aufzureißen. Teal rechnete mit lauter Fragen, die sie nicht beantworten konnte oder mit einem Wutausbruch, der ihrem Alter angemessen wäre. Aber sie vergaß, dass Skye kein normales Kind war. Teal war sich nicht sicher, wie sie das erklären sollte, denn in Skyes Gegenwart war nie ein Wort darüber verloren worden, was geschehen war, bevor sie nach Dumiah gebracht worden war. Dass sie die einzige Harpye in der gesamten Tundra war, hatte natürlich für Fragen gesorgt, doch Lainas Lächeln war nicht auch nur für eine Sekunde verrutscht, als sie Skye erklärt hatte, dass sie nun einmal etwas ganz Besonderes war. Das riesengroße Selbstvertrauen des kleinen Mädchens daraufhin war wohl selbsterklärend gewesen.
„Ich werde dir eine Geschichte erzählen, ja?“, begann Teal zögernd und auf die Gefahr hin, bald schon Ärger für die Wahrheit zu bekommen.
„Es war einmal eine Harpye, die eine angesehene Anführerin war. Sie war klug und stark und leider war sie auch nicht besonders nett. Ihre Stärke ist ihr zu Kopf gestiegen und so dauerte es nicht lange, bis sie alle anderen terrorisierte und begann, nach immer mehr Macht zu verlangen. Eine große Armee nahm es mit ihr auf, bestehend aus Feen, Nymphen, Dachen und noch vielen mehr. Sie alle waren Freunde und wollten sich diesen Terror nicht bieten lassen und so besiegten sie die Harpye, wenn auch nur unter großer Anstrengung. Zu spät wurde den Freunden jedoch klar, was sie übersehen hatten. Die Harpye hatte nämlich etwas zurückgelassen, nämlich viele süße, kleine Babys. Und eines dieser Babys, Skye, das warst du.“
Es schien zu funktionieren, Skye war so fasziniert und irritiert von der Geschichte, dass Teals Auftrag darüber hinaus völlig in Vergessenheit geriet.
„Und das ist alles wahr? Warum hat mir das keiner gesagt?“, wollte sie mit großen Augen wissen und entlockte dem Wolfsmenschen somit ein kleines Lachen.
„Na, weil wir dich beschützen wollen, du Dummerchen. Und streng genommen bist du noch viel zu jung für die gesamte Geschichte.“
Es beruhigte Teal ein wenig zu sehen, dass das Mädchen schwieg und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen schien. Sie versuchte sich wohl einen Reim darauf zu machen, was jedoch ein aussichtsloses Unterfangen darstellte angesichts der Tatsache, dass sie als Neugeborenes keinerlei Erinnerungsvermögen besessen hatte. Die junge Frau ließ es sich zwar nicht anmerken, war jedoch dankbar als Skye sich mit einem Mal erhob und ein entschlossenes Gesicht aufsetzte, in dem Teal dennoch ein wenig Trotz ausmachen konnte.
„Du wirst dich doch von mir verabschieden, oder?“, wollte sie wissen, worauf Teal lächelte.
„Aber ja doch“, versicherte sie sanft und beobachtete, wie Skye nickend vorsichtig über das auf dem Boden liegende Chaos hinwegstieg.
„Gut“, entschied sie, dann war sie aus dem Raum geschlüpft. Teal schüttelte den Kopf. So wie sie dieses Kind kannte, würde sie auf der Stelle zu Fior laufen, um in Erfahrung zu bringen, ob diese Geschichte denn der Wahrheit entsprach. Entschuldige Fior, dachte sie schuldbewusst, dann betrachtete sie wieder den ganzen Papierkram und lehnte sich leise stöhnend zurück. Sie hätte sich nun gerne jemandem anvertraut, ihm gesagt, wie groß ihr das Alles vorkam und welch Unsicherheiten von ihr Besitz ergriffen hatten, aber da gab es niemanden...
Es gab gewisse Dinge, die sie auch mit ihrem Vater nicht besprechen mochte und Fior hatte nun wirklich schon genug um die Ohren, als dass er ihr auch hier noch Gehör schenken könnte. Laina, Silas und Toti waren nicht zugegen, also wer bliebe da noch?
Vielleicht täte es ihr doch mal ganz gut, eine Weile aus der Stadt herauszukommen? Die lange Reise bereitete ihr jedoch Bauchschmerzen. Zwar hatte sie sich bereits ein wenig zurechtgelegt, aber ob dies auch so einzuhalten wäre, war wieder eine andere Sache.
„Eins nach dem anderen, Teal“, murmelte sie und nahm die Liste mit den notierten Händlern zur Hand. Sie benötigte zuerst ein Pferd und würde darüber mit Fior sprechen. Dann wären ausreichend große Satteltaschen von Nöten, um den nötigen Proviant unterzubringen. Sie würde in Beleah und im Lereos-Wald einen Stop einlegen, was wohl nur aufgrund der Freundschaft zwischen den Reichen ohne Probleme möglich war.
Teal spielte mit dem Gedanken das Pferd im Lereos unterzubringen und in ihrer Wolfsgestalt weiterzureisen, war sich diesbezüglich aber noch nicht sicher. Klar, ihre Wolfsgestalt war in einem Kampf ein echter Segen und sie bereitete ihr in vielen Dingen viel Spaß und einige Vorteile, doch dies änderte nichts daran, dass Teal den Großteil ihrer Zeit lieber in ihrer Menschenhaut verbrachte. So ein Fell war widerwärtig heiß, es stank und benötigte übermäßig viel Pflege. Hinzu kam ein immenses Risiko. Wolfsmenschen waren keine Einzelgänger, so wie manch einer vermutete. Sie waren fast immer in der Gruppe anzutreffen und aufgrund des ursprünglichen Rudellebens war es für eine Frau noch viel riskanter. Ein einsames Weibchen konnte schnell missverstanden und als Freiwild wahrgenommen werden und das war das letzte, was Teal wollte. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie innerhalb der Stadtmauern genug Auswahl an willigen Männern besaß, sondern vielmehr an den Unterschieden zwischen denen und jenen ihrer eigenen Rasse.
Teal war daran gewöhnt die Männer in ihrem Bett zu dominieren oder sich wenigstens mit ihnen auf Augenhöhe zu bewegen, aber männliche Wolfsmenschen hielten allesamt an alten Hierarchien fest, bei denen der weibliche Gegenpart keinen allzu großen Wert einnahm. Dies war einer der Gründe, warum sie ihren Vater nie verlassen hatte. Der und...
„Liebes, darf ich 'reinkommen?“, ertönte es da wie aufs Stichwort.
Teal lächelte abermals als sie dabei zusah, wie ihr Vater den Raum betrat und sich unbeholfen und ächzend auf dem Boden, ihr gegenüber niederließ. Der Gedanke an seine in die Jahre gekommenen Knochen schmerzte Teal und war bei seiner fröhlichen und energiegeladenen Art schnell mal zu vergessen. Nie hatte er geäußert seine Werkstatt aufgeben zu wollen, doch sie fragte sich, ob er manchmal nicht dennoch darüber nachdachte. Er schien zu jeder Zeit genau zu wissen, wann ihr etwas im Magen lag, so auch jetzt. Er betrachtete das ausgebreitete Chaos vor ihnen und studierte dann ihr Gesicht, welches ihm so unendlich vertraut war.
„Hast du Angst davor, alleine so weit weg von Zuhause zu sein?“, fragte er sanft und nahm einige Bögen Pergament in die Hand, um ihre Notizen auf mögliche Fehler zu überprüfen. Er brauchte sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Sein Mädchen war klug und talentiert, sie hatte alles genauestens durchdacht. Und doch sah er den trüben Schleier in ihren sonst so stählernen grauen Augen.
„Selbstverständlich nicht, Paps“, entrüstete sie sich grinsend, wurde aber sofort wieder ungewöhnlich ernst. „Aber ich habe Angst davor, was mir womöglich begegnet. Dumiah ist schließlich anders als andere Reiche.“
Kestrel nickte wissend und zollte seiner Tochter seinen Respekt. Ganz gleich wie selbstbewusst und offen sie im Laufe ihres Lebens geworden war, sie hatte nie den Respekt verloren. Das Urvertrauen ihrer Instinkte war da und vermittelte ihr einen Sinn für die realen Gefahren, wie kein Lehrer und kein Elternteil es je könnte. Es fiel Kestrel nicht schwer, die Sorgen seiner Tochter zu beschwichtigen.
„Liebes, du hast jahrelang studiert. Ich glaube, du bist durchaus in der Lage mit einem potenziellen Feind fertig zu werden, sollte es so weit kommen“, versicherte er und brachte seine Tochter damit schon wieder zum schmunzeln.
„Paps, das ist bloß trockene Theorie“, meinte sie, ein Lachen unterdrückend. „Die Schwachstellen eines Lynx zu kennen bringt mir nicht das Geringste, wenn er mich vorher blitzschnell ausknockt. Gleiches gilt für alle anderen, die nicht menschlich sind.“
Kestrel wog den Kopf hin und her, so als müsse er darüber nachdenken, dabei nahm er die nächste Kritzelei von Teal zur Hand.
„Also bitte, du hast oft genug mit Laina trainiert, um wenigstens lange genug auf den Beinen bleiben zu können. Und du solltest vielleicht nicht im Pelz reisen und das Pferd behalten.“
Schweigen kehrte ein, in dem Teal ihren trüben Gedanken nachhing. Es war lieb von ihrem Vater, einen so zärtlichen Tonfall anzuschlagen, um sie zu trösten. Er schien da nur ein winziges Detail zu vergessen... Sie konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.
Natürlich konnte sie kämpfen. Der Wolfsanteil in ihrem Blut war zu dominant, als dass sie ihn unterdrücken könnte, aber dies bedeutete nicht automatisch, dass sie ihm gerne nachgab. Sie mochte es nicht, andere Lebewesen bluten zu sehen und es war ihr egal, wie lächerlich das jeder fand!
„Ich kann mir nicht sicher sein, ob ich das Pferd außerhalb unseres bekannten Terrains unterbringen kann, deswegen würde ich ungern dieses Risiko eingehen“, nahm sie den Faden schließlich wieder auf und deutete dann auf ein mit Fragezeichen beschriebenes Blatt.
„Und dann wäre da noch die Sache mit dem Informationsaustausch. Es würde viel zu lange dauern beispielsweise Zephyr regelmäßig Briefe in die Hand zu drücken und da ich Fior versprochen habe mich regelmäßig zu melden, ist es... wichtig.“
Kestrel schmunzelte in sich hinein als ihm der Gedanke kam, dass die gesamte Situation ein vollkommener Überfluss an Informationen war, den Teal, trotz all ihrer Klugheit nicht sachgemäß verarbeiten konnte. Eine unbekannte Situation schien für sie eine gewisse Hemmschwelle darzustellen, doch ihr alter Herr half ihr jederzeit gerne ein wenig auf die Sprünge.
„Nun, ich bin mir sicher, dass dir die Nymphen aus dem Lereos einen gewissen Falken namens Pepe zur Verfügung stellen“, schlug er vor, was Teal ein Schmunzeln Kestrel ein leises Lachen entlockte.
„Pepe ist meines Wissens für Xhoma und Cain reserviert“, murmelte Teal.
„Dann werden die Nymphen dir einen anderen tierischen Boten überlassen“, schoss ihr Vater sofort zurück und sorgte somit dafür, dass Teal ebenfalls lachen konnte. Sie nahm eine Feder zur Hand und notierte sich diese Idee, um sie später noch Fior zu unterbreiten, dabei warf sie ihrem Vater einen flüchtigen Blick durch ihre Wimpern hindurch zu.
„Danke, Paps“, flüsterte sie. Sie wusste, dass keine Erklärung nötig war. Ihr Vater wusste jederzeit ganz genau, wie er sie aufmuntern und ihr ihre Sorgen nehmen konnte. Nickend kam er schwerfällig wieder auf die Beine, dann klopfte er ihr auf die Schulter.
„Vielleicht solltest du dich ein wenig über dem Feuer austoben? Das Arbeiten in der Werkstatt hat dir immer einen freien Kopf beschert, oder nicht?“, sagte er noch, dann ließ er sie mit ihren Gedanken alleine zurück.
Teal wollte gerade den Fuß in den Steigbügel heben, da hielt sie noch einmal inne und drehte sich zu der Stadt in ihrem Rücken um. Es war ein friedlicher Anblick im zartrosa Morgengrauen, doch der Frieden in ihrem Innersten war ihr längst abhanden gekommen. Es überraschte sie nicht, dass der beliebteste Zentaur der Stadt längst wieder hinter den Mauern Dumiahs verschwunden war. Gleiches galt für ihren Paps, dem es allerdings weitaus schwerer gefallen war. Nachdem er ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, hätte Teal schwören können, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. Teal konnte nicht leugnen, dass auch ihre Kehle sich wie zugeschnürt anfühlte. Sie war noch nie von ihrem Vater getrennt gewesen und zweifellos waren seine Ängste größer als ihre. Sie wusste, dass sie diesen Abschied nicht zu sehr an sich heranlassen durfte und so konzentrierte sie sich kurzerhand auf den Stich in ihrem Herzen, direkt neben der Trauer. Es war völlig lächerlich, da Teal ja in absehbarer Zeit zurückkehren würde, doch es wurmte sie, dass Laina und Silas nicht in der Nähe waren. Ganz zu schweigen von Toti. Die Fee und sie waren nicht unbedingt als Freundinnen zu betiteln, doch die Männer einten sie und so waren ihre Gespräche zu größten Teilen verdammt amüsant. Teal hütete sich mit solchen Aussagen vor Toti, aber genau wegen dieser regelmäßigen Lachanfälle konnte sie dieses Weib so gut ausstehen.
Teal verdrehte über sich selbst die Augen, musste aber noch im selben Moment grinsen.
Du bist so eine dumme Gans, Teal, es gibt fast niemanden auf dieser Welt, den du nicht leiden kannst. Einer ihrer Schwachpunkte, wie sie ehrlich zugeben musste. Ein leises Schnauben riss sie aus den abschweifenden Gedanken und stammte von dem Wallach, den ihr der Stallmeister der Stadt in die Hand gedrückt hatte. Grinsend tätschelte Teal ihm den Hals.
„Mag ja sein, dass du stark und ausdauernd bist und ja, auch wahnsinnig hübsch, aber das ändert absolut nichts an der Tatsache, dass Harrison ein verdammt dämlicher Name für ein Pferd ist.“
Das Lachen brach ungehindert aus ihr heraus als der Wallach ihr mit einem erneuten Schnauben darauf antwortete und sie zudem noch so unsanft mit dem Kopf anstupste, dass sie beinahe ihr Gleichgewicht verlor. Sie behielt ihren Konter für sich und schob den Fuß in den Steigbügel, wohlwissend, dass Harrison und sie zu Freunden werden würden.
Tja, dann wurde es nun wohl ernst. Teal fühlte sich nach wie vor ein wenig überrumpelt und wie gelähmt angesichts der Tatsache, dass es hier um ein ihr unbekanntes Drachenreich ging, doch sie versuchte ihren Fokus auf die guten Dinge zu richten. Sie würde die Welt entdecken! Sie würde all ihr Wissen erweitern! Vielleicht war dies die Chance ihres Lebens?
„Bereit die Welt zu sehen, Harrison?“, raunte sie, dann gab sie dem Wallach die Sporen.
Die Magie um sie herum entging ihr nicht. Während sie Harrison zum Trab antrieb und Dumiah in ihrem Rücken immer kleiner wurde, krochen nach und nach die ersten Sonnenstrahlen über das trockene Land. Der Himmel wurde heller, präsentierte sämtliche Farben von pastellrosa bis goldgelb und tauchte die Tundra somit in ein magisch anmutendes Goldbraun, in dem gelb und grau gänzlich verloren gingen. Teals Lungen wurden erfüllt von Staub und machten ihr klar, dass dies vorerst das letzte Mal sein würde, dass die Luft um sie herum so trocken war. Keinerlei Wehmut überfiel sie mehr als sie sich fragte, wie es wohl in den anderen Reichen sein würde.
Wäre die Luft dort klar und frisch? Würde die Landschaft dort auch so im Morgengrauen glühen? Oder wäre die Sonne dort überhaupt nicht zu sehen? Spielte es überhaupt eine Rolle? Egal welch Aufgabe ihr auch erteilt worden war, sie würde sich vermutlich überall wohlfühlen, solange sie nur ein paar ihrer Werkzeuge dabeihatte und an einem offenen Feuer arbeiten könnte. Nicht umsonst trug sie die meiste Zeit über ihr eingerolltes Arbeitsmäppchen an ihrem Gürtel.
Mach dir nichts vor, Teal, dachte sie dann jedoch. Du wirst keine Zeit haben, denn du wirst die ganze Zeit damit beschäftigt sein, keinem Drachen in die Hände zu fallen. Unter keinen Umständen dürfte sie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Sie musste herausfinden, wie es um Astads Harpye stand. Ihr genaues Vorgehen dafür würde sie sich überlegen, wenn sie es erst mal in Astads Reich geschafft hatte. Wie auch immer dies heißen mochte. Bis dahin konnte sie ihre Reise wohl durchaus genießen. Sie ließ Harrison mal schneller und mal langsamer laufen, schob ihren funktionierenden Verstand mal einen Augenblick zur Seite und genoss die leisen Rufe der Vögel, weit über ihr. Das Schaukeln unter ihr ließ ihre Mundwinkel zucken und der Wind, der ihre ohnehin schon wilden Locken nur noch mehr zerzauste, ließ das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit in ihr aufkommen. Ein Jubelschrei brach sich ihrer Kehle bahn, dann gab sie Harrison wieder die Sporen, trieb ihn zum Galopp an und beobachtete voller Glück und Zufriedenheit, wie das weite Land an ihr vorbeirauschte und vor ihren Augen verschwamm.
Die Sonne wanderte Stunde um Stunde weiter, wurde mal verdeckt von den Wolken oder kämpfte sich durch dichten Nebel hindurch, war somit so vielfältig und wandelbar wie das Leben um sie herum. Die Landschaft um sie herum begann sich alsbald zu verändern, wurde allmählich grüner und fruchtbarer, kündigte ein Reich an, welches Teal nicht allzu fremd war. Die gigantische Felskette am Horizont kündigte die Bergstadt Beleah an, eine kurze Rast, noch weiter gen Süden war eine finstere Schlucht zu finden, hinter der die Wüstenstadt Keelerah lag. Ein Schaudern ging durch den Körper der jungen Frau als ihr der Gedanke an den grauen Drachen, Cain, kam. Sie hoffte, nein, betete, dass der grüne Drache Astad nicht auch ein solch barbarischer Mann war und umgänglicher wäre. Dabei brachte es nicht das Geringste darüber nachzudenken, schließlich war überhaupt nicht sicher, dass sie überhaupt auf Astad traf.
Vielleicht schnappte sie ja auch etwas über seine Harpye auf, wenn sie bloß ein wenig durch sein Reich schlenderte?
Bis dahin ist es noch ein langer Weg, dachte Teal und erlaubte es Harrison, ein wenig langsamer zu werden. Sie kamen in ein immergrünes Tal, durch das sich der Masha-Fluss schlängelte und flankiert wurde von schroffen und schiefergrauen Felswänden, deren zerklüftete Beschaffenheit ganz hervorragend zu dem Reich eines Drachen passte, wie Teal fand.
Es wäre schön gewesen, wenn sie am Fluss eine Rast gemacht hätte, aber außerhalb von Beleah gab es keinerlei Möglichkeit eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen und so entschied sie, ein einigermaßen gutes Gasthaus auszusuchen. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, doch sie wusste welch positive Entwicklung das Reich gemacht hatte und dass sie willkommen wäre. Sie lenkte Harrison also auf den Pfad des Tales, der beträchtlich schnell in die Höhe führte und die Luft dünner werden ließ. Der Wallach wurde noch ein wenig langsamer und trottete vor sich hin, doch Teal gestattete es ihm, wusste, dass sie ihm einiges abverlangt hatte. Auch sie musste sich erst einmal an die luftige Höhe gewöhnen und atmete ein wenig flacher, was aber nichts daran änderte, dass sie merkte, wie anders die Luft hier war. Klarer und frischer, trotz des Gesteins. Auch vor den Toren Beleahs noch konnte sie das saftige Gras und den Fluss im Tal riechen. Ob Teal wollte oder nicht, es zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Und es sorgte dafür, dass die Zeit nur so dahinrauschte.
Sie gab Harrison an einen Stallburschen, besuchte eine Taverne, aß, trank und führte, sehr zu ihrem Leidwesen, keinerlei Konversationen. Beleah war nicht mit Dumiah zu vergleichen. Menschen waren in der Überzahl, waren von einem Drachenkönig wohl weitaus leichter zu ängstigen. Doch auch die Anderen hier reagierten misstrauischer als Teal es gewöhnt war. Sie nahm es hin. Sie suchte sich kein Gasthaus um Schlaf zu finden, stattdessen schlich sie zu Harrison in den Stall, in dem er untergebracht war und rollte sich dort im Heu zusammen. Teal war genügsam, auch dann als dunkle Erinnerungen an ihre Flucht versuchten, sie in ihrem Schlaf heimzusuchen.
Sie wachte einigermaßen erholt auf und begann zu grinsen als sie sah, dass Harrison bereits auf den Beinen war und sie eindringlich anstarrte. Sein ungeduldiges Scharren mit den Hufen verdeutlichte, dass ihm das alles schon viel zu lange dauerte. Leise lachend tätschelte sie ihm den Hals.
„Schon gut, schon gut, ich bin ja wach“, meinte sie und kam ein wenig schwerfälliger als sonst auf die Beine. Sie klopfte sich das Stroh ab, schnappte sich all ihre Sachen und machte sich mit Harrison schleunigst auf den Weg zurück ins Tal, wo sie sich am Fluss frisch machen würde und einen Moment nutzte, um richtig wach zu werden.
Die Zeit war während ihres Schlafes nicht stehengeblieben, sondern unbarmherzig vorangeschritten. Der neue Tag war nicht nur angebrochen, er hatte die Mittagsstunde fast erreicht. Teal ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und lud alle Taschen ab, kaum dass sie den Masha-Fluss erreicht hatten. Sie gab Harrison ein paar Äpfel und Möhren, knabberte selbst ein bisschen an einem Streifen Dörrfleisch und ließ die Füße in einer seichten Stelle des Flusses baumeln. Bisher war alles sehr ruhig verlaufen, aber ob dies auch so bleiben würde?
Nicht einmal zwei Tage später rutschte Teal aus dem Sattel und führte den seidig braunen Wallach bedächtig in den Lereos-Wald hinein. Sie hatte nie vergessen, wie gefährlich dieser Ort war und dass hier weitaus mehr lauerte als nur der hier ansässige Nymphenstamm und das Rudel Wolfsmenschen, die ständig glaubten die Grenzen verschieben zu können. Teal war nicht scharf darauf diesen Wald zu durchqueren, doch ihn vollkommen zu umrunden hätte sie einige wertvolle Tage gekostet.
Du schaffst das schon, Teal, dachte sie. Du darfst dich nur nicht von deinen Erinnerungen einlullen lassen.
Harrison schien jedoch ebenfalls Bedenken zu haben, denn er riss so stark an den Zügeln, dass sie ins Straucheln geriet und ein Machtwort sprechen musste.
„Reiß dich gefälligst zusammen, Harrison! Je eher du dich benimmst, desto schneller sind wir wieder hier 'raus“, fauchte sie und bemerkte, wie sehr ihre Hände zu zittern begannen. Elender Mist, dass lag nicht am Stress und auch nicht an dieser Gegend!
Teal biss sich auf die Zunge, bis es schmerzte. Das war ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt um so etwas wie Verlangen zu empfinden, doch ihr war bewusst, dass es von allein nicht wieder nachlassen oder gar verschwinden würde. Besser, sie gab Acht und kam dem hier ansässigen Wolfsrudel nicht zu nahe. Dies war einfacher als gesagt, denn wenn dieses Rudel hier für etwas bekannt war, dann dafür, dass es ständig ungefragt Grenzen verschob. Sie waren gierig und mindestens ebenso unnachgiebig und verfressen.
Während Teal den Wallach zielstrebig durch das Unterholz führte dachte sie darüber nach, warum sie nie auf den Gedanken gekommen war, wieder Anschluss an ein Rudel zu suchen. Natürlich wäre es schön gewesen, Teil einer so großen Familie zu sein, aber für welchen Preis? Unter Wölfen herrschte eine ungemeine Unterdrückung. Die Männchen rangen um den Platz des Alpha und trafen alle Entscheidungen, die Weibchen dienten lediglich dazu, Nachkommen zu produzieren und aufzuziehen. Eine Frau mit ihren Fähigkeiten würde nicht nur verspottet werden, sondern wohl auch verstoßen. Teal versuchte den Gedanken zu verdrängen, fragte sich aber dennoch wie es wäre, gäbe sie sich ihren Gelüsten in ihrer Wolfsgestalt hin. Wäre es noch ungezügelter? Ja, beinahe bestialisch?
Klar hätte sie ihren Vater in der Vergangenheit danach fragen können, er war schließlich immer ehrlich zu ihr, doch so viel Schamgefühl besaß sie dann doch noch. Dieses Schamgefühl blieb auch dann noch präsent als sie sich fragte, wie ihr Vater das alles wohl handhabte. Noch nie hatte sie gesehen, wie Kestrel Damenbesuch empfing, also bestand die Möglichkeit, dass er seine Triebe so weit unter Kontrolle hatte, dass sie kaum der Rede wert waren? Schließlich war er auch noch nie nachts davongeschlichen, also wie machte er das nur? Teal hatte da so eine Vermutung, aber dieser Gedanke war zu schmerzvoll, um ihn genauer zu betrachten und so lenkte sie ihren Blick wieder auf ihre Umgebung.
Trotz des Sonnenscheins, des ihr heute gnädigen Wetters, erkannte sie aus den Augenwinkeln dunkle Schatten, die hin und her huschten und zur Gänze verschwunden waren, wann immer sie ihren Blick auf sie fokussieren wollte. Harrison musste sie ebenfalls bemerken, andernfalls wäre er nicht so nervös gewesen. Der Wald war permanent eingehüllt in einen mysteriösen Glanz und Dunst.
Pollen, Staubpartikel und noch andere Dinge waberten durch die Luft und ließen einen gewöhnlichen Menschen wohl denken, dass es sich dabei um bloßen Nebel handelte, doch Teal wusste es besser. Es gab durchaus die ein oder anderen Arten, die mit Hilfe dieses Nebels, dieser Feuchtigkeit, ihre Feinde und Eindringlinge lokalisieren konnten. Es spielte keine Rolle um welche Völker es sich dabei handelte, doch sie wussten, dass Teal und Harrison hier waren und sich mit Sorgfalt und Vorsicht durch das ihnen unbekannte Reich bewegten. Ein Stück weit brachte sie dies in Sicherheit, denn wenn dieser Ort zu einer Gefahr wurde, dann, wenn man ihm schaden oder ihn ausbeuten wollte. Kurz fragte Teal sich, wie es sich wohl anfühlen mochte hier zu leben, doch sie selbst war zu klein gewesen, um eine Erinnerung daran zu besitzen und niemals würde sie ihren Vater danach fragen und ihn somit in die schlimmste Zeit seines Lebens zurückstoßen.
Teal wurde jäh aus den Gedanken gerissen als sie in einen Abschnitt des Waldes gerieten, der sogleich viel finsterer und unheimlicher wirkte. Dichte Baumkronen und schier endlos wirkende Stämme verbannten jedwedes Sonnenlicht, welches ihr den Weg hätte weisen können. Eine Gänsehaut sorgte dafür, dass sich sämtliche ihrer Härchen aufrichteten und als Harrison sich wiehernd aufbäumte, verstärkte sich das Zittern ihrer Hände.
„Wer ist dort?“, hätte Teal am liebsten gerufen, aber da sie ohnehin keine Antwort bekommen würde, zog sie den Wallach dichter an sich heran und versuchte ihm die nötige Ruhe zu vermitteln. Wer auch immer dort im Schatten lauerte, er schaffte es hervorragend absolut regungslos zu verharren. Teals Augen schmälerten sich bei dem Versuch verräterische Schemen auszumachen. Sie witterte, roch jedoch nur Grün und Holz, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass ein Augenpaar auf sie gerichtet war. Und dann hörte sie es, das Knacken von ein paar winzigen Zweigchen, die ihr augenblicklich erlaubten den Beobachter zu lokalisieren. Sie blickte zwei Meter weiter nach rechts, dachte erst sie würde nur eine Reflexion sehen, erkannte dann aber die leuchtend grauen Augen, die unverkennbar waren. Alles in Teal sträubte sich und sie wollte sich verwandeln, doch weil es Harrison zu sehr verängstigt hätte, ließ sie es bleiben und ging das Risiko ein, von einem fremden Wolf zerfleischt zu werden. Unendlich viele Flüche und Beleidigungen lagen ihr auf der Zunge, doch tapfer schluckte sie sie herunter, wohlwissend, dass das hier nicht ihr Territorium und somit nicht ihre Regeln waren. Sie musste Respekt und Vorsicht walten lassen. Der Wolfsmensch, dessen gesamte Gestalt sie nach wie vor nicht ausmachen konnte, zeigte Erbarmen und trat leise knurrend hinter einem dicken Baumstamm hervor. Seine menschliche Gestalt war makellos, gar keine Frage. Seidig braune Haut, mit diesem verführerischen Schimmer, steinharte Muskeln, die von machthungrigen Kämpfen zeugten und eine ungewöhnlich große Gestalt, die eher sehnig hätte sein sollen.
Eine Welle von Verlangen schwappte durch Teals Adern, ließ ihren gedanklichen Fluch nur noch lauter ausfallen. Ihr Körper war ihr schon zu oft in den eigenen Rücken gefallen, um ihm nun auch noch das zu geben, wonach es ihm verlangte. Noch viel verrückter machte es sie zu wissen, dass dieser Unbekannte jede ihrer elenden Körperreaktionen wittern konnte. Dementsprechend fiel schließlich auch dessen Reaktion aus.
Sämtliche Magie des Lereos-Waldes war verschwunden als der Fremde die Zähne fletschte, ähnlich einer Grimasse und knurrte: „Wusste ich doch, dass es hier nach wollüstigem Weib riecht.“
Teal schauderte bei den rauen Lauten im wölfischen Dialekt, den sich alle Wolfsmenschen dieser Welt teilten. Sie konnte es nicht einmal bestreiten und war fuchsteufelswild darüber, doch sie musste die Ruhe bewahren.
„Ich bin nur auf der Durchreise. Lass mich passieren“, entgegnete sie kühl, nachdem sie es geschafft hatte, kein Knurren nach außen dringen zu lassen. Der Wolf kam unaufhörlich näher, so nahe, dass Teal alle Selbstbeherrschung aufbringen musste, um nicht zurückzuweichen. Harrison wieherte und schnaufte laut, riss zusätzlich an den Zügeln und ihrer schwindenden Geduld. Das Mitleid, das in ihr aufwallen zu drohte wollte sie dazu verleiten, die Zügel loszulassen, damit er fliehen konnte, doch dies spräche gegen jede Vernunft. Es war allerdings verlockend angesichts der Tatsache, dass der Fremde nun direkt vor ihr stehenblieb und sie voller Anzüglichkeit bedachte. Ein erneuter Schauer lief ihr über den Rücken.
„Warum so eilig? Wir wollen doch beide das Gleiche“, raunte er und blickte abermals und wie zum Beweis auf ihren Busen, der dank ihres Korsetts nur noch weiter nach oben gedrückt wurde. Teal zögerte, denn ihr lag tatsächlich Zuspruch auf der Zunge, doch es gelang ihr, nicht auf den Überfluss ihrer Instinkte und Hormone zu hören.
„Im Gegensatz zu dir sehe ich keinerlei Grund, mich dem hinzugeben. Wenn du nun also bei Seite treten würdest?“
Verlangend und trotzig zugleich reckte sie das Kinn vor, in der Hoffnung er möge ihr Platz machen, doch ihre Hoffnung trug keine Früchte. Stattdessen fiel sein Blick viel zu lange auf Harrison in ihrem Rücken. Das Grinsen des zugegeben attraktiven Mannes wurde noch ein wenig breiter und entblößte zwei Eckzähne, die eine Spur zu lang waren, um menschlich zu sein. Sie verrieten seine Herkunft ebenso wie das silberne Leuchten seiner runden Augen.
„Ich mache dir ein Angebot“, stieß er plötzlich aus, was Teal dazu brachte das Schlimmste anzunehmen. Wolfsmenschen waren nicht zwangsläufig intelligent, da trieb- und instinktgesteuert, aber eine arge List oder ein rentables Geschäft ließen sie sich selten entgehen.
Teal schwieg und erlaubte ihm somit, fortzufahren.
„Wir zwei Hübschen ziehen uns an einen unbeobachteten Ort zurück und vergnügen uns ein wenig und im Gegensatz dazu, werden wir Acht auf dein Pferd geben. So kannst du unbehelligt weiterreisen, liebste Teal.“
Die junge Frau erstarrte zu einer leblosen Statue, spürte, wie die blanke Angst die klammen Finger nach ihr ausstreckte und sie in ihren erbarmungslosen Griff nahm. Das war unmöglich! Dieser so jung aussehende Mann konnte ihren Namen nicht wissen, schließlich war es über zwanzig Jahre her, dass sie mit ihrem Vater von diesem Albtraum erweckenden Ort verschwunden war!
Und dennoch grinste der Fremde sie wissend an, besaß nun sogar die Dreistigkeit die Schultern zu zucken und ein leises Pfeifen auszustoßen.
„Ach, du weißt ja wie wir sind. Geschichten halten sich und unsere Ohren sind überall. Außerdem... wurde lange darüber spekuliert, wann und unter welchen Umständen du wieder hier erscheinst. Und du kannst dein Blut nicht leugnen, ist es nicht so?“
Teal verzog das Gesicht angesichts seiner Arroganz, bekam jedoch keinen Widerspruch über die Lippen, da sie zu oft die gleichen Dinge gedacht hatte. Sie musste versuchen ein unverfänglicheres Thema zu finden und keines, bei dem ihr Vater oder sie in einem schlechten Licht dargestellt wurden.
„Wenn du schon meinen Namen kennst, verrate mir wenigstens auch deinen“, grummelte sie, inständig hoffend er würde nicht merken, wie nervös diese Situation sie machte. Sein nach wie vor nicht verblassendes Grinsen nahm ihr die Hoffnung jedoch sofort wieder.
„Vane. Höchst erfreut“, entgegnete er ohne zu zögern und vollführte einen tiefen Knicks, der bloß eine Zurschaustellung seines Spottes war und Teal fast zum Würgen brachte. Ihre deutliche Ablehnung kümmerte ihn keinen Deut und verdeutlichte Abermals, dass die Belange einer Frau in ihren Kreisen keinerlei Rede wert waren. Seine anerzogene Egozentrik würde keinen Knacks bekommen, ganz gleich wie oft Teal ihn auch verprellen würde. Vielleicht half es, wenn sie ihn einfach überging und auf Harrison aufsaß, um sich aus dem Staub zu machen?
Sie kehrte Vane ohne ein Wort zu verlieren den Rücken, wickelte sich gerade Harrisons Zügel um die Hand, da vernahm sie ein leises Rascheln.
„Hey!“
Sie blickte zurück, erstaunt über die Sanftheit und Eindringlichkeit in Vanes Stimme. Er hatte das Gewicht verlagert, sah sich nun mehrmals um und wirkte so verloren, dass Teal glaubte, ihre Augen spielten ihr nur einen Streich. War diese Unsicherheit, die sein Gesicht so weich erscheinen ließ, wirklich echt?
„Bitte geh nicht“, bat er so leise, dass sie es gerade nur so verstand. „Ich habe... Ich bin seit einigen Tagen unruhig und... Niemand wird erfahren, dass du hier warst, niemand würde denken, dass wir...“, stammelte er und brachte die junge Frau tatsächlich dazu, sich ihm wieder vollständig zuzuwenden. Dass er keinen anständigen Satz herausbrachte änderte absolut nichts daran, dass Teal nicht alles auf Anhieb verstand. Sie war erstaunt über die plötzliche Schüchternheit und fragte sich, ob Vane ihr nur etwas vorspielte oder ob er wirklich von seinen Trieben gepeinigt wurde und in ihrer Begegnung eine passable Lösung für sein Problem sah. Teal strich sich ein paar verirrte Locken aus der Stirn, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatten und seufzte leise. Es war ein völlig irrsinniger Gedanke, für den sie von ihrem Vater ziemlich gehörigen Ärger bekommen hätte, aber sich auf die, wenn auch eher plumpen, Avancen von Vane einzulassen, könnte auch ihr wahres Wesen für eine ganze Weile ruhigstellen. Sie könnte weiterreisen, ohne sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wo und wann sie das nächste Mal jemanden suchen sollte. Glücklicherweise stellten ihre Triebe keine allzu großen Ansprüche. Trotz all der scheinbaren Vorteile stieß Teal erneut ein Grummeln aus.
„Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass du den Mund hältst. Wenn du zurückkehrst, wirst du ohnehin den unverkennbaren Gestank ausdünsten und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis mein Name fällt. Erspar' mir diese Schmach!“, fauchte sie, was Vane mit einem schockierten Kopfschütteln quittierte. Offenbar konnte er nicht glauben, dass sie ihm solch Bosheit unterstellte.
„Muss ich wirklich an dein Mitgefühl appellieren?“, platzte es aus ihm heraus, als er wieder vor sie trat. „Ich bitte dich, Teal, du weißt genau, was für eine Qual es ist. Dieses heiße Brennen unter der Haut, das dir den Verstand raubt, wenn du ihm nicht nachgibst.
Ich werde auf dein Pferd Acht geben und ihnen von einer Fremden erzählen, die mir im Gegenzug ein paar Stunden geschenkt hat“, redete er auf sie ein und beobachtete, wie sich ein paar dünne Falten in ihre Stirn gruben. Das könnte funktionieren, dachte sie säuerlich. Vane musste überhaupt nicht an ihr Mitgefühl appellieren, sie wusste auch so um den Fluch, der auf ihrer Rasse lag. Es gab unzählige uralte Geschichten, die davon erzählten, wie Wolfsmenschen in völliger Raserei und Ekstase ihre Partner zerrissen und zerfetzt hatten, weil sie zu lange all das unterdrückt hatten, was in ihnen schlummerte. Der Grat zwischen Beherrschung und Hingabe wr schmal und erforderte ein Maß an Konzentration, das längst nicht allen gegeben war. Vane war jung und besaß diese Kontrolle ganz offensichtlich nicht.
Teals hängende Schultern verrieten, dass sie ihm nicht mehr lange standhalten konnte. Sie blickte Harrison an.
„Aber wir können ihn nicht unbeaufsichtigt lassen, Andere würden sich ihn holen“, hielt sie ein letztes Mal dagegen. Anderen mochten die Tiere ja egal sein, doch selbst wenn Harrison nur ein winziger Käfer gewesen wäre, hätte sie ihn beschützt und auf ihn Acht gegeben. Niemals würde sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren können, Harrison schutzlos zurückzulassen. Vane stand sogleich viel aufrechter und sprach mit Überzeugung, weshalb Teal zu dem Entschluss kam, dass nichts an seinem Verhalten gespielt und unecht war.
„Das ist die Grenze unseres Territoriums, solange er sich innerhalb dieser Grenze befindet, wird ihm nichts geschehen. Wir hingegen sollten noch einige Meter weitergehen.“
Teal war sich unsicher, doch ihr Körper wurde völlig mitgerissen von der Vorfreude und der Aussicht, bald schon einen warmen Leib an und in sich zu spüren. Das Zittern ihrer Hände kehrte zurück und auch ihre weichen Knie rührten nicht von bloßer Sympathie her.
Um ihren Händen eine Beschäftigung zu geben wandte sie sich halb um und strich dem Wallach über die Nüstern.
„Was meinst du, mein Lieber? Kommst du für eine Weile alleine zurecht?“, fragte sie ihn leise und rechnete felsenfest damit, dass der Wallach sich wiehernd aufbäumte. Doch sein Blick traf den ihren und war warm und ruhig, gab keinen Hinweis mehr darauf, dass Gefahr im Verzug war. Harrison schien ihr somit seine Erlaubnis zu erteilen.
„Sieht so aus, als wäre es in Ordnung“, brachte Teal schwerfällig über die Lippen, mit Blick auf Vane. Sie entdeckte Erleichterung auf seinen Zügen und erkannte auch bei ihm ein Zittern, also schien auch sein Körper ihn fast vollkommen unter Kontrolle zu haben.
Fortan herrschte Schweigen zwischen ihnen. Teal wirkte ein wenig fahrig als sie Harrison locker an einem Baum festband und ihm leise zuflüsterte, dass er zwar Rast machen konnte, sich dabei aber möglichst ruhig verhalten sollte. Sein Blick aus den dunklen runden Augen kam ihr misstrauisch vor, doch er gab keinen Laut von sich und so drehte sie sich zu Vane um und sah, wie er ihr seine Hand darbot. Was dann folgte war eine gänzlich neue Erfahrung für Teal.
Sie streckte ihre Hand aus, legte ihre Finger in seine und spürte die Einvernehmlichkeit, als sich seine um die ihre schlossen. Sie spürte eine Welle der Zugehörigkeit, hätte selbst, wenn sie blind gewesen wäre gewusst, dass es sich hierbei um einen Ihresgleichen handelte. Für die Natur waren sie ein schlichtes Paar, Mann und Frau, zwei Teile eines Ganzen, nicht mehr und auch nicht weniger.
Teal fand Vane auf eine nüchterne Art attraktiv und ihr erhitzter Körper fieberte darauf hin, sich mit ihm zu vereinigen, doch darüber hinaus stellten sich keinerlei Gefühle bei ihr ein. Sie fand ihn nicht nett und auch nicht unsympathisch, doch sie wusste, dass sie sich wohl kein zweites Mal begegnen würden. Sämtliche Beziehungen zu Männern in ihren Leben glichen losen Fäden, die sie sich abzupfen konnte, wurde sie ihnen überdrüssig. Ihre Umgehensweise damit hatte sie nie gestört und auch nun war keine Zeit, um derartige Dinge anzuzweifeln. Sie erwiderte Vanes strahlendes Lächeln leicht und ohne ihre zu langen Eckzähne zu zeigen, auch wenn sie vor Neugier auf die nächsten Augenblicke hätte platzen können...
Die Nächte im Lereos-Wald waren anders, grausamer, kälter und von Finsternis beherrscht. Sämtliche Anderen zogen sich nach Untergang der Sonne zurück, um all jenen Platz zu machen, deren Blutdurst und Hunger nicht allein mit Verstand zu beherrschen war. Riesige Kreaturen streiften zwischen den Bäumen entlang, gesichtslos und von knöcherner Gestalt, auf der Suche nach Zurückgebliebenen, deren Leben sie aussaugen und Hüllen verspeisen konnten.
Winzig kleine Geistwesen und leuchtende Insekten spendeten ebenso wenig Licht wie die Mondsichel, weit über dem Blätterdach.
Das Leben bei Nacht war anders, doch nie still. Eulenrufe durchdrangen die Stille ebenso wie die Rufe der Seelenloser und Unbekannter. Irgendwo, mitten im Dickicht, herrschte reges Treiben. Knurren und Gebrüll war zu vernehmen, zeugten von einer Vereinigung, die wohl dem puren Zufall geschuldet war. Zwei Wölfe waren ineinander verkeilt, hatten selbst Mäuler und Reißzähne ineinander verhakt, kämpften augenscheinlich um ihr Rudel, doch der Anschein trog. Es handelte sich nicht um zwei Männchen, die um den Rang des Alpha kämpften, es waren ein Männchen und ein Weibchen und sie stritten um gänzlich andere Dinge. Es war das erste Mal, dass das Weibchen sich dem Spiel der Lust nicht in ihrer Menschengestalt hingab, sondern in ihrem Fell, also war sie vielleicht deswegen so gereizt? Oder war es die Feststellung, welch Vergnügen es bereitete? Keine Rücksicht zu nehmen, zu brüllen und heulen und selbst die Zähne in Fell und Fleisch zu vergraben.
Teal beschönigte nichts und sie zögerte auch nicht. Bereitwillig nahm sie Vane in sich auf, heulte auf bei dem Gefühl, wie er sie hart und ohne Gnade ausfüllte und so oft in sie stieß, dass sie darum fürchten musste, vorerst nicht mehr laufen zu können. Doch Wölfe waren widerstandsfähig und ihr Hunger noch lange nicht gestillt. Der Morgen lag noch weit entfernt und so ging das rege Treiben weiter, bis irgendwann Ruhe einkehrte, die Seelenlosen verschwanden und der Lereos-Wald wieder zu der heiligen Stätte wurde, vor der sich die Menschen so sehr hüteten.
Die zwei Wölfe brachen noch vor Morgengrauen auf dem Waldboden zusammen, nicht aneinander gekuschelt und auch keine Blicke füreinander übrighabend.
Teal war hellwach und bemerkte sofort, wie Vane wegdämmerte und die Augen schloss. Ein perfekter Moment also, um die Unversehrtheit ihres Körpers zu überprüfen. Sie rollte sich auf den Rücken um für einen kurzen Moment alle Viere von sich zu strecken, dann rollte sie sich herum und stieß ein zufriedenes Gurren aus, nachdem sie ihre fünf menschlichen Finger vor Augen hatte. Ihr Hunger mochte gestillt sein, das heiße Brennen unter ihrer Haut verschwunden und das letzte Bisschen Adrenalin abgeklungen sein, doch nichts davon kam jener Erleichterung gleich, nicht mehr in ihrem Fell zu stecken. Sie war dankbar für diese Erfahrung, wusste nun wie es sich anfühlte das zu tun, was ihr bestimmt war, doch ihr Entschluss stand fest, sie wollte niemals zu einem festen Teil eines Rudels werden. Sie war nicht nur ein Teil von irgendetwas, sie war etwas Eigenes, jemand Selbstständiges, sie war das große Ganze und nichts und niemand musste dies ergänzen. Im Einklang mit der Natur lauschte Teal ihrem Herzschlag, lauschte dem stetigen Klang von Vanes Atem und dem Windhauch, der durch die Bäume strich. Der Zeitpunkt war ideal, um sich aus dem Staub zu machen, doch bei dem Gedanken an Harrison wurde ihr ganz schwer ums Herz. Mochte ja sein, dass alles mit Vane abgesprochen war, aber brachte sie es wirklich über sich, den Wallach einfach hier zurückzulassen?
Energisch setzte Teal sich auf. Was für eine Frage, natürlich konnte sie das nicht. Es spielte absolut keine Rolle wie lang und beschwerlich die alleinige Weiterreise auch werden würde, doch Harrison und sie hatten sich in den vergangenen Tagen bereits aneinander gewöhnt und es erschien ihr herzlos, ihn ohne mit der Wimper zu zucken in einer fremden Umgebung zurückzulassen. Ihre Moralvorstellungen verbaten es ihr! Ein kurzer und gefühlloser Blick auf Vane bestärkte sie in ihrem Entschluss. Sie erhob sich ohne laute Geräusche zu verursachen, schwelgte ein letztes Mal in der bittersüßen Lust vergangener Nacht und lief dann los.
Blindlings klaubte sie ihre achtlos verstreuten Kleidungsstücke auf, dann machte sie sich auf den Weg zu Harrison, der sie schon mit den Hufen scharrend erwartete. Mit seinen ruckenden Kopfbewegungen schien er ihre Nacktheit kommentieren zu wollen, doch Teal ignorierte ihn geflissentlich während sie sich anzog. Erst nachdem sie ihr Korsett geschnürt und ihr Haar einigermaßen gerichtet hatte, beäugte sie Harrison ein wenig kritischer.
„Guten Morgen, mein Hübscher. Hat dich auch kein Ungeheuer vergangene Nacht angeknabbert?“
Des Wallachs Tänzeln sollte wohl Angst und Nervosität vortäuschen, doch sein tadelloser Zustand war der jungen Frau Antwort genug und so nahm sie seine Zügel zur Hand und setzte sich gemeinsam mit ihm in Bewegung. Ohne zu zögern erklärte sie ihm ganz offen, dass sie ihre Meinung geändert hatte und ihn nicht hier zurücklassen würde, was er mit einem seichten Nicken seines Kopfes und einem Schnaufen zu beantworten schien.
Teal verließ sich auf ihre Nase und ihr Gehör, um den Wölfen hier nicht aus Versehen zu nahe und in die nächste unangenehme Situation zu kommen. Und so führte sie Harrison und sich behutsam aus dem Wald heraus, um ihre Reise fortzusetzen.
„Wir haben es geschafft, Harrison“, flüsterte Teal und zog an den Zügeln, um den Wallach zum Anhalten zu bewegen. Neun Mal war die Sonne auf und untergegangen, ehe sich ein Brachland am Horizont erstreckte, welches im flimmernden Licht der bald untergehenden Sonne beinahe wie eine Fata Morgana wirkte. Ein dunkler Schatten dahinter ließ in Teal die Vermutung aufkommen, dass dort der geheimnisvolle Urwald von Vaughn und Kressida lag und lauerte, doch ihre Sinne vermittelten ihr vermutlich nur eine Täuschung. Es spielte auch keinerlei Rolle, denn ihr Augenmerk sollte einzig und allein auf der Einöde vor ihr liegen, dem Reich Astads, deren Grenzen ihr noch nicht ersichtlich waren. Wenn es eingrenzende Stadtmauern gab, dann waren sie so klein, dass Teal sie von hier aus noch nicht erkennen konnte. Im Schritttempo trieb sie Harrison an, beruhigt über den Gedanken, dass hier wohl nicht viele Reisende vorbeikamen.
Ob dies an dem Regenten oder an der eher feindlichen Landschaft lag, konnte sie bisher bloß vermuten.
Nach einigen Minuten stellte sie fest, dass dieses Land alles andere als tot war. Unzählige kreischende Greifvögel flogen hoch über ihr und behielten sie im Blick, kamen ihr jedoch nie so nahe, dass sie darum fürchten musste, einer von ihnen sei ein Spion, der Astad über die Ankunft einer Fremden informierte. Teal wusste zu wenig über die Geheimnisse der Drachen um sagen zu können, ob der grüne Drache ihre Anwesenheit wohl schon längst spüren konnte. Wenn dem so war und jemand käme auf sie zu, ein Diener, Soldat oder dergleichen, würde sie kurzerhand behaupten, sie sei nur auf der Durchreise. Blieb die Frage, ob sie damit durchkäme?
Harrisons Entspannung und sein gelassener Zustand waren ein gutes Zeichen und so näherten sie sich langsam aber sicher einer Stadt, die nicht so groß war, wie Teal zu Anfang gedacht hatte.
Bald schon erkannte sie weiß getünchte Stadtmauern, die gerade hoch genug waren, um die dahinter liegenden Häuser und Hütten zu verbergen. Ein hölzernes und geöffnetes Tor war zu erkennen und schien auf den ersten Blick einladend zu wirken, wären da nicht die vier großen und muskulösen Männer, die davor postiert waren und, nach Teals Urteil, einen ziemlich langweiligen Job haben mussten. Noch war sie zu weit entfernt um ausmachen zu können, ob es sich bei ihnen um Menschen oder Andere handelte, doch sie wusste, dass
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Tag der Veröffentlichung: 18.11.2023
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