Der Polarkreisel war unbarmherzig. Fernab von Wäldern, Wüsten und dem blühenden Leben, verwandelten Minusgrade und klirrende Winde den vereisten Boden in eine lebensfeindliche Region, wo nichts weiter anzutreffen war als Amphibien, kleinere Raubtiere und Andere, deren Gestalten optimal isoliert waren gegen die eisige Kälte. Wenn kein Schnee und Eis, die von mehreren Flüssen und Seen überzogene Landschaft bedeckte, überzogen bloß Frost, dunkle Gräser und kleinere, trockene Sträucher die harte Erde, unter der möglicherweise Geheimnisse lauerten, von denen nie auch nur ein Anderer erfahren würde.
Der glühend heiße Feuerball am Firmament war gerade erst empor gestiegen, war jedoch zu weit entfernt um genügend Wärme zu spenden und würde binnen weniger Stunden auch wieder verschwinden. Inmitten dieser Stille und weit abgeschieden vom restlichen, rauen Leben ragten wie aus dem Nichts heraus, und um einen kleinen See herum, viele Steinhäuschen auf. Ihre losen, aufeinander gestapelten Steine erweckten den Eindruck, als würden sie häufig auseinander genommen und wieder zusammengesetzt werden, was nicht von ungefähr kam.
Vor nicht allzu langer Zeit bestanden diese Unterkünfte noch aus bloßem Holz und Planen, perfekt darauf ausgelegt, schnell wieder im Nichts zu verschwinden, doch letzten Endes nahm die Bequemlichkeit Überhand. Das Gestein isolierte die wenige Wärme ein bisschen besser und schien auch die wenigen hier lebenden Tiere erfolgreich einzuschüchtern, ganz zu schweigen von der Privatsphäre.
Jene Häuschen waren nicht sonderlich groß, boten nie mehr Platz für Drei, dafür standen sie nahe beieinander und wiesen so auf die Dynamik des hier lebenden Volkes hin. In ihnen herrschte karge Leere. Schlafplätze aus bloßem Stroh oder dünnen Matten, kleine Feuerstellen, die nur selten genutzt wurden und ein paar Aufbewahrungsmöglichkeiten, bestehend aus Körben und Säcken, mehr war in den seltensten Fällen zu finden. Anders sah es hingegen in der Hütte der Rudelführer aus. Das große und geräumige, steinerne Heim war mit Teppichen und Fellen ausgestattet, beherbergte frisches Obst und Gemüse, welches aufwendig aus anderen Regionen aufgetrieben worden war, und andere Luxusgüter, die so hoch im Norden alles andere als selbstverständlich waren. Doch Missgunst oder Neid gab es hier nicht. Das Gegenteil war der Fall, denn die harte Arbeit, die dahintersteckte, erforderte ihren Tribut, der nur allzu bereit gegeben wurde.
Der Polarkreisel verlangte eigene Regeln und schien nichtmals die majestätischen Drachen zu dulden und dies machte sich das hier lebende Rudel der Greifen zu Nutze. Dies war ihr Reich, ihr Territorium, zumindest für so lange, wie sie hier genügend Nahrung fanden.
Es war nicht schwer sich die wenigen Fressfeinde vom Leib zu halten und auch bot die Natur immer genügend Wild, um die gut hundertzwanzig Greifen satt zu bekommen. Für den Notfall kamen sie auch einige Wochen ohne Nahrung aus, nur für die Kleinsten galt dies nicht.
Ihr Schutz stand bedingungslos an erster Stelle, ebenso wie der, der Rudelführer. Das Greifenpaar sorgte nicht nur mitunter für genügend Nachkommen, sondern bestimmte auch den Aufenthaltsort des Rudels. Sie verteilten die Aufgaben, nahmen sich Zeit und ein offenes Ohr für jeden Einzelnen und waren in gewisser Weise die Könige, wie die Drachen in ihren Reichen.
Das Rudel bestand aus den Führern, ihren direkten Untergebenen und den Pärchen. Die einzelstehenden Greifen wurden, sobald sie alt genug waren, verpaart. Somit wurde der Kreis geschlossen und der Fortbestand gesichert. Noch nie waren im Laufe der Geschichte Zweifel an diesen Methoden geäußert worden. Es funktionierte, schien einfach in ihrer Natur zu liegen, wie auch die menschliche Form, die sie zwar durchaus annehmen konnten, es aber nicht so oft taten, wie man meinen sollte. Ihnen war nicht bewusst, warum die Evolution ihnen zwei Körper geschenkt hatte, aber einer von ihnen, ein Krieger und Leibeigener der Rudelführer, begann es immer öfter zu hinterfragen.
Eben dieser Krieger begann seinen Tag mit dem Aufsteigen der Sonne. Der Greif Silas lag zusammengerollt vor der Hütte der Rudelführer, hielt im leichten Schlaf Wache und schlug die amberfarbenen Augen auf, als die ersten Sonnenstrahlen den von Frost bedeckten Boden küssten. Er hob den breiten Kopf vom seinen dicken und schwarzgefiederten Läufen und betrachtete für einen kurzen Augenblick seine von vier langen Krallen ausgestatteten Pranken, die tiefe Furchen in die harte Erde gezogen hatten. Benommen blinzelte er. Er konnte sich an keinen Traum erinnern, doch es erweckte den Eindruck, als habe er in seinem Dämmerungszustand an alte und längst vergangene Schlachten gedacht.
Er senkte den Schädel und verscharrte mit seinem scharf nach unten gebogenen Schnabel jene Furchen, über die er nicht nachdenken wollte, dann kam er schwungvoll auf die Läufe. Die tiefbraune und dichte Federpracht raschelte leise, als er sich schüttelte, um alle Müdigkeit hinfort zu jagen. Dabei zuckte sein langer, federnloser Schweif aufgeregt hin und her, bloß die fächerartigen Federn am Schwanzende peitschten leise surrend durch die Luft.
Silas dehnte sich ausgiebig, streckte die Vorderläufe aus und breitete die Schwingen aus, deren vier Meter weite Spannweite für einen Wimpernschlag die Hütte hinter ihm in dunkle Schatten tauchte. Neue Energie durchströmte seinen aus bloßen Muskeln und Sehnen bestehenden Körper, bereit einen neuen Tag, mit den immer altvertrauten Aufgaben zu beginnen. Noch im selben Moment regte auch Asher sich, auf der linken Seite von ihm, direkt neben dem Eingang der steinernen Behausung.
In nur wenigen Minuten würden sie Hanalei und Blythe, die Rudelführer, aus ihrem Tiefschlaf reißen und auf deren Befehle warten.
Ashers und seine Aufgabe bestand nicht nur darin, das hochangesehene Paar mit ihrem Leben zu beschützen, sondern ihnen auch bei der Beratung und wichtigen Entscheidungen zur Seite zu stehen. Botengänge waren da noch das kleinere Übel.
Silas mochte ruhig und besonnen wirken, aber den Wachhund zu spielen missfiel ihm. Das Jagen und Töten lagen ihm im Blut, die Bewachung eines Paares lag ihm dagegen äußerst fern. Doch Silas fügte sich seinem Schicksal. Als junger Sprössling lag Dank seiner Rauheit und wilden Art auf der Hand, dass er zum Krieger erzogen wurde und so hatte er die Ausbildung zu eben jenem genossen, dabei besaß er weit mehr Tiefgang, als er dem Rest des Rudels gegenüber erkennen ließ.
So manchen Gedanken mochte er sich wohl nicht verkneifen können, doch er respektierte die Ordnung und Regeln der Sippe und wäre im Entferntesten nicht auf die Idee gekommen, auch nur einen Einzigen von ihnen zu hintergehen oder anderweitig in den Rücken zu fallen.
Silas nickte Asher einem Gruß gleich zu, wobei der Ausdruck in den grünlichen Augen seines Verbündeten zu verstehen gab, dass auch er in dieser Nacht keinerlei Auffälligkeiten bemerkt hatte. Asher war ihm ähnlich, zumindest was seine Gestalt betraf. Sein Körper besaß ebenfalls ein Stockmaß von zweieinhalb Metern, bloß seine Federpracht wies eine andere Farbgebung auf. Die sattschwarzen Federn wurden bloß ab seinem kurzen, aber geschmeidigen Hals heller und gingen in ein verwaschen wirkendes Weiß über, aus dem die blassgrünen Augen kaum herausstachen. Sein sehnsuchtsvoller Blick Richtung See bewies deutlich, dass er der Erste sein wollte, der ein kurzes Bad nahm, was Silas mit einem knappen Nicken absegnete.
Reglos verharrend sah er mit an, wie Asher zum Ufer hinab trottete und dabei seinen Schweif achtlos durch den Dreck zog. Silas stieß ein leises Grummeln aus, welches aus seiner weiß-gefleckten Brust kam. Dieser Idiot war schon immer ein Morgenmuffel gewesen und irgendwann würde ihn diese Achtlosigkeit, dieser Makel, zum Verhängnis werden, es wäre nur eine Frage der Zeit. Da er sich nicht länger mit der Fehlerhaftigkeit seines Stammesbruders auseinandersetzen wollte, legte Silas den Kopf in den Nacken und setzte zum Weckruf des Rudels an.
Der hohe und klangvolle Ruf war eine regelrechte Salve des ein und demselben Tons, der sich fünf Mal wiederholte, ehe er von dem ein oder anderen leisen Fiepen aus den Hütten erwidert wurde. Die Jüngsten reagierten immer sofort und waren hellwach, instinktiv dazu bereit, Neues zu lernen und schnellstmöglich heranzuwachsen. Die Ausgewachsenen hingegen ließen sich Zeit, die Aufzucht und auch die anderen Arbeiten liefen ja nicht vor ihnen davon.
Silas verstummte und ließ den Blick aus seinen großen, mandelförmigen Augen über die Siedlung schweifen, beobachtete, wie Feuerschein die ein oder andere Hütte beleuchtete oder Greifen ihre Nester, die steinernen Behausungen, verließen.
Sie waren fortschrittlicher geworden, rollten sich nicht mehr in hölzernen und mit Federn und Fellen ausgekleideten Nestern zusammen, sondern erbauten aus Stein bestehende Schlupflöcher, deren Materialbeschaffung nur den stärkeren Männchen zugewiesen wurde. Wenn Silas es nicht besser wüsste würde er behaupten, Blythe wollte das Rudel an einen festen Ort binden. Hanalei mochte diesen Gedanken, weil ihr die Aufzucht der Kleinen so leichter erschien, aber als Berater hatte Silas Bedenken geäußert. Feinde, bestehend aus Drachen, anderen Greifen, Zentauren und diversen weiteren Anderen könnten somit leichter auf sie aufmerksam werden und wurden möglicherweise auf den Gedanken gebracht, dass ihr Rudel leichte Beute wäre.
Für diese Äußerung hatte Silas ordentlich Kritik und Ärger einstecken müssen und so waren sie auf den Kompromiss mit den Steinhütten gekommen. Sie ließen sich schnell zerstören und beseitigen, wäre eine Flucht von Nöten.
In den vielen letzten Jahren war dies allerdings nie erforderlich gewesen und er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Man durfte ihn nicht falsch verstehen, er hatte nichts gegen den Polarkreisel und mochte seine unbeugsame Natur, aber hin und wieder spürte er diesen Drang in sich, auch mal weiter über den Rand hinauszuschauen. Und er wünschte, die anderen täten dies auch einmal. Leider waren seine Wünsche irrelevant, er hatte seine Aufgaben zu verrichten.
Diese Aufgabe nahm er nun wieder auf. Herz und Verstand zur Ruhe zwingend drehte er sich um, um das Haus der Führer zu betreten. Seine Pranken stapften leise bei jedem Schritt den er machte, erschienen viel zu laut in der Stille des königlichen Nestes, wo unzählige Luxusgüter in seine Augen sprangen. Flauschige Teppiche, unzählige Goldskulpturen und Körbe und Schalen voller saftiger Früchte. Seine Instinkte sprangen darauf an und drängten und bettelten darum, all das Gold an sich zu nehmen und auf der Stelle von hier zu verschwinden, aber er kämpfte um seinen klaren Verstand und richtete seinen Blick kurzerhand auf den Schlafplatz von Hanalei und Blythe.
Das Paar lag eng umschlungen auf ihrem Bett, aus Tierhäuten und Fellen, welches umsäumt wurde von unvorstellbar teurem Räucherwerk, welches einer der Händler, fernab ihres Landes gekauft hatte und das Innere des Nestes mit zartem Kräuterduft erfüllte, welcher wohl einen Tiefschlaf herbeiführte, wie die schlafenden Greifen just in diesem Moment bewiesen. Der Weckruf hatte ihre gefederten und spitz nach hinten aufgerichteten Ohren nicht erreicht, das leise Knacken, welches durch den offenen Raum schallte, stellte ihr Schnarchen dar.
Die nicht vorhandenen Fenster tauchten alles in angenehme Dunkelheit, für die Augen eines Greifs spielte dies aber keine Rolle und so machte Silas sich an die Arbeit, die Feuerstelle zum Leben zu erwecken und die Überreste der abgebrannten Räucherstäbchen in die angefachte Glut zu werfen. Es zischte und knackte, ehe eine kleine Rauchwolke aufstieg, als die letzten Überbleibsel in Flammen aufgingen. Beinahe löste der rauchige Dunst einen Hustenreiz in Silas' Lungenflügeln aus, doch er ignorierte es gekonnt und ließ seinen Blick ein letztes Mal prüfend durch den kreisrunden Raum schweifen, ehe er sich in seine menschliche Hülle zwang. Federn, Schnabel und Klauen zogen sich wie einschnappende Gummis zurück und verletzliche blasse Haut legte sich über das von Muskeln beanspruchte Fleisch. Es war am ehesten mit einem Schmatzen zu vergleichen, als Silas den Kopf auf den Schultern kreisen ließ und anstelle der weichen Federn rotbraunes Haar seinen Schopf bedeckte und ihn im Nacken kitzelte. Seine Krallen verwandelten sich in langgliedrige Hände und große Füße, mit denen er kurz wackelte. Kalter Wind strich ihm über die nackte Haut seiner Brust, welche von Narben entstellt war. Ohne zu zögern drehte er sich zu dem Leinenbeutel, rechts neben dem Eingang, wo Asher und er jeden Abend ihre Gewänder deponierten.
Er griff in den abgenutzten Beutel und zog eine knielange schwarze Tunika heraus, sowie einen Lederstreifen. Silas warf sich den schlichten Stoff über und nutzte das Leder, um den Stoff einem Gürtel gleich auf seinen Hüften zu halten. Schuhe besaß er keine, doch er würde sich allmählich nach etwas umsehen müssen, was seine zerzausten Haare aus dem Gesicht hielt. Die störten ihn nämlich mehr, als die eisigen Temperaturen. Trotz der fehlenden Wärmeisolation in dieser Gestalt, fror er nicht. Seine Kerntemperatur schien höher zu sein, als bei anderen Lebewesen, aber daran verschwendete er keinen Gedanken.
Silas schürte das Feuer noch ein wenig weiter, dann wandte er sich an Hanalei.
„Meine Herrin, es wird Zeit den Tag zu beginnen. Ihr wollt doch wohl nicht verpassen, wie die Kleinen zur Lehrstunde aufbrechen?“, hob er die Stimme. Es bedurfte keinen Zauber, um die Rudelführerin aus ihrem Tiefschlaf zu reißen. Jeder wusste um Hanaleis Morgenritual, bei dem sie jedem Kind, welches von Eon versammelt wurde, einen Kuss auf den Schnabel drückte, ehe sie zu ihrer Lehrstunde aufbrachen. In der wurde ihnen nicht nur die überlebensnotwendige Jagd gelehrt, sondern auch alles andere, was sie für ihr Leben brauchten. Dies beinhaltete das Rudelleben, Kampftraining, alles über Verpaarung und Fortpflanzung und natürlich die Dynamik und Regeln des Rudels. In den ersten zarten Jahren wurden sie vom Rest der Welt abgeschottet, doch nach und nach lernten sie, dass die eigentlichen Herrscher ihrer Welt die Drachen waren und sie selbst ursprünglich genauso weit unten in der Nahrungskette standen, wie auch all die Anderen und Menschen. Da sie aber viel zu stur, stolz und eigensinnig waren, hielten sie sich von all den Drachenreichen fern. Auch dagegen hatte Silas bereits widersprochen. So gefährlich es in diesen Reichen auch sein mochte, sie boten einen guten Ort für den Handel. Nicht nur die Greifen waren sehr naturverbunden, es gab auch andere Völker, sie wären also keine Außenseiter oder gar Feinde, so wie Blythe befürchtete.
Vor einigen Jahren schon war Silas zu Ohren gekommen, dass ein Friedensabkommen die Sicherheit Aller gewährleistete, doch bis heute hielt er diese Information unter Verschluss. Er glaubte, auf den richtigen Moment dafür warten zu müssen, aber die Wahrheit war, dass sich ein kleiner Teil von ihm vor den Reaktionen der anderen fürchtete. Greifen waren von Natur aus wachsam und misstrauisch und es war auch kein Geheimnis, dass die Rudelführer nicht immer etwas auf seine persönliche Meinung hielten. Was die Gefahr oder mögliche Feinde anging, war er ihr Mann, aber was das Rudelleben betraf, sah die Sache schon wieder anders aus. Silas schüttelte diese Gedanken ab und beobachtete, wie Hanaleis Blick nach oben schnellte und ihn ins Visier nahm.
Sie war zweifellos ein schönes Weibchen, mit riesigen und kristallklaren blauen Augen, einem reinweißen Federkleid und einem glänzend braunen Schnabel, der nicht den kleinsten Makel aufwies. Keine Schrammen, wie es bei ihm der Fall war und auch keine schwarzen Flecken, wie bei ihrem Gefährten Blythe. Doch ihre Erhabenheit, ihre absolute Reinheit, löste nicht das Geringste in Silas aus. Zweifellos war dies ihrem Blick geschuldet, der urplötzlich zur Seite huschte und sich dann wieder auf einen Punkt auf seiner Brust richtete. Keine Frau, war sie noch so stark und von hohem Rang, hatte je einen zweiten Blick in sein entstelltes Gesicht geworfen. Zu abstoßend war der Anblick jener Narbe, die sich von seiner Stirn, über sein linkes Auge, bis hin zum Mundwinkel zog und sein menschliches Gesicht in zwei Hälften zu teilen schien. In Greifengestalt fiel es kaum auf, da dort bloß ein paar Federn fehlten, aber so?
Keinen Funken Attraktivität zu besitzen machte unter ihnen viel aus, erschwerte eine Verpaarung nur zusätzlich. Als Krieger blieb Silas solch eine Aussicht ohnehin verwehrt, aber daran störte er sich nicht. Was vermochte er auch mit einem Weib anzufangen, wenn es nicht einmal seinen Blick erwidern konnte?
Alle Bitterkeit verschwand als Silas mit ansah, wie Hanalei ihren noch schlafenden Gefährten mit dem Kopf anstupste und dabei ein leises Fiepen von sich gab, damit er endlich erwachte. Wie auch alle anderen war Silas der Meinung, dass die beiden ein unglaubliches Duo waren und sich optimal ergänzten. Selbst ihm wurde warm ums Herz als Blyhte langsam den Kopf hob und diesen dann an Hanaleis Hals rieb: Eine Liebkosung und ein Zeichen seiner Liebe, welches nur verdeutlicht wurde, als sich sein Schweif um ihren wickelte. So vertraut und verletzlich bekamen nur Silas und Asher sie zu sehen. Letzterer betrat in diesem Moment die Hütte, ebenfalls in Menschenform und mit einem Meter siebenundneunzig genauso groß wie der entstellte Krieger.
„Herr, Herrin“, grüßte er nickend und deutete eine Verbeugung an. Beide Männer wandten wie selbstverständlich den Blick ab, als die Rudelführer auf alle Viere kamen und sie sich in ihre Menschenform zwangen. Der klare und tiefe Klang von Blythes Stimme donnerte durch die Hütte.
„Silas, du warst gestern dran mit dem Rundflug“, begann er, anstatt eine Begrüßung auszusprechen. „Konntest du etwas Ungewöhnliches feststellen?“
Der Mann blickte auf seine nackten Füße, während er mit monotoner Stimme antwortete: „Nun, ich begann meinen Rundflug nachdem Ihr Euch zur Ruhe gebettet habt, weshalb alles sehr ruhig und unauffällig erschien. Bedauerlicherweise konnte ich gen Süden, in der Nähe des Meeres, eine Gruppe Harpyen entdecken, die sich an einem großen Meerestier zu schaffen gemacht haben. Sie waren zu siebt und schienen so ausgehungert zu sein, dass es sie keinerlei Mühe gekostet hat, das Tier an Land zu bringen.“
Sorge wallte in ihm auf, fühlte sich an wie ein glühendes Eisen, welche ihm langsam näherkam und kurz davorstand, sich in sein Fleisch einzubrennen und somit einen widerwärtigen Gestank zu hinterlassen. Er sah auf, als Blythes ungehaltenes Knurren an seine Ohren drang. Er konnte es nur allzu gut nachvollziehen.
„Ausgerechnet Harpyen? So ein verdammter...“
Hanalei, die wusste welch derbe Worte aus dem Mund ihres Gatten kommen würden, legte ihm zwei Finger auf die schmalen und schwunglosen Lippen. Das Meer war noch weit von ihnen entfernt, versuchte sie die Sorge in den Hintergrund zu schieben, doch mit Harpyen war nicht zu spaßen. Die ausnahmslos weiblichen Wesen, von denen unklar war, wie genau sie sich vermehrten, waren grausame Bestien. Die nackten Frauenleiber wurden verunstaltet von knorrigen Läufen und dolchartigen Krallen, lederhäutigen Flügeln und Pocken und Warzen überzogener Fratzen. Ihre restliche makellose, aber schwarz und verkohlt wirkende Haut schien bloße Tarnung zu sein und lenkte wohl kurz von ihren klauenartigen Händen ab. Dabei waren die nicht einmal das Grässlichste. Das Hässlichste an ihnen war wohl ihr Lächeln, bei dem spitze, lange Reißzähne zum Vorschein kamen, die es ihnen ermöglichten jeden Feind und jedes tote Stück Fleisch zu zerfetzen. Silas war schon einige Male in ihre Nähe gekommen und in Kämpfe verwickelt worden, von denen es ein Wunder war, dass er lebend aus ihnen herausgekommen war. Der Schrei einer Harpye war meilenweit zu hören und nahm jedem Feind die Orientierung. Einer von ihnen verdankte er die Narbe in seinem Antlitz, aber noch nie war ihm ein Wort darüber über die Lippen gekommen.
Auf keinen Fall wollte er sich noch einmal mit einer solchen Bestie anlegen, ganz gleich wie sehr es seinen Instinkt auch reizte. Der Ruhm über einen Sieg einer Harpye wäre ihm sicher und zweifellos wäre er zum Rudelführer erwählt worden, aber auf solch Verantwortung konnte er getrost verzichten.
„Versuch mich bloß nicht zu beruhigen!“, schnappte Blythe, während er die Hand seiner Frau fortschlug. „Mit allem anderen könnten wir fertig werden, aber Harpyen? Wir müssen Vorkehrungen treffen, für den Fall, dass sie weiter Richtung Norden ziehen.“
Silas erstarrte, befürchtete schon das Schlimmste. Würde er den Befehl geben, mit dem gesamten Rudel von hier zu verschwinden?
„Asher, geh und hole Vos, er ist der Schnellste von uns. Er soll sie mit sicherem Abstand im Auge behalten und so schnell wie möglich Meldung erstatten, wenn sie unsere Richtung einschlagen“, wies er da auch schon streng an. Asher, der sich gerade ebenfalls in einfachen Stoff hüllte, sah auf, nickte und machte sich umgehend auf den Weg.
„Mit Verlaub, Herr, aber Vos allein...“ setzte Silas an, da brachte ihn der Blick aus schwarzen Augen zum Schweigen.
„Schweig! Du triffst hier nicht die Entscheidungen.“
Blythe war eine beeindruckende Gestalt von gut zwei Metern, mit schulterlangem schwarzen Haar und ebenso dunklen schmalen Augen, die einen in Grund und Boden starrten, doch Silas hatte sich davon noch nie ängstigen lassen. Auch, wenn er es besser sollte...
Er ärgerte sich maßlos darüber, dass Blythe das Risiko einging, Vos zu enormen Schaden kommen zu lassen. Wenn die Harpyen ihn entdeckten, dann könnte es viel zu schnell vorbei sein, sie würden das Rudel erreichen, noch bevor dieses überhaupt wusste, was mit dem Krieger geschehen war. Und was dann folgen würde, lag klar auf der Hand: Diese verfressenen Biester würden sich die Jüngsten schnappen und sie zum Spaß vor deren Eltern und Hanalei ausweiden und zerfetzen, begleitet von widerlichem Gekreische und Gelächter.
Silas schloss für einen kurzen Moment die Augen und versuchte, diese grausame Vorstellung nicht Überhand nehmen zu lassen.
Hanalei beobachtete ihn wachsam und auch, wenn er sonst ein so regungsloser und kalter Klotz war, sah sie dennoch das leichte Zucken seiner geballten Fäuste und die tiefe Furche zwischen seinen dunklen Augenbrauen, die ihr für gewöhnlich nie aufgefallen wäre.
„Silas, du wirst mich heute Morgen auf meiner Runde begleiten. Und danach wirst du das Training von Zephyr übernehmen. Es wird langsam an der Zeit, dass wir sie nicht mehr mit Samthandschuhen anfassen“, verkündete sie mit eiserner Härte, ganz wie ihr Gefährte.
Silas riss die Augen auf, erstaunt von dem Befehl, den er heute zum ersten Mal erhielt. Hanalei auf ihrer Runde zu begleiten war nichts Ungewöhnliches, aber ihren Kindern zu nahe zu kommen, war durchaus etwas Besonderes. Sie alle wurden von ausgewählten Vertrauten betreut und unterrichtet, außer denen durften ihnen nur sehr wenige näherkommen. Auf gewisse Art und Weise musste es ein sehr einsames Leben sein, aber auch darüber wollte Silas nicht nachdenken.
Mit ihren zwanzig Jahren war Zephyr so gut wie erwachsen, aus diesem Grund wurde es nun wohl ernst. Ein hartes Kampftraining und die Planung der Verpaarung waren die letzten Schritte, die den jungen Greif zu einem festen und wichtigen Bestandteil des Rudels machten. Und wenn Hanalei ausgerechnet Silas zum Trainer auserkor, schien sie für ihre Tochter Großes zu planen, denn der Krieger und Leibwächter war kein Mann der Rücksicht und erst recht nicht der Vorsicht.
„Seid Ihr Euch sicher, Herrin?“, hakte Silas dennoch einmal nach, worauf Hanaleis erhabene Fassade plötzlich zu bröckeln begann. Sie tauschte einen Blick mit Blythe aus, welcher deutlich machte, dass sie auch untereinander nicht einer Meinung waren.
„Nein“, seufzte die Rudelführerin. „Aber manchmal müssen wir auch Dinge tun, die unser Herz in Stücke reißen könnten.“
Darüber nachdenkend, was noch hinter diesen Worten stecken könnte, deutete Silas eine Verbeugung an.
„Jawohl, Herrin.“
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch gar nicht erreicht, da funkelte und glitzerte die Wasseroberfläche des Sees bereits so sehr, dass es den Eindruck erweckte, als habe sich das kühle Nass gerade so weit erwärmt, dass es das Eintauchen darin nur umso verlockender gestaltete. Obwohl Zephyr es besser wissen musste, stieß sie ein Keuchen aus, als die Eiseskälte wie tausende Nadelstiche in ihre Haut eindrang und drohte, ihre Glieder zu betäuben. Es war ihr verlockend erschienen, in ihrer menschlichen Haut baden zu gehen, nun wusste sie, dass es besser war, ihrem schützenden Gefieder zu vertrauen. Ihr eigener Stolz hinderte sie daran, nun aus den Fluten hinauszustürzen und um den Prozess ein wenig zu beschleunigen, tauchte sie schließlich komplett unter. Das Wasser umschloss ihren zierlichen Körper, die cremefarbene Haut, ihr scheinbar eintönig braunes Haar und die zerbrechlichen Gesichtszüge, die unbestritten von ihrer Mutter zeugten. Sie rieb sich übers Gesicht, um ihre Muskeln vor dem Erstarren zu bewahren, dann schwamm sie einige kräftige Züge, um ihrem Körper zu signalisieren, dass es mit der Ruhe und dem Schlaf vorbei war.
Das Wasser des Sees war kristallklar und gewährte freien Blick auf den steinigen Grund und das wenige Leben darauf. Ein paar kleine Fische und Algen, mehr gab es nicht zu sehen.
Zephyr stieß prustend an die Oberfläche, als ihre Lungen die Luft nicht länger halten konnten. Sie strich sich die hüftlangen Haare zurück und rieb sich dann rasch über die nackten Arme, den Hals und die kleinen, festen Brüste, ehe sie zurück Richtung Ufer schwamm und dort den Schrecken ihres Lebens bekam.
Unmittelbar vor ihr, mit den Fußspitzen schon fast im Wasser, stand einer der Krieger, der ihren Eltern diente. Und er starrte sie unentwegt an. Dankbar dafür, dass ihr das Wasser bis zum Hals reichte, überlegte Zephyr, wie sie der Situation entkommen sollte. Ihr Zeitplan mochte in der Regel straff sein, aber ihre Eltern hatten ihr schon vor Jahren eine Tagesstunde eingeräumt, in der sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Dies beinhaltete nicht nur ihre geliebte und hoch geschätzte Körperpflege, sondern auch die Erkundung des Polarkreisels oder das Herumlungern mit anderen Greifen in ihrem Alter.
Sie blickte zur Sonne auf und schätzte, dass ihr noch einige Minuten blieben, ehe ihr tägliches Training anstand, aber noch nie war sie dazu abgeholt worden. Dieses Ungetüm von einem Mann konnte unmöglich ihren Aufpasser spielen, also warum hatten Hanalei und Blythe ihn hierher geschickt? Silas war ihr immer nur aus der Ferne aufgefallen, dennoch erkannte sie seine ungewöhnlichen amberfarbenen Augen, mit den grünen Ringen darin, auf die Distanz. Sie fixierten sie mit kühler Berechnung und einer Wachsamkeit, die ihm schon in seiner eigenen Kindheit und Jugend in Fleisch und Blut übergegangen sein mussten.
Zephyr erschauerte, weil sie sich in gewisser Weise vor ihm fürchtete, doch noch mehr fürchtete sie den Grund für sein Auftauchen am See. Sie verharrte so regungslos wie er und hoffte, er würde ihr endlich den Rücken kehren, aber nichts dergleichen geschah. Sie schwamm noch ein wenig näher ans Ufer und musterte argwöhnisch den Krieger, der breitbeinig und mit verschränkten Armen dastand. Das einzige Zeichen seiner Ungeduld war die einzelne hochgezogene Augenbraue, die seine grässliche Narbe nur zu verlängern schien. Zephyr wandte beschämt den Blick ab als ihr klarwurde, dass sie ihn schon viel zu lange anstarrte. Ein Zucken durchlief ihren Körper, als seine tiefdröhnende Stimme unerwartet die Stille am See durchbrach.
„Beeil dich gefälligst, damit wir mit dem Training beginnen können.“
Zephyr riss den Kopf zwar wieder hoch, wagte es aber nicht dem Wachhund ihrer Eltern ins entstellte Gesicht zu sehen und starrte stattdessen auf seine beeindruckenden und imposant breiten Schultern.
„Ausgerechnet du sollst mein Lehrer sein?“, spie sie, feindseliger als beabsichtigt. Ihr war klar, dass sie sich zu fügen hatte, doch es musste einen Grund dafür geben, damit nicht wie gewohnt Lux diese Aufgabe übernahm.
„Befehl deiner Mutter. Und nun komm, so rot wie deine Haut ist, muss dir arschkalt sein“, erwiderte er mit nichtssagender Stimme.
Zepyhr stellte schockiert fest, dass nun ein wenig mehr ihres Körpers aus dem Wasser lugte und den Ansatz ihrer Brüste entblößte, die ganz besonders auf das kalte Wasser reagierten. Brennende Hitze schoss ihr in Ohren und Wangen, doch sie hielt den Blick gesenkt und linste durch ihre Wimpern vorsichtig zu Silas. Oh Himmel, er konnte doch nicht etwa ihre rosigen und steif gewordenen Nippel erkennen?
„Dreh dich um!“, befahl sie, in der Hoffnung ihr Tonfall möge genauso autoritär klingen, wie der ihrer Mutter. Der Ausdruck von Spott, der des Mannes Mundwinkel umspielte, machte jedoch all ihre Hoffnungen zunichte. Er schien genau zu wissen, woran sie in diesem Moment dachte.
„Du bist nichts weiter als ein Kind, Mädchen, mach dir da mal keine Sorgen“, schnaubte er.
Zepyhr fühlte sich ein wenig gekränkt und stieß ein wenig damenhaftes Fluchen aus. Sie war längst kein Kind mehr und egal wie klein ihre Brüste und wenig gerundet ihre Hüften auch sein mochten, sie war dennoch durch und durch Frau!
So sehr sie sich auch schämte dem Wächter ihrer Eltern ihren entblößten Menschenkörper zu präsentieren, so stieg sie dennoch trotzig und ohne ihre Blöße zu verbergen aus dem klaren Wasser. Ihr Instinkt übernahm den Großteil ihres Verstandes, wollte diesem ungehobelten Klotz beweisen, dass er falschlag und sie alles andere als kindlich und unreif war, aber selbst als sie stolz und mit erhobenem Kinn an ihm vorbeischritt, glitt sein Blick nicht auch nur ein einziges Mal an ihrem Körper hinab und dies kränkte sie noch viel mehr.
Silas schmunzelte still in sich hinein, da sich deutlich auf dem Gesicht der noch ausgesprochen jungen Frau abzeichnete, was ihr gerade durch den Kopf ging. Sie ist noch längst nicht erwachsen, dachte er, als aus ihrer bloßen und makellosen Haut verwaschen weiß wirkende Federn zu sprießen schienen. Ein Ruck ging durch ihren Körper, dann landete sie auf allen Vieren, in Greifengestalt. Ihr weißes Gefieder war an einigen Stellen braungefleckt und deutete somit auf ihren Vater, ihre azurblauen Augen waren jedoch identisch mit denen von Hanalei. Silas erinnerte sich wieder an seinen Befehl und deutete nun mit ausgestrecktem Arm auf die andere Seite des Sees, wo nur trostlose Einöde zu erkennen war.
„Wenn du auf die Idee kommst zu türmen, Mädchen, rupfe ich dir deine hübschen Federn aus, hast du verstanden?“, drohte er, als er das vertraute Zucken von Zepyhrs Pinselohren und ihrem Schwanz erkannte. Sie war abgelenkt und überlegte scheinbar fieberhaft, wie sie ihm entkommen sollte. Dabei vermied auch sie es, ihm ins Gesicht zu blicken.
Das Greifenweibchen stieß ein unwirsches Fauchen aus, mit dem sie ihn wohl provozieren wollte. Hanalei würde das niemals zulassen, schien der Ausdruck in ihren Augen zu sagen, aber Silas würde ihr schon noch klarmachen, dass er niemals etwas einfach nur so daher sagte. Er fuhr einfach fort, als hätte es Zephyrs Einwände nie gegeben.
„Entgegen des üblichen Ablaufes werden wir heute auf der anderen Seite des Sees trainieren. Bisher musstest du dir keine Sorgen um Störungen oder Ablenkungen machen, aber es wird Zeit, dir ein wenig Feuer unterm Arsch zu machen. Wollen doch mal sehen, was du wirklich auf dem Kasten hast.“
Seine derben Worte waren ungewohnt für die Tochter der Rudelführer und ließen sie misstrauisch die Ohren anlegen, doch Silas war noch nicht damit fertig, sie zu reizen. Gerade dann, als Zephyr die imposanten Schwingen ausbreiten wollte, hob Silas den Zeigefinger.
„Oh, nein! Du wirst deine Flügel heute nicht benutzen. Um es ein wenig anstrengender und interessanter zu machen, starten wir zum Aufwärmen mit einem kleinen Wettrennen. Wer zuerst den See umrundet hat und auf der anderen Seite angekommen ist, entscheidet darüber wie trainiert wird, abgemacht?“
Zephyr warf den Kopf hin und her, konnte kaum glauben, was dieser Irre da von sich gab und holte dann mit einer ihrer Pranken aus, um ihm ein wenig Dreck und Geröll entgegenzuschleudern.
Greifen waren keine Läufer. Ihre Klauen, die ja mit langen Krallen bestückt waren, boten beim Laufen und Rennen einen viel zu großen Druck und Widerstand, hielten wenn überhaupt nur für einen äußerst kurzen Sprint her. Sie waren zum Zerfleischen von Feinden gedacht und nicht zum Dauerlauf, also was dachte sich dieser Tölpel dabei? Zephyr erschrak ein wenig, als sich ein gehässiges Grinsen auf Silas' Züge stahl, welches eher einem beängstigenden Zähnefletschen glich.
„Lux ist verweichlicht, Kleines, er weiß nicht, mit welch unfairen Mitteln gekämpft wird. Je mehr Erfahrung du in solch ungewöhnlichen Situationen hast, desto leichter wird es dir in Zukunft fallen, ruhig zu bleiben. Und ein wenig Ehrgeiz kann dir auch nicht schaden, also mach dich bereit“, erklärte er und entledigte sich ohne zu zögern seines Gewands. Zephyr starrte ihn mit großen Augen an, obwohl sie eigentlich vorhatte, über seine Worte nachzudenken. Peinlich berührt starrte sie auf seinen massig-muskulösen Körper, der an so vielen Stellen von Narben bedeckt war und ihn somit nur noch unglaublicher machte. Noch bevor ihr Blick unterhalb seiner Lenden fallen konnte, wandte sie rasch den Blick ab und trottete an ihm vorbei. Sie hörte wie auch er sich verwandelte und wurde sich dabei den Unterschieden zu Lux immer bewusster. Ihr Lehrer zeigte sich kaum in seiner Menschenhaut und besaß kein solch enormes Selbstvertrauen, auch mochte er keine unkonventionellen Lehrmethoden. Dies versprach ein durch und durch interessanter Tag zu werden!
Zephyrs Ehrgeiz wurde tatsächlich gekitzelt als ein dunkelbrauner und weißgezeichneter Greif an ihrer Seite auftauchte, der nicht nur doppelt so groß, sondern auch doppelt so breit war wie sie. Seine Chancen standen schlecht, mit dieser Gestalt konnte er unmöglich schneller rennen, als sie selbst! Ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment und da kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht ein wenig zu naiv war. Egal wie klein, zierlich und wendig sie auch war, wie hoch standen ihre Chancen, dass sie einen eingefleischten Krieger besiegen konnte? Zumal sie noch nie in ihrem Leben solch einen Lauf absolviert hatte.
Silas gab ein Zeichen, indem er seinen Torso dem Erdboden näher brachte, den Kopf streckte und Spannung in seinen Körper brachte. Zephyr tat es ihm nach und spannte ihre Muskeln an, dann wartete sie geduldig darauf, dass er das eindeutige Zeichen gab.
Ein leises Gurren stieg in seiner Kehle auf, glich einem Runterzählen, da dachte sich die junge Frau, dass es nicht schaden konnte bei der Unfairness zu bleiben. Noch bevor Silas das Zeichen geben konnte, schoss sie plötzlich voran und das so schnell, dass beinahe ein Lachen aus ihm herausgebrochen wäre.
Er hatte ehrlich nicht mit einer solchen List gerechnet und sprintete kurzerhand einfach selbst los. Ihr Vorsprung war recht groß, doch sie legte eine solche Kraft und Energie in die erste Hälfte, dass es abzusehen war, als ihr nach nicht einmal der Hälfte des Weges die Kraft ausging. Oh, er wusste, was er ihr da abverlangte und machte sich einen Spaß daraus, sich einige Momente lang nahezu entspannt an ihrer Seite zu halten. Ihre Blicke begegneten sich und es war nichts zu hören, außer das laute Trappeln ihrer Pranken und das Knirschen von kleinen Steinchen, die unter ihren Krallen zersprangen. Er ließ Zephyr erneut einen kleinen Vorsprung, dann machte er ernst und zeigte ihr, zu welch Leistungen ihre Körper eigentlich fähig waren. Der Druck seiner Krallen erhöhte sich, lösten ein Ziehen in seinen Nervenenden aus als er voranpreschte und Zephyr weit hinter sich zurückließ.
Dann auf einmal tauchte das Dorf auf der anderen Seite des Sees auf und er bremste ab. Der Spuk war vorbei. Er kam zu Atem und ließ sich auf den Boden fallen, um seinen Läufen die nötige Erholung zu schenken, dann endlich kam auch Zephyr völlig geschafft an seiner Seite an. Sie schnaufte laut und bedachte ihn mit tödlichen Blicken, ehe sie sich ebenfalls auf die Erde fallen ließ, auf den Rücken rollte und alle Viere von sich streckte, um wieder ein halbwegs normales Gefühl in ihren Läufen zu bekommen. Sie gab Knurrgeräusche von sich, die Silas auf der Stelle verstand. Sie beleidigte ihn ganz offen und schamlos, aber das störte ihn nicht.
Nach wenigen Augenblicken war er schon wieder fit und da dies bei ihr wohl noch ein wenig dauern würde, nutzte er die Gunst der Stunde für weitere Erklärungen und zwang sich erneut in sein Menschengewand.
Dass er seine Kleidung zurückgelassen hatte und nackt war, störte ihn dabei nicht im Geringsten. Im Schneidersitz ließ er sich nieder, die Arme auf den Oberschenkeln abgelegt und darauf vertrauend, dass Zephyr nicht vor Scham vergehen würde.
„Mich zu täuschen ist nicht immer klug, Zepyhr. Überlege dir vorher ganz genau, wann du ein solches Manöver riskieren kannst“, mahnte er, dann wanderte sein Blick abermals zur anderen Seite des Sees.
„Du warst gut“, sprach er dann ein unerwartetes Lob aus. „Anders als angenommen können wir sehr wohl Laufen, aber du dürftest merken, welchen Preis wir dafür zahlen. Der Druck, den die Krallen ausüben, ist zu hoch, um ihn allzu lange aushalten zu können, aber das hast du gut gemeistert. Es hilft ungemein an das Ziel zu denken, aber mach nicht noch einmal den Fehler, gleich am Anfang auf all deine Reserven zurückzugreifen. Hebe dir alles bis zum Schluss auf. Und diese Denkweise überträgst du auch auf deine Kämpfe. Du musst nicht immer bis zum Äußersten gehen, manchmal musst du deine Gegner auch einfach nur überlisten. Mach sie müde, hörst du?
Gib immer nur so viel wie nötig und sieh dabei zu, wie ihre Kraft schwindet. Dann musst du nur noch auf den richtigen Moment warten und sie im Genick packen.“
Zepyhr neigte fragend den Kopf und konnte nicht länger an sich halten. Auch sie verwandelte sich, ließ sich auf ihren Po fallen und zog die Beine an, um sie mit den Armen zu umschlingen und den Kopf auf den Knien ablegen zu können.
„Solche Worte ergeben von einem Barbaren wie dir keinen Sinn“, äußerte sie misstrauisch. Silas ließ sich sein Schmunzeln nicht anmerken und störte sich auch nicht daran, dass sie ihren Blick stur auf seine Brust gerichtet hielt.
„Ich kann es mir erlauben, mich in einem Kampf zu verausgaben, du hingegen nicht. Wenn du tödlich verwundet wirst, ist es deine Pflicht, dich in Sicherheit zu bringen, allerdings sollte es gar nicht erst so weit kommen. Mein Platz in der Gesellschaft ist ein anderer.
Mein Ableben ist nicht zu betrauern und als Wächter bin ich leicht zu ersetzen, du als Tochter von Hanalei und Blythe bist hingegen für nichts auf der Welt zu ersetzen. Und genau deswegen sind wir hier. Du musst auf alle Eventualitäten vorbereitet sein und so sehr ich Lux auch schätze, könnte er dem niemals gerecht werden. Du musst auch selbst aktiv werden, also sag mir, was du trainieren willst. Welche Techniken hat Lux dir noch nicht gezeigt und was hat er dir alles verschwiegen?“
Zepyhrs Augen wurden immer größer. Wusste Silas, was er hier tat? War ihm klar, welch Grenzen er überschritt? Und hatten ihre Eltern auch nur die leiseste Ahnung davon? Ihr Lehrplan war festgelegt und nicht verhandelbar, hatte ihn denn niemand darüber aufgeklärt?
Das Entsetzen musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn mit einem Mal huschte doch eine kurze Reaktion über Silas' Züge.
„Dein Lehrplan mag streng strukturiert sein, darüber liegen mir jedoch keinerlei Infos vor. Außerdem gibt es Dinge, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Dies ist eine einmalige Chance, Zephyr, also nutze sie“, riet er ihr, doch das Unbehagen war ihr an der Nasenspitze abzulesen. Schließlich fragte sie. „Wie viel Zeit haben wir?“
Es hat schon lange keinen Regen mehr gegeben, dachte die Frau auf dem steinernen Balkon stehend, während die untergehende Sonne die gesamte Stadt in fahles und schummriges Licht tauchte und nur weit in der Ferne die tiefgrauen Regenwolken vorbeizogen.
Sie nahm einen tiefen Zug ihrer Pfeife, kostete den brennenden Rauch in ihrer Kehle und in ihren Lungen aus und stieß ihn dann wieder durch zusammengepresste Zähne aus. So sehr sie die letzten warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut auch genoss, so sehr ödeten sie sie auch an. Tagein, tagaus, die Sonne ging auf, der Frieden herrschte an, Menschen und Andere gingen ihrer Arbeit nach und die Sonne ging wieder unter.
Die Königin des Landes stützte sich auf die Brüstung des Balkons auf und nahm ihr Reich mit gemischten Gefühlen in sich auf. Die Familien verschwanden von den Straßen und mussten Halbwüchsigen und Vandalen weichen, die nicht nur darauf aus waren die Weinfässer der Stadt zu leeren, sondern auch zu Raufereien und Schlägereien aufgelegt waren, bei denen sie selbst gerne mitmischen würde. Leider waren die Zeiten vorbei. Nicht, weil es ihr hier, in Dumiah, nicht erlaubt gewesen wäre, sondern weil sie alldem überdrüssig geworden war. Sie kannte all ihre Untertanen, kannte die Kampftechniken eines jeden Einzelnen und fiel auch auf ihre einst sehr lustigen Streiche nicht mehr herein. Ihr war der Spaß an der Sache vergangen. Ihr Leben war herrlich, da für sie keinerlei Regeln galten, aber es existierte keinerlei Reiz mehr. Ihr war langweilig und sie wusste nicht, wie sie diese Langeweile loswerden sollte.
Die Drachenfrau nahm einen erneuten Zug ihrer Pfeife und ließ alte Erinnerungen aufleben. In ihrer Jugend, die schon viele hunderte Jahre zurücklag, war sie ziemlich ausschweifend gewesen. Der rote Drache von Beleah war nur einer von vielen Liebhabern gewesen, danach folgten viele weitere, deren Begegnungen und Leidenschaften immer nur von kurzer Dauer gewesen waren. Sie war sehr lange ziellos umher gewandert, hatte viele Kämpfe bestritten und mehr als nur Schweiß und Blut vergossen, um Land zu finden, das sie sich unter den Nagel reißen konnte.
Die Erinnerung an die vielen Jahre, die der Bau und die Errichtung von Dumiah in Anspruch genommen hatten, waren längst verblasst und erschienen ihr nur sehr vage, aber nur zu deutlich erinnerte sie sich daran, wie sie all den Regeln und Gesetzen der Drachen getrotzt hatte. Sie scherte sich keinen Deut darum, dass all die anderen Drachen niemandem offenbarten, wer genau sie eigentlich waren, sie selbst profitierte davon, dass jeder in ihrem Reich ihr Gesicht kannte. Zwar regierte sie mit eiserner Hand, aber jeder würde ohne zu überlegen zu ihr kommen, wenn es Probleme oder ernste Streitigkeiten gab. Menschen fürchteten sich zu sehr vor ihr und ihrer Offenheit und schamlos zur Schau gestellten Grausamkeit und vulgären Ader, doch die Anderen liebten und schätzten es.
In Dumiah musste sich niemand verbiegen oder verstecken, alles und jeder durfte so sein, wie auch immer er wollte!
Der gelbe Drache legte den Kopf in den Nacken und nahm einen tiefen Atemzug. Es erfüllte sie mit ungeheurem Stolz zu wissen, Unglaubliches geschafft und erreicht zu haben. Unabhängig vom großen Friedensabkommen lag ihr ein Imperium zu Füßen, bei dem andere vor Neid erblassten. Es war so gigantisch und erfolgreich, dass es niemanden gab, der es wagte es ihr streitig zu machen, denn Dumiahs Bewohner würden zweifellos an ihrer Seite kämpfen, bis zum letzten Atemzug. Sie hatte wirklich alles in ihrem Leben erreicht, und doch schien es in diesem Augenblick nicht annähernd genug zu sein. Aus den Augenwinkeln heraus sah die Frau ihren Bediensteten Fior vorbeihuschen, weshalb sie einen schrillen Pfiff ausstieß.
„Fior!“, dröhnte ihre Stimme über den Balkon ihres kleinen Anwesens, im Herzen Dumiahs. Der vierhufige Zentaur, mit der Drahtbrille auf der Nase, kam angetrabt und zeigte einen perfekten Knicks, während sein hin und her huschender Blick bewies, dass er in Gedanken auch weiterhin bei der Arbeit war.
„Königin Laina?“, erwiderte Fior, nicht erfreut darüber, gestört worden zu sein. Laina kam sich mit einem Mal dumm vor und schindete ein wenig Zeit, indem sie an der Pfeife in ihrer Hand zog. Sie trank und rauchte in letzter Zeit viel zu viel...
„Leiste mit ein wenig Gesellschaft. Der Abend ist ruhig und du benötigst auch mal einen Drink“, sprach sie, mit gewohnt loser Zunge. Ihre Mundwinkel zuckten als sich blankes Entsetzen in Fiors Gesicht abzeichnete. Seine Hufe klapperten auf dem Steinboden, so nervös war er.
„Bedaure, meine Königin, aber ich erwarte jeden Moment Totis Rückkehr. Ihre letzten Berichte waren recht besorgniserregend“, erklärte der Gelehrte, der in Lainas Haushalt quasi das Mädchen für alles war. Er war der Ansprechpartner für die Einwohner, Vermittler, Bote, Berater, einfach alles in einem. Laina konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie ihn schätzte und das wollte sie auch gar nicht. Schmeichelnde Worte lagen ihr nicht, die Sprache der Körper, allem voran die der Fäuste, war ihr da schon eher geläufig. Sie war allerdings schon immer eine ausgezeichnete Zuhörerin gewesen und so trat sie aufmerksam an den Zentaur mit dem schwarzen Fell heran.
„Was stand in ihren letzten Berichten?“, fragte sie scharf und beobachtete aus schlitzförmigen Pupillen heraus, wie Fior seine Brille zurechtrückte.
„Nun, da Toti erst vor kurzem zu einer Landswache ernannt worden ist, geht sie ihrer Arbeit besonders gründlich nach. Sie schreibt, dass sie in den unterschiedlichsten Regionen immer wieder auf kleinere Rudel Harpyen stößt, die zwar keinen Ärger machen, sich dafür aber immer häufiger blicken lassen“, berichtete er und ließ Laina somit stutzen.
„Harpyen?“, murmelte die Drachenfrau und drehte sich um. Sie schritt zurück zur Brüstung des Balkons und nahm ihr Land ins Visier, in dem solche Unruhen längst fremd geworden waren.
„Hieß es nicht, Harpyen seien so gut wie ausgestorben? Sie haben sich so weit an den Rand der Welt zurückgezogen, dass ich dachte sie haben begriffen, wie geächtet sie sind?“
Es schien als spräche sie zu sich selbst, doch Fior sah sich wie immer dazu genötigt, auch seinen Teil dazu beizutragen.
„Sie wurden schon seit so vielen Jahren nicht mehr gesichtet, dass ich glaubte, Toti habe sich geirrt, aber ihre Beschreibungen sind einfach zu exakt.“
Laina seufzte und wedelte mit der Hand, ohne ihren Untergebenen eines Blickes zu würdigen.
„Na dann geh schon. Ich komme gleich nach“, scheuchte sie ihn davon. Das ließ Fior sich nicht zwei Mal sagen. Er murmelte einen Dank, knickste noch einmal, dann machte er kehrt und trappelte davon. Laina ballte derweil die Fäuste und fluchte derbe und ungehalten. Es mochte noch nichts nennenswertes geschehen sein, aber diese Entwicklung gefiel ihr nicht. Ausnahmslos jeder wusste, welch Bestien die Harpyen waren, aber kaum einer konnte ihnen etwas entgegensetzen. Ein Drache wurde mit ihnen fertig, vorausgesetzt ihr Rudel war nicht zu groß, aber Andere und allen voran Menschen, suchten lieber schleunigst das Weite, wenn sie in der Nähe waren.
Laina erinnerte sich an keinen Fall, bei dem die Harpyen die Grenzen einer Drachenstadt überschritten hatten, aber je nachdem, wie Totis Berichte nachher ausfielen, würde sie einen Rundflug machen und der Sache vorsorglich selbst auf den Grund gehen.
Die Königin von Dumiah blickte ein letztes Mal ein klein wenig wehmütig über ihr Reich, dann wandte sie sich von dem Panorama ab und betrat ihr kleines Anwesen.
Ihr Weg führte sie durch einen schmucklosen, holzvertäfelten Flur, vorbei an ihrem Schlafzimmer und der Waffenkammer, wo sie all ihre wertvollen Schmuckstücke sammelte, die nur leider kaum noch zum Einsatz kamen. Es juckte ihr bereits in den Fingern sich eine der gezackten Klingen zu schnappen und ein Gemetzel zu starten, bei dem die Harpyen freiwillig die Flucht ergriffen, doch sie verdrängte dieses Verlangen erst einmal und ging in den Konferenzraum, wo entgegen aller Erwartungen nicht nur ein großer Tisch mit den passenden Stühlen stand, sondern auch ein Sofa, ein Kamin und eine kleine Bar. Es ließ sich wesentlich besser arbeiten, wenn man es dabei ein wenig gemütlicher hatte.
Als sie den mit rotbraunem Teppich ausgelegten Raum betrat, war nicht nur Fior bereits anwesend, sondern auch die noch recht junge Toti, deren streng zurückgebundenen aschblonden Haare und katzenhaften grünen Augen eine Wachsamkeit erkennen ließen, von denen sich ein anderer durchaus mal eine Scheibe abschneiden konnte. Sie war so energiegeladen und voller Tatendrang, dass Laina gar nicht anders konnte, als ihr nach und nach einen immer höheren und besseren Posten anzubieten. Mittlerweile war die Fee eine geschätzte Landswache, die dank ihrer filigranen Flügel alles aus den besten Blickwinkeln heraus im Auge behalten konnte.
Laina war immer wieder beeindruckt davon, wie perfekt sich dieses Mädchen unter Kontrolle hatte, trotz ihres Bewegungsdrangs. Still und reglos stand sie da, direkt vor Lainas Schreibtisch, auf dem das regelrechte Chaos herrschte. Sich mental auf die schlechten Nachrichten gefasst machend, ging die Königin zu der Bar, um dort einen durch einen Korken verschlossenen Krug und drei Kelche hervorzuzaubern.
„Eure Majestät“, vernahm sie dabei Totis liebliche Stimme, die auf der Stelle verriet, welch Wesen sie war. Dazu waren nicht einmal ihre Flügel nötig. Ohne etwas zu sagen schenkte Laina sich und den beiden etwas Wein ein, dann drückte sie ihnen auch schon die Kelche in die Hände. Typisch korrekt schüttelte Fior schon den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass Alkohol...“, setzte er schon an, da nahm Laina einen großen Schluck und sah ihm dabei unablässig in die Augen.
„Dieser Wein stammt von dem Volk der Nymphen aus dem Lereos-Wald. Kostet ihn. Er hat eine beruhigende Wirkung. Wir können jetzt keinen Stress gebrauchen“, erklärte sie danach und deutete dann auf das Sofa.
„Setz dich, Toti, und berichte mir davon, was du gesehen hast.“
Elegant schritt die Fee voran und während Fior noch immer skeptisch seinen Kelch unter die Lupe nahm, hatte die junge Landswache ihn bereits vollständig geleert und auf dem Tisch abgestellt.
„Nun, ich werde mich kurzfassen“, begann Toti, nachdem sie saß und ein Bein über das andere schlug. „Noch besteht kein Grund zur Sorge. Die Harpyen tauchten immer wieder in den entlegensten Regionen auf und erweckten keinerlei Anzeichen, der Grenze Dumiahs näherzukommen. Auch wirkten sie verhältnismäßig ruhig, dennoch frage ich mich, ob es einen bestimmten Grund dafür gibt, warum sie sich nun so offen zeigen. Vielleicht hat sie etwas aus ihrem Versteck gelockt? Ich habe noch mit ein paar anderen Wachen gesprochen, aber niemandem sonst scheint etwas aufgefallen zu sein, also handelt es sich dabei möglicherweise nur um Ausnahmen?“
Laina lächelte leicht, auch wenn die Situation gar nicht mal so angemessen war.
„Nein, Kleines, du bist nur viel aufmerksamer und talentierter als die anderen, also gut gemacht. Hast du ihre Positionen markiert?“
Laina sah mit an, wie Toti eine zusammengefaltete Karte aus dem kleinen Beutel an ihrem Gürtel zog und diese vor ihnen auf dem Tisch ausbreitete. Vier Stellen darauf waren mit einem X markiert und die Fee berichtete umgehend weiter.
Südlich von Dumiah ging die karge Tundra in fruchtbares Land über. Der Masha-Fluss und der Lereos-Wald tauchten am Ende der Karte auf, in der Nähe des Flusses war das erste Kreuz gesetzt worden. Sowohl gen Westen als auch nach Osten zog sich die Tundra in die Länge, bis zwei riesige Meere schließlich einen scharfen Schnitt machten und ihr eine unüberwindbar erscheinende Grenze aufzeigten. An ihren Ufern waren ebenfalls Markierungen gesetzt worden. Im Norden Dumiahs ging die baumlose Landschaft schließlich in finstere Moore über, in dessen Nähe sich nur sehr wenige trauten. Laina wusste aus ihrer Kindheit, dass sich dahinter der lebensfeindliche Polarkreisel befand, es nun aber auch auf einer Karte zu sehen, wirkte auf sie ein wenig befremdlich, da sich nie einer die Mühe machte, diesen Ort auch nur zu erwähnen. Auch an der Grenze von Moor und Polarkreisel prangte ein dickes X. Laina schaffte es, ihren Blick von der Karte loszureißen und sah stattdessen wieder Toti an.
„Wie eigenartig... Sie scheinen sich nur in der Nähe von Gewässern aufzuhalten“, murmelte die Regentin, worauf sich mit einem Mal wieder Fior zu Wort meldete.
„Das könnte daran liegen, dass Wasserbewohner leichtere Beute für sie sind. Mit ihren Klauen stoßen sie ins Wasser und haben sie ihr Opfer erst einmal an Land gezogen, machen sie sie rasch orientierungslos. So können sie sich ohne nennenswerte Anstrengung schnell sattfressen.“
Laina stieß ein Schnauben aus.
„Das ist nicht nur klug, sondern auch verdammt faul. Harpyen sind so gefürchtet, sie könnten selbst dich ohne Probleme erlegen. Nichts für ungut, Fior.“
Der Zentaur winkte unbeeindruckt ab, war gänzlich andere Sprüche von seiner Herrin gewohnt. Als sich die Blicke wieder auf Toti richteten, zuckte die zierliche Frau mit den Schultern.
„Bedaure, aber das ist im Augenblick alles, was ich Euch vorlegen kann. Ich konnte mich nicht näher heranwagen, sonst wären sie möglicherweise auf mich aufmerksam geworden.“
Laina klopfte der Fee anerkennend auf die Schulter und erhob sich dann wieder.
„Oh, mach dir keine Sorgen, das ist mehr als genug. Ich gehe nicht vom Schlimmsten aus, werde aber dennoch einen ausgedehnten Rundflug unternehmen und die Grenzen überwachen.
Die Sonne war weitergewandert und der Lärm aus dem Dorf hatte stetig zugenommen, doch die zwei Greifen ließen sich davon nicht stören und beendeten in aller Ruhe ihr ausgedehntes Training. Für Silas war dies alles nur ein Klacks, aber Zephyr war an ihre Grenzen gekommen. Der tiefe Schnitt an ihrem Vorderlauf war für den Krieger ein verhältnismäßig kleiner Kratzer, die junge Frau brachte er jedoch ordentlich ins Wanken und Humpeln. Blutgeruch schwängerte die Luft, im starken Gegenzug dazu stand da das perlende Lachen, welches auf ihrem Rückweg ins Dorf durch die Lüfte schallte.
„Ich hatte ja so meine Zweifel, aber ich danke dir. So gnadenlos wie du bist, sind deine Unterweisungen wesentlich effektiver als die von Lux“, meinte Zepyhr, wobei sie das Blut, das an ihrem Arm hinablief, völlig ignorierte. Schon aus der Ferne konnte sie die besorgten und aufmerksamen Blicke des restlichen Rudels erkennen, doch dass Silas an ihrer Seite war, schien sie zu beruhigen und so kam ihnen niemand entgegen. Silas schmunzelte leise und dachte darüber nach, dass Hanaleis Befehl gar nicht mal so schlecht gewesen war. Es war eigenartig, aber in ihm kam das Gefühl auf, etwas wirklich Sinnvolles geleistet zu haben.
„Du schuldest mir keinen Dank, Kleines. Es ist nicht nur wichtig, dass du den Kampf beherrschst, sondern auch zu wissen, warum du es tust. Ich weiß nicht, welchen Rang sich seine Eltern für dich wünschen und ich weiß auch nicht, welche Position du selbst einmal anstrebst, aber mit deinem Status solltest du ein besseres Hintergrundwissen und Weltverstehen haben, als alle anderen“, erklärte er mit seiner Brummstimme. Zepyhr warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Der Krieger war ganz offen und ehrlich mit ihr gewesen, hatte ihr die Abläufe einer Verpaarung erklärt, ihr von den gesichteten Harpyen erzählt und auch von manchen Entscheidungen ihrer Eltern. Er war schonungslos ehrlich gewesen und ließ auch seine eigene Meinung und seinen Erfahrungswert nicht außer Acht und dies beeindruckte die junge Frau ungemein. Seine Prioritäten unterschieden sich von denen ihres Vaters, jedoch musste er auch nicht an das Wohl eines gesamten Rudels denken. Zephyr fand allerdings, dass es nicht schaden konnte, auch auf die Meinung anderer zu hören. Silas mochte einen groben, ja fast schon barbarischen Eindruck machen, aber er war kein Trottel, so wie dieser Asher. Er besaß einen scharfen Verstand und dies zusammen mit seiner langjährigen Erfahrung machte ihn ungeheuer wertvoll. Ihr Vater war ein Narr, wenn er sich dies nicht zu Nutze machte.
„Auf die Hintergründe einer Verpaarung hätte ich verzichten können, aber schön zu wissen, was mich erwartet“, murmelte sie, ein wenig angewidert von dem Gedanken, mit einem möglicherweise fremden Greifen für Nachwuchs zu sorgen. Silas' männliches und arrogantes Grinsen überraschte sie, hatte sie doch nicht damit gerechnet, dass er zu dieser Sorte Männchen gehörte.
„Du wirst es genießen, vertrau mir“, feixte er.
Das glaube ich weniger, dachte Zephyr still. Mit einem Mal wusste sie, warum ihre Eltern ein solches Geheimnis daraus gemacht hatten. Zwischen den beiden wurde es ruhig, als sie ihren Weg zwischen all den Steinhütten hindurch fortsetzten. Silas bemerkte die vorwurfsvollen Blicke all der Greifen und fragte sich, was genau er nun schon wieder falsch machte, doch wann immer er einen von ihnen herausfordernd anstarrte, wandten sie rasch die Blicke ab. Feiglinge!
Es munterte den Krieger allerdings ein wenig auf zu sehen, wie stolz Zephyr an seiner Seite schritt, das Kinn hoch erhoben. Sie ließ sich von all den Reaktionen nicht beeindrucken und schämte sich auch nicht dafür, an seiner Seite gesehen zu werden und dies war nicht selbstverständlich. Silas unterdrückte das Zucken seiner Mundwinkel und sah stur geradeaus, weil er nicht wollte, dass das Mädchen merkte, wie und was er dachte. Sie mochte stur und auch ein wenig arrogant sein, aber sie war in Ordnung. Klüger als erwartet und auch nicht unfähig, so wie er geglaubt hatte. Trotz Lux hatte sie schon einiges auf dem Kerbholz und aus diesem Grund war er auch so ehrlich zu ihr gewesen.
Silas konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt als sie Hanaleis und Blythes Hütte betraten, wo die beiden Rudelführer gerade ungestört ein leises Gespräch führten. Entgegen seiner Art hörte der Krieger absichtlich weg, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, denn als sich ihre wachsamen Blicke auf ihre Tochter richteten, verstummten sie abrupt. Hanalei war die Schnellere von den beiden und kam auf der Stelle angerauscht, nachdem ihr Blick am Menschenkörper von Zephyr auf und ab geglitten war.
„Was ist passiert?“, fauchte sie und schloss ihr Kind beherzt in die Arme, ehe sie ihren mörderischen Blick auf Silas heftete, der sich absichtlich im Hintergrund hielt und Blythe nicht aus den Augen ließ, da auch er in diesem Moment so aussah, als würde er seiner Leibwache eigenhändig den Hals umdrehen wollen. Silas enthielt sich seiner Antwort, da Zepyhr ein Lachen ausstieß.
„Beruhige dich, Mama! Das ist nur ein einfacher und glatter Schnitt, morgen schon ist er verschorft“, platzte es begeistert aus ihr heraus. Voller jugendlichen Leichtsinnes sprudelten die Worte aus ihr heraus. „Silas ist der Wahnsinn! Er ist unglaublich fordernd und hat mich wirklich an meine Grenzen gebracht, mit Lux ist das Training nicht einmal halb so wirkungsvoll! Kann Silas das nicht komplett übernehmen? Sogar sein Lehrstoff ist weitaus umfangreicher, er konnte mir alles ohne Probleme vermitteln, sogar die heikleren Themen.“
Silas versteifte sich noch im selben Moment, als das Mädchen die Worte aussprach. Schon klar, sie dachte sich nicht viel dabei, doch er kannte ihre Eltern gut genug, um Hanaleis Reaktion schon zu erahnen, ehe ihre Augen sich auch schon schmälerten und ihn fixierten.
„Was soll das heißen? Welche heiklen Themen?“, fauchte sie leise und ließ die Schultern von Zepyhr los. Die schien ihren Fehler noch immer nicht bemerkt zu haben und sah verständnislos zwischen ihnen hin und her. Bitte, sag es nicht, dachte Silas inständig und schloss die Augen. Auch weiterhin in Plauderlaune fiel die junge Frau Silas unbemerkt, aber geradewegs in den Rücken.
„Ihr müsst nicht mehr alles vor mir verheimlichen. Silas war so nett mir ein wenig zu erklären. Zum Beispiel was meine zukünftige Verpaarung angeht, oder aus welchen Gründen ihr welche Entscheidungen trefft. Wie bereits gesagt, Silas kann mir mehr beibringen, als Lux und ich hätte gerne ihn als meinen Lehrer.“
Müde rieb Silas sich mit seiner großen Hand über das Gesicht. Es ehrte ihn zwar, dass die Kleine ihn so sehr schätzte und unabhängig davon, ob er mit diesem Wunsch einverstanden war oder nicht, würde die Situation hier böse enden, er konnte es bereits in seinem Magen spüren. Dieses vertraute Kribbeln und Stechen in seinem Nacken kündigte Gefahr an. Er rechnete fest damit, dass Hanalei ihn nun anbrüllen würde, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen sah sie mit gespielter Freundlichkeit und Güte ihre Tochter an.
„Wir reden nachher über deinen Wunsch. Geh jetzt und erledige mit Lux deine restlichen Aufgaben“, befahl sie und da endlich schien Zephyr zu begreifen, was hier gespielt wurde.
„Aber doch nicht ausgerechnet jetzt“, widersprach sie und stellte sich schützend vor Silas. Der Krieger stieß ein leises Knurren aus.
„Hör auf deine Mutter“, warnte er leise und ließ Hanalei nicht aus den Augen, die sich gerade umwandte und Blythe ansah.
„Bring sie hier weg, Liebster“, wies sie ihren Gefährten an, was mit einem Nicken beantwortet wurde. Silas wusste, dass dies die Ruhe vor dem Sturm war. Blythe würde keine Einwände erheben. Was ihre Sprösslinge anging, hatte zweifellos das Weibchen die Kontrolle, der Rudelführer hätte von nun an keinen Einfluss mehr auf Hanaleis folgenden Entscheidungen. Er bewegte sich schon auf sein Mädchen zu, da trat diese einen Schritt zurück und stieß unweigerlich mit dem Rücken gegen Silas.
„Auf keinen Fall! Er hat doch nichts falsch gemacht“, wehrte sie ab und geriet ins Stocken, als Silas ihr bestimmend die Hand auf die Schulter legte und warnend zudrückte. Hanaleis gerade Haltung straffte sich noch ein wenig mehr als sie die Schultern zurücknahm und Kinn und Stimme hob.
„Ich erkläre dir später in aller Ruhe, was ihr beide falsch gemacht habt, aber jetzt gehst du mit deinem Vater. Das ist ein Befehl!“
Ein weiterer Widerspruch lag Zepyhr auf der Zunge, aber noch bevor sie ihn aussprechen konnte, schob Silas sie geradewegs in die Arme ihres Vaters, der sie am Oberarm packte und erbarmungslos mit sich zog, hinaus aus der Hütte. Still und reglos warteten Silas und Hanalei darauf, dass ihre Schritte verklangen, dann brach der Sturm auch schon über den Krieger herein. Die Rudelführerin baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf und taxierte ihn aus eisig kalten Augen heraus. Die Abscheu stand ihr ins makellose und feine Gesicht geschrieben, aber die war Silas längst gewöhnt. Aufrecht stand er da, auch wenn er wünschte, Zephyr hätte den Mund gehalten.
„Nicht nur, dass du es gewagt hast, unserem Mädchen eine solche Wunde zuzufügen, nein, du bist auch noch so unverschämt, ihr Rudelangelegenheiten anzuvertrauen, die sie noch überhaupt nicht wissen sollte. Was fällt dir ein, dich einfach über ihren Lehrplan hinwegzusetzen? Ich habe dich für diese Aufgabe ausgewählt, weil ich deinen Gehorsam und deine Verschwiegenheit zu schätzen wisse, aber dass du mein Vertrauen so missbrauchst, ist glatter Verrat!“, brauste sie auch schon auf und schrie ihn an.
Silas zuckte nicht einmal mit der Wimper. Hanalei war genauso aufbrausend wie alle anderen Greifen auch und sie duldete es nie, stellte man ihre Autorität infrage. Ob er sie verraten hatte oder nicht war Ansichtssache, doch noch ließ er sich nicht ängstigen.
„Meine Herrin, Zephyr zu trainieren, in der Absicht sie nicht zu verletzen, ist absolut hirnrissig. Sie muss nicht nur austeilen können, sondern auch einstecken, sie zu schonen ist kontraproduktiv“, begann er sachlich und monoton. „So wenig einverstanden ich mit manchen Eurer Entscheidungen auch bin, so habe ich sie dennoch immer respektiert, aber der Kleinen so viele wichtige Informationen zu verschweigen ist absolut nicht vertretbar.“
„Halt den Mund!“, unterbrach Hanalei ihn gebieterisch und mit erhobener Hand. „Wie kannst du es wagen so unverschämt zu sein und meine Entscheidungen anzuzweifeln? Ich bin die Rudelführerin und dies nicht ohne Grund. Ich bin es leid, wie du glaubst, immer wieder eine Nische zu finden, um Blythes und mein Wort zu umgehen, aber damit ist jetzt Schluss! Wir haben dein Verhalten schon viel zu lange toleriert. Es tut mir leid, dass zu sagen, aber zum Schutz des Rudels und zum Wohle Zephyrs wirst du aus dem Rudel verstoßen. Ab sofort wirst du deine Kompetenzen nicht länger überschreiten.“
Hanalei wandte sich von ihm ab, um deutlich zu machen, dass das Thema für sie somit erledigt war, doch Silas war wie festgewachsen. War ihr klar, welch Worte da soeben ihren Mund verlassen hatten? Er spürte die Wut in sich aufkochen, wollte sich verwandeln und Klauen und Schnabel in heißes, blutiges Fleisch schlagen, konnte dieses Verlangen aber unterdrücken. Was er nicht unterdrücken konnte war der Drang, die Worte auszusprechen, die ihm durch den Kopf geisterten. Er wusste, welch Konsequenzen sie haben würden, versuchte wirklich seinen Groll hinunterzuschlucken und dennoch knurrte er: „Bei allem Respekt, Lady Hanalei, aber Ihr reagiert überzogen!“
Silas konnte froh sein, dass die Greifin sich nicht auf ihn stürzte und in der Luft zerfetzte, ihre Reaktion kam dennoch nicht unerwartet. Sie verwandelte sich, wirbelte mit ihren gewaltigen Schwingen Staub und Dreck auf und trabte auf Silas zu, um diesen zurückzudrängen, geradewegs aus der Hütte hinaus. Blanker Zorn verdunkelte ihre sonst strahlenden blauen Augen und sie schnappte so verbissen mit ihrem Schnabel nach ihm, dass Silas wirklich ernsthaft vor ihr ausweichen musste. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Blythe und Zephyr angelaufen kamen, scheinbar war ihnen Hanaleis Gebrüll nicht entgangen, doch beachten konnte er es nicht. Er musste sich überlegen, was er nun tun sollte. Blythe war als Männchen angreifbar, Hanalei aber nicht. Auf das Vergehen, die Rudelführerin anzugreifen, stand die Todesstrafe, dieses Risiko konnte er also nicht eingehen. Entweder er akzeptierte ihr gefälltes Urteil und suchte schleunigst das Weite, oder er verließ sich auf Blythes Hilfe, der ihn möglicherweise und mit nur geringer Wahrscheinlichkeit in Schutz nahm.
„Liebes, was soll dieser Aufstand? Ich habe mich doch nicht etwa verhört?“, rief er und eilte auf seine Frau zu, während ihre Tochter an Silas' Seite auftauchte und an seiner Hand zog.
„Komm mit mir! Wenn du eine Weile untertauchst, wird sie sich wieder beruhigen“, drängte sie, wodurch es schien, als habe sie damit bereits Erfahrung zu genüge. Silas war versucht ihr Gehör zu schenken, aber längst war ihm klar, dass es dieses Mal nicht so einfach wäre. Einem offiziellen Befehl war Folge zu leisten und Hanaleis derart schlechte Laune konnte man nicht aussitzen. Er rührte sich also nicht von der Stelle und sah mit an, wie die Rudelführerin ihrem Gefährten erklärte, was überhaupt los war.
„Wir haben darüber geredet“, schnappte Silas auf, nachdem sie wieder in Menschenform dastand.
„Seine Meinung tut nichts zur Sache und er hat sich nicht einzumischen.“
Es entstand eine hitzige, wenn auch leise geführte Diskussion, in der Blythe und am Ende somit auch Silas nur verlieren konnte. Für einen Sekundenbruchteil sah man das Mitleid über Blythes Gesicht huschen, dann wurde er todernst und winkte seine Tochter an sich heran. Selbst Zephyr erkannte, dass Silas nun nicht mehr zu retten und sein Schicksal besiegelt war.
„Silas, ich bedaure die übereilte Entscheidung, aber Hanalei hat Recht. Deine Respektlosigkeiten häufen sich, damit ist jetzt Schluss. Du wirst gehen, sofort.“
Silas besaß genug Selbstbeherrschung um sich nichts anmerken zu lassen, dennoch fühlte es sich so an, als habe ihm Blythe seine Klaue direkt in die Brust gestoßen und somit sein Herz herausgerissen. Er hätte es genauso gut auch zum Frühstück verspeisen können, es wäre nicht weniger grausam gewesen. Erneut war Zephyr diejenige, die widersprechen wollte, doch Silas ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. Er nickte und wandte sich um, konnte nichts anderes tun, außer den Rückzug anzutreten, sein weniges Hab und Gut zusammenzupacken und seinem Rudel den Rücken zu kehren, ganz gleich, was dies mit den letzten Resten seines Herzens machen würde.
Fortan lebte Silas nur noch als Tier. Er war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte nur seinen Instinkten vertrauen, die ihm dabei halfen seine Beute zu erlegen und jenes Territorium zu beschützen, welches ihm streng genommen längst nicht mehr unterlag. Den Polarkreisel zu verlassen fiel ihm schwer, war einfach kein Teil seiner Natur und entsprach dieser auch nicht.
Die Wochen vergingen, die Tage wurden kürzer und Eis begann die ohnehin schon karge Landschaft zu bedecken. Die vielen Seen und Gewässer froren zu und auch das letzte Bisschen Leben schien zu verschwinden und verstummen. Einen Greif konnte dies nicht aufhalten. Seine Krallen ermöglichten es ihm, durch die Eisschichten hindurch nach Fischen und Kleintieren zu schnappen und sein dichtes Gefieder ließ keinen Windhauch oder Eisregen an seine erhitzte Haut heran und war er noch so schneidend scharf und eisig.
Noch mit dem späten Sonnenaufgang breitete Silas seine gewaltigen Schwingen aus und verließ die Nischen und Felsspalten, die ihm hier und da Schutz gewährten und wenige Stunden leichten Schlaf boten.
Jeden Tag aufs Neue überflog er das Reich, hielt aus der Ferne Ausschau nach dem Rudel, welches auf magische Art und Weise nach ihm zu rufen schien. Es glich einem leichten Pulsieren, welches ihn bis auf seine blanken Knochen traf und ihm nur allzu deutlich vor Augen hielt, dass Wesen wie sie keine Einzelgänger waren. Er mochte Nahrung und Wasser finden, aber ohne Seinesgleichen war es nur eine Frage der Zeit, ehe dieser Umstand seine Spuren an und in ihm hinterlassen würde.
Anfangs noch darauf bedacht seine Leute, sein Fleisch und Blut zu beschützen, war er auf der Suche nach den Harpyen gewesen, aber von denen fehlte weit und breit jede Spur und somit sollte es nichts mehr geben, was ihn noch auf diesem Teil der Welt hielt.
Niemand kam und holte ihn zurück und selbst Asher hielt es nicht für nötig, im Geheimen und Dunkel der Nacht noch Kontakt zu ihm zu pflegen. Er war wahrhaftig verstoßen worden, konnte diesen Umstand aber längst nicht mehr begreifen.
Er war ein Krieger, ein wertvoller Teil des Ganzen, aber nun war er ein Nichts. Er war nichts und besaß auch nicht das Geringste.
Nichts, außer dieser neu gewonnen Freiheit, von der er sich so überwältigt fühlte, dass er fast wie gelähmt war. Er wusste, dass weitab des Polarkreisels auch noch andere Welten existierten und diese mussten lauter, fröhlicher, aber auch ungeheuer gefährlich sein, doch es nahm viel Zeit in Anspruch, gewohntes Land hinter sich zu lassen und diese Freiheit zu verinnerlichen. Was hätte es auch bringen sollen, neue Reiche zu erkunden, bestand sein einziger Zweck nicht darin, die Seinen zu beschützen, mit dem Blutdurst, der ihm innewohnte?
Getrieben von Unruhe, Hilflosigkeit und auch dem Instinkt, endlich wieder größere Beute zu jagen und erlegen, wagte Silas sich schließlich über die Grenzen hinaus.
Sein Verstand hatte längst begriffen, dass es hier keine Zukunft mehr für ihn gab, auch wenn es an ein Wunder grenzte, dass er überhaupt noch zu solchen Gedanken fähig war. Es vergingen weitere Tage, in denen sich die Landschaft um Silas herum veränderte.
Das einheitliche Grau und Weiß von Schnee, Eis und Felsen verwandelte sich in trostloses Graubraun, als sich die düsteren Moore vor seinen wachsamen Augen ausbreiteten. Wäre er kein ausgewachsener und erfahrener Krieger, hätten sie ihm beinahe das Fürchten gelehrt. Knorrige und verschrumpelte Bäume kennzeichneten die Sumpflandschaft, in der die Schattenwesen regierten und sich auf jeden stürzten, der zu schwach oder nicht schnell genug war. Silas musste sich auf seine Schwingen verlassen, zu groß war das Risiko, dass er einen falschen Schritt machte und in sein Verderben trat. Nicht nur der modrige Geruch des Schlammbrauns hing in der Luft und in seinen Lungen fest, sondern auch der faulige Gestank des Todes, den der Greif schon seit geraumer Zeit nicht mehr vernommen hatte.
Kein Zweifel, die Moore forderten ohne Unterlass ihren Tribut. Er wusste nicht, über wie viele Meilen sich diese grässliche Todesfalle erstreckte, aber eines stand fest: Hierbleiben wollte er gewiss nicht!
Laina überflog ein letztes Mal den zerknitterten Bericht, den sie in den Händen hielt, ehe sie ihn zerknüllte, in eine kleine Tasche über ihrem Po stopfte und einen letzten Blick über die Schulter warf.
Im frühen Morgengrauen wirkte Dumiah ungeheuer friedlich. Auch diese Nacht war der übliche Lärm der Exzesse durch die Straßen geschallt, nun schien die gesamte Stadt ihren Rausch auszuschlafen. Das perfekte Timing also, um ihren täglichen Rundflug zu absolvieren. Schon seit einigen Wochen brach sie jeden Tag aufs Neue auf, um Totis Berichten und Sichtungen auf den Grund zu gehen.
Die Lage war noch nicht allzu ernst. Die Harpyen, von denen Toti sprach wagten es bisher nicht, ihre widerlichen Klauen auf Lainas Grund und Boden zu setzen, allerdings fand die Drachenfrau es äußerst beunruhigend, dass die Harpyen mal zu sehen waren und dann plötzlich wieder wie vom Erdboden wie verschluckt zu sein schienen. Lainas raubtierhafter Instinkt schien was das anging im Augenblick noch zu schlummern, aber dies war kein Grund, um unachtsam zu werden. Ganz im Gegenteil, gerade dann, wenn einen die Instinkte im Stich ließen, ließen die Probleme nicht allzu lange auf sich warten. Der Grat aber war schmal zwischen verbissener Wachsamkeit und leichtsinniger Naivität.
Der gelbe Drache von Dumiah schüttelte diese Gedanken ab und warf den Kopf in den Nacken, als sie sich brüllend in ihre wahre Gestalt verwandelte. Gelbe, halbrunde Schuppen breiteten sich über ihre tiefbraune Haut aus und breite Vorder- und Hinterläufe ersetzten ihre muskulösen Arme und Beine. Trotz ihrer Weiblichkeit wusste Laina, welch furchterregenden Anblick sie bot. Ihr blassgelber Torso war genauso breit und massig wie der eines Drachenmannes und ihre ledrigen Fledermausflügel waren beängstigend.
Ihr biegsamer Schwanz war ein wenig zu lang geraten und war mit einem einzigen, spitzen Stachel ausgestattet. Als Junges noch in der Hoffnung, dieser möge ein wenig Gift beinhalten, diente er bloß ein wenig zur Abschreckung, wenn sie einen Feind nicht gerade damit aufspießte. Auch konnte sie nicht damit prahlen, dass zwei majestätische Hörner auf ihrem Schädel thronten, sie musste sich mit zwei hässlichen kleinen Segelhäuten zufriedengeben, die an den Seiten ihres Kopfes genauso gut auch zwei zu groß geratene Ohren darstellen könnten. An anderen Drachen hatte sie dies aber noch nie gesehen. Gar nicht fremd hingegen war ihr die längliche Schnauze, die spitzen Reißzähne darin und die großen Nüstern vorne, die die köstlichsten und widerlichsten Gerüche in ihr Innerstes transportierten.
Die Erde bebte unter jedem ihrer gewaltigen Schritte, doch selbst dadurch schien die Natur nicht aufgeschreckt zu werden. Laina war meilenweit bekannt, dies galt auch für ihre Liebe für den Kampf. Jeder, der sie herausfordern wollte, konnte dies jederzeit tun.
Nach all der Zeit traute sich dies niemand mehr und das war mitunter einer der Gründe, warum ihr so langweilig war. Sie konnte sich den lieben langen Tag den Kopf darüber zerbrechen, selbst dann noch, als das laute Rauschen ihrer Flügelschläge durch die Luft schnitt und ihren Körper über die trostlose Landschaft trug.
Die Tundra war mit ihrem braungelben trockenen Boden, den wenigen Sträuchern und Gräsern definitiv nicht der schönste Ort der Welt und dank der wenigen hartgesottenen Pflanzen auch wesentlich düsterer und finster, doch der stetige Wechsel zwischen Sonne und Regen tat den Gemütern gut und hatte Laina dieses Land überhaupt erst verschafft. Kaum einer konnte sich für diese karge Umgebung begeistern. Zumindest war es bis vor einigen Jahren einmal so gewesen. Ihre lockeren Regeln und Gesetze stießen auf Begeisterung und erfreuten sich immer größer werdender Beliebtheit, weshalb viele Reisende Rast in Dumiah machten. Auch waren ihr schon viele Briefe in die Hände gefallen, in denen die verschiedensten Drachen darum baten, einen Fuß auf ihr Reich setzen zu dürfen.
Dabei handelte es sich nicht nur um alt eingesessene Regenten, die sich vielleicht das ein oder andere von ihr abgucken wollten oder bloß neugierig waren, nein, darunter waren auch recht junge Drachen, die möglicherweise ebenfalls etwas anders machen wollten und hofften, den Frieden somit noch ein Stückchen weiter sicherstellen zu können.
Laina war sehr sorgfältig bei der Auswahl derer, denen sie den Zutritt erlaubte. Natürlich besaß nicht jeder gute Absichten, bisher war zum Glück aber nie etwas schiefgegangen. Die Schwierigkeiten in ihrem Erwachsenenleben hielten sich ohnehin in Grenzen. Ihr fehlten die jugendlichen Leichtsinnigkeiten und von ihren Stadtbewohnern herausgefordert zu werden war einfach nicht mit dieser archaischen Brutalität zu vergleichen, die einen typischen Drachen ausmachte.
Als Laina immer höher stieg und überlegte, durch die Wolkendecke zu stoßen, fiel ihr Blick auf die Grenze ihres Landes, wo die Erinnerung an ihr jüngeres Selbst lebhafte Formen annahm. Inmitten der Moore war sie zum ersten Mal auf Ryker getroffen, was in einem blutigen und lebensbedrohlichen Kampf geendet hatte. Noch immer konnte sie sehen, wie sie sich einem lauten Unwetter gleich aufeinander stürzten, mit Zähnen und Krallen versuchten, sich gegenseitig zu zerfetzen und zerfleischen. Wer hätte auch ahnen können, dass daraus eine so leidenschaftliche Affäre und langjährige Freundschaft entstehen würde? Laina ging in den Sinkflug über und beschloss, dass es nicht schaden konnte, hier auch zu landen. Die Moore waren immerzu verlassen und es würde sie nicht überraschen, hier genau deswegen auf ein Rudel Harpyen zu treffen.
Sie blieb wachsam als es laut donnerte, als ihr Körper schließlich auf der feucht-modrigen Erde aufkam. Sie legte die Flügel eng am Torso an und entschied, sich nicht zu verwandeln. Sie musste wachsam bleiben, denn gerade, weil die vielen Bäume hier zum Großteil abgestorben waren, erkannte man eine Harpye in deren Geäst womöglich nur schlecht. Ihre Gestalten waren zum Teil genauso knorrig wie die toten Bäume und schon beim bloßen Gedanken daran, schüttelte Laina sich angewidert. Ein Schnaufen durch ihre Nüstern ausstoßend setzte sie sich schließlich in Bewegung.
Sie musste ungeheuer aufpassen wohin sie trat, bei ihrer Gestalt würde es nicht lange dauern, bis sie schließlich vollends in den schlammbraunen Tiefen verschwunden wäre.
Sie wusste von den vielen Anderen, die hier regelmäßig ihr Leben ließen und wollte gar nicht erst daran denken, über wie viele Leichen sie sich just in diesem Moment hinweg bewegte.
In den frühen Morgenstunden hingen dichte Nebelschwaden in der Luft, aber die Drachenfrau war überzeugt davon, dass er sich niemals lichtete. Eulenrufe schallten durch die Luft, ansonsten war es absolut still.
Laina verharrte mehrmals reglos, als sie das Knacken von trockenen Ästen hörte, aber ganz gleich wie sehr sie ihre scharfen Sinne auch beanspruchte, sie konnte weder etwas wittern, noch etwas Ungewöhnliches entdecken. Bis auf... Da! Laina dachte sich erst einmal nicht viel dabei, als sie glaubte in der Ferne einen Schatten vorbeihuschen zu sehen, es hätte eine Eule sein können, wäre da nicht dieser außergewöhnliche Duft gewesen, der sie in den Nüstern kitzelte.
War das Schnee oder Eis? An einem Ort wie diesen wohl kaum möglich, dennoch blickte Laina sich in alle Richtungen um, weil der Geruch einfach viel zu stark, viel zu präsent war. Die Stille schien zu lauern, stachelte ihre Sinne nur noch mehr an und brachte sie auf den irrsinnigen Gedanken, dass ihr jede Sekunde etwas seine Krallen in ihren langen Hals schlagen würde. Laina fürchtete diesen Gedanken nicht, zu waghalsig wäre es für einen Feind, einen Drachen im Alleingang zu attackieren. Und ein anderer Drache wäre ihr sofort ins Auge gesprungen, gute Tarnung hin oder her.
Für einen Sekundenbruchteil überlegte der gelbe Drache, was sie nun tun sollte. Ihren Weg fortsetzen und so tun, als habe sie nichts bemerkt? Oder dem Mysterium auf den Grund gehen?
Es wäre klüger gewesen sich nicht provozieren und locken zu lassen, aber dieser kühle und erfrischende Duft machte sie einfach neugierig. Nahezu lautlos bewegte sie sich auf den Punkt zu, an dem ihr der dunkle Schatten ins Auge gefallen war. Weitere Äste knackten und ein Rascheln erregte ihre Aufmerksamkeit, dann versperrten ihr einige Bäume den Weg. Sie schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und verharrte auf der Stelle regungslos, als ihr ein Wesen begegnete, welches sie so noch nie gesehen hatte.
Die kleine Lichtung vor ihnen wirkte trügerisch sicher, doch die feuchte Erde lauerte nur darauf, einen falschen Schritt zu bestrafen. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch die dicke und tiefgraue Wolkendecke, aber auch deren kühles Gold konnte die Nebelschwaden, die über das Moor krochen, nicht vertreiben.
Der Greif, der sich so dicht wie möglich über dem Boden hielt, hatte schon in der Ferne einen eigenartigen gelben Fleck ausmachen können, wusste nicht, welch Wesen dort lauerte und wollte sich deshalb sicherheitshalber aus dem Staub machen, doch leider war er nicht schnell genug gewesen. Just in diesem Moment stand er einem verdammten Drachen gegenüber, der drei Mal so groß war wie er und weitaus bulliger und massiger, als ihm lieb gewesen wäre. Er sah sich schon in dessen großem Maul mit den scharfen Reißzähnen verschwinden und plusterte instinktiv die Federn auf.
Silas wusste nicht, dass diese Moore einem Drachen gehörten, aber etwas passte nicht. Warum griff ihn dieses schuppige Reptil nicht an? So wendig wie eine Schlange schlängelte er sich zwischen die knorrigen Bäume hindurch, berührte trotz seiner Größe nicht einmal deren Äste und wirkte viel zu ruhig und gelassen. Seine blassgelbe, schuppige Haut wirkte abschreckend und die halbrunden Hornplatten vermittelten den Eindruck, als wären sie undurchdringlich. Silas konnte keine Hörner entdecken, nur einen langen Hals, einen ebenso langen Schwanz, beängstigende Klauen und mehrfarbige Augen, von denen er fürchtete, von ihnen hypnotisiert zu werden.
Trotz ihrer Distanz konnte er jeden farbigen und atemberaubenden Tupfer in ihnen erkennen. Das Graublau sah aus, als würden sich das Meer und unheilvolle Sturmwolken küssen und somit zu etwas ganz Neuem vermischen. Direkt dazwischen blitzten Sonnenstrahlen auf. Zumindest kam es dem Greifen so vor, als er die nadelförmigen gelben Einschlüsse erkannte, die trotz der schlitzförmigen tiefschwarzen Pupillen gut und deutlich zu erkennen waren.
Für einen winzigen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass dies die schönsten und faszinierendsten Augen waren, die er je gesehen hatte, dann schaltete sein Körper in den Überlebensmodus. Kurze und sich wiederholende Fauchlaute ausstoßend ging Silas in Stellung.
Einer Warnung gleich spreizte er seine Flügel, versuchte jede einzelne Feder noch größer erscheinen zu lassen. Kräftemäßig war er einem Drachen deutlich unterlegen, aber seine Instinkte waren nicht länger zu unterdrücken. Er gehörte keinem Rudel mehr an, war auf sich alleine gestellt und musste sein Überleben sichern!
Die feuchtkalte Luft um sie herum schien sich aufzuladen, die Spannung deutete darauf hin, dass gleich Fauchen und Gebrüll über die Landschaft schallen würde und nur deshalb ließ Silas sich von diesem eigenartigen Knistern leiten.
Eine Pranke vor die andere setzend versuchte er den Drachen dahin zurückzudrängen, wo er hergekommen war, doch gerade dann, als er dachte sie würden gleich zum Angriff übergehen, da brachte ihn der Drache aus der Fassung, indem er sich wie ein räudiger Köter auf seine Hinterläufe setzte und den gewaltigen Schädel neigte. Silas verstummte und starrte das Ungeheuer fassungslos an. Es tat... nichts?
Deutlich blitzte die Neugier in den mehrfarbigen Augen auf, zu allem Überfluss wurde es noch viel verrückter. Der Drache beugte seinen langen Hals und Schädel zu ihm hinab, nahm ihn scheinbar von allen Seiten in Augenschein und gab dabei nicht den kleinsten Laut von sich. Wie konnte das sein?
Völlig hingerissen betrachtete Laina den Greif von allen Seiten. Seinen muskulösen Körper, die imposanten Schwingen und den schwarzen Schnabel, der garantiert mühelos ihre dicken Hornschuppen durchdringen konnte. Sie hatte selbstverständlich gewusst, dass es diese gefiederten und starken Wesen wirklich gab, aber noch nie war ihr eines begegnet! Es war allgemein bekannt, dass Greifen sehr misstrauisch waren und fernab von allen anderen lebten. Nicht, dass sie scheu gewesen wären, aber ihre Instinkte waren kompromisslos und wohl genauso wenig zu ignorieren, wie die eines Drachen. Auch Lainas unvorstellbare Neugierde war eine Facette dieser Instinkte. Ihr Schwanz zuckte aufgeregt hin und her, war ein Spiegelbild dessen, war auch der Raubvogel vor ihr zeigte. Seine ausgebreiteten tiefbraunen Schwingen sollten eine Drohung sein, waren aber so perfekt und makellos, dass sie ihre Wirkung gänzlich verfehlten.
Jede einzelne Feder war eine Pracht, tiefdunkel und lang. Sein dichtes Gefieder wirkte samtweich, von den schwarzen Federn seines Kopfes, bis hin zu den weißgefleckten auf seiner Brust und den wieder schwarzen an seinen Läufen. Die Krallen an seinen Pranken waren gebogen und rasiermesserscharf, blitzten mehrmals gefährlich auf, als sich abermals Sonnenlicht durch die Wolkendecke brach.
Sein dunkler Schnabel hingegen wirkte wesentlich düsterer. Laina erkannte Schrammen und tiefe Rillen in ihm und bei genauerem Hinsehen erkannte sie auch eine lange, federnlose Stelle an seinem Kopf. Dieser Greif hatte viel mitgemacht, doch die Zeichnungen schienen alle schon ein wenig älter zu sein.
Nachdem Laina alle potenziellen Gefahren an ihm ausgemacht hatte, richtete sie ihren wachsamen Blick schließlich auf seine großen mandelförmigen Augen, deren helle und satte Farbe an Bernstein erinnerte, nur mit unzähligen Einschlüssen, von den grünen Ringen, bis hin zu den rotbraunen Flecken am äußeren Rand. Der magische Moment war schließlich vorüber als das majestätische Wesen wieder Knurren und Fauchen ausstieß und auf sie zuhielt. Scheinbar wollte es sein Territorium verteidigen, bloß, dass die Moore eigentlich niemandem gehörten. Seine Warnrufe waren eindeutig und als er seine Flügel wieder zusammenklappte wusste Laina, dass er jeden Moment zum Angriff übergehen würde. Um dies zu verhindern, hielt auch sie einen Teil ihres wahren Wesens nicht mehr zurück. Hals und Schädel noch immer dicht über dem Boden haltend stieß sie ein Knurren aus, welches das halbe Moor zum Beben brachte. Sie war nicht sein Feind, aber sie könnte es werden, wenn er nicht einsah, dass sie als Siegerin aus einem Kampf herausgehen würde. Sie rechnete mit einer schnellen Flucht, eben weil das wahre Naturell eines Greifen eher... zurückgezogen war, doch Laina wurde überrascht, als der gefiederte Feind noch näherkam und nicht nur mit dem Schnabel nach ihr pickte, sondern auch versuchte ihr seine Krallen in den Hals zu schlagen. Ihr Jagdtrieb wurde geweckt und ihre Sinne witterten etwas gänzlich Neues.
Sie trat von einer Klaue auf die andere und stieß mit ihrem Schwanz immer wieder gespielt in seine Richtung, gleichzeitig schob sie ihn mit ihrer langen Schnauze zurück, darauf bedacht sich auch ja nicht von seinem Schnabel erwischen zu lassen. Das tiefe Grummeln in ihrer Brust klang wie eine Drohung, war aber nichts weiter als ein Lachen, ein Ausdruck ihrer Freude über diese kleine Rangelei. Es lag ihr fern diesem Wesen seine Grenzen aufzuzeigen und auch wenn sie der Geruch und Geschmack von Blut reizte, gingen ihr gänzlich andere Dinge durch Mark und Bein. Sie wollte mehr über dieses Geschöpf wissen, wollte in Erfahrung bringen, ob es vielleicht noch mehr gab, was die beiden miteinander verband, als nur ihre Klauen und Kampfeslust.
Sie sah den Sturm in seinen Augen toben als sie ihre Flügel ausbreitete und dabei einige der Bäume streifte, die dieser strotzenden Kraft kaum noch standhalten konnten und gefährlich abknickten.
Zwei kräftige Schläge mit ihnen und Laina war in der Luft, bereit herauszufinden, welch Leistungen ein Greif an den Tag legen konnte. Silas musste all seine Kraft aufbringen und seine Klauen im Moor vergraben, um bei dem Sturm den sie entfachte, nicht hinfort gepustet zu werden. Er legte den Kopf in den Nacken, staunte angesichts ihres beeindruckenden Tempos, welches sie trotz ihrer Gestalt an den Tag legte als sie in den Himmel schoss, wo die Sonne just in diesem Moment ihren Weg durch die Wolken fand.
Der Krieger wusste nicht ob er von ihr geblendet war, oder nicht doch von dem Drachen, der mindestens genauso hell strahlte und blendete und nirgendwo anders hinzugehören schien, als in diese endlose Weite, die all die verschiedenen Reiche miteinander verband.
Dieser Ausdruck von Freiheit betäubte Silas für einen langen Augenblick. Viele Jahre über hatte er davon geträumt eine solche Freiheit zu besitzen, nun, wo er ihr so zum greifen nahe war, konnte er sie nicht genießen. Er glaubte immer, dass sie sich wie tiefer Frieden in ihm ausbreiten würde, aber nun, wo es soweit hätte sein müssen, lähmte ihn eine furchtbare Angst. Könnte sie reden, würde sie ihn jetzt provozieren, aber dies übernahm bereits der gelbe Drache über ihm. Hoch oben, noch unter den Wolken, wartete er geduldig auf ihn, die außergewöhnlichen Augen unaufhörlich auf ihn gerichtet. Er imitierte jene Laute, die Silas zuvor noch ausgestoßen hatte und überraschte diesen somit ein weiteres Mal. War ein Drache wirklich zu so etwas in der Lage? Neugierig geworden kam der Greif der Aufforderung nach. Seine Kampfeslust flaute zwar etwas ab, doch er blieb wachsam als er seine Flügel ausbreitete, sich den Wind zu eigen machte und in die Lüfte stieg. Ein schriller Ruf entrang sich seinen Lungen als er wie ein Pfeil voranschoss und zu dem Drachen aufschloss.
Die greifbare Spannung zwischen ihnen verschwand als der gelbe Drache begann ihn zu umkreisen und dann noch höher stieg, um die Wolkendecke zu durchstoßen. Seine Schnelligkeit und Wendigkeit war nach wie vor beeindruckend und stachelte Silas dazu an, sein Können ebenfalls zu beweisen. Er fing die stürmischen Winde so hoch oben mit seinen Flügeln ein und schloss schnell zu seinem Kontrahenten auf, um mit diesem einen Tanz zu vollführen, den er so noch nie in seinem Leben vollbracht hatte.
Sein Verstand schaltete sich ab, als sie begannen einander zu umkreisen, Schrauben und Pirouetten drehten und sich gegenseitig auf eine Art und Weise ergänzten, die ihm vollkommen fremd war.
Was eigenartig war, denn... es gefiel ihm. Er stieß einen lauten und eindringlichen Ruf aus, stieg noch höher und ging in den Segelflug über, um die sengenden Sonnenstrahlen auf seinem dunklen Gefieder voll und ganz auskosten zu können. Er schloss die Augen und ließ sich treiben, spürte hin und wieder den Schwanz des Drachen, der immer wieder neckisch nach seinem schlug und ihn somit wieder zum Tanz aufforderte. Silas' Instinkte waren ruhig und geduldig, witterten keinerlei Gefahr mehr und so ließ er sich ohne darüber nachzudenken darauf ein. Trotz ihres Größenunterschieds kostete es beide keinerlei Kraft oder Achtsamkeit, um gegenseitig ihre Schwingen zu streifen oder so dicht aneinander vorbeizufliegen, dass sich ihre Körper unweigerlich berührten. Laina war ebenso schnell und wendig wie der Greif, konnte jedes einzelne seiner Manöver erwidern oder sogar fortsetzen. Sie drehte ab und kam wieder auf ihn zu, präsentierte ihm Loopings und hätte ihm ein Lachen entlockt, wenn er nun in seiner Menschenform gewesen wäre.
Die Landschaft unter ihnen zog vorüber, doch so weit über den Wolken bekamen sie überhaupt nicht mit, wie weit sie die Moore hinter sich ließen. Sie waren beide gefangen in einem Bann, der erst ein jähes Ende fand, als ihnen salzige Seeluft ins Gesicht schlug und sich die Wolken verzogen.
Es war nicht die enorme Strecke, die sie bewältigt hatten, die sie beide zum selben Zeitpunkt innehalten ließ, sondern die überwältigend schöne und steinige Bucht dort unter ihnen. Es lag keinerlei Anspannung oder Gefahr in der Luft, dennoch war deutlich das kleine Rudel Harpyen zu erkennen, das sich in diesem Augenblick über ein großes, totes Tier hermachte. Dem Kadaver nach war es nicht ihre eigene Beute, denn so gierig wie sie sich darüber hermachten, müssten sie ihn längst gänzlich verschlungen haben.
Laina und Silas schwebten förmlich auf der Stelle, noch waren sie nicht bemerkt worden. Dies könnte sich ändern, als in ihrer beider Kehlen unheilvolles Rumoren aufstieg, welches sämtliche Leichtigkeit vertrieb. Rasch bemerkten sie, dass sie einen gemeinsamen Feind zu haben schienen, weshalb sie einen langen Blick miteinander austauschten. Laina geriet in Versuchung in Gedanken Kontakt mit dem Greifen aufzunehmen, doch irgendetwas war da, das dafür sorgte, dass sie sich auch komplett ohne Worte verstanden. Ohne ein Wort miteinander abgesprochen zu haben gingen sie in den Sinkflug über, bereit für eine Auseinandersetzung. Alleine wäre Silas dieses Risiko niemals eingegangen, aber mit einem Drachen an seiner Seite besaß er wohl gute Chancen diese Biester zu vertreiben. Er wusste nicht, ob es sich hierbei um jene Harpyen handelte, die er damals gesehen hatte oder ob es sich hierbei um eine weitere, potenzielle Gefahrenquelle handelte, aber streng genommen war dies ja keine seiner Angelegenheiten mehr. Dennoch war da dieser Trieb in seinem Inneren, der ihn dazu brachte sein ehemaliges Revier zu beschützen. Die Meere gehörten nicht dazu und auch war er kein Teil des Rudels mehr, trotzdem würde er sie beschützen, einfach, weil er nicht anders konnte. Ob sich der Drache, links von ihm, darüber im Klaren war, wusste er nicht, aber er hoffte seine Dankbarkeit noch irgendwie zum Ausdruck bringen zu können.
Die beiden ließen sich noch ein ganzes Stückchen weiter sinken und noch während sie ihr Knurren zeitgleich nicht mehr zurückhalten konnten, rissen die Harpyen auch schon fauchend ihre Köpfe hoch. Silas rechnete damit, dass sie ihre gellenden und betäubenden Schreie ausstoßen würden, aber heute verlief es anders. Harpyen und Drache knurrten und fauchten sich an, das kleine Rudel schien einfach nur seine Beute verteidigen zu wollen, doch dann stieß der gelbe Drache plötzlich einen seltsamen Laut aus, den sie deutlich zu verstehen schienen. War das etwa eine Drohung?
Die Harpyen versuchten zwar noch ihre Beute zu packen und mit sich zu zerren, am Ende gaben sie aber auf, machten kehrt und ergriffen die Flucht, geradewegs über das offene Meer. Der Drache verfolgte sie in mörderischem Tempo noch ein gutes Stück, dann aber drehte er ab und kehrte zurück.
Silas blickte den Ungetümen nach. Lag ihr Versteck irgendwo über oder gar im Meer? Nie hatte es Gerüchte darüber gegeben und angesichts ihrer Grausamkeit und Brutalität war dies auch kein Wunder. Mit Unbehagen beobachtete der Greif, wie der Drache zur Landung ansetzte und die Luft zu flimmern begann, als Zeuge seiner Verwandlung. Und was nun? Sollte er das Risiko eingehen und bleiben? Oder ebenfalls schleunigst das Weite suchen?
Sie sind wirklich so misstrauisch, wie man sich erzählt, dachte Laina schmunzelnd, während sie den Greif, der noch immer über ihr flog, herausfordernd anfunkelte. Ihr war nie zu Ohren gekommen ob diese Wesen auch eine menschliche Form besaßen, aber dieses Funkeln in diesen außergewöhnlichen Augen war viel zu lebhaft und intensiv, um nur zu einem Tier zu gehören. Hinzu kam, dass sie auf eine elementare Art und Weise miteinander verbunden zu sein schienen, denn außer mit anderen Drachen hatte Laina noch nie solche Tänze in der Luft vollzogen. Kampf- und Blutlust hin oder her, sie war neugierig geworden und wollte herausfinden, wer genau dieser Greif überhaupt war. Es vergingen mehrere Augenblicke, in denen er zu überlegen schien, dann verlor er langsam an Höhe und kam schließlich drei Meter von ihr entfernt, auf allen vier Läufen auf der Erde auf. Stürmischer Wind blies ihr ins Gesicht, als der Greif dem Anschein nach absichtlich fest mit den Flügeln schlug und auch wenn es Laina amüsierte, schaffte sie es, das Zucken ihrer Mundwinkel zu kontrollieren.
Die Hände in die Hüften gestemmt ließ sie zu, dass der Greif sie umrundete und dabei prüfend in Augenschein nahm. Silas zögerte und stieß leise Brummlaute aus. Der imposante Drache war gar kein blutrünstiger Kontrahent, sondern eine Frau. Und was für eine!
Völlig hingerissen und fasziniert bekam er überhaupt nicht mit, wie er ihr langsam näherkam, um ihre ungewöhnliche Gestalt noch ein wenig genauer betrachten zu können. Sie war ungeheuer groß, konnte ihn in seiner Menschenform problemlos erreichen und erweckte den Eindruck, als wäre sie ebenfalls ein Teil des Rudels. Sie war eine Amazone, mit großer Oberweite, breiten Hüften und einem prallen Po, gleichzeitig lauerten beeindruckende Muskeln unter ihrer Haut an Armen, Bauch und Oberschenkeln. Ihre braungebrannte Haut schimmerte golden und verblüffte Silas, war so etwas in so nördlichen Regionen doch alles andere als typisch. Im heftigen Kontrast dazu standen da ihre hellblonden kinnlangen und zerzausten Haare, die nicht nur von Perlen und Zöpfen durchflochten waren, sondern auch sonnengebleicht wirkten. In ihrem rundlichen Gesicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2022
ISBN: 978-3-7554-1873-3
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