Unruhig ließ der Erzengel mit den sehenden Fähigkeiten den Blick durch den Saal des Kaders schweifen. Der Teufel und seine Frau waren seiner Einladung bereits gefolgt und auch Michael und Callista hatten sich von Manhatten aus hierher bemüht. Sie wussten, dass es um eine Konferenz ging, waren aber noch ganz gelassen und unterhielten sich miteinander.
Uriel und Jophiel kamen gerade in den Saal der Erzengel geschlendert, womit nur noch drei weitere Erzengel fehlten. Sie ließen noch ein wenig auf sich warten, dann kamen sie in den Saal gestürmt und ließen sich eilig auf ihren Plätzen nieder. Azrael, Raphael und Alea.
„Wo hast du denn deine Frau gelassen?“, wollte Callista von Azrael wissen, doch Zadkiel lauschte nicht der Antwort, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf Alea, die in den letzten vier Jahren vollständig in ihr Erzengel-Dasein hinein gewachsen war. Ihre Fähigkeiten waren so einzigartig wie auch seine eigenen. Krankheiten konnten niemanden dahinraffen, solange Alea in der Nähe war. Sie war in der Lage, Herzen wieder zum schlagen zu bringen, Blumen zum blühen zu bringen und die Elemente ihrem Willen beugen. Der Weg bis dorthin war steinig gewesen, doch dem Anschein nach war sie Gottes kleiner Liebling. Er war ihr Tutor gewesen und hatte ihr alles beigebracht, was sie wissen musste. Aber auch Raphael hatte seinen Teil dazu beigetragen. Er teilte sein Wissen mit ihr, hatte ihr Ghema gelehrt und die Medizin Amaryas.
Zadkiel hatte erwartet, dass der Gefährte sich im Laufe der Zeit verändern würde, doch dies war nicht geschehen. Er mochte zugegeben haben, dass Alea sein Herz war, doch dies war dann auch schon alles. Er war noch immer der brummige und herzlose Mistkerl, wie schon zuvor. Seine sanften Züge blieben seiner Frau vorbehalten. Nur ihr hatten sie es zu verdanken, dass er überhaupt noch am leben war. Es hätte nicht mehr lange gedauert und sein gebrochenes Herz hätte seinem Körper den Dienst versagt. Ihre Fähigkeiten, die zu dem Zeitpunkt noch kaum ausgereift waren, hatten den Prozess jedoch stoppen und sogar gänzlich umkehren können.
Seitdem war es jedoch sehr still in Amarya gewesen. Samael und seine Frau waren nicht mehr oft hier gewesen und auch Michael und Azrael erledigten ihre Arbeit von der Welt der Menschen aus.
Raphael und Alea waren meistens für sich und auch Jophiel und Uriel bekam man bei weitem nicht so oft zu Gesicht, wie die Kinder hier in dieser Welt. Doch in nächster Zeit würde sich dies vielleicht ändern. Nachdem alle auf ihren Plätzen saßen, wurden sämtliche Gespräche eingestellt.
Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Zadkiel, was ihm eigentlich völlig zuwider war. Gedanken und Gefühle strömten auf ihn ein, darunter Neugierde und Misstrauen aber auch Besorgnis. Ein Atemzug von ihm genügte und er hatte alles so weit in den Hintergrund geschoben, dass er auch seine eigenen Gedanken hören konnte.
„So schön ich es auch finde, euch alle wiederzusehen, aber deine Einladung kam doch überraschend“, begann Camael distanziert und förmlich.
Dass Zadkiel ihr einmal ordentlich die Meinung gesagt hatte, war ihr in Erinnerung geblieben und hatte sie vorsichtig werden lassen. Sie war Samael ähnlich geworden und versuchte sich nicht mehr von ihren eigenen Gefühlen leiten zu lassen. Ihre Fortschritte waren beachtlich, doch Zadkiel hatte schon vor längerem bemerkt, dass sie irgendwo immer diese zarte Nephilim bleiben würde, mit der damals alles angefangen hatte. Zadkiel kostete es keinerlei Anstrengungen seine Stimme absolut ausdruckslos klingen zu lassen.
„Dessen bin ich mir bewusst. Zuerst einmal danke ich euch für euer Erscheinen. Ich rufe nur selten zu einer Konferenz, aber wenn ich es tue, dann mit Sicherheit nicht für ein Teekränzchen. Ich habe etwas gesehen und würde euch gerne darüber in Kenntnis setzen“, erklärte er, worauf Getuschel im Saal der Erzengel einsetzte. Blicke wurden ausgetauscht, doch sie alle hatten aus der Vergangenheit gelernt und stellten keine störenden Zwischenfragen.
„Lasst mich gleich eines klarstellen“, fuhr Zadkiel fort. „Ich kann keine Zeitangaben machen, völlig gleich, was genau ich auch sehe. Es kann in den nächsten Tagen geschehen, allerdings auch erst in den nächsten Jahren. Ich hatte die Vision, dass es eine Art... Revolution geben wird, einen Aufstand, von Dämonen verursacht.“
Die Luft um sie herum schien um einige Grad Celsius abzukühlen, was ihnen allen Gänsehaut bescherte. Samael versuchte ruhig zu bleiben und schüttelte leicht den Kopf.
„Das kann nicht sein. Camael und ich haben sie völlig unter Kontrolle, selbst unter den Menschen gibt es nur vereinzelt irgendwelche Vorfälle“, stritt er ab.
Zadkiels Blick ruhte sehr lange auf ihm, ließ sich aber wie gewohnt nicht deuten.
„Tut mir leid, aber das ist es, was ich gesehen habe“, stellte er nüchtern klar. Deutlich war die Besorgnis in der Luft zu spüren. Die meisten konnten es nicht glauben, bis sich plötzlich Alea zu Wort meldete, womit nun wirklich niemand gerechnet hatte.
„Er sagt die Wahrheit.“
Raphael und auch alle anderen sahen sie schief von der Seite an.
„Wie kommst du darauf?“, brummte ihr Gefährte. Alea flatterte ein wenig mit ihren prachtvollen Schwingen und räusperte sich dann.
„Als ich noch ein Mensch war, hatte ich mal einen Albtraum, kannst du dich noch daran erinnern?“, fragte sie ihn, worauf er erst inne hielt und dann ein Nicken andeutete. Er einnerte sich, das war zu dem Zeitpunkt, als sie sich hier in Amarya sein Gemach teilen mussten und sie mitten in der Nacht aufgeschreckt war, mit klammen Fingern. Sie fuhr fort.
„Es war eine Vorahnung. Ich habe geträumt, dass ich Flügel habe. Wir waren hier in Amarya und sind angegriffen worden, deshalb hast du mir auf Ghema zugerufen, dass ich mir mein Schwert schnappen und mich gefälligst beeilen soll.“
Nun herrschte wirklich Totenstille. Keiner konnte es glauben, doch augenscheinlich war es die Wahrheit. Diskussionen setzten ein, doch Zadkiel hielt sich von nun an 'raus. Er sah keine Lösungen für ihre Probleme und auch nicht, wie das Ganze ausgehen würde. Er wusste, dass man das Schicksal umschreiben konnte und die Sache somit gut oder schlecht ausgehen konnte, doch dazu konnte er nichts sagen.
„Hast du gesehen, wer den Aufstand anführt?“, wollte Camael nun wissen, weil sie nicht glauben konnte, dass tatsächlich die Dämonen Schuld sein sollten.
Zadkiel blieb vollkommen ausdruckslos als er antwortete: „Eine Frau.“
In der Dämonin begann es langsam aber sicher zu brodeln, als sie am Thronsaal vorbei kam und sah, dass er wieder einmal verlassen war.
„Das soll ja wohl ein Scherz sein“, fauchte sie leise, ließ ihre Faust in die Steinwand neben ihr krachen und ging weiter. Tag ein, Tag aus, diese jämmerliche Existenz, diese Nutzlosigkeit und diese Langeweile. Es war zum kotzen!
Hier mal einen Menschen töten, da mal für Chaos sorgen und dabei nicht einmal bemerkt werden. Dies war ihr Schicksal. Schon seit weit über dreihundert Jahren war sie mittlerweile schon eine Dämonin, von Samael gewandelt, weil sie wohl schon in ihrem Menschenleben unaussprechliche Dinge getan hatte. Nach ihrem Erwachen als Dämonin war sie verwirrt gewesen und hatte jeden zerfleischt, der ihr zu nahe gekommen war, doch oh, wie hatte sie sich gefreut, als sie nacheinander einen Auftrag nach dem anderen bekam! Sie war stolz darauf gewesen, jemandem dienen zu können und hatte sich als durchaus talentiert erwiesen. Ihre Foltermethoden waren unter den Dämonen ebenso berühmt wie auch gefürchtet. Nur leider gab es da einen Haken... Egal wie viele Kampfkünste sie sich mittlerweile angeeignet hatte, egal wie viele Bücher sie studiert hatte und egal, wie viele Dämonen sie verehrten, eine Person gab es, bei der sie in Vergessenheit geraten war.
Und es war niemand geringeres, als der Leibhafte selbst.
Mehrere Jahre lang hatte Samael sie auf einen Feldzug nach dem anderen geschickt, doch mit der Zeit waren ihre Aufträge immer seltener geworden. Irgendwann hatte Samael sie dann überhaupt nicht mehr zu sich gerufen. Anfangs hatte sie dies als Ferien betrachtet und sich teilweise feucht fröhlich ausgetobt, so, wie es sich für eine Ausgeburt der Hölle gehörte. Doch nach einigen hundert Jahren dann, setzte der Frust ein. Einige Male hatte sie mit ihrem König sprechen wollen, doch er hatte sie nur aus kalten und toten Augen gemustert und sie wieder weg geschickt. Die anderen seien ihr zuvor gekommen, er hatte bessere Leute und was für Gründe er ihr nicht noch alles hinterher geworfen hatte. Still und heimlich hatte sie beobachtet, wie Callista und Vanita auf der Bildfläche erschienen waren und dabei innerlich alles in Stücke gerissen.
Sie hätte ihrem Drang zu töten locker nachgeben können, fürchtete aber, von Samael erwischt zu werden und endgültig weggesperrt oder hingerichtet zu werden. Oh, es kam oft vor, dass der Teufel sich einen seiner Untergebenen, einem Insekt, entledigte. Diese Art zu sterben war alles andere als angenehm, so viel war sicher.
Sie war immer sehr stolz gewesen auf das, was sie war. Doch welchen Zweck hatte es zu existieren, wenn du nicht eine einzige Aufgabe zu verrichten hattest? Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich fünf komplette Jahre lang zurückgezogen hatte. Kein Dämon hatte sie mehr zu Gesicht bekommen.
In dieser Zeit der völligen Isolation war ihr klar geworden, dass sie dankbar dafür sein musste, so unsichtbar zu sein, denn es bot ihr ungeahnte Möglichkeiten! Sie könnte eine ganze Stadt auslöschen oder einen nichtsnutzigen Dämon exekutieren, niemandem würde es auffallen. Dem Teufel am allerwenigsten.
Sie hatte einmal ihre neue Herrscherin, Camael, dabei gesehen, wie sie sich von Béla, einem unbedeutend jungem Dämon, eine Liste aushändigen lassen hatte, auf der jeder Höllenbewohner aufgelistet wurde, der schon mehr als einmal negativ aufgefallen war. Sie war nicht darunter gewesen. Es war, als hätte sie nie existiert.
Hätte sie eine Seele gehabt, wäre sie wohl verletzt darüber gewesen. In ihrer Brust mochte zwar ein Herz schlagen, doch außer dem Drang Chaos zu stiften, konnte es nicht sonderlich viel verspüren.
Kopfschüttelnd vertrieb sie sämtliche Erinnerungen. Was soll's, gäbe sie sich einfach dieser Zerstörungswut hin, dann wäre sie beschäftigt.
Sie ging in die Trainingshalle, in der nicht nur Boxsäcke und Dummys zu finden waren, sondern auch die perfekten Imitationen von Steinwänden, Sumpfgebieten und Kletterwänden. Barren, Plattformen, Waffen und nicht zu vergessen waschechte Dämonen, die sich ganz nach Lust und Laune verprügeln konnten.
Just in diesem Moment wurden ein Mann und eine Frau auf sie aufmerksam, die schon seit einiger Zeit mehr miteinander verband, als nur der Sex. Hadley und Knox waren ein eingeschworenes Team und gaben ein hübsches Paar ab. Sie, die Schönheitskönigin mit perfekt gestyltem, blondem Haar und er der stattliche Bad Boy mit stark gebräunter Haut und schwarzem Haar. Sie liebte es, sich über die beiden lustig zu machen, konnte aber nicht abstreiten, dass sie ihr ans Herz gewachsen waren. Es hatte so manch Vorteil, so etwas wie Freunde hier unten zu haben.
„Reagan“, stellte Knox nun grinsend fest. „Wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen, du hast ziemlich beschissene Laune.“
Statt ihm darauf zu antworten zeigte Reagan ihm den Mittelfinger und schleuderte dann ein Wurfmesser nach ihm, welchem er mit einem polternden Lachen auswich.
„Worüber ärgerst du dich schon wieder, hm?“, hakte Hadley nach, die ihr einen bitterbösen Blick zuwarf, da sie es gewagt hatte ihren Mann verletzen zu wollen. Die Dämonin mit dem tiefvioletten Haar knurrte leise und stieß dann ein Fauchen aus, welches auch von einer Katze hätte stammen können.
„Die Thronstühle sind schon wieder leer“, sagte sie bloß.
Ihre zwei Freunde wurden ein wenig ernster und tauschten dann einen besorgten Blick miteinander aus, bei dem sie eine gedankliche Konversation zu führen schienen, zumindest vermutete Reagan das.
„Deine Langeweile schlägt dir in den letzten Jahren immer mehr aufs Gemüt. Willst du nicht einmal mit Camael in Ruhe darüber reden? Ich bin sicher, sie hat Verständnis für dich“, meinte Hadley und war gezwungen, nun ebenfalls einem Wurfmesser auszuweichen.
Wenn Reagan schlechte Laune hatte, wussten alle, dass ein Kampf oder ein strenges Training unvermeidlich war. Anders schien sich diese Frau einfach nicht beruhigen zu können und aus genau diesem Grund versuchte das Paar gar nicht erst, sie auf andere Weise abzulenken.
Sie ließen die Fäuste knacken und stürzten sich dann zeitgleich auf ihre geschätzte Kumpanin, die trocken auflachte und dann in die Vollen ging.
„Wozu? Sie weiß nicht einmal, dass ich existiere!“, schnautzte sie und bombardierte die zwei mit Fäusten und Tritten, die zum Großteil leider ins Leere gingen. Es kostete sie nach all den Jahren keinerlei Anstrengungen mehr, sich auf mehrere Gegner gleichzeitig zu konzentrieren. Harter Übung hatte sie es zu verdanken, dass sie dabei noch einen lockeren Plausch führen konnte.
„Mich ärgert noch etwas ganz anderes“, fuhr sie fort, während sie zwei Kurzschwertern auswich, die von Knox mit einer Leichtigkeit geführt wurden, die einen neidisch werden ließ. Sie ließ jedoch nichts anbrennen und zog eine Desert Eagle, ihre Lieblingswaffe, mit der sie Knox ohne zu zögern ins Knie schoss. Er brüllte auf und knickte ein, womit noch eine Gegnerin verblieb. Wütend über den Treffer, den Reagan erzielt hatte, fuhr sie ihre dämonischen Krallen aus und schlug mit ihnen direkt in ihr Gesicht. Blut spritzte als ihre Fänge Haut zerrissen, doch der Treffer war nicht tief genug, als dass Narben zurückbleiben würden.
„Die Unterwelt und Amarya leben in Frieden und das sollte nicht sein“, spuckte Reagan aus, wischte sich hastig mit dem Arm übers Gesicht und verkrallte sich mit ihrer Hand in Hadleys Haar, um ihr sogleich mit Gewalt ein paar lange Strähnen herauszureißen. Zischend ging ihre Gegnerin in die Knie. Ihre Haare waren ihr allerheiligstes und Reagan wusste das nur zu genau. Somit hatte sie gewonnen.
Keuchend ließ Reagan von ihr ab und trat sogleich einige Schritte zurück, um zu signalisieren, dass sie begriffen hatte, dass sie mal wieder zu weit gegangen war. Die anderen Dämonen in der riesigen Halle waren schon längst auf sie aufmerksam geworden, doch keiner von ihnen würde es sich trauen, diese Frau zu verpfeifen.
Indem Reagen den Kopf senkte, entschuldigte sie sich bei ihren Freunden. Hadley kauerte mit feuchten Augen auf dem Boden und starrte betroffen auf ihre ausgerissenen Haare und Knox war neben sie gerutscht, sauer darüber, dass er sich nun eine Kugel aus dem Knie entfernen lassen musste. Davon mal abgesehen, dass es scheiße weh tat, würde es auch einige Stunden in Anspruch nehmen, um zu heilen.
„Musstest du mir ausgerechnet ins Knie schießen?“, grollte er, doch sein belustigtes Grinsen zeigte, dass er damit kein so großes Problem hatte, wie man meinen sollte.
„Sorry, hab nicht nachgedacht“, sagte Reagan eilig, dabei war es glatt gelogen. Tatsächlich war es ein gut überlegter Schachzug gewesen, da man auf diese Weise einen Gegner unglaublich schnell unschädlich machen konnte. Eine einzige Bewegung ihrerseits hätte genügt, um ihm nach dem Treffer mit einer Klinge den Kopf abzutrennen. Doch sowas würde sie ihm nicht antun, er war ja schließlich ihr Freund. Oder?
Sie reichte Hadley die Hand, um sie mit einem kräftigen Ruck auf die Beine zu ziehen und ging dann selbst in die Hocke, um in ihrer umgeschnallten Beintasche nach etwas zu kramen, was jetzt helfen konnte. Sie zog ein kleines Etui hervor, welches sie ununterbrochen bei sich trug und entnahm daraus eine kleine und feine Pinzette, mit der sie sich selbst schon hunderte Kugeln aus dem Fleisch gezogen hatte. Während sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, an die Arbeit machte, durfte sie sich von Hadley nur noch mehr beruhigende Worte anhören.
„Ich bleibe dabei, du solltest zu Camael. Und was den Frieden angeht, von dem sind wir auch keine Freunde. Aber ihm haben wir es zu verdanken, dass die Erzengel nicht mehr Jagd nach uns machen.“
Sie half Reagan dabei, ihren Mann zu verarzten, auch wenn es streng genommen überhaupt nicht nötig war. Je mächtiger ein Dämon war, desto leichter fiel es seinem Körper, Fremdkörper abzustoßen. Dazu zählten auch Projektile. Knox war weit mehr als nur ein paar hundert Jahre alt, doch auch er bekam mittlerweile so gut wie nie einen Auftrag. Er hielt sich einfach zu sehr im Hintergrund, um jemandem aufzufallen. Allerdings freiwillig, was man von Reagan nicht behaupten konnte. Diese stieß in diesem Moment ein Fluchen und Fauchen aus.
„Ein vernünftiger und starker Dämon lässt sich nicht einfach so töten, selbst von einem Erzengel nicht. Wenn ich als Dämon schwach bin, weiß ich doch, dass ich mich in der Menschenwelt nicht auffällig verhalten darf“, knurrte sie. „Außerdem verstehe ich nicht, warum ihr euch alle so brav sputet. Jetzt, wo euch die Engel nicht mehr gefährlich werden können, solltet ihr euch in der Welt der Menschen erst recht austoben.“
Die letzten zwei Sätze sagte sie so laut, dass es jeder in der Trainingshalle ganz genau verstanden hatte. Getuschel setzte ein, doch es ließ sich nicht sagen, ob es positiver oder negativer Natur war.
„Du solltest vorsichtig sein, Rea“, meinte Knox nun leise und seufzte erleichtert, als die Kugel endlich nicht mehr im Knochen steckte. „Wenn Nilas spitz kriegt, dass du einen Hinterhalt planst, könnte Samael dir den Kopf abreißen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.“
Reagan ließ sich die Worte erst einmal durch den Kopf gehen und lächelte dann arrogant.
„Du meinst diesen kleinen Scheißer, der mal ein himmlischer Soldat war? Ich kenne ihn nicht, aber er soll wohl eng mit Camael befreundet sein. Ich plane keinen Hinterhalt sondern eher... einen Aufstand, der zur Folge hat, dass wir mehr Freiheiten bekommen. Und was Nilas angeht, mache ich mir keine Sorgen. Im Gegenteil, er könnte mir sogar noch behilflich sein.“
Sie sprach leise und ließ zu, dass sich ihre Lippen nun wirklich zu einem ausgewachsenen Grinsen verzogen. Knox und Hadley gefielen diese Worte ganz und gar nicht, doch die Monster in ihnen reckten auch neugierig ihre Nase in die Luft, um zu wittern. Möglicherweise sprang ja auch für sie etwas bei der ganzen Angelegenheit heraus?
„Was hast du vor?“, mischte sich nun ein Dämon ein, der ihr Gespräch belauscht hatte und ihnen näher kam. Es war Cassius, mit dem Reagan am Anfang ihrer Existenz tatsächlich ein oder zwei Aufträge ausgeführt hatte. Der Dämon mit der Glatze und verbrannten Gesichtshaut blieb einem im Gedächtnis, zumal er ebenso gerne folterte wie auch Reagan selbst. Lächelnd erwiderte sie seinen Blick. Sie hatten lange nicht mehr miteinander gesprochen, weshalb sie ihm anerkennend zunickte und beinahe die Hand nach ihm ausgestreckt hätte, um sie ihm brüderlich auf die Schulter zu schlagen.
„Cassius“, grüßte sie und richtete sich langsam und lauernd auf. „Ich hab vergessen, dass du Ohren wie ein Luchs hast“, fuhr sie unbekümmert fort. „Ich weiß, du bist oft für unseren König unterwegs, aber sag mir, mein Freund, was hältst du vom Frieden? Ärgert es dich genauso wie mich, quasi dazu gezwungen zu sein, dein ewiges Dasein in der Hölle zu verbringen und keinen Schabernack unter den Menschen verursachen zu können?“
Cassius neigte nachdenklich den Kopf und bedachte ihre Freunde mit skeptischen Blicken. Er schien nicht viel von den beiden zu halten, denn er erweckte den Anschein, als hätte er lieber unter vier Augen mit Reagan gesprochen. Doch am Ende seufzte er lautlos und verschränkte die Arme.
„Befehle sind Befehle. Aber ich gebe zu, ich wäre gerne öfters unter den Menschen. Mir fehlt der Sex mit diesen naiven Weibern.“
Reagan lachte ganz offen über seine ehrlichen Worte und ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Die Aufmerksamkeit der Dämonen hier ließ darauf schließen, dass sie interessiert daran waren, was sie noch zu sagen hatte. Aus diesem Grund hielt sie sich auch nicht sonderlich zurück.
„Nun, du warst schon immer ein guter Spion. Was hältst du von einer kleinen Erkundungstour durch Amarya?“
Die Zeit schien still zu stehen, als der Schock sämtliche Dämonen erstarren ließ. Was fiel ihr ein? Hatte sie den Verstand verloren? Wollte sie riskieren, dass ihrer aller Leben endete? Hadley verkrallte sich mit einer Hand in ihrem Arm, fügte ihr schmerzhafte Blessuren zu und stieß ein Zischen durch ihre spitzen Eckzähne aus.
„Hast du den Verstand verloren? Das ist glatter Selbstmord! Und wie willst du überhaupt nach Amarya kommen?“, fauchte sie leise und sah sich in alle Richtungen um. Sie befürchtete, Nilas könnte doch noch auf diesen Tumult aufmerksam werden und alles ihrer Herrscherin stecken.
Auch Cassius starrte sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Doch da war ein Blitzen in seinen schwarzen Augen zu erkennen und dies ließ es in Reagans Kopf rattern. Sie wusste ganz genau, wann sie jemanden am Haken hatte.
„Ich weiß, wie sich das anhören muss“, gab sie zurück und befreite sich von Hadleys Arm. Ohne sich aufhalten zu lassen, wandte sie sich wieder an Cassius.
„Cassius, du kennst vermutlich fast alle Dämonen in dieser Welt. Wie viele von ihnen sind mit der momentanen Situation nicht zufrieden, sag die Wahrheit.“
Verlangend sah sie ihm in die Augen, die unbezwingbare Härte erkennen ließen. Er presste die Lippen zusammen, wollte nicht mit der Wahrheit herausrücken, doch Reagan war eine Frau, die man nicht zum Feind haben wollte. Wenn er sich zwischen Camael und ihr entscheiden müsste, würde die Wahl definitiv auf Reagan fallen. Ihre Macht in der Unterwelt reichte bis zum kleinsten Dämon, der sich mit einem bloßen Fingerschnippen von ihr einschüchtern ließ, egal, ob er sie kannte oder nicht. Ihre Herrscherin hingegen musste auf härtere Methoden zurückgreifen, um jemanden zum reden zu bringen. Und dann wäre da noch der gemeine Trumpf, mit ihrem Mann zu drohen. Reagan hingegen... Sie war nicht sehr subtil, sondern aggressiv und auch noch schlau. Eine gefährliche Kombination.
Cassius seufzte tief und löste seine verschränkten Arme, wobei er ebenfalls den Blick schweifen ließ.
„Die Mehrheit. Die eindeutige Mehrheit. Ein Teil aller Dämonen genießt ein hohes Ansehen, weil sie nicht nur stark sind, sondern auch gehorsam. Sie sind so loyal, dass sie damals mit Samael in den großen Kampf gezogen sind. Sie erhalten viele Aufträge und werden mit den wichtigsten Dingen betraut. Der andere Teil hingegen besteht aus Chaoten. Einige sehr stark, andere noch in den Windeln steckend. Sie werden klein gehalten und genießen nicht die Freiheit, sich unter den Menschen zu amüsieren, weil sie auf Camaels Liste stehen. Sie sind frustriert, gehorchen aber, damit sie mit besseren Aufgaben betraut werden“, berichtete er leise. „Und dann gibt es da noch Dämonen wie dich und Knox. Sehr mächtig und einflussreich, aber vergessen. Wohl einer der größten Strafen hier, wenn du mich fragst.“
Sein Blick blieb lange an Knox und ihr hängen. Reagan schluckte als sie spürte, wie erneut etwas in ihr aufwallte. Sie hätte am liebsten ein Brüllen ausgestoßen und ihr inneres Wesen 'rausgelassen, doch diese körperliche Reaktion hatte sie schon seit vielen, vielen Jahren gänzlich unter Kontrolle.
Neugierig geworden trat sie noch näher an Cassius heran.
„Wie viele gibt es von uns?“, wollte sie wissen.
Der Dämon überlegte einen Moment länger und nahm Knox erneut in Augenschein.
„Sechs oder sieben. Legenden besagen, dass ihr die mächtigen Dämonenfürsten seid, die direkt unter dem Teufel stehen und verschiedene Bereiche der Unterwelt kontrollieren. Aber Samael hat nie von diesen starken Dämonen Gebrauch gemacht, sondern sich immer selbst um alles gekümmert. Nun mit seiner Frau.“
Frustriert brüllte Reagan nun doch auf.
„Seht ihr? Genau das ist es! Wir werden einfach ignoriert und klein gehalten, obwohl wir so viel mehr könnten! Ich habe es satt! Ich werde mich auf den Weg nach Amarya machen und dort alles auskundschaften. Mir egal, wie ich es anstelle, aber ich werde dafür sorgen, dass Dämonen wieder Dämonen sein dürfen!“
Nachdem Reagan ihr Zimmer betreten hatte, schloss sie es ab und lehnte sich tief ein- und ausatmend gegen die Tür.
Ruhig, ganz ruhig, dachte sie, mit einem leisen Rumoren in der Kehle, welches einfach nicht verstummen wollte. Sie musste das, was Cassius gesagt hatte, erst einmal sacken lassen. Dämonenfürsten, hm? Könnte es sein, dass den Bewohnern der Unterwelt vielleicht einiges verschwiegen wurde? Zielstrebig ging Reagan zu ihrer Bücherwand, um dort nach etwas bestimmtem zu suchen. Sie gab zu, dass sie es unglaublich langweilig fand zu lesen, doch um sich mehr Wissen anzueignen, hatte sie ein Buch nach dem anderen mitgehen lassen und so eine ziemliche Sammlung angelegt. Länger als eine Stunde konnte sie sich aber nicht auf die Seiten konzentrieren, sonst schlief sie ein.
Schon nach kurzer Zeit zog sie ein Buch hervor, welches von einem Dämon selbst geschrieben worden sein musste, anders konnte sie sich nicht erklären, warum nahezu alles über den Teufel notiert worden war.
Sie blätterte es durch und stieß durchaus auf die Erwähnung von einigen unglaublich mächtigen Dämonen, doch das Wort Fürst wurde nicht ein einziges Mal erwähnt. Wütend darüber warf Reagan das Buch auf den Boden.
„Drauf geschissen“, wetterte sie und warf sich in ihr Bett. Selbst wenn es diese Dämonenfürsten gab und sie tatsächlich einer davon war, es spielte absolut keine Rolle, da sie für den Teufel nicht existierte. Sie diente ihm quasi nicht und ließ sich deshalb mal lieber ganz schnell einfallen, wie sie diesen unendlich langweiligen Kreislauf durchbrechen konnte, ehe sie noch den Verstand verlor.
Aber wie sollte sie das anstellen? Sie würde es niemals laut aussprechen, doch sie hatte den Mund reichlich voll genommen. Sie hatte Cassius und Knox gebeten, ihre Meinung heimlich und diskret bei den Leuten zu verbreiten, die mit aller großer Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite waren.
Wenn sie auf Zustimmung stieß, konnte sie anfangen Pläne zu schmieden. Doch auf die faule Haut legen würde sie sich auch nicht. Die Idee, ein wenig im Reich der Engel herumzuschnüffeln, hatte es ihr angetan. Ja, sie betrachtete die Engel als ihre Feinde und sie konnte absolut nicht verstehen, warum Samael beinahe etwas wie eine Freundschaft zu ihnen pflegte. Für ihn mochte es ja einige Vorteile haben, doch er schien nicht an seine Untergebenen zu denken, die unter diesen Umständen durchaus leiden mussten. Doch ging sie mal davon aus, sie würde es wirklich nach Amarya schaffen, was dann? Sollte sie einfach wahllos einen Engel angreifen? Jemanden gefangen nehmen? Einfach nur alles auskundschaften? Es gab dutzende Möglichkeiten und jede einzelne davon, ließ Reagans Körper vor Tatendrang kribbeln. Sie liebte es, Krawall zu machen und dies war die perfekte Gelegenheit! Aber wie und wo anfangen? Um nach Amarya zu kommen, musste sie definitiv diesen Nilas ausfindig machen. Zu Camael konnte sie ja nicht gehen. Aber selbst, wenn sie diesem Nilas gegenüber stand, wäre sie ihrem Ziel kein bisschen näher. Sie könnte ihn zwar bitten sie ins Himmelsreich zu bringen, aber warum sollte er das tun? Und warum sollte er dies dem König und der Königin verschweigen? Er würde ihnen doch sofort Bericht erstatten!
„Komm schon, Regan, du bist doch klug“, flüsterte sie und starrte angestrengt an ihre schwarz gestrichene Decke. Und wenn sie ihn einfach hinters Licht führte? Sie strengte sich so verzweifelt an, dass ihr irgendwann erschöpft die Augen zufielen.
„Bruder Zadkiel, warum sagst du nie ein Wort?“
Der Erzengel beobachtete auch weiterhin die Kinder beim spielen und tat im ersten Moment so, als habe er das Mädchen an seiner Seite gar nicht gehört. Nicht zu fassen, wie schnell die Zeit verging.
Lemy war mittlerweile zu einer jungen Erwachsenen herangewachsen und wie befürchtet, war sie eine unglaublich schlaue Späherin. Diesem Mädchen entging auch nicht die kleinste Kleinigkeit.
In der Vergangenheit war ihr der Erzengel mit den sanft violett schimmernden Schwingen nie sonderlich oft über den Weg gelaufen oder ihr großartig aufgefallen, doch dies hatte sich geändert.
Sie hatte ihn am Brunnen sitzen sehen und war auf der Stelle zu ihm gegangen. Nun bohrte sich ihr Blick regelrecht in ihn hinein. Ein wenig Kummer erfasste ihn, als er über ihre ehrliche Frage nachdachte. Welchen Zweck hatte es, eine Unterhaltung zu führen, wenn man jederzeit ganz genau wusste, was im Kopf und Herzen eines anderen vor sich ging?
Zadkiel hatte seine Geschwister nie über das ganze Ausmaß seiner Macht informiert. Sie hätten sich nur gescheut, in seine Nähe zu kommen. Die, die nichts von seinen Gaben wussten, kamen ihm ganz ungeniert nahe, so wie Lemy. Sie ahnte nicht auch nur das geringste davon, dass er ganz genau wusste, dass sie es langsam satt hatte, die Kinder hüten zu müssen. Sie wollte endlich mit richtigen Aufaben betraut werden, hatte aber keine Ahnung, wie sie es zur Sprache bringen sollte. Zadkiel zuckte nur mit den Schultern.
„Ich bin einfach so“, sagte er bloß, auch wenn er es selbst ziemlich lächerlich fand. Lemy grinste frech.
„Schätze, von einem Engel der aussieht wie ein Geist, kann man wohl nichts anderes erwarten“, meinte sie leichthin, was Zadkiel dann doch verblüffte.
„Du bist ganz schön frech geworden“, sagte er mit strafendem Blick, dabei war er gar nicht so streng und amüsierte sich insgeheim. Sogar Lemy lachte, ein helles und glockenklares Lachen.
„Ich weiß, mit wem ich mir meine Späße erlauben kann und mit wem nicht. Außerdem hast du so ausgesehen, als könntest du eine kleine Aufmunterung gebrauchen“, lachte sie.
Zadkiel fragte sich, was genau das bedeuten sollte. Sah man ihm seine Langeweile wirklich an? Er gab zu, momentan steckte seine Laune in einem Tief. Ihm war langweilig geworden und ihm fehlte die Aufregung, die früher geherrscht hatte, als es noch kein Friedensabkommen gegeben hatte. Zadkiel hatte mehr als ein Geheimnis. Eigentlich war er ein Krieger. Nichts fühlte sich besser an, als ein schweißtreibender und ausgedehnter Kampf. Doch hier in Amarya zu traineren war schwierig, da immer jemand in der Trainingshalle zu finden war.
„Danke“, sagte er nun zu Lemy, weil er schon viel zu lange geschwiegen hatte. „Übrigens“, fuhr er fort, „Ich werde mit den anderen darüber beraten, dich mit anderen Aufgaben zu betrauen. Je älter man wird, desto mehr fallen einem die Kinder zur Last, nicht wahr?“
Völlig sprachlos starrte Lemy ihn an.
„Woher weißt du...“, flüsterte sie nun, doch Zadkiel grinste nur und zwinkerte. Hin und wieder konnte er anderen vielleicht doch eine kleine Freude bereiten.
„Oh, vielen Dank!“, platzte es dann aus ihr heraus. Sie umarmte Zadkiel so stürmisch, dass sie beide beinahe im Brunnen gelandet wären. Der Erzengel konnte nur darüber lachen und entließ sie aus seinen Armen, um dann dabei zuzusehen, wie sie überglücklich von Dannen zog. Clever und frech vielleicht, aber ein braves Mädchen.
Seufzend erhob auch Zadkiel sich von seinem Platz, um zurück in den Palast der Erzengel zu gehen. Ein kleines Nickerchen konnte ihm vielleicht dabei helfen, die Zeit zu überbrücken. Die Konferenz von neulich lag bereits eine Woche zurück, doch es war danach auch weiterhin relativ ruhig geblieben. Sam und Camael durchforsteten die Unterwelt nach irgendwelchen Auffälligkeiten und Michael und Azrael hielten gemeinsam mit ihren Frauen in der Menschenwelt die Augen offen. Die übrigen Erzengel waren in Amarya wachsamer geworden, doch viel mehr gab es eigentlich nicht zu tun. Zadkiel hatte versucht, noch einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen, jedoch ohne Erfolg. Es war frustrierend, doch der Erzengel war es gewöhnt und hatte damit weitaus weniger Probleme, als die anderen Erzengel. Manchmal schienen sie zu glauben, er würde absichtlich Informationen zurückhalten, doch so war es nicht. Er konnte nur einfach keinen Einfluss nehmen auf das, was er sah. Es waren immer nur sehr kurze Einblicke, doch sie genügten meistens aus, um zu wissen, dass das Glück auch weiterhin nicht abhanden kommen würde. Nun war es jedoch ins Wanken geraten.
Zadkiel schob diese Überlegungen in den Hintergrund und hatte sein Gemach betreten, in dem er erst einmal inne hielt und alles unter die Lupe nahm. Noch nie hatte sich in diesem Raum etwas verändert. Grau, weiß und schwarz, mehr Farben suchte man hier vergebens. Drei der vier Wände waren grau meliert, sahen aus wie massive Steinwände, was dem Erzengel das beruhigende Gefühl gab, von allem abgeschirmt zu sein. Sein schwarzes Bett, mit weißen Laken und ebenfalls schwarzer Bettwäsche war ordentlich gemacht und wartete friedlich darauf, wieder genutzt zu werden. Weiße Schränke, weißer Schreibtisch und grauer Teppich, Lampen aus Holz und in einer Ecke ein wahres Sammelsorium an unterschiedlichsten Waffen. Sie waren sein ganzer Stolz und so gut hinter einer Trennwand versteckt, dass sie noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte nur selten die Gelegenheit gehabt, sie zu benutzen, was aber nicht hieß, dass er sie deswegen weggeben würde. Ebenfalls abgeschirmt durch eine Wand waren auch seine Kunstutensilien zu finden. Staffelei, Farben, Pinsel, alles, um die Stimmen in seinem Kopf nur irgendwie verstummen zu lassen. Jetzt, in diesem Moment jedoch, wollte er einfach nur schlafen.
Schon wieder seufzend ließ Zadkiel sich auf seinem Bett nieder, um es sich dann gemütlich zu machen und die Augen zu schließen. Die Ruhe in seinem Zimmer war himmlisch, weshalb es nicht lange dauerte, bis er einschlief. Er war ein wenig verwirrt, als er sich in einem Traum wiederfand. Für gewöhnlich spielte er in seinen Visionen abolut keine Rolle. Weil es dieses Mal jedoch anders war, blieb er aufmerksam.
In seinem Traum stand er mitten in Amarya, in einem der Gärten. Absolut niemand war in der Nähe, was erst recht alles andere als normal war. Zadkiel ging einige Schritte und blickte sich um. Der Palast der Erzengel erschien ihm nur sehr verschwommen, ebenso wie der Rest Amaryas. Scharfgestellt hingegen war der Garten, mitsamt dem großen Brunnen. Sehr eigenartig. Sollte dies ein weiterer Blick in die Zukunft sein? In der er möglicherweise selbst eine Rolle spielte?
Zadkiel blieb wie angewurzelt stehen als eine Frau in sein Blickfeld fiel, die in geduckter Haltung durch den Garten schlich. Und es war definitiv keine Engelsfrau. Als sie plötzlich stehenblieb und sichtlich verwirrt auf ihre eigenen Hände starrte, wurde es noch komischer. Sie richtete sich auf und drehte sich hektisch um sich selbst, wobei sie ununterbrochen einen Fluch ausstieß, einer derber als der andere. Vorsichtig schlich Zadkiel näher an sie heran, wobei dann auch ihre raue Stimme an seine Ohren drang.
„Was soll der Scheiß?“, fauchte sie. Und dann trafen sich ihre Blicke. Der Erzengel hielt den Atem an beim Anblick der türkisblauen Augen, in einem ovalen Gesicht. Eine kleine Stupsnase und ein voller Mund waren aber nicht das auffälligste in ihrem Gesicht, sondern die dicke Narbe, die genau über ihr linkes Auge verlief. Ihr auberginenfarbiges Haar rahmte ihr Gesicht ein, fiel ihr bis auf die Schultern und war von dutzenden schmalen Zöpfen durchzogen, was sie wie eine Wikingerin aussehen ließ. Ihre Kleidung ließ auf den ersten Blick erkennen, dass sie eine Dämonin war, denn sie zeigte viel zu viel nackte Haut. Sie trug einen Bustier aus Leder, dessen Riemen ein Pentagramm auf ihrem Dekolleté bildeten, ihre Lederhose saß ihr tief auf den Hüften und wurde zu beiden Seiten geschnürt, was erkennen ließ, dass sie – oh Himmel! – nicht einmal einen Slip trug.
Fingerlose Handschuhe reichten ihr fast bis zu den Ellenbogen und ihre kniehohen Stiefel waren fest verschnürt. Ihr Körper wies ordentliche und pralle Rundungen auf, allerdings auch gestählte Muskeln, und zwar genau im richtigen Verhältnis zueinander. So fanden sich aber auch dutzend andere Narben auf ihrer Haut, die allesamt ziemlich heftige Ausmaße besaßen und einen Hinweis darauf gaben, dass sie eine waschechte Kriegerin war. Sie war die wohl außergewöhnlichste Frau, die Zadkiel je gesehen hatte.
„Fuck!“, stieß sie in diesem Augenblick aus, dann machte sie kehrt und lief los.
Reagan war wie gebannt. Dieser Mann... Er wirkte so unecht, wie ein Phantom, ein Geist der Vergangenheit, der verblichen war.
Seine weißblonden Haare wirkten wie Seide, von Spinnen gesponnen und reichten ihm bis ans Kinn. Sie rahmten ein scharfkantiges Gesicht ein, welches so aussah, als wäre es aus Eis geschnitzt. Scharfe Wangenknochen, bleiche Haut und silberne Augen, die sich wie ein in Gift getränkter Pfeil in sie hineinbohrten. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass er ebenfalls ein Krieger war. Seine breiten Schultern und die ebenso breite Brust wurden von einer schwarzen Tunika verhüllt, auf seiner Taille saß locker ein antik verzierter Waffengürtel und seine langen Beine steckten in einer schwarzen Leinenhose. Seine muskulösen Arme wurden von den Ellen bis zu den Handgelenken von ledernen Schienen geschützt und bei genauerem Hinsehen erkannte Reagan, dass etwas ins Leder geritzt worden sein musste. Als ihr Blick dann aber auf die gewaltigen Schwingen fiel, die hinter ihm aufragten und seltsam violett schimmerten, erwachte sie aus der Schockstarre.
„Fuck“, fluchte sie, dann setzte sie sich in Bewegung. Sie hatte keine Ahnung, was hier gerade geschah, doch für eine Konfrontation mit einem Engel war es noch viel zu früh.
„Halt!“, donnerte es hinter ihr, dann tauchten Federn am äußersten Rand ihres Blickfelds auf und sie wurde zu Boden gerissen. Kurz, bevor sie auf dem Boden aufprallte, rollte sie sich jedoch ab und trat ihrem Angreifer somit direkt gegen die Brust. Sie kam allerdings nicht schnell genug hinterher, denn ehe sie sich versah, lag sie plötzlich im Gras, auf dem Rücken und über ihr der Engel. Er drückte ihre Handgelenke links und rechts neben ihren Kopf, wodurch sie sich nur noch auf ihre Beine verlassen konnte.
„Was hast du hier zu suchen?“, grollte dieser unheimliche Kerl, wobei er nicht aufhörte, ihr in die Augen zu starren. Reagan knurrte wild und zog blitzschnell die Beine an.
„Ich weiß ja nicht mal, wo ich hier bin“, fauchte sie und trat zu. Der Engel flog über sie hinweg und sie kam wieder auf die Beine. Ohne Waffen würde es schwierig werden, ihm einen ordentlichen Schaden zuzufügen, ihre dämonischen Kräfte würden also ausreichen müssen.
Mit gehobenen Fäusten beobachtete sie, wie der Mann dank seiner Flügel wieder mühelos auf die Beine kam, dann streckte er die Hand aus, um etwas auf sie abzufeuern, was verdächtig nach Feuer aussah.
„Ein Traum. Du bist in einem Traum gelandet“, verkündete er dabei mit einer Stimme, die tot zu sein schien. Sie mochte tief und wohlklingend sein, wies aber keinerlei Tiefe und Emotion auf. Es war so unheimlich, dass Reagan doch glatt erschauerte. Sie wich dem Feuer aus und blickte dann mit hochgezogenen Brauen an sich herab.
„Das erklärt die fehlenden Waffen“, murmelte sie, dann griff sie ihn mit bloßen Fäusten an. Wollten doch mal sehen, wie schnell er wirklich war. Zadkiel hatte keine Ahnung, was hier eigentlich los war und wehrte ihre Fäuste ab, nur um sie dann seinerseits damit zu bearbeiten.
„Wer bist du?“, fragte er, während er ihren Solar Plexus traf und sie keuchend auf Abstand ging.
„Ist doch egal“, wies sie ihn ab, dann hatte sie sich gefasst und kam ihm erneut nahe. Sie spielte nicht fair, hatte die Hand nach ihm ausgestreckt und an seinem Flügel gerissen, noch bevor er es hatte kommen sehen. Der Schmerz, der durch seine Nerven schoss kam so schnell, wie erbarmungslos. Er duckte sich unter ihrem unnachgiebigen Griff weg, war dabei aber zu unbedacht und vernachlässigte seine Deckung. Er konnte sie nicht rechtzeitig abwehren und begrub seine Flügel unter sich, was ihm erst recht Schmerzen bereitete. Er jaulte auf, dann setzte sie sich plötzlich rittlings auf ihn und hatte die Hand warnend in seinen Federn verkrallt. Eine einzige Regung und sie hätte ihm ein ganzes Loch in den Flügel gerissen.
„Wie kann es sein, dass ich mit dir in einem Traum bin, wenn ich dich doch noch nie gesehen habe?“, murmelte sie außer Atem. Ihr Schlagabtausch war so schnell von statten gegangen, dass sich ihr Brustkorb vor lauter Anstrengung rasch hob und senkte, was seinen Blick unweigerlich auf ihre weiblichen Attribute lenkte.
„Es liegt an mir. Ich bin...“, begann Zadkiel schon, da presste sie ihm plötzlich die Hand auf den Mund und lehnte sich vor. Schlagartig war sie ihm so nahe, dass er ihren heißen Atem im Gesicht spüren konnte.
„Ich will nicht wissen, wer du bist“, zischte sie und nahm ihn dabei wieder ganz genau in Augenschein. Er war ein schöner Mann. Ungewöhnlich und einzigartig und gar nicht mal so schüchtern, wie man erwarten würde, dachte sie, als er ihr plötzlich in die Hand biss. Er nutzte ihre Verblüffung darüber aus und schaffte es, sich mit Schwung aufzusetzen. Reagan hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre von ihm gefallen, wäre da nicht sein Arm gewesen, der sich um ihre Taille schlang. So Haut an Haut, war sie wie erstarrt.
„Das ist kein Traum“, knurrte er, was sie ebenfalls erschreckte. Dieser wilde Laut klang unberechenbar und passte hervorragend zu dem Sturm, der in seinen silbernen Augen tobte.
„Das ist nicht einmal eine Vision, es ist... etwas anderes.“
Er klang so aufgebracht und wütend und seine Worte ergaben nicht das kleinste bisschen Sinn.
„H-Hey, du... Jetzt warte doch mal!“, kreischte Reagan schon fast. Er hatte auch den anderen Arm um ihre nackte Haut geschlungen und erhob sich gemeinsam mit ihr auf dem Arm, mit einer Leichtigkeit, die definitiv unmenschlich war. Ihr war nicht wohl dabei, von einem Mann auf den Armen getragen zu werden, weshalb sie panisch die Beine um seine Lenden schlang, was es selbstverständlich nicht besser machte.
„Ich kann dich nicht lesen“, platzte es so unvermittelt aus Zadkiel heraus, dass Reagan nun doch stillhielt und ihm in die Augen sah.
„Ich versteh nicht ein Wort, von dem Scheiß, den du da von dir gibst“, sagte sie. Doch was auch immer seine Worte bedeuteten, sie schienen ihn wirklich zu schockieren. Er starrte sie an, als würde ihr irgendetwas aus der Nase hängen, weshalb Reagan nun doch Anstalten machte, sich aus seinen Armen zu befreien. Es gelang ihr, wenn auch etwas umständlich. Geschickt landete sie auf ihren Füßen. Der Engel schüttelte ungläubig den Kopf, ließ aber zu, dass sie auf Abstand ging.
„Zum ersten Mal in meiner ewig andauernden Existenz treffe ich auf jemanden, den ich nicht lesen kann und was ist? Sie ist eine Dämonin!“, brüllte er völlig außer sich und wandte sich ab. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich ein Brunnen, zu dem er ging. Mit hochgezogenen Brauen beobachtete Reagan, wie der Engel seine Faust auf den Stein krachen ließ und diesen somit zertrümmerte. Die Dämonin war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. In diesem Mann brodelte etwas, was sich urplötzlich gewaltsam einen Weg nach außen bahnte. In seinem Leben schien er viel zurückzustecken und Reagan wusste nur viel zu gut, wie es sich anfühlte, diesen Frust darüber nicht unter Kontrolle halten zu können. Aus diesem Grund stieß sie nun einen Pfiff durch die Zähne aus, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sie zu lenken.
„Hey, Federvieh!“, blaffte sie kaltschnäutzig. Der Engel drehte sich mit vor Wut verzerrtem Gesicht nach ihr um. Dafür, dass er so emotionslos erschienen war, reagierte er ganz schön unkontrolliert. Ein Fehler, der ihr selbst von jetzt an besser nicht mehr unterlief.
„Greif mich an“, verlangte sie, mit unter der Brust verschränkten Armen. Zadkiel starrte sie schon wieder an und kam langsam näher.
„Wie bitte?“, hakte er lauernd nach. Reagan zuckte mit den Schultern und tat so, als wäre sie gelangweilt.
„Wenn ich schon hier festsitze, kann ich die Zeit genauso gut auch nutzen. Und du bist ein Krieger, dieser Kampf verspricht also interessant zu werden.“
Sie gab zu, dieser Gedanke war nicht ganz uneigennützig, denn dies wäre die perfekte Gelegenheit um herauszufinden, wie ein Engel kämpfte. Doch soweit würde es wohl nicht kommen, denn des Engels folgende Worte waren wie ein Schlag in Gesicht. Er schnaubte und wandte den Blick sogar von ihr ab.
„So leid es mir auch tut, aber die Zeiten, in denen Engel und Dämonen sich bekämpfen, sind lange vorbei.“
Die Wut kehrte zurück und ließ Reagan regelrecht beben. Dies war der Zeitpunkt, von hier zu verschwinden, bevor sie ihm zu viel verriet, doch in ihrem Kopf blitzte ein Gedanke auf. Und wenn sie... Nein, das war völlig verrückt! Aber was, wenn doch? Was, wenn sie einen waschechten Engel zum Verbündeten hätte?
„Ich hätte wissen müssen, dass du zu denen gehörst“, fauchte sie. „Zu diesen Langweilern, die lieber Däumchen drehend nichts tun, anstatt sich ihrem wahren Wesen hinzugeben. Was hab ich von einem geflügelten Etwas wie dir auch erwartet?“
Reagan war ein wenig enttäuscht und versuchte nun herauszufinden, wie sie wieder hier heraus kam. Dieser Engel sah nicht nur so aus, wie ein Krieger, er kämpfte scheinbar auch so, nur leider... war er in Ketten gelegt worden.
Zadkiels Wut verpuffte im Nichts, als er die Frau ansah. In ihren Augen, die aussahen wie zwei seltene und kostbare Edelsteine, blitzte etwas auf, von dem er gerne gewusst hätte, was es war. Warum nur funktionierte seine Gabe nicht? Es war, als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1699-0
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