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Prolog

Den wummernden Kopfschmerzen hatte sie es zu verdanken, dass sie aus ihrer erlösenden Bewusstlosigkeit gerissen wurde. Sie stieß ein Keuchen aus als der Schmerz ihre Sinne überwältigte, ebenso wie die Angst. War sie... War sie etwa ein Entführungsopfer?

Panisch versuchte sie sich umzuschauen, doch da war nur beängstigende Dunkelheit. Sie erinnerte sich daran, auf dem Weg nach Hause gewesen zu sein, als sie plötzlich das Gefühl überkommen hatte, verfolgt zu werden. Als junge Frau war sie schon oft in solche Situationen geraten, weshalb sie in der Vergangenheit einmal einen Selbstverteidigungskurs besucht hatte, doch der hatte ihr in diesem Falle nicht weitergeholfen. Sie war nicht angefasst worden, sondern hatte einen so derben Schlag auf den Kopf bekommen, dass sie auf der Stelle zu Boden gegangen war und das Bewusstsein verloren hatte.

Die Angst lähmte ihren Körper, doch sie schaffte es, sich aufzurichten und mit den Händen die Umgebung abzutasten. Sie lag auf dem Rücken, auf etwas kaltem und hartem, was ihr eine Gänsehaut bereitete und ihr nur zusätzlich Angst machte. Da sie absolut nichts erkennen konnte, musste sie sich auf ihre Hände verlassen. Sie ertastete einen Boden, scheinbar aus Metall bestehend und stieß schon nach kurzer Zeit auf etwas ebenfalls kaltes, was ihr irgendwie den Weg versperrte. Auf dem Hintern sitzend ließ sie ihre Finger daran hinaufgleiten, seltsamerweise schien es aber kein Ende zu nehmen. Eine Stange aus Metall? Wie eigenartig...

Ihr Magen zog sich zu einem harten Knoten zusammen, als sie nach einigen Minuten und mit den Händen herausgefunden hatte, dass sie eingesperrt worden war, und zwar ganz offensichtlich in einen Käfig. Oh Gott, oh Gott, oh Gott, ging es ihr in Dauerschleife durch den Kopf. Träumte sie? Das war ein Albtraum! Es konnte nur einer sein!

Panisch suchte sie nach einem Ausweg, doch schon die kleinste Bewegung reichte aus, um ihr ein schmerzerfülltes Keuchen zu entlocken. Ihr wurde speiübel und Schmerz schoss wie ein brennender Pfeil durch ihren Kopf. Ihr Magen hob sich gefährlich, doch sie schluckte und versuchte, alles bei sich zu behalten. Eine Gehirnerschütterung, ging es ihr benommen durch den Kopf. Sie hatte Mühe einen klaren Gedanken zu fassen und setzte dazu an, um Hilfe zu rufen, ließ es dann aber bleiben. Was, wenn dadurch nur alles schlimmer werden würde? Sie wusste ja nicht einmal, wo sie war. Sie versuchte sich auf die Geräusche in der Umgebung zu konzentrieren, doch außer dem Dröhnen ihres eigenen Herzschlags nahm sie absolut nichts wahr.

„Hallo?“, stieß sie dann mit zitternder Stimme aus. „Ist da jemand?“

Sie bekam keine Antwort. Plötzlich ging ihr ein Geistesblitz durch den Kopf. Ihr Smartphone! Sie hatte es immer dabei! Hektisch flogen ihre Hände über ihren Körper, überprüften ihre Hüfte, wo eigentlich ihre Schultertasche hängen sollte, und ihre Hosentaschen, in denen absolut nichts zu finden war. Ihr Schlüssel war weg, ihre Tasche mitsamt Geldbörse und Ausweisen und ihr Smartphone sowieso.

„Scheiße“, wisperte sie und tastete blind den Boden ab, in der Hoffnung, ihre Sachen seien einfach nur irgendwo neben ihr gelandet. Doch natürlich hatte sie kein Glück. Sie mussten ihr abgenommen worden sein. Aber warum tat jemand so etwas? Hatte es jemand auf sie abgesehen? Oder war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

Mit beiden Händen umklammerte sie nun die Streben des Käfigs, in dem sie hockte. Aufstehen konnte sie wohl nicht, doch das versuchte sie gar nicht erst, da ihr gerade eben ja schon fast alles hochgekommen wäre.

„Hilfe!“, schrie sie, so laut wie sie nur konnte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie sah nichts, hörte nichts und roch nichts, als abgestandene und muffige Luft. Sie musste in irgendeinem Keller hocken, denn die Luft war feucht und bereitete ihr allmählich Probleme beim Atmen. Da war so ein Gestank, den sie nicht zuordnen konnte. Es roch nicht nach Tod und Verwesung, doch es legte sich genauso pelzig und widerlich auf ihre Zunge. Nicht allzu hilfreich, bei ihrer Übelkeit.

„Hilfe! Hört mich jemand?“, schrie sie erneut, dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Es ertönte ein Quietschen und Knartschen, dann flackerte plötzlich eine Glühbirne irgendwo über ihr auf.

„Schnauze!“, brüllte eine tiefe Männerstimme, dann verfiel die Frau in Schockstarre.

Sie saß in einem Käfig, am Rande eines Kellers, in einer Folterkammer. Verstümmelte Frauen kauerten in anderen Käfigen, starrten mit ihren toten Augen Löcher in die Luft und schienen nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Sie alle trugen kaum etwas an ihren Körpern, außer leichten Nachthemden und übergroßen Shirts. Ihre Brustkörbe hoben und senkten sich zwar, doch sie sahen nicht so aus, als wären sie überhaupt noch am leben.

Sie wollte schreien und schluchzen, bekam aber keinen Laut aus ihrem trockenen Mund, hatte viel zu große Angst davor, dass dieser attraktive Mann, der da vorne an der Tür stand, zu ihr käme und ihr eine gehörige Tracht Prügel verpasste. Wie konnte ein so gutaussehender Mann nur so wahnsinnig sein? Sie hatte keine Ahnung, was hier geschehen war und was man all diesen Frauen angetan hatte, doch eines stand fest: Sie wollte nicht hierbleiben, um es herauszufinden. Sie musste einen Weg hier heraus finden. Die Tür zum Keller wurde wieder zugezogen und mit der Dunkleheit begann das erbarmungslose Ticken der Uhr.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Vor den Toren des Palastes stehend beobachtete Raphael den Engel des Todes, der mit seiner Frau an seiner Seite mit den Kindern spielte. Schnaubend schüttelte Raphael den Kopf. Sein Bruder war ein genauso kranker Liebesnarr geworden, wie Michael. Für gewöhnlich würde ihn dies nicht einmal interessieren, wäre da nicht die Tatsache, dass Azrael auch weiterhin felsenfest behauptete, Raphael würde auch noch eine Frau finden. Lächerlich! Einfach nur lächerlich.

Dieses Verhalten musste ansteckend sein, anders konnte er sich einfach nicht erklären, warum er sich überhaupt noch Gedanken darüber machte. Er wusste genau, was möglich war und was nicht, und dies hier war eine Sache, die definitiv niemals geschehen würde!

Raphael wollte sich schon kopfschüttelnd abwenden, da fiel ihm plötzlich eine Person auf, die hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Überrascht und verwirrt zugleich beobachtete der Erzengel, wie der Teufel höchstpersönlich geradewegs auf den Palast der Erzengel zusteuerte. Außer Raphael schien ihn bisher noch niemand bemerkt zu haben, was Samael aber wohl gerade recht kam.

„Was machst du hier?“, brummte der Erzengel, nachdem Sam bei ihm angekommen war. Er war dabei so brummig wie eh und je. „Die wöchentlichen Berichte sind doch erst ausgetauscht worden“, fügte er noch an. Er trat noch einen Schritt zur Seite, dann hatten die beiden Männer den Palast auch schon betreten. Samael wirkte unruhig und nervös, flatterte sogar ein wenig mit den schwarzen Schwingen, was Raphael nur wachsamer werden ließ.

„Es gibt da etwas, von dem ich euch vielleicht persönlich erzählen sollen“, meinte der Teufel, während er direkten Kurs auf den großen Saal nahm. Raphael sparte es sich zu erwähnen, dass ihre Geschwister just in diesem Moment in alle Himmelsrichtungen verteilt waren, doch dem Teufel wurde es in jenem Augenblick klar, als sie den Saal betraten. Niemand außer ihnen war anwesend. Doch ihnen folgte ein unscheinbarer Schatten, der auf seinen Befehl wartete. Raphael wusste sehr gut, wer genau dort lauerte und warf deshalb einen unbeeindruckten Blick über seine Schulter.

„Ilias, trommel die anderen zusammen. Unverzüglich“, befahl er, ohne jede Emotion in seiner Stimme. Ilias nickte treu ergeben und verschwand. Zur gleichen Zeit ließ der Erzengel sich mit tödlicher Eleganz auf seinem Thron nieder.

„Es scheint keine Kleinigkeit zu sein, wenn du dich selbst hierher bemühst“, meinte er dabei monoton. Vielleicht hätte er deswegen neugieriger und alarmierter sein sollen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass es ihn nicht kümmern sollte. Des Teufels Probleme waren wohl das Letzte auf dieser Welt, was ihn kümmerte. Raphael mochte sich den anderen gegenüber mittlerweile zwar ganz offen zeigen, aber insgeheim glaubte er noch immer, dass der Tag kommen würde, an dem Samael ihnen doch wieder Schwierigkeiten bereitete. Und wer konnte schon sagen, ob dies noch heute geschehen würde. Raphael wäre jedoch niemals so dumm gewesen, auch nur einen einzigen dieser Gedanken auszusprechen. Er war nach wie vor darum bemüht, jeden von ihnen von sich fernzuhalten und bisher gelang ihm dies ganz gut. Wenn man ihn fragte, warum er eigentlich mit niemandem etwas zutun haben wollte, dann konnte er diese Frage nicht einmal beantworten. Er war einfach so und er plante auch weiterhin nicht, irgendetwas zu ändern.
Just in diesem Moment rang Samael sich zu einer Antwort durch.

„Bisher ist es noch keine große Sache, es ist bloß... seltsam. Ich kann mich nicht daran erinnern, je von so etwas erfahren zu haben und dabei würde man wirklich weitaus öfters damit rechnen“, erklärte er. Eine seltsame Wortwahl, fand Raphael. Und perfekt, um einen naiven Engel neugierig zu machen. Wie Azrael, der gerade den Saal betrat. Seine Frau Vanita schien er fortgeschickt zu haben, denn er war alleine und sogar mal früher dran, als alle anderen Erzengel. Ob dies wohl an dieser Vollstreckerin lag?

„Was soll das heißen?“, fragte er und ging zu seinem Platz, wobei Samael abwinkte.

„Ein wenig Geduld bitte. Das werde ich erklären, sobald alle anderen auch hier sind“, meinte er, was Raphael die Gelegenheit gab, die zwei Männer einmal genauer zu mustern. Azrael wirkte entspannt und gelöst und trug im Augenblick nur noch selten seine Himmelsgewänder. Die meiste Zeit über traf man ihn in Shirt und Jeans an, was ihm erstaunlich gut stand. Zusammen mit seinen tiefschwarzen Schwingen bot es jedoch einen seltsamen Anblick. Er wirkte wie ein Dämon und wie ein enger Freund des Teufels, wenn auch weitaus lockerer und sogar ein wenig menschlicher. Seine sonst so bleiche Haut hatte ein wenig Farbe abbekommen, was er wohl seinem neuen Lebensstil zu verdanken hatte. Vanita und er lebten mittlerweile in Italien und die Sonne hatte nun einmal ihre Spuren hinterlassen. Azrael hatte sich zurückgezogen, nachdem sie alle erfahren hatten, was ihm in der Vergangenheit widerfahren war. Mittlerweile war er aber wieder eine echte Frohnatur.

Unauffällig glitt Raphaels Blick zu Samael, der um einiges ernster und auch... erwachsener wirkte. In seinem schwarzen Hemd und der ebenso schwarzen Hose wirkte er wie ein Geschäftsmann. Zusammen mit seiner grimmigen Miene machte es den Eindruck, als habe man ihm eine Menge Geld abgeknöpft. Seine strahlenden Augen unterbrachen diesen Anblick jedoch. Ihre blassviolette Farbe war einzigartig und ungemein faszinierend. Seit der Teufel eine Frau gefunden hatte, schienen sie allerdings intensiver denn je zu strahlen. Heute war aber ein besorgter Ausdruck in ihnen zu erkennen. Noch bevor Raphael sich nähere Gedanken darüber machen konnte, ging die Tür des Saals erneut auf. Michael betrat den Saal, dicht gefolgt von Zadkiel, Uriel und Jophiel.

Sie wirkten sichtlich verwirrt und tauschten Blicke miteinander aus, nachdem sie Samael entdeckt hatten, besaßen aber weitaus mehr Geduld als Azrael und stellten noch keine Fragen.

Schweigend ließen sie sich auf ihren Plätzen nieder, dann wurden erneut fragende Blicke ausgetauscht.

„Was ist los?“, durchbrach Michael schließlich die Stille, wobei es den Eindruck machte, als wäre er leicht sauer darüber, dass er gestört worden war.

„Ich würde euch gerne etwas fragen“, begann der Teufel dann auch schon. Raphael gab zu, dass seine Neugier nun doch geweckt war. Dieser Mistkerl machte es aber auch spannend. Azrael wollte schon nachbohren, da brachte der Teufel Licht ins Dunkel.

„Ich bin auf mehrere seltsame Morde in der Menschenwelt gestoßen“, sagte er bloß, da zog Uriel auch schon die Brauen hoch.

„In der Menschenwelt? Seit wann interessieren uns die Schandtaten der Menschen?“, fragte er und nahm Raphael somit die Worte aus dem Mund. Nur wegen ein paar Morden der Menschen kam Samael hierher? Das war lächerlich! Doch ihm hätte klar sein müssen, dass da noch mehr kam.

„Für gewöhnlich würde mich so etwas auch nicht interessieren, wäre da nicht die Tatsache, dass diese armen gequälten Seelen wie Opfergaben aussehen, und zwar für mich“, fuhr der Teufel fort. Er war sich nicht sicher, ob das Schweigen, welches daraufhin zu vernehmen war, die Folge eines Schocks war oder einfach nur ihrem Unglauben zuzuschreiben war.

„Tut mir leid, aber du verarschst uns doch“, platzte es aus Azrael heraus. Seine derbe Wortwahl ließ mittlerweile niemanden mehr zusammenzucken. Raphael dachte einen Moment darüber nach und riss das Wort an sich, noch ehe Samael darauf antworten konnte.

„Samael würde nicht bloß zum Spaß hierher kommen. Er hasst Amarya“, grummelte er, was Michael und Uriel ein Schmunzeln entlockte. Selbst Samaels Schnauben konnte man als Zustimmung auffassen.

„Wenn ihr mich ausreden lassen würdet, wären wir vielleicht schon weiter“, kommentierte er ein wenig zu streng, dann räusperte er sich und fuhr ein wenig ruhiger fort. Die Anspannung wollte aber dennoch nicht aus seinem Körper weichen.

„Also, ich werde es kurz machen. Es wurden einige Frauenleichen gefunden, die allem Anschein nach durch satanistische Rituale zu Tode gekommen sind. Ich habe dutzende Bücher durchforstet und habe herausgefunden, dass es offenbar gar nicht mal so wenige Menschen gibt, die doch tatsächlich glauben, sie könnten den Teufel anrufen. Diese Frauen sollen wohl eine Opfergabe sein, aber ganz sicher bin ich mir nicht.“
Langsam aber sicher wurde es immer unruhiger im Saal der Erzengel. Die Luft schien zu surren vor unterdrückter Energie und im ersten Moment waren alle sprachlos.

Mit einer einzelnen hochgezogenen Augenbraue stieß Raphael ein leises, kaum wahrnehmbares Knurren aus.

„Du bist der Teufel, Samael. Wie kannst du von solchen Dingen nichts wissen?“

Für einen kurzen Augenblick zuckten die Mundwinkel jenes Mannes, welcher der Leibhaftige war.

„Ihr scheint von den gleichen Vorurteilen geblendet zu sein, wie auch die Menschen selbst. Nur fanatische Spinner ziehen es auch nur in Erwägung, dass solch... idiotische Rituale funktionieren könnten. Ich werde durch andere Dinge auf Menschen aufmerksam und garantiert nicht durch solch Perversion! Generell ist der Satanismus ein eher komplexes Thema. Aber darum geht es jetzt nicht. Für gewöhnlich kommen solche Fälle, wie eben dieser, vor, allerdings macht mich die immer weiter steigende Zahl der Opfer stutzig. Ich will der Sache nachgehen und bin hergekommen, um euch darüber zu informieren, dass ich in der Menschenwelt unterwegs sein werde. Und ich spare mir mal die Frage, ob ihr je von solch einem Fall gehört habt.“

Nachdenklich neigte Raphael den Kopf. Dass Samael sich selbst solch einer Sache annahm, war ungeheuer selten, doch in diesem Fall konnte der Erzengel es verstehen. Allein die Vorstellung, der gefolterten Frauen, jagte einem einen Schauer über den Rücken. Raphael würde vermutlich ähnlich wie Samael handeln. Just in diesem Moment begannen die Erzengel einige Blicke untereinander auszutauschen.

„Glaubst du nicht, dass sich das von alleine klären wird?“, meinte Jophiel, zwar ruhig, aber auch misstrauisch. Samaels Gesichtszüge verfinsterten sich und er begann, mit den Fingern über seine Augen zu reiben, was verdeutlichte wie erschöpft er war.

„Den Gedanken hatte ich am Anfang auch, allerdings zieht es sich schon über mehrere Wochen hin. Allmählich sollte ich mich wohl wirklich darum kümmern“, murmelte er. Zu ihrer aller Erstaunen meldete sich der sonst so stille Zadkiel zu Wort.

„Ich stimme Samael zu. Manche Dinge, in den Köpfen der Menschen, sind zu grausam und bestialisch, um sie ignorieren zu können. Einer von uns sollte der Sache gemeinsam mit Samael nachgehen“, sagte er absolut ausdruckslos, dann wurde er auch schon wieder still. Die Erzengel waren so perplex, dass sie ihren Bruder erst einmal nur sprachlos anstarren konnten. Raphael war der erste, der sich wieder gefasst hatte.

„Das kann Michael übernehmen. Mittlerweile dürfte er die Menschen ja am besten kennen“, entschied er, ohne Raum für Diskussion zu lassen. Doch es kam anders als gedacht, denn Michael schüttelte vehement den Kopf.

„Entschuldige, aber da habe ich gar keine Zeit für. Um ehrlich zu sein, hätte ich dich dafür vorgeschlagen, deine nüchterne Art die Dinge zu betrachten, kommt da wohl gerade recht“, erklärte er, was Raphael eigentlich gar nicht hören wollte. Er wollte schon Einwände erheben, konnte aber nur tatenlos dabei zusehen, wie eindeutige Zustimmung durch die Runde ging. Er hätte erwartet, dass Samael von diesem Vorschlag ebenfalls abgeschreckt wäre, doch als sein Blick auf den Teufel fiel sah er, dass dieser nachdenklich den Kopf geneigt und die Augenbrauen hochgezogen hatte.

„Wir sind zwar nie sonderlich warm miteinander geworden, aber deine einschüchternde Art wäre in diesem Falle tatsächlich hilfreich. Aber die Entscheidung liegt natürlich bei dir.“

Die Blicke der Männer waren so erwartungsvoll, dass Raphael kein Nein über die Lippen brachte. Das konnte unmöglich wahr sein!

Raphael verdrehte die Augen und ließ sich Zeit bei seiner Antwort, am Ende deutete er aber ein Nicken an.

„Bringen wir es einfach schnell hinter uns“, murmelte er, was einige der Engel mit einem Lächeln beantworteten.

 

Mit finsterer Miene ließ Raphael den Blick schweifen. Wenn man ihm je gesagt hätte, dass er sich einmal freiwillig in die Unterwelt begeben würde, hätte er denjenigen als geisteskrank bezeichnet. Dennoch stand er nun hier. Und er musste zugeben, dass er sich diesen Ort ein wenig anders vorgestellt hatte. Er befand sich mitten im Thronsaal des Teufels, hatte aber das Gefühl, sich in einer mittelalterlichen Burg zu befinden. Der Saal bestand gänzlich aus Stein und wurde von Fackeln erhellt, wodurch es hier verdammt kalt und zugig war.

Außer zwei Thronstühlen gab es hier absolut nichts, außer dem Gestank von Dämonen und einem eisigen Schauer auf der Haut. Vom Teufel selbst fehlte jede Spur, bloß dessen Frau war anwesend, die auf ihrem Thron saß, in ihre Arbeit vertieft war und dem Erzengel hin und wieder nur einen müden Blick zuwarf. Als sie das nächste Mal aufsah, blieb ihr Blick aber einen Moment länger an ihm hängen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, diesen Mann jemals in etwas anderem gesehen zu haben, als in himmlischen Gewändern. Man stellte es sich zwar ein wenig altmodisch vor, doch seine Kluft bestand aus einem weißen Mantel, der an seinen Knien endete, einer Art Tunika aus hellbraunem Stoff und einer ebenso braunen Hose. Camael hatte diesen Mann noch nie mit Waffen gesehen, weshalb sie sich fragte, ob er überhaupt ein Kämpfer, ein Krieger war. Beeindruckende Muskeln hatte er, keine Frage, und auch war er groß, doch seine Gesichtszüge waren bei weitem nicht so schroff und kantig, wie man es bei einem abweisenden und brummigen Typen wie bei Raphael erwarten würde.

Die Gattin des Teufels fragte sich, ob dieser Engel vielleicht nicht doch seine weichen Seiten besaß, doch beim Blick in seine leeren grünen Augen blieb kein Raum für Spekulationen.

„Lässt dein Mann mich absichtlich warten?“, knurrte er just in diesem Moment, während sein Blick den der einstigen Nephilim traf. Camael schwieg im ersten Moment und wirkte nachdenklich, dann deutete sie plötzlich ein Lächeln an.

„Du bist kein sehr geduldiger Mann, hm?“, meinte sie erheitert, was Raphael jedoch nur ein Schnauben entlockte. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Er besaß durchaus Geduld, für den Teufel konnte er sie allerdings nicht aufbringen. So verständnisvoll war er dann auch wieder nicht. Als Camael erkannte, dass er ihr nicht antworten würde, stieß sie einen lautlosen Seufzer aus.

„Er ist gleich hier, keine Sorge. Ich nehme mal an, du hast keine Lust eine Unterhaltung mit mir zu führen, während du wartest?“

Kurz musterte Raphael die Dämonin. Sie wirkte ungeheuer entspannt und sah in einfachem schwarzen Shirt und Blue-Jeans ziemlich lässig aus, was man schon lange nicht mehr an dieser Frau gesehen hatte. Raphael hatte nach all der Zeit, die mittlerweile vergangen war, kein all zu großes Problem mehr mit dieser Frau. Wenn man ihr Verhältnis zueinander aber beschreiben müsste, würde definitiv das Wort angespannt fallen.

„Erzähl mir etwas über die Frauen, die gefunden wurden“, verlangte er schließlich, was fast schon einem Donnergrollen gleichkam. Camael verkniff es sich, über dieses Verhalten die Augen zu verdrehen, ließ den Befehl aber unkommentiert und begann zu erzählen.

„Die armen Frauen wurden überall verstreut in San Francisco gefunden, dem Hauptsitz einer satanistischen Sekte. Wir wissen nicht, ob es sich hier um einen einzelnen Täter handelt oder aber um eine ganze Gruppe. Die armen Mädchen sind alle entstellt. Ihnen wurden Körperteile entfernt, einige von ihnen hat man ausbluten lassen. Ihnen allen hat man Siegel und Schriftzeichen in die Haut geritzt. Und was ich am aller schlimmsten finde ist, dass ihnen das alles natürlich bei lebendigem Leib angetan wurde. Ihre Gelenke machen deutlich, dass sie gefesselt worden sind. Außerdem scheinen sie alle nur Zufallsopfer zu sein, denn es gibt keinerlei Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen.“
Mit ungutem Gefühl im Magen hörte Raphael ihr zu. Die armen Mädchen, ging es ihm wütend durch den Kopf. Die Menschen wurden wirklich immer schlimmer.

„Sie sind alle tot?“, hakte er ausdruckslos nach, auch wenn er die Antwort schon kannte.

„Ja“, ertönte es hinter ihm. Raphael sah über seine Schulter und entdeckte Samael, der wie gewohnt in schwarzer Montur den Thronsaal betrat. Der Erzengel schwieg und wartete auf das, was der Teufel noch zu sagen hatte.

„Wir werden uns auf den Weg nach San Francisco machen. Einer meiner Untergebenen glaubt, durch das Kellerfenster eines Familienhauses etwas gesehen zu haben, aber es war wohl zu dunkel, um die Details erkennen zu können“, erklärte Sam, während er zu seiner Frau schlenderte und ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen hauchte. In Raphaels Gegenwart hielten sie sich deutlich zurück, doch das kümmerte den Erzengel herzlich wenig. Er wollte sich endlich auf den Weg machen, denn je eher sie der Sache nachgingen, desto eher konnte er sich auf den Weg zurück nach Amarya machen und das alles hier vergessen.

„San Francisco?“, murmelte Raphael nun. „In dieser kaputten Stadt haben die Menschen doch mit Sicherheit schon Wind davon bekommen.“
Sehr zu seinem Erstaunen breitete sich ein Grinsen auf Samaels Zügen aus, als er von Camael abließ und dann zu ihm kam.

„Du kennst die Menschen wohl nicht all zu gut, hm? Was in der Dunkelheit dieser Stadt geschieht, interessiert sie nicht im geringsten. Sie sehen absichtlich nicht hin und deswegen werden wir auch leichtes Spiel haben. Also, komm schon.“

 

 

 

Kapitel 2

 

San Francisco also, dachte Raphael und ließ den Blick schweifen. Sie waren in einer beschaulichen und ruhigen Wohngegend gelandet, wodurch es dem Erzengel schwerfiel zu glauben, was hier geschehen sein sollte. Samael und er hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, doch er würde sich mit Sicherheit nicht darüber beschweren.

Ein Schritt genügte und dem Erzengel fiel ein Sonnenstrahl direkt ins Gesicht, der ihn blendete und ihn beinahe schimpfen ließ. Für einen Erzengel mochte es nicht gerade typisch sein, doch der strahlend blaue Himmel kotzte ihn an. Er war kein Fan von Sommer und Sonnenschein, sondern genoss das beruhigende Rauschen des Regens oder die Stille des fallenden Schnees. Dies hier war einfach nicht seine Jahreszeit.

„Was jetzt?“, durchbrach Raphael das Schweigen und sah den Teufel an, den dieser strahlende Sonnenschein wohl ebenfalls nervte, denn mit seiner Hand schirmte er seine Augen vor dem grellen Licht ab.

„Die Straße runter. Dort gibt es nur ein Haus, wir können es also nicht verfehlen. Sollte ein Mensch auf uns aufmerksam werden, setzen wir ihn außer Gefecht, alles klar?“, erwiderte Samael und warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Raphael nickte, schwieg aber und setzte sich in Bewegung. Er bevorzugte es eigentlich, sich von den Menschen fernzuhalten, was als Erzengel der Gesundheit und Heilung eigentlich kein leichtes Unterfangen war, doch davon würde er Samael mit Sicherheit nichts erzählen. Es dürfte ohnehin klar sein, warum Michael und die anderen ausgerechnet ihn hierher geschickt hatten. Und seine analytische und kühle Art hatte damit nicht das geringste zutun! Doch wahrscheinlich brauchte Raphael sich keine Gedanken darüber zu machen, schließlich hatte Sam gesagt, dass es keine Überlebenden gab. Seine Anwesenheit war also überhaupt nicht erforderlich. Er schüttelte leicht den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben und richtete sein Augenmerk auf das Haus, welches in seinem Blickfeld auftauchte.

Es war ein hübsches Haus, sogar schon ein wenig luxuriös. Großer Eingang, ein hübscher Vorgarten und auch eine Terrasse war deutlich zu erkennen. Hatte Samaels Untergebener nicht von einem Kellerfenster gesprochen? Raphael hielt automatisch Ausschau und entdeckte an der rechten Seite des Hauses, nahe der Ecke, ein kleines vergittertes Fenster, direkt über dem Boden.

Sofort wallte ein Gefühl in ihm auf, lauernd und gefährlich.

„Samael“, stieß er deshalb aus, mit einer Kopfbewegung auf das Fenster deutend.

„Alles klar“, murmelte der Teufel und überblickte die Umgebung. „Menschen scheinen zwar keine in der Nähe zu sein, aber an der Tür scheint eine Kamera zu sein. Kümmerst du dich darum?“

Ein einziger Blick genügte und Raphael sah, dass er Recht hatte. Über der Eingangstür sah man deutlich etwas blinken, weshalb der Erzengel sich Mühe gab, sich zu beeilen. In Windeseile hatte der Erzengel das kleine technische Gerät mit bloßer Faust aus der Wand gerissen. Er zerschmetterte es mit seiner Hand wie eine Walnuss und warf es achtlos beiseite, dann wollte er sehen wie weit Samael war, doch gerade als er um die Ecke sehen wollte, rauschte der Teufel auch schon an ihm vorbei.

„Er hatte Recht“, hörte Raphael ihn leise knurren, dann musste er fassungslos mit ansehen, wie Sam ohne zu zögern die Tür des Hauses aufbrach. Eine schrille Alarmanlage fing an zu heulen, doch in Sekundenschnelle hatte Sam die Einrichtung an der Wand zerstört.

„Was ist denn los?“, schnauzte Raphael und eilte hinter ihm her.

„In den Keller! Sofort!“, brüllte Samael.

Raphael blieb nicht die kleinste Gelegenheit das Innere dieses Hauses in Augenschein zu nehmen. Das einzige was ihm auffiel, war die Ordnung und Sauberkeit hier. Alles hier sah so aus, als würde hier eine normale und gepflegte Familie leben. Samaels Verhalten ließ jedoch Zweifel aufkommen. Was hatte er nur durch dieses Fenster gesehen?

Raphael folgte ihm durch einen schmalen Flur mit grünen Wänden, für den selbst ihre Schwingen viel zu breit waren, weshalb sie sie beide dicht an den Körper anzogen. Sie kamen an eine schmale Tür, die wohl zu einem Keller führte und sogar abgeschlossen war.

Samaels rabiates Vorgehen war keine Überraschung mehr, auch hier hatte er die Tür demoliert, ehe der Erzengel eingreifen konnte. Ihnen offenbarte sich eine sehr steile Holztreppe, die in unheimliche Finsternis führte. Gibt es hier keinen Lichtschalter, dachte Raphael genervt, sprach es aber nicht laut aus, da Samael just in diesem Moment an einer Strippe zog, die eine einzige Glühbirne zum leuchten brachte. Nur zwei Stufen genügten und ihnen schlug ein widerwärtiger Gestank entgegen. Raphael wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, doch das mit Sicherheit nicht! Wenn man sich das Tor zur Hölle vorstellte, dann mit Sicherheit so. Überall standen Käfige, die zum Teil von Decken und Laken verhüllt waren, dennoch erkannte man auf den ersten Blick, wen oder was man in sie hineingesperrt hatte. Überall auf dem Boden waren Pfützen aus Blut verteilt und Raphael war sich ziemlich sicher, dass auch andere Körperflüssigkeiten vorhanden waren.

An den Wänden waren tausende Kritzeleien zu finden, viele davon wohl mit Blut geschrieben. Seltsame Gerätschaften lagen auf einer Werkbank verteilt und erinnerten zum Teil an chirurgisches Werkzeug. Raphael erschauerte. War das hier eine Folterkammer? Die Zeichen an der Wand bezogen sich alle auf den Teufel, genau wie die, die man in den Körpern der toten Mädchen hinterlassen hatte. Und die Opferzahl würde wohl noch steigen, denn in den Käfigen waren Frauen eingesperrt worden.

Samael begann den Keller unter die Lupe zu nehmen. Neben der Werkbank war auch ein Stuhl vorhanden, der mit Seilen und Ketten versehen war. Anscheinend hatte sich dieser Irre direkt hier an den Mädchen ausgetobt. Kratzspuren an dem Stuhl bewiesen, dass sie vergeblich versucht hatten sich zu befreien. Durch die nackten Betonwände war es um sie herum eiskalt und die einzelne Glühbirne ließ jedes Bisschen Hoffnung sterben.

Während Samael jeden Käfig nacheinander unter die Lupe nahm, versuchte Raphael herauszufinden, welch durchgeknallter Psychopath hier wohl zu Werke gegangen war. Doch es gab keinerlei Hinweise. Keine Kleidung oder Schuhe, keine herumliegende Kappe oder so etwas wie Handschuhe und auch sonst keine Hinweise darauf, dass vor kurzem jemand hier gewesen war.

„Sieht aus, als wären sie...“, hörte man Samael murmeln. Tot, dachte Raphael missmutig.

Der laute Fluch, der daraufhin aber zu vernehmen war, ließ den Erzengel herumwirbeln. Irritiert beobachtete Raphael, wie Sam einen der Käfige aufbrach und etwas herausholen wollte.

Der Erzengel konnte am Anfang nicht viel erkennen, doch dann hörte er das Wimmern.

„Geh weg! Fass mich nicht an!“
Samael hatte anscheinend einen Schlag abbekommen, denn er trat einen Schritt zurück und begann, nachdenklich vor sich hin zu murmeln. Dabei verschränkte er die Arme und blickte zum Erzengel zurück.

„Wir müssen ihr helfen“, sagte er streng. Raphael trat vor und entdeckte eine Frau. Eine Frau, die wunderschön sein musste, wäre sie nicht in diesem jämmerlichen Zustand. Halb nackt und mit Schnittverletzungen, die identisch waren mit denen, die auch die anderen Mädchen hatten. Einige von ihnen waren entzündet und getrocknetes Blut unter ihren Fingernägeln machte klar, dass sie kein wehrloses Opfer sein wollte. Raphael hielt inne, um sie genauer zu betrachten.

Sie war zierlich und jung, hatte eine hübsche Figur und ein schmales Gesicht, welches unglaublich zerbrechlich wirkte. In ihren katzenhaften, leicht schräg stehenden und bernsteinfarbenen Augen war zu erkennen, wie traumatisiert sie war und ihre volle Unterlippe zitterte.
Ihre langen, rotbraunen Haare fielen ihr sonst wohl in wunderschönen Wellen bis über die Brust, waren in diesem Moment aber blutverkrustet und zerzaust. In ihrem Gesicht, auf ihren Wangen, waren Kratzer zu erkennen, ebenso an ihren schmalen Armen. Es hatte wohl einen Kampf gegeben...

Raphael riss sich von ihrem Gesicht mit dem leicht spitzen Kinn los und ließ seinen Blick tiefer gleiten. Sie schien noch nicht all zu lange hier zu sein, da sie bei weitem nicht so ausgemergelt wirkte, wie all die anderen Mädchen. Hinzu kam, dass sie auch noch ihre Kleidung besaß. Sie trug eine Jeans, die vermutlich keine Löcher und blutigen Wunden aufweisen sollte, außerdem noch eine weiße Bluse, die einmal aufgerissen worden sein musste. Die meisten Knöpfe fehlten und entblößten somit einen zartrosa BH mit B-Körbchen. Nüchtern betrachtete Raphael die blasse aber rosige Haut, die zum Großteil von Schnittwunden entstellt war. Mit rasselndem Atem kauerte sie in dem Käfig, sichtlich bemüht, von keinem von ihnen berührt zu werden.

Doch dann fiel dem Erzengel etwas auf. Alarmiert stieß er ein Knurren aus.

„Samael!“

Er ließ die Frau nicht aus den Augen, welche bei seinem Tonfall deutlich zusammenzuckte. Der Teufel sah irritiert zu seinem Bruder und hob fragend die Augenbrauen.

„Sie sieht es!“, verkündete Raphael donnernd, worauf Sam erst recht verwirrt war.

„Was meinst du?“, fragte er und richtete seinen Blick auf das Opfer. Er erkannte, dass sie auf etwas zu starren schien, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Erst, als Raphael plötzlich ganz leicht seine Flügel spreizte, wurde ihm klar, was der Erzengel gemeint hatte.

„Scheiße“, fluchte der Teufel und erneut zuckte die Frau zusammen. „Sie sollte sie nicht sehen können“, fuhr Sam fort, doch Raphael versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren.

„Vermutlich der Schock und das Trauma. In diesem Moment ist ihre Wahrnehmung wohl offen für alles“, erklärte er ein wenig leiser. Samael blickte sich um und rieb sich dann nachdenklich das Kinn.

„Sehen wir es mal positiv, denn dann können wir sie nach Amarya bringen, ohne uns vorläufig Gedanken zu machen“, meinte er. Raphael baute sich vor ihm auf und funkelte ihn wütend an.

„Bist du des Wahnsinns? Sie ist ein Mensch! Wir können nicht...“, begann er schon zu schimpfen, da schnitt Samael ihm das Wort ab.

„Wir haben keine andere Wahl, wenn wir herausfinden wollen, was hier vor sich geht.“

Raphael sah ein, dass dieser Mistkerl Recht hatte, sprach es aber nicht laut aus, was Samael zufrieden fortfahren ließ.

„Nimm sie und mach dich auf den Weg, ich kümmere mich hier um alles und komme dann nach.“
Vor Schreck klappte Raphael die Schwingen noch ein wenig weiter auseinander.

„Ich bin nun wirklich nicht der Richtige, um...“, begann er, da machte Sam einen Wink mit der Hand und wandte sich eiskalt ab.

„Mach es einfach“, sagte er nur, dann war er auch schon wieder mit den toten Mädchen beschäftigt. Leise vor sich hingrummelnd drehte der Erzengel sich wieder zu der jungen Frau um, die ihn keine Sekunde lang aus den Augen gelassen hatte. Raphael hatte keine Ahnung, wie er an die Sache herangehen sollte und starrte hilflos in den Käfig, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das dichte braune Haar.

„Na dann wollen wir dich mal da herausholen“, murmelte er und ging in die Knie.

 

Alea konnte einfach nicht anders, als sich gegen die Metallstreben in ihrem Rücken zu pressen und die gigantischen Flügel anzustarren, die im Rücken dieses gewaltigen Mannes aufragten. Sie halluzinierte schon, da musste es äußerst schlecht um ihre Gesundheit stehen! Nur dumpf nahm sie wahr, dass dieser Mann etwas zu sagen schien, doch sie vernahm die Worte überhaupt nicht. Sie bemerkte nur, wie dunkel und polternd sich seine Stimme anhörte.

Alea konnte ihn jedoch nur mit großen Augen anstarren. Dieser Mann war riesig, mit Sicherheit an die zwei Meter groß und mit diesen Flügeln gab er ein nur noch imposanteres Bild ab. Sie waren strahlend weiß, blendeten einen schon fast, wiesen jedoch einen seltsamen grünen Schimmer auf. Auch seine Augen waren grün, leuchteten aber fast auf eine unheimliche Art und waren so intensiv, wie zwei Smaragde, die zur Pupille hin immer heller und durchscheinender zu werden schienen.

Sie hielten einen mit ihrem Blick gefangen, ebenso wie es wohl auch sein schmaler Mund konnte, der so unglaublich faszinierend und sinnlich geschwungen war. Seine schmale Nase war gerade und schien ein klein wenig zu lang zu sein, dafür waren seine hohen Wangenknochen perfekt. Sein goldbraunes Haar fiel ihm in dichten Wellen bis über die Ohren und die tiefe Kerbe zwischen seinen Augenbrauen ließ erkennen, dass er unglaublich schlechte Laune hatte. Seine atemberaubende Schönheit war definitiv eines Engels wert, doch sie weigerte sich strikt, an so etwas zu glauben. Hinzu kam noch dieser andere Mann, der ebenfalls ungewöhnlich schön war, allerdings keine weißen Schwingen besaß, sondern tiefschwarze, die glänzten wie flüssige Tinte. Gott, was hatte sie sich nur zu Schulden kommen lassen, um in eine solche Situation zu geraten?

Ihr Schädel wummerte und ihre Wunden taten höllisch weh und als ob das nicht schon genügen würde, hatte sie auch noch keine Ahnung, wie lange sie überhaupt schon hier festsaß. Nun, wo die Tür des Käfigs aufgebrochen war, hätte sie die Flucht ergreifen können, doch die Wahrheit war, dass ihr Körper dies im Augenblick nicht mitmachen würde. Sie war völlig ausgehungert und hatte nicht geschlafen, ihre Beine würden sie keine zwei Meter weit tragen.

Alea wurde aus den Gedanken gerissen, als plötzlich die zwei Hände des Engels nach ihr greifen wollten. Riesige schöne Hände, mit langen schlanken Fingern, deren Nägel gesund und gepflegt waren. Alea ließ es zu keiner Berührung kommen und schlug seine Hände fauchend fort.

Der Mann wirkte erst verblüfft, dann wurde die Falte zwischen seinen Brauen aber noch tiefer.

„Lass mich dir gefälligst helfen“, knurrte er mit seiner tiefen Stimme, doch Alea war nicht so naiv zu glauben, dass dieser ihr wirklich helfen würde. Wenn er wirklich ein Engel war, so wie ihre Augen es ihr weiß machen wollten, warum hatte er ihr dann nicht schon viel früher geholfen? Bevor man ihr diese grauenhaften und bestialischen Dinge angetan hatte? Der Engel wandte das Gesicht ab und sah so aus, als würde er dem anderen Mann etwas sagen wollen, dann schien er es sich aber wieder anders zu überlegen und sah sie an.

„Du kannst meine Hilfe entweder freiwillig annehmen oder ich werde dich dazu zwingen, deine Entscheidung“, knurrte er und richtete sich auf, um dann mit verschränkten Armen auf sie herabzustarren. Aleas Lippen teilten sich, weil sie einen derben Fluch ausstoßen wollte, doch sie brachte nicht einen einzigen Ton heraus. Nein, der war ganz sicher kein Engel. So ein mies gelaunter Kerl, der sie auch noch erpressen wollte, war alles andere als himmlisch und rein!

Alea rührte sich selbstverständlich keinen Millimeter und dachte eine Weile hin und her. Sie könnte aus dem Käfig krabbeln, wenn... wenn dieser Typ mehrere Schritte zurückging und ihr Freiraum gewährte. Doch offenbar hatte sie sich zu viel Zeit bei ihren Überlegungen gelassen, denn plötzlich wurde sie gepackt und aus ihrem Gefängnis gezerrt. Ihr blieb nicht einmal genug Zeit um zu reagieren. Er hatte sie grob am Arm gepackt und so schnell an sich herangezogen, dass ihre Beine nicht hinterher kamen und einknickten. Unbeholfen landete sie zu seinen Füßen und der Mann wollte sie schon erneut packen, da reagierte Alea ein wenig schneller.

„Au, Mist, sie hat mich gebissen!“, stieß der Engel aus und drehte sich nach seinem schwarzgeflügelten Komplizen um. Dieser warf breit grinsend einen Blick über seine Schulter.

„Selbst schuld. Geh ein bisschen vorsichtiger mit ihr um, du grober Klotz“, meinte er bloß. Alea wurde aufmerksam als sie hörte, wie dieser Mann sprach. Er schien entspannt zu sein und dass er lachen konnte, erschien ihr auch als ein gutes Zeichen. Der Engel mit den grünen Augen schien aber so gar nichts von diesen Worten zu halten, denn er machte kurzen Prozess. Alea hatte nicht die geringste Chance, als der gewaltige Mann sie an den richtigen Stellen packte und hochhob, da half selbst ihr wildes Gestrampel nicht. Panisch versuchte sie frei zu kommen, doch er hielt sie gefangen wie ein Schraubstock. Beinahe hätten ihre Fingernägel ihn im Gesicht erwischt, doch rechtzeitig drehte er den Kopf zur Seite.

„Soll ich dich fallen lassen?“, schnauzte der Engel und dies zeigte endlich Wirkung. Alea hielt still und starrte ihn an, dann fiel ihr Blick ganz automatisch auf die Flügel in seinem Rücken. So dicht an seine steinharte und muskulöse Brust gepresst, stellte es absolut kein Problem für sie dar, die Finger nach diesen so flauschig aussehenden Federn auszustrecken.

„Nicht anfassen!“, knurrte der Engel, kurz bevor ihre Finger ihn berührten. Doch so angsteinflößend dieser Kerl auch sein konnte, Alea wollte es sich nicht nehmen lassen, ihre Angst ein wenig zu dämpfen. Und was wäre dazu besser geeignet, als hübsche und weiche Federn? Ungeachtet seiner Warnung berührte sie die Schwingen, die genauso glatt und seidig waren, wie sie es erwartet hatte. Sie vernahm ein leises Rumoren und begriff, dass es aus der Bust und Kehle dieses Mannes kam. Ob er wohl nicht gerne berührt wurde, ging es ihr durch den Kopf. Oder gab es einen anderen Grund für sein Verhalten?

„Bringen wir dich endlich hier weg“, murmelte er leise und setzte sich dann auch schon in Bewegung. Die Hitze, die von seinem Körper ausging, wärmte Alea allmählich auf, was dafür sorgte, dass sie sich langsam aber sicher entspannte. Vielleicht brachte er sie ja doch in Sicherheit?

 

Ihm war nicht wohl dabei die Menschenfrau nach Amarya zu bringen, doch im Augenblick war sie in ihrer Welt wohl nicht wirklich gut aufgehoben. Missmutig trug Raphael die Frau, die noch kein einziges Wort gesagt hatte, durch das Paradies, welches sein Zuhause war. Auf dem Weg hierher hatte sie sich voller Panik an ihm festgekrallt und die Arme um seinen Hals geschlungen, just in diesem Moment hatte sie die Augen aber aufgerissen und sah sich hektisch und nervös um. Armes Mädchen, dachte er mitleidig. Sie war schon völlig traumatisiert, da musste der sich ihr bietende Anblick wohl zu viel des Guten sein. Raphael konnte seinen schroffen Tonfall aber nicht unterdrücken und stieß ein Schnauben aus.

„Hör auf, sie so anzustarren, das ist unhöflich!“

Zweifellos konnte die Frau nicht begreifen, dass sämtliche Leute um sie herum Engel waren, doch ihr auffälliges Verhalten würde Raphael nur in eine unangenehme Situation bringen. Eilig machte er sich mit ihr auf den Weg zur Krankenstation, wo verwundete Soldaten versorgt wurden. Dort würde man sich um sie kümmern und er konnte in Ruhe mit seinen Geschwistern die Situation besprechen. Dabei bemerkte er, wie die Frau ihn schon wieder anstarrte.

„Was?“, schnauzte er, doch ihm hätte klar sein müssen, dass sie ihm nicht antworten würde. Raphael bemerkte bereits, wie er von allen angestarrt wurde, doch zum Glück hatten sie da auch schon den Palast der Erzengel erreicht, wo die Kleine sich wieder staunend umsah. Ihr leichtes Kopfschütteln ließ erkennen, dass sie dies alles nicht glaubte und für einen Traum hielt. Dem Erzengel wurde klar, dass ein paar Erklärungen wohl nicht schaden konnten. Früher oder später würde sie sowieso alles hinterfragen.

„Du bist hier in Amarya, unserem Zuhause. Verhalte dich ruhig und sie werden dich mit Respekt behandeln“, brummte er, während er sie auch weiterhin trug. Ihnen kam zum Glück niemand entgegen, denn es hätte Raphael gerade noch gefehlt, wenn nun ein anderer Erzengel um die Ecke gekommen wäre und gesehen hätte, wie er eine Frau durch die Flure trug. Es dauerte einige Minuten, doch dann endlich hatte er das Krankenzimmer erreicht. Er trat ein, konnte aber niemanden entdecken und setzte die Frau deshalb behutsam auf einer der Liegen ab.

„Ilias? Malea? Ist hier jemand?“, donnerte er, doch alles was zu vernehmen war, blieb das Ticken einer Uhr die irgendwo stehen musste.

„Na klasse“, grummelte Raphael, ging auf und ab und warf der Frau mehrere wütende und teils auch hilflose Blicke zu.

„Ich hole jemanden. Du rührst dich nicht von der Stelle“, entschied er knallhart, dann wollte er sich auch schon abwenden. Doch er kam nicht weit, denn er bemerkte, wie etwas an seiner Tunika zog. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Raphael über seine Schulter, nur um zu erkennen, dass es die Hand der Frau war, die da nach ihm griff. Voller Angst sah sie zu ihm auf, weshalb er vermutete, dass sie nicht alleine hier bleiben wollte.

„Ich beeile mich, keine Sorge“, versicherte er. Auch sein erneuter Versuch zu gehen schlug fehl, weil ihr Griff nur noch fester wurde. Langsam wurde er sauer, doch als er ihr ins Gesicht blickte, erkannte er keine Angst mehr in ihren Augen. Stattdessen sah er den Vorwurf, den sie ihm machte.

Raphael stand kurz davor, aufgebracht die Arme in die Luft zu werfen.

„Ich bin wirklich nicht der Richtige, um dich zu versorgen“, knurrte er, dann wurde er ein wenig ruhiger. „Ich werde jemanden holen, der sich gut um dich kümmert. Sei einfach ein braves Mädchen und warte hier.“
Langsam aber sicher verlor auch Alea die Geduld. Sie verkrallte sich fester in seiner Tunika und schob trotzig das Kinn vor.

„Bleib“, verlangte sie mit fester und weiblicher Stimme.

Verblüfft über den Klang ihrer zarten Stimme starrte Raphael sie an. Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und seufzte tief, dann spitzte er die Ohren als er hörte, wie sie sagte: „Ich will nicht, dass mich noch jemand in diesem Zustand sieht.“
Spätestens jetzt war es das mit seinem Widerstand. Mit gemischten Gefühlen sah er sie an, dann ließ er den Kopf hängen und gab nach. Er drehte sich um und schloss die Tür, dann deutete er mit den Fingern auf ihre Klamotten.

„Zieh dich aus“, verlangte er, ohne sie zu anzusehen. Alea griff sich an den Kragen ihrer aufgerissenen Bluse und senkte den Blick. So schroff und abweisend wie dieser Engel war, würde er sich mit Sicherheit nichts aus ihrem Körper machen, also begann sie langsam und mit zitternden Händen, sich auszuziehen. Außerdem trug sie zum Glück ja noch ihre Unterwäsche.

„Wie ist dein Name, Frau?“, donnerte er dann plötzlich, was sie dazu brachte, zusammen zu zucken. So wie er spricht, scheint er wirklich stark und mächtig zu sein, ging es ihr durch den Kopf.

Sie faltete ihre Bluse ordentlich zusammen, auch wenn sie völlig hinüber war, und stand auf, um auch ihre Hose ausziehen zu können, dabei nahm sie den großen Raum unter die Lupe. Es sah aus wie in einem Krankenhaus, mit mehreren Liegen, Tresen und Schränken, Verbandsmaterial und auch sonst allem, was man zur Wundversorgung brauchte. Das grelle weiße Licht blendete sie noch ein wenig, da sie ja so lange Zeit in der Dunkelheit verbracht hatte, doch mittlerweile hatten wenigstens die wummernden Kopfschmerzen nachgelassen. Am liebsten wäre Alea jetzt durchgedreht. Sie war im Paradies gelandet, in dem lauter Engel lebten, das konnte einfach nicht echt sein. Der Schock und das Trauma mussten so heftig sein, dass sie sich in ihre Fantasien und Halluzinationen hineinsteigerte, aus diesem Grund musste sie vorsichtig sein.

„Alea. Alea Hatter“, antwortete sie nun leise. Als sie den Blick hob erschrak sie und trat hastig einen Schritt zurück, weil der Engel direkt vor ihr stand. Prüfend starrte er auf sie herab. Ihre Wunden sahen fürchterlich aus und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er sie versorgen sollte. Zu allem Überfluss war sie auch noch eine Frau. Eine ziemlich hübsche Frau, wie ihm in diesem Moment klar wurde, doch diesen Gedanken verdrängte er.

„Ich bin Raphael“, sagte er einfach nur, dann riss er sich von ihrem Anblick los und suchte Dinge, mit denen er sich um ihre Wunden kümmern konnte.

„Okay, Raphael“, meinte Alea unsicher. „Dann kannst du mir mit Sicherheit bestätigen, dass das alles hier“, sie machte eine ausladende Geste und deutete dann auf seine Flügel, „nur pure Einbildung ist. Das gibt es gar nicht, nicht wahr? Das alles existiert nur in meinem Kopf.“
Ihr Selbstbewusstsein von eben war dahin und ihre Stimme war nur noch ein Hauch, was Raphael auf den irrisinnigen Gedanken brachte, dass dies viel besser zu ihr passte. Er war nie gefühlsduselig gewesen und er war bei weitem nicht so einfühlsam, wie es bei seinem Posten von Nöten gewesen wäre, doch in diesem Moment war er dazu gezwungen, behutsam an die Sache heranzugehen. Mit einem nassen Waschlappen kam er zu ihr zurück.

„Ich muss dich leider enttäuschen, absolut nichts davon ist Einbildung. Leider“, erklärte er ausdruckslos und hielt nachdenklich den Lappen hoch. Er sollte sie doch jetzt nicht ernsthaft waschen, oder? So wie es aussah schon, denn Alea hatte den Blick gesenkt und kaute ziemlich fest auf ihrer Unterlippe. Sie schien Probleme damit zu haben, das alles zu verarbeiten, was er ihr nicht einmal verübeln konnte.

„Was mache ich hier eigentlich?“, murmelte er angesäuert, während er dazu ansetzte, all das getrocknete Blut von ihrem Körper zu waschen. Einfacher wäre es gewesen, er hätte sie einfach in eine Badewanne gesteckt, doch aufgrund ihrer Menschlichkeit wären die Schmerzen dabei wohl zu schlimm gewesen. Alea zuckte mehrmals

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0571-0

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