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Prolog

Voller Unglauben starrten Raphael, Uriel, Zadkiel und Jophiel den Dämon an, der fauchend und zähnefletschend vor ihnen stand. Sein Verhalten und seine Gebärden ließen erkennen, dass er den Verstand verloren hatte und längst nicht mehr in der Lage war, ihnen Rede und Antwort zu stehen.

Aus diesem Grund musste dies auch Michael übernehmen, der hinter diesem Dämon stand und dafür sorgen würde, dass er nicht von hier weg kam.

„Und du bist dir sicher, dass er Camael auf dem Gewissen hat?“, fragte Jophiel, der schon immer der stillste und schüchternste Mann im Kader gewesen war. Michael nickte mit einer Ernsthaftigkeit, wie nur er sie beherrschte.

„Absolut. Azrael ist ihm auf die Schliche gekommen und in völlige Raserei geraten. Er wollte ihn töten, aber da ihr auch über alles Bescheid wissen müsst, habe ich ihn hierher gebracht“, erklärte er, worauf Uriel ziemlich irritiert aussah.

„Und wo steckt Azrael?“, wollte er wissen. Michael war keine Regung anzusehen als er antwortete: „Das erkläre ich euch gleich in Ruhe, weil es ein wenig komplizierter ist.“
Die anderen schienen sich nichts dabei zu denken und waren damit einverstanden, womit sie wieder bei dem Dämon vor ihnen waren.

„Er sieht aus, wie ein tollwütiger Hund. Leidet er an einer Krankheit?“, meldete sich Zadkiel zu Wort, der einem mit seiner nüchternen und emotionslosen Art schnell mal auf die Nerven gehen konnte. Michael seufzte und log, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich setze diesen Wahnsinn tatsächlich mit einer Krankheit gleich. Sein Verstand ist Brei, aus ihm ist absolut nichts heraus zu bekommen. Keine Ahnung, was Camael ihm angetan haben könnte, dass er so durchdreht. Azrael ist über einen anderen Dämon auf ihn aufmerksam geworden. Es wurde blutverschmierte Kleidung gefunden und die gehört eindeutig zu unserem kleinen Köter hier.“

Im Kader wurden Blicke ausgetauscht, die nach wenigen Augenblicken alle auf Zadkiel landeten. Niemand musste etwas sagen, der Erzengel mit dem unscheinbaren Gesicht und den fast dreckig weißen Flügeln erhob sich von seinem Platz und ging zu dem Dämon, ohne sich daran zu stören, dass dieser noch immer fauchte und sich jeden Moment auf ihn stürzen könnte.
Zadkiel war in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden nicht ohne Grund so kühl und emotionslos geworden. Der Mann mit den ebenso kühlen grauen Augen besaß die seltene Fähigkeit, in die Köpfe eines jeden zu sehen und dessen Verstand zu durchforsten und komplett auseinander zu nehmen. Dazu war jedoch Körperkontakt von Nöten, weshalb der Erzengel dem wild gewordenen Dämon just in diesem Moment die Hand auf die Stirn legte.

Michael packte den Wahnsinnigen mit unnachgiebigem Griff im Nacken, damit er Zadkiel nichts antun konnte. Der Dämon versuchte zwar sich zu wehren, hatte aber keine Chance gegen zwei Erzengel gleichzeitig.

Mehrere Minuten lang sah Zadkiel unglaublich konzentriert aus, dann schüttelte er plötzlich den Kopf.

„Deine Formulierung war treffend, sein Verstand scheint sich in der Tat verflüssigt zu haben. Vielleicht ist er ja gar nicht unbeschadet aus dem Kampf mit Camael herausgegangen, so, wie wir dachten?“, erklärte er auch weiterhin ohne jede Emotion in der Stimme. Raphael war schon so gelangweilt, dass er ungeduldig mit der Hand wedelte.

„Töten wir ihn endlich, damit dieses Thema endlich vom Tisch ist“, grummelte er, worauf Michael den Dämon mit einem kurzen Blick betrachtete.

„In diesem Falle wäre der Tod aber ein Akt der Gnade. Wie seht ihr das?“, erwiderte er und sah nacheinander auch Uriel, Jophiel und Zadkiel an. Ersterer seufzte.

„Ich sehe es wie Raphael. Es sind mehrere Wochen vergangen und ich habe keine Lust, mich noch länger damit zu befassen. Töten wir ihn auf der Stelle.“

Jophiel und Zadkiel nickten nur und mehr bedurfte es nicht. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte Michael ein Schwert zur Hand und den Dämon geköpft. Damit war das Thema Camael endgültig vom Tisch.

„So, und was war mit Azrael?“, wollte Raphael wissen, während es an dem armen Ilias hängen blieb, die Leiche des Dämons zu entsorgen. Michael ließ sich tiefenentspannt auf seinem Thron nieder, während er überlegte, wie er es am besten formulieren sollte.

„Ich weiß nicht, ob es euch aufgefallen ist, aber Azrael hat sich ziemlich verändert. Er hat ein Problem mit meiner Frau und hat mehrere Male ziemlich die Beherrschung verloren. Samael und ich haben ihn in die Unterwelt gebracht, um dem auf den Grund zu gehen. Er hat Callista angegriffen und ich will nicht das Risiko eingehen, dass sie verletzt wird“, berichtete er, worauf Blicke in der Runde ausgetauscht wurden.

Mittlerweile hatte jeder von ihnen Callista kennenlernen dürfen, Zadkiel hatte sogar einen Blick in ihren Kopf geworfen. Er hatte gesehen und erkannt, wie sehr Callista Michael liebte und dass sie niemals irgendeinen Blödsinn anstellen würde. Ihren Mord hatte sie erfolgreich hinter einer Barriere verstecken können, die sie mit Hilfe von Samael errichtet hatte.

Nachdem Zadkiel den anderen Männern dies mitgeteilt hatte, schienen sie in Callista nur noch eine ganz normale Frau zu sehen. Michael konnte gar nicht in Worte fassen, wie froh er darüber war.

„Das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Uriel, deutlich besorgt. „Er hat sich stark zurückgezogen und scheint sehr oft schlecht gelaunt zu sein. Er ist doch sonst immer eine Frohnatur“, meinte er.

Jophiel und Zadkiel stimmten nickend zu, Raphael wirkte hingegen noch einen Ticken ernster.

„Und was genau wollen Samael und du nun mit ihm machen?“

Es gefiel ihm nicht, dass Samael nun wieder inoffiziell ein Teil ihrer Gruppe war, doch solange der Teufel sich nichts zu Schulden kommen ließ, war wohl alles in Ordnung.

„Wir wollen herausfinden, ob das Problem bei den Dämonen liegt, oder vielleicht nicht doch an Samael selbst. Wir wollen ihn beruhigen, damit wir ihn wieder aus den Augen lassen können. Irgendetwas muss ihn furchtbar aufgeregt und verärgert haben“, erklärte er.

„Soll uns recht sein“, antwortete Uriel. „Aber was ist mit seiner Arbeit?“

„Keine Sorge, darum kümmere ich mich“, versicherte Michael. Es dauerte nicht lange und ihre Sitzung war beendet. Nicht mehr lange und es würde endlich neue Verhandlungen geben...

 

 

Kapitel 1

 

Azrael schreckte aus seinem unbequemen Schlaf auf, als um ihn herum lautes Gebrüll und Geschrei ertönte.

Es war mal wieder so weit, irgendein Dämon wurde gefoltert und für irgendetwas bestraft. Ständig wurde ihm der Schlaf geraubt! Da half es leider auch wenig, dass ihm mittlerweile eine Pritsche zur Verfügung stand. Camael, Samaels Frau, hatte sich darum gekümmert, dass seine Zelle wenigstens ein bisschen gemütlicher wurde.

Das Verlies diente nun nicht mehr nur mit kalten Wänden und nacktem Boden, sondern auch mit einer Pritsche -die leider keinen Platz für seine Flügel bot-, einem Tisch und einem Stuhl und einer Sanitäranlage, die vorher ebenfalls noch nicht da gewesen war. Fenster besaß diese Zelle keine.

Seine einzige Aussicht bestand aus einer Gittertür, deren Streben so massiv waren, dass selbst sein Engelsfeuer sie nicht schmelzen konnte. Er hatte alles erdenkliche ausprobiert, doch es hatte keinen Zweck, er saß hier fest. Die Ketten hatte man ihm zwischenzeitlich wieder abgenommen, doch das war ihm leider auch keine große Hilfe. Es gab hier schließlich niemanden, der ihn hätte befreien können.

Michael tauchte hin und wieder auf um ihn zu fragen, ob er seine Meinung geändert hatte, doch das war es dann auch schon.

Seine Nahrung wurde ihm von einfachen Dämonen gebracht, die alles rasch durch die Tür schoben und dann auch schon wieder verschwunden waren. Azrael hatte versucht, das alles einfach als kleinen Urlaub zu betrachten, doch es fehlte ihm mit jemandem zu reden oder andere Leute zu beobachten. Man ließ ihn wohl absichtlich alleine, damit er ausreichend Zeit besaß um über alles nachzudenken. Nur, dass er das überhaupt nicht wollte. Langsam aber sicher würde er wirklich alles tun, um hier wieder 'raus zu kommen. Er hasste die Unterwelt und seine Dämonen und niemals würde er sich einfach damit abfinden. Er war noch immer der Engel des Todes und über jemandes Leben zu entscheiden, stand ihm durchaus zu! Doch anscheinend konnten seine Geschwister auf jemanden wie ihn gut verzichten, denn bisher war niemand hier aufgetaucht, um ihm zu helfen.

Dies ließ Azrael nur zusätzlich wütend werden. Michael musste den anderen ein unglaubliches Lügenmärchen aufgetischt haben, anders konnte er sich nicht erklären, warum schon mehrere Wochen vergangen waren.

Azrael brütete vor sich hin, als plötzlich leises Geklapper ertönte. Hörte sich an, als würde ihm sein Essen gebracht. Auf der Pritsche liegend neigte der Erzengel den Kopf, worauf ihm eine Dämonin ins Auge fiel, die er bisher noch nie gesehen hatte. Groß und kurvig, wie eine Amazone, mit Haut so sahnig wie Milchkaffee. Ihre schwarzen üppigen Locken reichten ihr bis zum Po und umschmeichelten ihr herzförmiges Gesicht, in dem ein blutroter Schmollmund auf sich aufmerksam machte, ebenso wie ihre süße Nase. Im starken Kontrast dazu standen jedoch ihre mandelförmigen Augen, die so grün leuchteten wie zwei Diopside im Sonnenlicht. Diese Frau legte definitiv Wert auf ihr Äußeres. Ihr hübsches Gesicht passte nicht so ganz zum Rest ihres Körpers, denn ihre prallen Kurven steckten in einer Rüstung, die komplett aus enganliegendem Leder bestand. Ihre Füße steckten in schwarzen Stiefeln mit silbernen Schnallen, deren Absätze so hoch waren, dass einem glatt schwindelig wurde. Sie murmelte etwas, das sich verdächtig nach Spanisch anhörte, doch Azrael konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen.

Er stieß ein Schnauben aus, um somit auf sich aufmerksam zu machen.

„Sag bloß, deine Freunde trauen sich nicht mehr hierher?“, provozierte er lautstark, doch die Dämonin würdigte ihn kaum eines Blickes. Ausgehend von ihren gemurmelten Worten vermutete er, dass sie ihn vielleicht überhaupt nicht verstanden hatte.

„He, sag bloß, du verstehst kein Wort von dem, was ich sage?“, meinte er forsch, worauf die gut aussehende Frau doch tatsächlich die Augen verdrehte. Aha, sie verstand ihn also doch!

„Warum schickt Samael überhaupt so eine Schlampe wie dich?“, platzte es dann unvermittelt aus ihm heraus. Für gewöhnlich wurde er nicht so ausfallend, es musste an diesem widerwärtigen Ort liegen. Nun endlich hatte er die Dämonin aber so weit. Sie überging die Beleidigung und schob das Tablett durch den schmalen Schlitz am unteren Rand der Tür, dann lehnte sie sich von außen gegen das Gitter.

„Weil du einem der armen Kerle letztens den Arm angesengt hast. Und weil sich mittlerweile selbst Michael für dein Benehmen schämt“, antwortete sie, ohne auch nur den kleinsten Akzent in der rauchigen und sinnlichen Stimme. Azrael wäre bei diesen Worten beinahe von der Pritsche gefallen. Was sollte das heißen, Michael schämte sich für ihn? Er erhob sich, um der Dämonin, getrennt durch die Zellentür, gegenüber zu treten, doch er sah, wie sie bereits kehrt machte und verschwand.

„Halt, warte mal!“, rief er ihr nach, doch er wurde eiskalt ignoriert.

 

„Und? Wie lief es?“, wollte der Teufel wissen, ohne seine Dämonin aus den Augen zu lassen.

Die Frau mit den ungewöhnlich leuchtenden Augen zuckte bloß mit den Schultern.

„Er hat sein Essen bekommen und das wars“, erwiderte sie ausdruckslos. Samael seufzte.

Keine Ahnung was er sich dabei gedacht hatte, ausgerechnet diese Frau zu ihm zu schicken.
Vanita, ein Name den Samael selbst ihr gegeben hatte, war noch kälter und gefühlloser, als Nilas, was kaum zu glauben war. Samael hatte sie damit beauftragt, weil sie sich als eine der wenigen wohl nicht von Azrael einschüchtern lassen würde. Gleichzeitig hatte er gehofft, dass Azrael durch ihr Desinteresse zum nachdenken angeregt wurde. Dabei hatte er aber nicht bedacht, dass es nahezu unmöglich war, ein Gespräch mit ihr zu führen.

„Würdest du dich auch weiterhin darum kümmern?“, fragte er, ohne sich etwas von seinen Gedanken anmerken zu lassen.

„Ist das ein Befehl?“, antwortete Vanita, auch weiterhin mit einer Eiseskälte in der Stimme.

Lange sah Samael sie einfach nur an. Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Frau. Sie war seine Vollstreckerin, ein unglaubliches Talent was das Töten und Foltern anging, wo ihr diese Gefühlslosigkeit wohl gerade recht kam. Doch ihre Züge hatten sich im Laufe der Zeit nicht entwickelt, sondern waren von Anfang an vorhanden gewesen. Mit persönlichen Fragen kam man bei ihr nicht weit und Zeit verbringen wollte sie auch mit niemandem. Sie war immer und ausnahmslos allein, was einem vielleicht Sorgen bereiten sollte, doch komischerweise hatte sie noch nie Unsinn angestellt. Sie führte einfach jeden Befehl ohne Wenn und Aber aus, als ob sie kein Lebewesen wäre, sondern eine Maschine.

Früher hatte der Teufel dies sehr wohl geschätzt, doch seit seine Frau auf der Bildfläche erschienen war, begann er vieles zu hinterfragen. Und wenn er Vanita in die Nähe von Azrael ließ, konnte er ganz praktisch alle beide im Blick behalten. Am Ende dieses Gedankens stieß Samael einen langen Seufzer aus.

„Ja, Vanita, das ist ein Befehl. Ab sofort bringst du dem Erzengel seine Mahlzeiten und du behältst ihn im Auge. Ich will nicht, dass es ihm doch gelingt auszubrechen“, lautete sein Machtwort, worauf die Dämonin sich vor ihm verneigte und wortlos den Thronsaal verließ. Wortlos sah Samael dabei zu, wie sie mit ihrer katzenhaften Eleganz verschwand. Sie erinnerte einen unwillkürlich an einen Geparden. Deutlich sah man die Stärke in ihren Gliedern, wodurch man instinktiv wusste, dass man sich nicht mit ihr anlegen sollte. Samael fürchtete, dass Azrael dumm genug war, es zu riskieren. Hinzu kam, dass Vanita absolut keine Geduld besaß. Sie war durchaus dazu in der Lage, jemanden zu töten, wenn dieser ihm auch nur die Zunge herausstreckte. Und dass Azrael es liebte zu provozieren, war nun wirklich kein Geheimnis. Verdammt, hoffentlich ging das nicht nach hinten los...

 

 

Kapitel 2

 

Vee hatte schon die Befürchtung, die Herrscherin würde sie ansprechen wollen, doch die schwarzgeflügelte Dämonin ging kommentarlos an ihr vorbei. Ein Glück. Schon schlimm genug, dass der Teufel andauernd versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Momentan war er besonders schlimm, weshalb sie davon ausging, dass es eben an jener Dämonin lag.

Vee mochte keine Seele besitzen, aber durchaus ein Herz. Sie war gewiss kein Roboter, so wie alle in der Unterwelt vermuteten, doch sie sah einfach keinen Reiz daran, persönliche Verbindungen zu entwickeln. Warum in aller Welt sollte sie dies auch tun wollen? Unterhaltungen nervten sie, sowie andere soziale Komponenten. Sie wollte nicht wissen, was jemand anderem durch den Kopf ging und sie wollte auch nicht, dass irgendjemand die Gelegenheit bekam, sie besser einzuschätzen. Ihre Existenz bestand darin, des Teufels Befehle auszuführen und genau dies tat sie, und zwar ohne Ausnahme.

Es hatte keinen Zweck eine Bitte an sie zu richten, man musste ihr schon ganz klare Anweisungen geben. Vee störte sich nicht daran, dass sie diesen Erzengel im Auge behalten sollte. Sie hoffte bloß, dass er keine all zu große Quasselstrippe war, ansonsten würde sie sich Abhilfe mit ihrem MP3-Player verschaffen müssen. Entschlossen von ihrem Vorhaben stapfte Vee in die Richtung der Zellen, wo sie den Engel des Todes schnell ausfindig gemacht hatte.

Kurz hielt sie inne, um den Mann einmal genauer zu betrachten, welche Mühe sie sich vorher überhaupt nicht gemacht hatte. Der riesige Engel lag bäuchlings auf seiner Pritsche, hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, von denen Vee irritierenderweise ganz genau wusste, dass sie tiefschwarz waren, wie zwei Onyxe. Es erweckte den Eindruck, als würde der Engel schlafen, wäre da nicht die Tatsache, dass er seine riesigen Schwingen in die Luft streckte und hin und wieder leicht mit ihnen flatterte.

Man hatte ihm Kleidung zum wechseln gegeben, weshalb er in diesem Moment ein schwarzes Shirt und eine ebenso schwarze Jeans trug, was ausnahmslos erkennen ließ, wie muskulös dieser Mann eigentlich war. Vollkommen nüchtern betrachtete Vee sein scharfkantiges Gesicht mit der Adlernase und den hohen Wangenknochen. Er war keine klassische Schönheit, sondern eher... außergewöhnlich und interessant. Dass der Tod sein Markenzeichen war, erkannte man auch an der bleichen Haut und den schwarzen Haaren, die ihm glänzend und in leichten Wellen bis ans Kinn fielen.

Vee entdeckte das Tablett mit dem Essen auf dem Tisch in der Zelle, weshalb sie wohl keine andere Wahl hatte, als das Verlies zu betreten. Der letzte, der diesen Raum betreten hatte, war mit einem Arm wieder herausgekommen, der bis auf den Knochen von Engelsfeuer zerfressen worden war. Vee hatte keine Angst davor, dass ihr das Gleiche geschehen würde. Bevor es so weit kam, würde sie Azrael zu Boden schicken und zwar schneller, als er gucken konnte.

Es knirschte und rasselte leise, als die Dämonin sich Zugang zu der Zelle verschaffte. Azrael hatte kaum etwas gegessen und schlug die Augen auf, als er hörte, wie jemand hier auftauchte. Voller Erstaunen stellte er fest, dass es dieselbe Dämonin war, die ihm sein Essen gebracht hatte. Bisher hatte er keinen Dämon ein zweites Mal zu Gesicht bekommen. Eigentlich war das gar nicht mal so schlecht, da die Frau ihm ja noch immer eine Antwort schuldete.

„Du hast meine Frage, von vorhin, nicht beanwortet“, grummelte er jetzt und verfolgte sie mit seinen finsteren Blicken. Sehr zu seiner Verärgerung antwortete sie ihm auch jetzt nicht.

„Ich rede mit dir, Weib“, knurrte er laut, doch die Dämonin ignorierte ihn. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen inspizierte sie das Tablett auf dem Tisch, dann nahm sie es in die Hand und machte Anstalten, die Zelle wieder zu verlassen. Azrael hasste es wie die Pest, wenn er ignoriert wurde, was schon in „jungen“ Jahren der Fall gewesen war, weshalb er leichtfüßig von der Pritsche sprang und sich direkt vor die Zellentür stellte, um der Frau mit der katzenhaften Eleganz den Weg zu versperren. Dadurch wurde deutlich, welch Größenunterschied sie trennte. Die Dämonin mochte mit ihren über einen Meter achtzig – dank der Stiefel – vielleicht nicht klein sein, dennoch reichte sie dem Todesengel gerade einmal bis zur Schulter. Noch immer mit dem Tablett in den Händen sah sie vollkommen ausdruckslos zu ihm auf.

„Bist du geistig zurückgeblieben? Antworte gefälligst!“, grummelte Azrael, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt. Vee fragte sich, warum der Mann sie denn nicht einfach ignorierte. Vielleicht hatte er Langeweile, dachte sie, schließlich hatte er hier absolut keine Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Doch die sollte er auch gar nicht bekommen. So wie sie das verstanden hatte, war er nämlich hier, um seine Ansichten zu überdenken und dies konnte er nicht, wenn er sich mit allem möglichen ablenkte. Vee geriet in Versuchung ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, hielt sich aber zurück, da dies unweigerlich ein Gespräch nach sich ziehen würde. Und so zog sie einfach nur eine schmale Augenbraue in die Höhe und entgegnete, ohne jedes Gefühl in der Stimme: „Du etwa?“

Da Azrael nicht mit solch einer Antwort gerechnet hatte, starrte er sie perplex an. Vee hatte es schon befürchtet, denn nun, wo sie ihm geantwortet hatte, sah er die Chance, noch mehr aus ihr herauszubekommen. Ein fataler Irrglaube, denn sie war nicht bereit, ihm diesen Gefallen zutun.

„Nein, natürlich nicht“, brummte er, während er ihr auch weiterhin den Weg versperrte. „Du hast mir noch nicht geantwortet. Was meintest du vorhin mit deinen Worten?“

Vee bemerkte, dass ihre Erinnerung richtig war, die Augen des Engels waren tatsächlich tiefschwarz und ließen nicht einmal die Pupillen erkennen. Vielleicht mochte es einen recht unheimlichen Eindruck machen, doch Vee fand es ungeheuer faszinierend. Sie fand es ungewöhnlich, dass man in dieser unendlichen Schwärze ganz genau jedes Gefühl und jede Reaktion erkennen konnte. So etwas fiel ihr für gewöhnlich überhaupt nicht auf.

„Das, was ich gesagt habe“, ließ sie sich nun zu einer Antwort hinreißen, dann schob sie ihn mühelos zur Seite, um die Zelle wieder verlassen zu können. Die Verwirrung stand ihm nur all zu deutlich ins Gesicht geschrieben, worüber sie beinahe hätte schmunzeln können. Aber nur beinahe.

Blitzschnell war sie aus dem Verlies geschlüpft, wodurch Azrael gar nicht erst die Chance bekam, sie aufzuhalten.

„Kommst du wieder?“, fragte er jedoch rasch, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Vee machte sich natürlich nicht die Mühe ihm zu antworten, stattdessen sah sie über ihre Schulter zu ihm zurück. Und auf das, was er in ihren Augen erkennen mochte, hatte sie eh keinen Einfluss.

 

Sie kam wieder. Azrael hätte es nicht für möglich gehalten, doch eine gefühlte Stunde später stand die Dämonin wie aus dem Nichts heraus wieder vor seiner Zelle.

Azrael würde es sich mit Sicherheit nicht anmerken lassen, doch irgendwie freute er sich darüber. Er würde nicht bestreiten, dass diese Frau hübsch anzusehen war, und auch wenn sie nur eine kleine Schlampe von Dämonin war, so war er immer noch ein Mann und sie eine Frau. Und in diesem Moment hatte er ja ohnehin nichts zutun.

„Sind deine Worte eigentlich immer so kryptisch?“, fragte er, nachdem sie sich auf einem kleinen Hocker niedergelassen hatte, den er vorher noch überhaupt nicht bemerkt hatte.

Vee hatte keine Ahnung, was sie ihm antworten sollte, weshalb sie einfach nur nichtssagend den Kopf neigte. Dies konnte er so interpretieren, wie auch immer er wollte.

„Warum redest du nicht?“, versuchte Azrael es erneut, wenn auch ziemlich hilflos. Wie sollte er eine Dämonin ärgern, provozieren und beleidigen, wenn diese nicht einmal reagierte und scheinbar nicht einmal ein lebendes Wesen mit Gefühlen war?

„Wieso sollte ich das tun?“, stellte die Frau mit der rauchigen Stimme die ausdruckslose Gegenfrage. Vee bemerkte, dass es den Mann einiges an Geduld kostete, in ihrer Nähe zu sein und sah, wie er sichtlich genervt die Augen verdrehte.

„Weil normale Leute so etwas nun einmal tun“, schnappte er bissig. Vee antwortete ihm nicht darauf, denn sie hatte selbst schon vor langer, langer Zeit begriffen, dass sie alles war, außer normal. Selbst ihr Schweigen schien dem Engel ungeheuer auf die Nerven zu fallen und Vee nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, dass sie diese Tatache irgendwie amüsierte. Samael hatte ihr zwar bloß befohlen, ihn nicht aus den Augen zu lassen, doch er hatte doch mit Sicherheit nichts dagegen, wenn sie den Engel ein wenig provozierte und ein kleines bisschen schlechter behandelte. Schließlich war dieser Mann ein ungehobelter Klotz, der pöbelte und einen beleidigte. Sein respektloses Verhalten war schlimmer, als so mancher Dämon. Vee wusste nicht, warum sie ihn das durchgehen lassen sollte. Für einen Erzengel war dies ein überraschend schlechter Mann.

Weil sie ihm auch dieses Mal nicht antwortete, stieß Azrael ein langes und resigniertes Seufzen aus.

„Dann verrate mir wenigstens, wie du heißt“, verlangte er, was man beinahe schon als Bitte durchgehen lassen konnte. Dieses Mal zögerte Vee nicht lange.

„Du kannst mich nennen, wie du willst.“
Azrael stutzte und stieß dann ein wutentbranntes Schnauben aus.

„Was soll das denn schon wieder heißen?“
Sein Gesicht wurde rot vor Zorn, was so lustig aussah, dass Vee das Zucken ihrer Mundwinkel nicht auch nur ansatzweise unterdrücken konnte. Azrael entging es leider nicht, weshalb sein Fauchen sogleich noch lauter wurde.

„Was ist denn daran so lustig?“, schnaubte er und trat an die Gittertür, um die dicken Streben mit den Händen zu umklammern. Auf der Stelle verbannte Vee jede Regung aus ihrem Gesicht.

„Du“, sagte sie bloß und wandte dann entschlossen den Blick von ihm ab. Sie hoffte, dass ihm somit klar werden würde, dass sie keinerlei Interesse an einem Gespräch hatte. Leider nahm der Engel keine Rücksicht darauf.

„Du musst doch einen Namen haben“, grummelte er mit einem deutlichen Rumoren in der Brust. Vee überlegte eine Weile, ob und was sie darauf antworten sollte und entschied sich zögerlich für die Wahrheit. Was konnte schon dabei sein?

„Ich wurde ohne Namen geboren. Samael hat mich immer mit „du da“ angesprochen, mittlerweile nennt er mich Vanita. Aber das mag ich nicht. Einige Dämonen nennen mich Vee und das ist okay“, erklärte sie, wobei ihre Stimme selbst jetzt noch monoton klang. Dieses Verhalten war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es einfach nicht mehr ablegen konnte. Auch nicht für den kleinsten Augenblick.

„Einfach nur Vee?“, murmelte Azrael und ließ das Gitter los. Eine Namenlose also. Solche Dämonen waren eher selten. Keiner wusste, wo sie herkamen, denn niemand hatte sie gewandelt oder ihnen die Seele entzogen. Nun war ihm auch klar, warum diese Frau regelrecht kalt war. Namenlose bauten grundsätzlich keine Verbindungen auf und wurden aufgrund ihrer Emotionslosigkeit gerne als Vollstrecker eingesetzt. Selbst in Amarya gab es solch Namenlose, die immer zu Soldaten ausgebildet wurden. Auch Nilas gehörte zu den Namenlosen, doch diese Erinnerung stammte aus einem anderen Jahrtausend.

„Einfach nur Vee?“, sagte er nun laut. „Warum gibst du dir nicht selbst einen Namen? Einen, der dir gefällt?“

Nun wo Azrael wusste, womit er es hier zutun hatte, konnte er ein Gespräch darauf ausrichten. Doch dies gestaltete sich schwieriger als gedacht. Wieder neigte Vanita – welch ungewöhnlicher Name – den Kopf.

„Warum? Samael gab mir einen Namen“, antwortete sie, wobei es wirklich den Anschein machte, als würde sie überhaupt nicht verstehen, wozu sie denn überhaupt einen Namen brauchte. Azrael wusste, es war unnötig dies zu sagen, dennoch erwiderte er: „Ja, aber er gefällt dir nicht.“
Stumm erwiderte Vee seinen Blick, doch er hatte nichts anderes erwartet. Namenlose waren für normale Konversationen nicht geschaffen, sie reagierten auf bloße Befehle. Bei diesem Gedanken wurde ihm etwas klar.

„Hat Samael dir befohlen, mir auf die Nerven zu gehen?“, fragte er geradeheraus. Das würde zu diesem Idioten passen. Ihm einfach eine Namenlose aufs Auge zu drücken, damit diese Azrael den letzten Nerv raubte und er endlich das sagte, was der Teufel hören wollte. Eigentlich sogar verdammt clever. Erneut neigte Vanita den Kopf, weshalb er davon ausging, dass sie ihm nicht darauf antworten würde, doch dann teilten sich ihre blutroten Lippen, an denen Azraels Blick viel zu lange hängen blieb.

„Der Sire befahl mir, dich nicht aus den Augen zu lassen“, sagte sie. Azrael stieß einen dumpfen Laut aus und schwieg. Sich mit einer Namenlosen zu unterhalten war zu anstrengend, als dass er dies wirklich in Erwägung gezogen hätte. Er entfernte sich von der Zellentür und ließ sich auf seine Pritsche fallen, wobei er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, seine Schwingen hoch oben zu halten. Außer dieser Frau bekam ihn hier eh niemand zu sehen.

„Du könntest schon längst hier heraus sein.“
Die leisen gemurmelten Worte drangen kaum bis zu ihm durch, auch wenn er sich sicher war, eine Frauenstimme vernommen zu haben. Er sah zu Vanita, da nur sie das gesagt haben konnte, doch sie hatte den Blick abgewandt und schien ihre Umgebung im Auge zu behalten. Dadurch war Azrael sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich was gehört hatte, oder ob ihm sein Verstand nur einen Streich gespielt hatte.

Schweigend starrte er die Frau an. Dafür, dass sie nur eine Dämonin war, ein niederes und unreines Wesen, fand er sie ausgesprochen und unerwartet hübsch. Dass er eine Ausgeburt der Hölle schön finden würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Er schob dies jedoch auf die Umstände. Um seine Arbeit brauchte er sich im Moment ja keine Gedanken machen aber mit irgendetwas musste er sich ja beschäftigten. Da kam ihm eine schöne Frau wohl gerade recht. Vanita schien unter den Namenlosen jedoch eine Ausnahme zu sein, denn Azrael hatte noch keinen von dieser Sorte gesehen, der Make-Up trug oder Wert auf seine Kleidung legte. Zugegeben, die Möglichkeit war weit mehr als nur gering, doch vielleicht hatte diese Frau ja Spaß daran alle glauben zu lassen, dass sie tatsächlich eine emotionslose Maschine war? Vielleicht gingen ihr ja einfach alle auf die Nerven?

Azrael spielte mit dem Gedanken, diese Frau ein wenig zu provozieren. Irgendwann würde sie schon eine impulsive Reaktion zeigen.

„Du bist eine hübsche Frau“, sagte er deswegen einfach, nur um zu testen, wie sie reagierte. Augenblicklich schoss ihr Kopf in seine Richtung. Ihre Augen funkelten so seltsam und sie schien ihm wirklich darauf antworten zu wollen, dann entschied sie sich aber wohl um, da sie die Lippen zusammenpresste und ruckartig wieder wegsah. Breit grinsend nutzte Az eine seiner Schwingen, um ihr einen kräftigen Luftzug zukommen zu lassen.

„Na los, raus damit, was willst du sagen?“, bohrte er weiter, worauf die Dämonin doch glatt ein Schnaufen ausstieß.

„Das Kompliment eines Erzengels hat keinen Wert“, meinte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an. Pure Heiterkeit überkam den Todesengel, was sich mit einem schallenden und durch und durch männlichen Lachen äußerte.

„Sieh an, du kannst ja doch ganz normal reden“, lachte er. Vee ließ sich selbstverständlich nicht das geringste anmerken, doch das Lachen dieses Mannes zog sie in den Bann. Der tiefe Laut klang rein und fröhlich und wollte so gar nicht zu einem Todsengel passen. Wie unerwartet...

„Wenn du jemandem davon erzählst, töte ich dich“, erwiderte sie todernst und ohne zu zögern. Es hätte ihr klar sein müssen, dass der Engel sie daraufhin belächeln würde.

„Versuch es ruhig, Kleines“, raunte er ihr zu. Doch vielleicht hätte er nicht so arrogant sein sollen, denn er blinzelte bloß, da stand sie auch schon in der Zelle, direkt vor ihm und ihm einen Dolch an die Kehle haltend.

„Wenn ich gewollt hätte, wärst du jetzt tot“, meinte sie völlig ausdruckslos. Ein weiterer Sekundenbruchteil verging, dann saß sie auch schon wieder auf dem kleinen Hocker außerhalb des Verlieses. Azrael glaubte, dies sei nur Einbildung gewesen, ein bloßes Trugbild, doch das dünne Rinnsal Blut, welches ihm über die Kehle lief und vom Kragen seines Shirts aufgesogen wurde, bewies ihm eindeutig das Gegenteil.

„Wie hast du das gemacht?“, flüsterte er und fasste sich an den Hals. Ungläubig starrte er auf das Blut an seinen Fingern. Azrael dachte immer, er sei schon hinter das Geheimnis der dämonischen Fähigkeiten gekommen, doch anscheinend gab es noch viel, sehr viel mehr, was sich seinem Verstand noch nicht erschlossen hatte.

Daraufhin war es das erste Mal, dass Vanita eine durch und durch lebhafte Reaktion erkennen ließ. Für wenige Augenblicke war die Überheblichkeit in ihren grünen Augen zu sehen und ein arrogantes Lächeln auf ihren Lippen.

„Wer weiß?“, hauchte sie, dann kehrte die Kälte in ihr Gesicht zurück und sie hatte den Blick wieder abgewandt.

 

Eine lange Zeit lang stand Camael am Ende des Flures, von wo aus sie beobachtete, wie Vanita den Erzengel in der Zelle nicht aus den Augen ließ.

Vollkommen ausdruckslos saß sie auf einem Hocker, gegen die schmutzige Wand in ihrem Rücken gelehnt und die Arme unter dem vollen Busen verschränkt. Sie sah aus, als wäre sie nur eine Statue, so regungslos verharrte sie, doch ihr regelmäßiges Blinzeln verriet, dass sie durch und durch am leben war. Sie tat genau das, was Camaels Mann ihr befohlen hatte, nämlich Azrael nicht aus den Augen lassen. Camael war nur selten mit Vanita in Kontakt gekommen, was aber nicht sonderlich verwunderlich war, da Samael Herrscher über tausende von Dämonen war, es war einfach unmöglich sie alle einmal kennenzulernen. Doch die wenigen Begegnungen mit dieser Vollstreckerin hatten genügt, um des Teufels Frau zu beeindrucken.

Vanita, auch von Camael nur Vee genannt, führte ohne zu zögern jeden Befehl aus, sei er noch so dumm und lächerlich. Ihre Loyalität war bemerkenswert und schon öfters war Camael der Gedanke gekommen, dass diese Frau einen unglaublich zuverlässigen Bodyguard abgeben würde. Sie hatte immer geglaubt, dass Callista, Michaels Frau, eine unglaublich fähige Untergebene war, doch Vanita stellte sie um ein ganzes Stück in den Schatten.

Vee war eine sehr seltsame Frau, still und nüchtern und teilweise auch sehr grausam. Doch Camael hatte das intuitive Gefühl, dass weitaus mehr in dieser Frau steckte, als nur eine blutrünstige Killermaschine. Dieses Gefühl wurde allein schon vom Äußeren dieser Frau ausgelöst. Sie könnte eine heiße Latina sein, wäre da nicht ihr Körperbau, der nicht schmal und grazil war, sondern muskulös und geschmeidig, mit Kurven einer Amazone.

Camael musterte sie kurz aus der Entfernung. Ihr hübsches Gesicht, von den dichten schwarzen Locken umrahmt, konnte einen schnell ablenken, zumal ihr Schmollmund wohl der Traum aller Männer war. Aber nahm man ihren Körper unter die Lupe, musste man erst einmal schlucken. Ihre Arme erschienen einem schmal, waren aber deutlich gestählt von ihren Kämpfen.
In Camael kam Neid auf, als sie den großen Busen in Augenschein nahm, der mit Sicherheit Körbchengröße Doppel-D hatte. Ihr Brustkorb ging in eine schmalere Taille über und die Herrscherin wusste nur all zu genau, dass unter der Haut ihres Bauches Muskeln lauerten, die man nicht sah und deshalb schnell mal vergaß. Ihre Hüften wurden wieder breit und somit wunderbar weiblich und sinnlich und von ihren langen Beinen wollte Camael gar nicht erst anfangen.

Gegen diese Frau fühlte sie sich wie eine kleine Maus, die man mit Leichtigkeit umpusten könnte, wären da nicht ihre Schwingen.

Vanitas Montur bestand fast immer aus engem Leder, welches sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, was sie erst recht so aussehen ließ, als wäre sie eine Raubkatze. Heute trug sie einen Overall, der ärmellos war und einen tiefen V-Ausschnitt besaß, wodurch man unweigerlich wieder auf ihre weiblichen Attribute starren musste. Sie hatte die Beine ausgestreckt und überkreuzt, worauf Camaels Blick auf ihre Füße fiel, die mal wieder in mörderischen Stiefeln steckten.

Genau dieser Aufzug war es, der in ihr diesen Verdacht ausgelöst hatte. Vanita war kein gefühlsloses Monster. Camael glaubte, dass sie eine vollblütige Frau war, die genau wusste, was sie wollte. Und sie wollte nicht, dass man ihr auf die Nerven ging. Sie wollte in Ruhe gelassen werden und bisher hatte Camael ihr diesen Gefallen auch getan. Oh, sie wollte sich diese Dämonin mit Sicherheit nicht zur Feindin machen! Doch Camael ahnte, dass der Tag bald kommen würde, an dem sie Vanita näherkam, als ihr lieb gewesen wäre. Doch darüber würde sie sich ein anderes Mal Gedanken machen.

Camael setzte sich in Bewegung und ging zielstrebig auf die Dämonin und die Zelle zu, die diese überwachte. Dabei hallten ihre energischen Schritte laut von den steinernen und von Fackeln erhellten Wänden wider.

„Vanita, begib dich bitte umgehend zu Samael. Er hat einen Auftrag für dich“, verkündete sie laut, noch bevor sie die Untergebene überhaupt erreicht hatte. Vanita richtete ihren Blick auf die Herrscherin, wobei es ihr widerstrebte, Azrael aus den Augen zu lassen. Denn der hatte sie die gesamte Zeit über ebenfalls herausfordernd angestarrt, was die Blutlust in ihr kitzelnd zum leben erwacht hatte. Doch Vee führte jeden Befehl aus und erhob sich aus diesem Grund auch, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Sie verneigte sich vor ihrer Herrscherin, die sie nicht minder respektierte als Samael, und machte sich ohne Umschweife auf den Weg in den Thronsaal.

Camael sah ihr nur kurz nach, richtete ihren Blick dann aber auf Azrael, der scheinbar alles andere als begeistert darüber war, dass sie Vanita fortgeschickt hatte.

„Mal wieder schlechte Laune, Erzengel?“, grüßte sie provokant und lehnte sich gegen die Zellentür. Auf ihren Lippen breitete sich ein Grinsen aus, als Azrael sie anknurrte. Seine bloße Reaktion war ihr Antwort genug und sie konnte es sich nicht verkneifen, noch ein wenig frecher zu werden.

„Na los, du kannst ruhig fluchen. Wird ohnehin Zeit, findest du nicht?“, stichelte sie.

In all den Wochen, die der Erzengel nun schon hier festsaß, hatte ihn tatsächlich noch niemand auch nur ein einziges Mal fluchen hören. Eigentlich eine vernünftige Reaktion für einen Erzengel, doch diese Umstände entsprachen alles andere als einem ranghohen Engel aus Amarya. Selbst Michael hatte mit Leidenschaft geflucht, nachdem er auf der Erde und unter den Menschen gelandet war. Dass Azrael sich dies noch nicht traute zeugte davon, dass er sich nicht damit abfinden wollte, hier zu sein. Er war ein Erzengel und wollte seine Würde unter Garantie nicht verlieren. Leider hatte er dies schon, zumindest in den Augen von Michael und Samael.

„Auf ein Wort, Azrael“, verkündete sie deswegen, schlagartig ernst. Sie richtete sich auf und verschränkte die Arme, so wie Vanita gerade noch.

Der Erzengel schwieg voller Beharrlichkeit, was Camael die Chance gab, ganz in Ruhe und ohne Unterbrechung fortzufahren.

„Wie lange willst du noch schmollen, hm? Willst du nicht so langsam mal nach Hause? Die Kinder fragen schon nach dir, wie Calli mir erzählt hat“, erzählte sie beiläufig, worauf Azrael große Augen bekam und sie schockiert anstarrte.

„Calli? Callista? Soll das heißen, diese Frau ist in Amarya?“, flüsterte er fassungslos. Camael hatte gewusst, dass ihn das aufregen würde und es deshalb überhaupt erst erwähnt. Dabei stimmte das nicht so ganz. Michael hatte ihr davon erzählt, nicht Calli, aber das musste Azrael nicht erfahren.

Sie zuckte mit den Schultern, während sie den Engel des Todes ansah.

„Nur einige wenige Male. Eure Geschwister haben sich mit ihr abgefunden und akzeptieren sie als Michaels Frau. Zadkiel durfte sogar ihre Erinnerungen durchstöbern. Michael und sie leben jetzt in Manhattan, wenn du zurückkehrst, wird also keine Dämonin in deiner Nähe sein“, meinte sie im Plauderton. Dennoch war ihr nur all zu deutlich bewusst, welch Hiobsbotschaft dies für den Mann sein musste. Er lag auf seiner Pritsche und setzte sich so rasant auf, dass ihm vermutlich sogar ein wenig schwindelig wurde. Er sprang förmlich auf und trat an die Zellentür, um deren Streben mal wieder zu umklammern.

„Was? Aber wenn Zadkiel sie gelesen hat, dann weiß er doch von ihrer Tat!“, stieß er durch zusammengebissene Zähne aus. Ein eiskalter Schauer kroch ihm über den Rücken, als Camael lächelte und ihn mit einem Ausdruck in den Augen bedachte, der von Überlegenheit zeugte.

„Sie haben einen anderen Dämon zur Rechenschaft gezogen, womit das Thema Camael endgültig vom Tisch ist. Es liegt ganz allein an dir, Azrael. Wir lassen dich jederzeit gehen, aber du musst deinen Frieden mit Samael und seinen Dämonen schließen. Demnächst werden in Amarya neue Verhandlungen stattfinden und Samael und ich werden auch da sein. Du kannst entweder deinen Teil dazu beitragen oder aber du versauerst hier und regst dich Ewigkeiten lang über alles auf. Deine Entscheidung.“

Sie trat von der Zelle zurück um Azrael somit Bedenkzeit zu geben, doch der stieß wie erwartet ein wildes Knurren aus.

„Willst du mich verarschen? Das können sie unmöglich machen!“, brüllte er schon fast. Beinahe hätte Camael wieder gelächelt.

„Wach auf, Azrael, die Zeiten haben sich längst geändert. Ihr Engel seid keine Heiligen und auch nichts besseres als Dämonen. Gut oder Böse liegt immer im Auge des Betrachters und im Grunde genommen stammen alle unsere Kräfte aus der gleichen Quelle. Ja, es gibt Grenzen, da magst du völlig Recht haben, aber diese Grenzen müssen im Augenblick neu gezogen werden. Du kannst dabei mitwirken, aber wie gesagt, im Grunde brauchst du nur Michael und Callista zu verzeihen.“

Azrael tobte lautstark als Camael sich, ohne auf eine Antwort zu warten, abwandte und den Erzengel stehen ließ. Samael hatte keinen Nerv gehabt um selbst herzukommen, deswegen hatte sie angeboten, sich darum zu kümmern und dem Erzengel erneut ins Gewissen zu reden.

Nun lag ihre Hoffnung auf Vanita, die vielleicht ebenfalls ihren Teil dazu beitragen konnte.

 

 

 

Kapitel 3

 

Ohne zu zögern schnitt Vanita dem Mann, der vor ihr kniete, die Kehle durch. Blut spritzte und traf sie sowohl am Hals als auch auf der Brust, doch die Frau störte sich nicht daran. Sie war schon zu oft in dieser Situation gewesen, als dass sie noch darauf reagiert hätte.

Samaels Auftrag war gänzlich einfach gewesen, was in Vee ein dumpfes Gefühl, ähnlich einer Vorahnung hervorgerufen hatte. Anscheinend hatte der Teufel sie von Azrael fortlocken wollen, doch warum war ihr noch nicht ganz klar. Hatte man sich den Engel des Todes vorknöpfen wollen? Oder ihn möglicherweise freilassen? Dass Camael im Gefangenentrakt aufgetaucht war, war unüblich, also schien irgendetwas gewesen zu sein. Vee verstand jedoch nicht, warum sie sich überhaupt Gedanken darüber machte. Sie war im Weg gewesen und Samael hatte ihr deshalb diesen Kinderkram aufgehalst.

Der Mann vor ihr stieß ein Gurgeln aus und kippte zur Seite weg, doch sie beschäftigte sich nicht länger damit, sondern richtete sich auf, wischte ihre Klinge an ihrem Oberschenkel sauber und schob das Messer dann zurück ins Heft, an ihrem Unterschenkel.

Ihr Opfer war ein Terrorist, der in Ohio gewütet hatte. Für gewöhnlich kümmerten sich weder Engel noch Dämonen um solche Menschen, da der Allmächtige den Menschen einen freien Willen geschenkt hatte. Ihre bösen Taten waren mit niemandem in Verbindung zu bringen, außer ihrem eigenen gebrochenen Ego und Verstand. Doch heute war er das perfekte Opfer gewesen, um Vanita nur irgendwie abzulenken. Es war nicht so, dass das Quälen und Töten ihr Spaß bereitete, doch sie konnte nicht leugnen, dass es manchmal ungeheuer befriedigend war. Doch vielleicht lag dies nur an den Idioten, von denen sie tagtäglich umgeben war. Nicht alle Dämonen waren so fähig wie sie, Callista oder Nilas. Einige von ihnen waren so unfähig, dass sie andauernd in Schwierigkeiten gerieten und gerettet werden mussten. Aber es gab auch einige Hoffnungsschimmer, so zum Beispiel Béla, der zwar noch ausgesprochen jung war, aber von jedem geliebt wurde. Selbst Vanita musste gestehen, dass sie den Jungen süß fand. Er war wie ein kleiner Welpe, den man einfach nicht schutzlos lassen konnte. Selbstverständlich würde niemand von ihrer Sympathie gegenüber ihm und noch einigen anderen Dämonen erfahren. Sie hatte schließlich einen guten Ruf zu verlieren.

Ihr seltsames Gefühl verstärkte sich jedoch, als sie wieder an ihre Herrscherin denken musste. Hin und wieder war in deren Augen ein Ausdruck zu erkennen, der ihr ganz und gar nicht behagte. Sie schien zu ahnen, dass Vee so ihre kleinen Geheimnisse hatte. Hoffentlich käme sie nicht auf den Gedanken, dass ihre Untergebene nicht doch ein paar Gefühle empfinden konnte...

Vanita betrachtete kurz das Chaos um sich herum.

Gut fünfzig Menschen waren heute ums Leben gekommen, man hatte keinem von ihnen mehr helfen können, selbst wenn die Sanitäter schon eingetroffen wären. Vee war anscheinend die erste hier gewesen. Doch nun, wo der Kerl vor ihr tot war, konnte sie wieder von hier verschwinden. Sie war für diese Sauerei hier nicht zuständig, darum würden sich die Menschen kümmern.

Ohne schlechtes Gewissen machte Vee sich auf den Weg zurück in die Unterwelt. Sie war so neugierig und gleichermaßen auch misstrauisch, dass sie sich gar nicht erst in ihr Reich zurückzog, um sich zu waschen und umzuziehen, sondern direkt in den Gefangenentrakt marschierte, um dort nach dem Erzengel zu sehen. Sie würde sich dort jedoch nicht lange aufhalten können, denn Samael wartete mit Sicherheit schon darauf, dass sie ihm von ihrer Tat berichtete.

Es dauerte nicht lange, da hatte Vee die entsprechende Zelle erreicht. In ihr machte sich seltsame Erleichterung breit als sie sah, dass Azrael noch immer dort gefangen war und auf seiner Pritsche saß, die Arme auf den Oberschenkeln aufgestützt und den Kopf gesenkt. Er sah betrübt aus, seine Anspannung war jedoch überdeutlich und bestätigte ihren Verdacht, dass Camael nicht ohne Grund bei ihm gewesen war. Azrael hatte ihre Schritte schon aus der Entfernung gehört und hob nun den Kopf. Sein wütender Blick traf sie unvorbereitet, doch als er sie erkannte, schienen seine Züge seltsam weich zu werden.

„Ach du bist es nur“, murmelte er leise, wobei er wohl eher zu sich selbst sprach, als zu ihr.

Vee neigte den Kopf und fragte sich, was das heißen sollte. Hatte er jemand anderes erwartet? Da sie nicht antwortete, nahm der Engel sie kritisch unter die Lupe.

„Hast du ein Massaker angerichtet?“, fragte er barsch, womit wieder deutlich wurde, wie sehr er die Dämonen eigentlich verabscheute. Nicht ich hab das Massaker angerichtet, sondern dieser Spinner, dachte Vee leicht gereizt, sprach es aber nicht aus. Stattdessen fiel ihr etwas gänzlich anderes auf. Sie blickte kurz an sich hinunter, nahm all das Blut an sich durchaus zur Kenntnis, störte sich aber auch weiterhin nicht daran. Es war offensichtlich, dass sie jemanden getötet hatte, was sie unweigerlich dazu brachte sich zu fragen, warum dieser Mann so heftig darauf reagierte. Sie trat an die vergitterte Tür, lehnte sich aber dieses Mal nicht dagegen sondern sah Azrael einfach nur eindringlich an. Interessiert neigte sie den Kopf, wobei sie hoffte, dass man ihr die Neugierde nicht an den Augen ablesen konnte.

„Stört dich das Blut?“, fragte sie, wie immer gewohnt ausdruckslos. Niemand würde darauf kommen, dass sie aus eigenem Interesse heraus solche Fragen stellte. Azrael stieß ein Schnauben aus und wandte den Blick ab, womit er ihr seine Verabscheuung deutlich machen wollte, doch Vanita ließ sich davon wohl kaum beeindrucken.

„Es beweist, dass du jemanden auf dem Gewissen hast und das stört mich, ja“, knurrte er, ohne sie anzusehen. Er war jedoch gezwungen den Blick wieder auf sie zu richten, denn in Sekundenschnelle hatte V die Zelle betreten. Da Azrael mittlerweile wusste, dass ihm diese Dämonin durchaus gefährlich werden konnte, war es ihm alles andere als geheuer als sie plötzlich in zielstrebigen Schritten und wie ein Raubtier genau auf ihn zukam und sich dann plötzlich neben ihn auf die Pritsche setzte. Völlig entgeistert starrte Azrael sie an. Was sollte denn das? Rasch hob er seine Flügel an, damit sie sich nicht aus Versehen draufsetzte, doch jetzt hatte er wohl andere Sorgen. Sie neigte schon wieder den Kopf und musterte ihn, wobei sie wohl versuchte seine Reaktionen einzuschätzen.

„Du bist Azrael, Erzengel und Engel des Todes“, sprach sie das offensichtliche aus, doch er konnte mit diesen Worten gerade nicht sonderlich viel anfangen. Was wollte sie ihm damit schon wieder sagen? Konnte sie sich nicht einmal klar ausdrücken?
   „Was?“, stieß er aufgebracht aus und versuchte, von ihr abzurücken. Die Pritsche ließ es jedoch nicht zu, war bei weitem nicht breit und groß genug, um zwei Personen Platz zu bieten. Noch ein kleines Stückchen mehr und sein Hintern würde Bekanntschaft mit dem Zellenboden machen. Nicht, dass er darin nicht schon Erfahrung gehabt hätte...

„Du bist der Engel des Todes. Des Todes, wohlgemerkt. Der Tod ist nichts neues oder unbekanntes für dich“, wiederholte sie, während sie ihn auch weiter musterte. Allmählich dämmerte ihm, was sie ihm damit sagen wollte. Sie schien sich zu fragen, warum der Tod ihm noch etwas ausmachte, wenn genau dieser doch sein Job war. Leise knurrend schüttelte er den Kopf.

„Es gibt Menschen und auch Engel, die den Tod gewiss nicht verdient haben. Nur, weil ich für all die armen und verlorenen Seelen verantwortlich bin, heißt das nicht, dass ich den Tod gut leiden kann“, erwiderte er, worauf Vee in Versuchung geriet die Augen zu verdrehen. Das war ihr schon klar. Aber warum machte ihm der Tod denn noch was aus, wenn er tagtäglich damit zutun hatte?

„Und Dämonen? Die haben den Tod verdient?“, fragte sie plötzlich unerwartet, worauf Azrael erst einmal nichts anderes tun konnte, als sie anzustarren. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, was anderes hatte er auch nicht erwartet, dennoch schwang da etwas in ihrer Stimme mit. Was war das nur? Und warum konnte er es nicht deuten?

„Natürlich“, stieß er knurrend aus, worauf er den Blick rasch abwandte. Wie seltsam... Warum fühlte es sich so an, als hätte er gelogen?

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, lehnte Vee sich zurück.

„Warum gestattest du mir dann, dir so nahe zu kommen?“, fragte sie dann auch schon, wobei sie wieder den Kopf neigte. Fakt war, dass er noch immer neben ihr saß und nicht versuchte, sie loszuwerden. Erneut starrte Azrael sie einfach nur an, weshalb Vee sich in Gedanken eine kleine Notiz machte. Gut zu wissen, wie sie ihn sprachlos machen konnte.

Der Mann knurrte leise und unverständlich vor sich hin und hatte scheinbar nicht die Absicht, ihr darauf antworten zu wollen. Ihr kam der Gedanke, wie hilfreich es gewesen wäre, Gedanken lesen zu können, doch sie starrte ihn einfach so lange und eindringlich an, bis er gar keine andere Wahl mehr hatte, als ihr zu antworten. Vee vermutete, dass er sie anlügen würde, doch damit hatte sie kein Problem. Was waren denn schon ein paar kleine – oder auch große – Lügen?

„Es ist langweilig hier. Das ist alles“, knurrte er am Ende trotzig. Die wahren Worte, die auf seiner Zunge lagen, schluckte er mühsam hinunter. Langweilig war es ihm hier in der Tat, doch der Grund warum er sie nicht angriff, war folgender: Bisher war sie die Einzige, die keine Angst vor ihm hatte und sich in seine Nähe traute. Selbst Camael war außerhalb der Zelle geblieben, weil sie ihm nicht traute. Logisch hatten all die Dämonen Angst vor ihm, er war ja auch ein gottverdammter Erzengel.

Aber Vanita war... angstlos und unerwartet neugierig. Sie war perfekt dafür, um sich hier irgendwie zu beschäftigen. Weil sie nichts dazu sagte, sah Azrael sie aus den Augenwinkeln heraus an.

„Willst du dir nicht all das Blut abwaschen?“, fragte er in eisigem Tonfall. Das Blut an ihren Händen, Armen und an ihrem Hals war mittlerweile getrocknet und bildete eine dicke und hässliche Kruste, was Vanita jedoch nicht weniger ansehnlich machte, wie man wohl meinen sollte. Vee stellte fest, dass Verärgerung in ihr aufkam. Sie erhob sich und ging zur Zellentür, wobei sie aufmerksam und misstrauisch von Azrael beobachtet wurde. Seine stechenden Blicke verursachten in ihrem Nacken ein unangenehmes Prickeln, doch ohne sich davon aus der Ruhe bringen zu lassen überprüfte Vee, ob sich jemand im Gefangenentrakt aufhielt, der sie möglicherweise sehen oder hören konnte. Doch außer den Gefangenen selbst war weit und breit niemand anwesend.

Vee würde sich auf ihre Ohren und ihre Fähigkeiten verlassen müssen, war aber gut genug um ihre Deckung ohne zu zögern fallen zu lassen. Sie drehte sich wieder zu Azrael um, das Gesicht bei weitem nicht mehr so ausdruckslos, wie noch vor wenigen Sekunden. Deutlich sah man ihr die Wut an und mit den verschränkten Armen und der lässigen Haltung wirkte sie ebenfalls alles andere als kalt und emotionslos.

„Okay, Schluss mit diesem Unsinn“, verkündete sie mit ihrer rauen Stimme, aus der ein wenig Arroganz herausklang. Azrael stand der Mund offen, so wenig hatte er damit gerechnet, was er da sah und hörte. War sie überhaupt keine Namenlose?

„Und du willst ein Erzengel sein?“, schnaubte sie herablassend. „Lächerlich! Du benimmst dich wie ein trotziges Kleinkind. Sag ihnen, was sie hören wollen und verschwinde endlich von hier! Wenn du in Amarya bist, kannst du dir genug Gedanken über eine mögliche Rache machen. Oder du schließt endlich deinen Frieden mit uns Dämonen. Hauptsache du hörst auf, dich so armselig zu verhalten. Ist ja abartig!“

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen ging sie zu der kleinen Sanitäranlage, in der Ecke der Zelle, wo sie den Wasserhahn eines kleinen Waschbeckens aufdrehte und sich die Hände und Arme wusch. Azrael hingegen konnte nicht aufhören sie anzustarren. Was lief hier eigentlich? Vee ahnte, dass sie ihren kleinen Ausbruch noch bereuen würde. Mit Sicherheit würde Azrael den Herrschern stecken, dass sie gar nicht mal so still und schüchtern war, wie sie allen weiß machte. Wenn sie vorher nicht schon erwischt werden würde, hieß es.

„Was erlaubst du dir eigentlich?“, grollte es auf einmal in der Zelle. Vee hob den Kopf, worauf ihr Blick im Spiegel auf den von Azrael traf.

„Das könnte ich dich fragen“, schoss sie blitzschnell zurück. „Du kostest uns alle einen Haufen Nerven, Erzengel.“
Sie beobachtete, wie Azrael sich von der Pritsche erhob und zu ihr kam, wobei er weit mehr als nur aufgebracht wirkte, doch Vee ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken oder gar einschüchtern. Sie drehte das Wasser ab und drehte sich dann zu ihm um, das Kinn mit abschätzendem Blick gehoben. Er hatte das Gesicht verzogen, eine tiefe Falte war zwischen seinen Augenbrauen zu erkennen und sein geöffneter Mund ließ erkennen, dass er ihr irgendetwas an den Kopf werfen wollte, doch Vee kam ihm zuvor und packte mit grobem und unnachgiebigem Griff sein Kinn, um seinen Kopf inspizierend von links nach rechts zu drehen.

„Bist ein gutaussehender Mann, Erzengel“, schnaubte sie spöttisch. „Groß, muskulös und ohne Zweifel attraktiv. Aber dein loses Mundwerk und dein mangelnder Respekt anderen gegenüber ist eine wahre Schande für deinesgleichen.“
Sie stieß ihn von sich, womit sie das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Zum ersten Mal stieß Azrael einen derben Fluch aus, dann packte er die respektlose Frau an der Kehle und drückte sie an die raue und harte Wand in ihrem Rücken. Sein Griff war so kraftvoll, dass Vee unter Garantie keine Luft mehr bekam, doch leider war davon absolut nichts zu merken. Ganz im Gegenteil, sie lächelte sogar! Sie war die Ruhe selbst, als sie ihren Dolch zückte und mit der Klinge über Azraels Unterarm strich.

„Hast du wirklich geglaubt, eine Dämonin würde dich mit Samthandschuhen anfassen?“, flüsterte sie, wodurch sich der Luftmangel doch bemerkbar machte. Azrael stand kurz davor, ihr mit der geballten Faust ins Gesicht zu schlagen, schien jedoch von irgendetwas abgehalten zu werden. Er schien nachzudenken, wurde aber jäh aus den Gedanken gerissen als er einen kurzen und stechenden Schmerz verspürte.

Vee hatte seine Abwesenheit ausgenutzt, um ihm mit der schmalen Klinge eine kleine Schnittwunde am Arm zuzufügen. Ruckartig ließ Azrael sie los. Jeder andere Dämon wäre nun röchelnd auf dem Boden gelandet, doch Vee landete auf ihren Füßen und nahm einen einzigen tiefen Atemzug, um dann nahezu genüsslich das wenige Blut von der Klinge zu lecken.

„Jagt es dir Angst ein, dass du nicht so rein und unschuldig bist, wie du immer geglaubt hast?“, fragte sie ernst, womit die Züge einer Namenlosen wieder deutlich durchkamen. Nahezu panisch wich Azrael zurück, bis er mit den Kniekehlen gegen die Pritsche stieß und sich darauf fallen ließ. Die Dämonin konnte die unterschiedlichsten Regungen über sein Gesicht huschen sehen. Wut und Verärgerung, Schock und Unverständnis und die Frage, was eigentlich aus ihm geworden war. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Hände. In Vee kam der Verdacht auf, dass dieser Mann vielleicht unter einer Persönlichkeitsstörung litt. Sie wusste von anderen, dass Azrael eigentlich ein Mann war, den immer alle geschätzt hatten. Für gewöhnlich war er ein fröhlicher und gutmütiger Mann, was Vee auch geglaubt hatte, da sie sein herzliches und männliches Lachen ja schon gehört hatte. Doch die aktuellen Geschehnisse schienen Azrael völlig aus der Bahn geworfen zu haben und so gar nicht mehr zu seiner Routine zu passen.

Michaels Frau, Callista, war wohl der Auslöser gewesen, was Vee aber nicht nachvollziehen konnte. Sie hatte die Dämonin nie kennengelernt, doch sie hatte sie schon immer unglaublich sympathisch gefunden, da sie schon oft gehört hatte, welch Rebellin diese Frau war. Vee gab unumwunden zu, dass sie solche Leute gut leiden konnte, denn sie entsprachen nicht der Norm, so wie Vanita selbst.

Vee hatte Michael schon

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9264-4

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