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Prolog

Ein tiefes Brüllen zerriss die Stille der Nacht. Die Hörner seines Rivalen hatten ihn vollkommen überrascht und sich wie aus dem Nichts heraus in seinen Schenkel gebohrt. Der Schmerz war schier atemberaubend, doch in all den Jahrhunderten seiner Existenz hatte er gelernt, mit ihnen umzugehen. Aus diesem Grund bekam er auch nicht mit, dass seine Oberschenkelarterie geradewegs durchbohrt wurde. Er spürte zwar, wie all das Blut an ihm hinunter lief, machte sich aber keine Gedanken darüber und setzte zum Gegenangriff an.

Mit dem Schwanz schlug er nach seinem Gegner, erwischte ihn mit der scharfen Pfeilspitze seines Schwanzendes und stach diese ohne zu zögern in des Feindes rechtes Auge. Ein weiteres Brüllen durchbrach die Nacht, lauter, furcheinflößender.

Er verschmolz mit der Umgebung, umrundete seinen Gegner und stieß erneut mit der Schwanzspitze nach ihn, zielte auf seine grobe Schnauze und durchstieß diese schließlich mühelos. Blut spritzte deutlich hörbar auf die frisch gefallene Schneedecke, die Spritzer funkelten im aufblitzenden Mondlicht wie Rubine. Die zusammengesunkene Haltung seines Gegners machte augenblicklich klar, dass er aufgab und sich zurückziehen wollte. Aamun ließ ihn gewähren, als er den Rückzug antrat. Zufrieden verwandelte der schimmernd bläuliche Drache sich zurück. Somit würde dieses Land in Zukunft ihm gehören. Er wollte sich abwenden, dann machte sich plötzlich der Blutverlust bemerkbar und alles um ihn herum wurde dunkel.

Kapitel 1

 

Anouk zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Auf dem Weg durch die Stadt lag die Aufmerksamkeit der Menschen mal wieder auf ihr, dabei wollte sie überhaupt kein Teil dieser Öffentlichkeit sein. Sie war immer freundlich zu allen, verhielt sich unauffällig und ging Problemen grundsätzlich aus dem Weg und dennoch war sie unbeliebt bei den Bewohnern der Stadt. Streng genommen konnte sie es ja verstehen. Ihre Familie hatte in der Gesellschaft keinerlei Wert mehr. Einst waren sie angesehene Apotheker, doch der Jähzorn und die Gewalt in der Familie hatten sich irgendwann nicht mehr verbergen lassen. Die Kunden waren ausgeblieben und ihr Vater hatte beschlossen, ihr Geschäft zu schließen. Anouk konnte dies aber nicht einfach so geschehen lassen und hatte sich entschieden gegen ihren Vater gestellt. Verspottet hatte er sie und für völlig verrückt erklärt, weil sie dieser Aufgabe nicht gewachsen sei, Noch dazu würde sie nur Verluste machen.

Anouk war gewillt gewesen, ihm das Gegenteil zu beweisen. Mit seinen Prophezeihungen sollte er jedoch Recht behalten. Sie hatte kaum Kunden und verdienen tat sie auch kaum etwas, doch das störte sie überhaupt nicht. Es ging ihr nur darum, den Menschen zu helfen und ihren über alles geliebten Laden nicht zu verlieren, in dem sie so viele wunderbare Erinnerungen hatte sammeln dürfen.

Aufgrund ihres Starrsinns stand nicht einmal mehr ihre eigene Familie hinter ihr. Doch auch das war in Ordnung, denn Anouk wollte nichts mehr mit ihnen zutun haben. Sie wollte nicht einmal mehr mit ihnen in Verbindung gebracht werden, leider vergaßen die Menschen nicht. Kopfschüttelnd hielt Anouk sich nun schützend die Hand vor Augen.

Der eisige Wind schnitt in ihre Haut und blies ihr dicke Schneeflocken direkt ins Gesicht. Hier, in Island, mochte das ganze Jahr über ein milder Winter herrschen, doch in letzter Zeit waren die Stürme besonders heftig. Anouk ließ sich dadurch aber auch nicht aufhalten.

Sie war mittlerweile einige Kilometer von der Stadt entfernt, um neue Heilkräuter zu sammeln. Sie musste unbedingt ihre Vorräte aufstocken, damit sie bei den wirklich heftigen Stürmen nicht noch einmal das Haus verlassen musste. Manchmal fragte sie sich wirklich, warum sie sich noch so quälte, es kam eh kaum noch jemand in ihren kleinen Laden. Aber dann fiel ihr wieder ein, wie gerne sie den Menschen doch half. Egal wie schlecht es um ihre Existenz auch stehen mochte, sie selbst war kerngesund und konnte tun und lassen, was sie wollte. Also, was wollte sie mehr?

Eine eisige Windböe blies ihr die Kapuze aus dem Gesicht und offenbarte den Blick auf ein seltsames Feld.

Die schneebedeckte, leicht hügelige Landschaft vor ihr sah friedlich aus und war geschmückt mit einer roten Blumenwiese. Anouk blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Auf dieser Insel blühten keine solch karmesinroten Blumen, erst recht nicht zu dieser Jahreszeit.

Die Frau kniff die Augen zusammen, dann rannte sie los. Sie drohte immer wieder auf dem feuchten Untergrund auszurutschen, trotz ihrer kniehohen Schnürstiefel. All die Kräuter und Heilpflanzen waren schon längst vergessen, als sie den blutdurchtränkten Feldern immer näher kam. Blut, überall war Blut!

Die rubinroten Spritzer verteilten sich überall und glitzerten dank des Schnees auf unheimliche Weise. Hektisch sah Anouk sich um.

War etwa ein Tier gerissen worden? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Drachen kamen ihr in den Sinn, doch das war unmöglich.

Diese Insel war drachenfrei und das schon seit Ewigkeiten. Mit Sicherheit war es nur eine Auseinandersetzung unter Tieren gewesen. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, sah Anouk sich trotzdem ein wenig genauer um. Der befleckte Schnee unter ihren Füßen knirschte leise, als sie einen Schritt nach dem anderen machte und dann plötzlich auf eine Blutspur stieß, die ein Stück von diesem großen Feld weg führte. Lag das verletzte Tier etwa noch hier in der Nähe? Ihre Schritte beschleunigten sich weiter, ihren Umhang zurrte sie noch fester und raffte ihn mit zitternden Fingern an ihrem Hals zusammen. Warum war sie eigentlich so nervös?

Warum raste ihr Herz so? Nur wegen dem Anblick all des Blutes? Des Rätsels Lösung lag plötzlich zu ihren Füßen. Groß, breitschultrig und das Gesicht zur Hälfte im Schnee versunken. Mit einem Aufschrei blanken Entsetzens fiel Anouk in die Knie, um die wie tot aussehende Gestalt einigermaßen aus dem Schnee zu ziehen. Die Blutlache war riesig und auch der Stoff der Hose, an ihren Knien wurde getränkt, doch auch das war ihr egal als sie den Mann auf ihren Schoß zog. Was hatte dieser Fremde so weit hier draußen zu suchen? In der Stadt hatte sie ihn noch nie gesehen. Mit den langen, schneeweißen Haaren wäre er sofort aufgefallen. Anouk nahm ihn ganz genau unter die Lupe.

Er wirkte beinahe schon unmenschlich mit diesen strengen und scharfen Gesichtszügen. Sein Mittelscheitel offenbarte eine hohe und glatte Stirn, ohne Furchen. Alabasterfarbene Haut spannte sich über ausgeprägte Wangenknochen und eine lange gerade Nase.

Seine dichten Augenbrauen waren einige Schattierungen dunkler als seine Haare, ebenso seine Wimpern, die in geschlossenen Fächern auf seinen farblosen Wangen lagen. Sein Mund wirkte... stoisch. Volle Lippen, ohne jeden Schwung aber dafür mit einer tiefen Kerbe mittig der Oberlippe. Und auch sein Kinn war unglaublich grob und kantig.

Wie aus Eis geschnitzt, ging es ihr fasziniert durch den Kopf. Er war unglaublich groß, trug einen langen schwarzen Mantel aus Leder, einen langen schwarzen Pullover und eine ebenfalls schwarze Hose. Anouk erkannte nicht nur, dass ihm ein ganzer linker Arm fehlte, sondern auch zwei tiefe Löcher in seinem Oberschenkel klafften. Im ersten Moment dachte sie an zwei Schusswunden, doch dafür waren die Löcher zu groß und lagen viel zu parrallel zueinander. Schluckend streichelte Anouk seine Wange. Wie lange er wohl schon hier liegen mochte? Er war noch erstaunlich warm und trotz des ganzen Blutes, welches er verloren haben musste, sah sein Schenkel gar nicht mal so schlimm aus. Vorsichtig kramte sie in ihrer Hüfttasche, die sie sich umgeschnallt hatte. Sie musste doch irgendwelche Kräuter dabei haben, die ihr nun weiterhelfen konnten. Schnell wurde ihr aber klar, dass die nicht viel bringen würden, solange dieser Mann dieser Eiseskälte ausgesetzt war.

Anouk war viel zu schwach, um ihn in die Stadt zu bringen, weshalb sie sich erneut umsah. Gab es nicht wenigstens einen schützenden Baum in der Nähe? Das Schneegestöber wurde immer schlimmer. Einen Baum entdeckte sie nicht, dafür aber einen Felsvorsprung, gar nicht mal so weit von ihr entfernt. Seufzend kam sie auf die Beine. Ihr Körper würde ihr morgen mit ziemlichen Muskelkater danken, sie nähme es jedoch in Kauf und machte sich daran, den Bewusstlosen zum Felsvorsprung zu ziehen.

Schon bei ihren ersten Zügen merkte sie, mit welch enormen Muskeln dieser Mann ausgestattet sein musste. Sie hatte keine Ahnung wie viel er wiegen mochte, doch ihr war klar, dass dieses Gewicht nicht auf Fett zurückzuführen war, sondern auf pure Muskelmasse. Sie brauchte eine Weile um schließlich mit ihm im Schutz des Felsens anzukommen, doch kaum dass dies geschehen war, ließ Anouk sich erschöpft neben ihn fallen. Der Vorsprung war gerade hoch genug und hätte sie genügend des nötigen Materials gehabt, hätte sie sogar ein kleines Feuer entfachen können. Mit einem lautlosen Seufzer machte Anouk sich an die Arbeit. Wenigstens ein bisschen Verbandsmaterial hatte sie dabei, seine Wunde könnte sie also versorgen. Mit den passenden Kräutern wären sie zwar schneller verheilt, aber es war ohnehin schon riesiges Glück, dass sie ihn gefunden hatte. Außer ihr ließ sonst niemand die Stadt so weit hinter sich. Zögernd hielt Anouk auf einmal inne. Am liebsten hätte sie dem Fremden mit den weißen Haaren die Hose ausgezogen, um die Wunden genauer betrachten zu können, doch davon abgesehen, dass sich so etwas nicht ziemte, würde er sich dank der Kälte noch wirklich den Tod holen. Sie musste sich also damit zufrieden geben, ihm einen Verband anzulegen. Gesagt, getan.

Er rührte sich dabei nicht ein einziges Mal, behielt aber immer die gleiche, konstante Körperwärme. Ein einziger Blick genügte um zu erkennen, dass seine Arterie getroffen worden war, er dürfte also eigentlich gar nicht mehr am leben sein. Der Fremde musste also auf jeden Fall ein Drache sein, anders war auch seine ungewöhnliche Haarfarbe nicht zu erklären.

Nach ihrer Versorgung wusch Anouk sich ein wenig die Hände mit dem Trinkwasser, welches sie in einer kleinen Flasche mitgenommen hatte. All zu viel Wasser durfte sie aber nicht verschwenden. Wenn er aufwachte, wollte sie etwas zu trinken für ihn bereit halten. Sanft strich Anouk ihm eine bleiche Haarsträhne aus dem Gesicht, die wie die zarteste Seide durch ihre Finger floss. Noch nie war ihr ein solch atemberaubend schöner Mann unter gekommen. Wenn er wirklich ein Drache war, sollte sie sich eigentlich fürchten, doch so war es nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie noch nie einen Drachen gesehen, geschweige denn mit einem zu tun gehabt hatte, oder aber es lag einfach nur daran, dass sie eben schon immer besonders furchtlos gewesen war. Wie sonst hätte sie sich damals gegen ihre Eltern durchsetzen können, wenn nicht mit einer gehörigen Portion Mut?

Der Drang, anderen helfen zu wollen, war schon als Kind bei ihr vorhanden gewesen und das auch sehr ausgeprägt und sie würde mit Sicherheit auch nicht vor einem Drachen Halt machen. Als ihr nun wieder ein eisiger Wind um die Nase wehte, zog sie ihre Kapuze dichter ins Gesicht. Hoffentlich würde dieser Mann bald aufwachen, sie wollte nicht die ganze Nacht hier kauern.

 

Aamun konnte spüren, dass er nicht alleine war, schaffte es aber nicht die Augen aufzuschlagen.

Er erinnerte sich daran, dass ihm das Blut ausgegangen sein musste, denn ihm war auf einmal schwarz vor Augen geworden. War sein Rivale zurückgekehrt? Nein, unwahrscheinlich. Er selbst war als deutlicher Sieger aus ihrem Kampf hervor gegangen, als Verlierer wäre es eine Schande gewesen zurückzukehren. Am liebsten hätte Aamun nun ein wildes Knurren ausgestoßen.

Da beschloss er schon einmal, sein Revier auszuweiten und geriet sofort in einen Kampf. Sein typisches Glück eben. Doch jetzt fragte er sich, wer denn dann bei ihm war. Er vernahm einen leisen und ruhigen Herzschlag und die Präsenz war fast schon jämmerlich schwach, doch der Duft, der ihm in die Nase wehte, ließ seine Sinne zum leben erwachen. Frische, saftige Mandarinen, vermischt mit Kräutern und einem Hauch von Vanille. Fast hätte Aamun sich kerzengerade aufgesetzt. Also eine Frau? Was hatte sie so weit hier draußen zu suchen? Für einen winzigen Moment bereute Aamun es, sich diese Insel ausgesucht zu haben. Gab es hier etwa ein Dorf?

Da er keine Menschen in der Nähe haben wollte, war es ihm wichtig sich unbewohntes Land anzueignen. Und er war davon ausgegangen, dass Island unbewohnt war. Doch vielleicht war er auch vollkommen auf der falschen Fährte und bei dieser Frau handelte es sich einfach nur um einen ganz jungen und schwachen Drachen und sein Angreifer gehörte zu ihr? Dann war sein Feind womöglich auch noch in der Nähe. In Aamuns Brust begann es leise zu rumoren. Völlig egal ob sein Körper schon wieder bei Kräften war oder nicht, es war an der Zeit aufzuwachen und so schlug er die Augen auf.

Benommen registrierte er das Schneetreiben nur einen halben Meter vor sich, dann stellte er fest, dass tatsächlich eine Frau bei ihm war. Ihr Blicke trafen sich und für einen kurzen Moment stand die Zeit still. Aamun benötigte nur wenige Augenblicke um jede Kleinigkeit an ihr aufzunehmen.

Blasse, wie Papier wirkende Haut, die sich über feine Gesichtszüge spannte, ein schmales Gesicht, mit einem leicht spitzen Kinn. Ihr kleiner Schmollmund war voller Schwung und ihre Stupsnase klein und schmal. Ihr kupferbraunes Haar fiel ihr in dichten und dicken Wellen bis zur Brust und war für diese Gegend völlig untypisch. Ihre großen Augen stachen silbern aus ihrem Gesicht heraus und starrten ihn unentwegt an, wiesen aber einen klugen und wachsamen Ausdruck auf, der von den langen und dichten Wimpern und den geraden, fast streng wirkenden Augenbrauen nur hevorgehoben wurde. Sie trug einen Umhang, den sie um ihren schlanken Hals festgezogen hatte, dennoch erkannte man einen dicken und engen Wollpullover und eine wärmende Hose, beides in cremeweiß. Ihre Füße steckten in schweren Schnürstiefeln und an ihrer Hüfte war ein Gurt oder ein Gürtel befestigt, der einige Taschen und Halterungen aufwies.

Aamun wollte sich aufrichten um die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben, doch mit einer unglaublich raschen Handbewegung drückte die Frau ihn zurück. Ihre Hand legte sich auf seinen Schenkel und schon während er ein wütendes und warnendes Knurren ausstieß, drückte sie zu. Scharfer Schmerz schoss durch ihn hindurch und ließ ihn deutlich zusammenzucken, auch wenn er das eigentlich noch hatte verhindern wollen. In seiner Position durfte er keine Schwäche zeigen. Niemals! Aamun stieß erneut ein Knurren aus, damit die Frau endlich von ihm abließ, doch sie ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und streichelte nun ganz sanft seine Wange. Perplex starrte Aamun sie an. Sie wagte es tatsächlich, ihn einfach so zu berühren? Und dann auch noch so zärtlich und mitten im Gesicht! Er war wie versteinert und konnte nicht einmal etwas dagegen unternehmen, dann war der Moment auch schon wieder vorbei und die Frau hielt ihm eine Wasserflasche hin. Dabei fiel ihm auf, welche feingliedrige Hände und lange Finger sie hatte.

Unter ihren Fingernägeln waren jedoch Reste von Erde zu erkennen. Eine einfache Frau vom Land also?

 

 

 

Kapitel 2

 

Anouk konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Seine Augen sahen so unmenschlich aus und perfektionierten das Bild dieses seltsamen Mannes erst. Sie schienen ebenfalls aus Eis zu sein, so unglaublich hellgrau, fast weiß, aber mit seltsamen blauen Einschlüssen, die so hell waren, dass man sie je nach Lichteinfall überhaupt nicht gesehen hätte. Und dann diese schlitzförmigen Pupillen dabei. Anouk fühlte sich auf der Stelle wie die Beute, blieb aber auch weiterhin sehr gelassen, als er ihr die Flasche aus der Hand nahm. Ein echter Drache also...

„Ein kleiner und zierlicher Mensch wie du, hat hier draußen nichts verloren“, knurrte er sie nun an, scheinbar verärgert darüber, dass sie ihn gefunden hatte. Sie war überrascht darüber, wie deutlich die Macht aus seiner Stimme herausklang. Tief und monoton, mit einem leichten Bass, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Anouk hatte nicht sonderlich Hoffnung, dass dieser Mann sie verstehen würde, dennoch antwortete sie ihm in Gebärdensprache, dass er nicht so frech sein sollte, da schließlich er derjenige gewesen war, der eine Verletzung hatte. In seinen unheimlichen Augen blitzte plötzlich etwas auf, doch Anouk konnte es nicht benennen.

„Interessant. Du kannst mich zwar verstehen, aber nicht sprechen. Stumm?“

Er hatte ihre Zeichen durchaus verstanden, machte sich aber nicht die Mühe darauf zu antworten. Dennoch war er froh darum, dutzende Sprachen zu sprechen. Darunter auch die, der Gebärden.

„Nein“, rang Anouk sich nun eine Antwort ab. Stechender Schmerz zuckte durch sie hindurch und ihre einst melodische Stimme klang noch viel fürchterlicher, als Anouk sie in Erinnerung gehabt hatte. In der Stadt unterhielt sie sich nie mit jemandem, außer mit ihren Kunden und selbst bei denen waren schon keine Worte mehr nötig. Die Frau rieb sich nun über die Kehle, die sich wie ausgedörrt anfühlte und so schmerzte, als ob sie mehrere Klingen geschluckt hätte. Weil der Mann sie lediglich fragend ansah, löste sie den Knoten ihres Umhangs und ließ den Stoff über ihre Schultern fallen.

Eine Narbe kam zum Vorschein, dick und hässlich und sich von links nach rechts über ihren Hals ziehend. Aamun zeigte keine Regung, starrte lediglich ihren Hals an. Hatte man etwa versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden? Plötzlich bewegten sich wieder ihre Hände. Sie stellte sich als Anouk vor und wollte auch seinen Namen wissen. Anouk, ging es ihm durch den Kopf. Der Name gefiel ihm, nichtsdestotrotz fletschte er die Zähne.

„Mein Name ist irrelevant. Ich werde aufbrechen“, verkündete er und machte Anstalten sich zu erheben, doch er konnte gar nicht so schnell reagieren wie Anouk ihm die Hand auf die Brust legte und ihn zurück drückte. Dafür, dass ihre Hände so zart wirkten, besaßen sie aber eine ganze Menge an Kraft. Ihre Hände bewegten sich daraufhin wie in Lichtgeschwindigkeit und auch wenn es Aamun irgendwie nervte, konnte er ihr mühelos folgen. Sie meinte, dass er viel zu viel Blut verloren hatte, um nun durch die Landschaft zu stiefeln. Wenn er sich so unbedingt bewegen wollte, sollte er gefälligst mit ihr kommen, damit sie sich um was zu essen für ihn kümmern konnte.

Aamun war genervt, ließ sich aber nichts anmerken und antwortete mit einem entschiedenen Nein, welches die Frau blinzeln ließ. Dann verzog sie schmollend den Mund.

„Drache hin oder her“, gestikulierte sie, „Du kannst dich maximal eine halbe Stunde bewegen, dann brichst du erneut zusammen.“

Nun war es an ihm zu blinzeln. Sie schien ein wenig Ahnung zu haben. Ein Mensch hätte mit solch einer verlorenen Menge Blut weitaus weniger Zeit gehabt, sie schien sich also ausgerechnet zu haben, welche Zeit ihm dann bliebe.

„Du bist eine sehr starrsinnige Frau, was?“, grummelte er, worauf Anouk doch tatsächlich ein wenig zufrieden aussah. Mit einem Knurren in der Brust seufzte Aamun schließlich.

„Jetzt hör mir mal gut zu, Weib. Da der Sturm schlimmer wird, bringe ich dich zurück in dein Dorf. Dort werde ich essen und mich ein wenig ausruhen, ehe ich wieder verschwinde Und auch wenn ich jetzt mit dir komme, du hörst auf mich zu bemuttern, hast du das verstanden?“

Anouk verdrehte die Augen, nickte am Ende aber. Es war mehr, als sie erwartet hatte. Aamun erhob sich schlagartig, wobei seine Bewegungen ziemlich abgehakt wirkten, doch Schmerzen ließ er sich keine anmerken. Dafür war er höchstwahrscheinlich viel zu stur.

Der Mann ließ den schützenden Felsvorsprung hinter sich und stellte sich dem Schneegestöber, was ihm überhaupt nichts auszumachen schien. Ganz im Gegenteil, inmitten der weißen Pracht schien er sich wohl zu fühlen. Schnee und Eis schienen sein Element zu sein, wie auch sein Haar und seine Augen erkennen ließen. Anouk band den Umhang entschlossen wieder zu, dann raffte sie sich auf und trat an seine Seite. Ohne ein Wort zu verlieren ging sie voran und führte ihn zur Stadt. Währenddessen hing Aamun seinen eigenen Gedanken nach.

Er war kein Freund der Menschen und genoss deshalb das Schweigen zwischen der Frau und sich, dennoch konnte er sich gut vorstellen, wie schwer Anouk es mit ihrem Handicap haben musste. Die Gebärdensprache war schwer, weshalb nur sehr wenige Menschen sie beherrschten. Deutlich hatte er die Überraschung in ihren Augen gesehen, als sie gemerkt hatte, dass Aamun sie wirklich verstand. Aber auch wenn er kein Freund der Menschen war hieß es nicht, dass man diese Leute unnötig leiden lassen musste.

Zumindest, solange sie sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen.

Ein einziger Kuss, nur der kleinste Hauch seiner Magie, hätte dieser Frau helfen und sie heilen können. Sie wäre nie wieder auf die Gebärden angewiesen. Doch ihr Schicksal ging ihn nichts an, interessierte ihn nicht einmal. Anouk sah ständig über ihre Schulter zu ihm zurück und er erkannte viele Fragen in ihren Augen, doch sie schwiegen auch weiterhin. Als sie erneut zurück blickte und ihr Blick auf seinen Schenkel fiel, presste sie die vollen Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Blut war durch den Verband gesickert, färbte ihn tiefrot und ließ sogleich Sorge in der Frau aufkommen. Ihr Blick entging ihm nicht, weshalb er leise knurrte.

„Es beginnt schon zu heilen“, machte er klar, worauf sie den Blick wieder abwandte.

Ein eisiger Windhauch blies ihr die Kapuze aus dem Gesicht und trieb ihr eine tiefe Röte auf die Wangen, die so gar nicht auf ihre blasse Haut passen wollte. Die Kälte begann ihr zuzusetzen, verankerte sich tief in ihren Knochen und sorgte dafür, dass sie anfing zu zittern und Aamun sich zu fragen, wie lange sie diesem Wetter überhaupt schon ausgesetzt war. Er wusste schließlich nicht, wie lange er nicht bei Bewusstsein gewesen war und wann sie ihn gefunden hatte. Mit einem lautlosen Seufzer trat er an sie heran, dann streckte er den Arm nach ihr aus.

„Komm her“, sagte und zog sie an sich heran, auch wenn dies für gewöhnlich nicht seine Art war. Anouk starrte ihn geschockt an, als sich sein Arm um ihre Taille schlang und er sie an seinem warmen Körper barg. Durch die einsetzende Heilung war er glühend heiß geworden, weshalb Anouk sofort aufhörte zu zittern. Sie konnte nicht glauben, wie nah sie ihm war und dass er dies überhaupt zuließ.

Er sagte jedoch nichts mehr und blickte stur geradeaus. Seine Wärme ging auf sie über, schmolz förmlich den Schnee unter ihren Füßen und ließ ihr Herz schneller schlagen. Selbst sein Geruch glich dem von Schnee, frisch und rein, wie Eis, welches von der Sonne beschienen wurde. Vielleicht wäre es besser gewesen diesem Mann nicht zu nahe zu kommen, dennoch erlaubte Anouk es sich, sich an ihn zu schmiegen und die Hitze auszunutzen. Die unterschiedlichsten Gedanken gingen ihr durch den Kopf, aber nur ein ganz bestimmter blieb bei ihr hängen.

Sie wäre die meist gehasste Person in der Stadt, wenn sie es wirklich wagte, einem Drachen Zugang zu gewähren. Beinahe hätte sie mit den Schultern gezuckt. So beunruhigend dieser Gedanke auch sein mochte, es würde keinen Unterschied machen. Es wurde bereits über sie geredet und das auch nicht erst seit gestern. Anouk verwarf diesen Gedanken bereits wieder. Den komischen und stechenden Blicken zum Trotz, würde Anouk Aamun mit in ihre Apotheke nehmen und dort für ihn sorgen. Ihre Kunden würden ausbleiben, doch auch dies nähme sie in Kauf. Ob Drache oder nicht, sie kümmerte sich um einen Verletzten und niemand würde etwas daran ändern können.

Nicht weit von ihnen entfernt, türmten sich wie aus dem Nichts heraus die Stadtmauern auf. Aamun war verblüfft, hatte er doch nicht mit solch riesigen Betonmauern gerechnet. Ihre Ausmaße machten klar, dass es sich hierbei nicht nur um ein kleines Dörfchen handelte. Einer der Wächter hätte schon viel eher auf dieser Insel vorbei schauen müssen. Wenn die Menschen hier all zu fortschrittlich waren, mussten sie sich umgehend darum kümmern. Doch davon brauchte er dieser Frau hier ja nichts zu sagen. Sie wäre womöglich nur panisch geworden.

„Mein Name lautet Aamun“, riss er besagte Frau nun aus ihren Gedanken. Wenigstens seinen Namen konnte er ihr ja verraten.

Überrascht sah sie ihn wieder an, dann lächelte sie das strahlendste Lächeln, welches Aamun jemals gesehen hatte. Hell und freundlich, mit perfekten Zähnen, doch an ihrem linken Schneidezahn fehlte die Spitze. Erneut machte er sich viel zu viele Gedanken.

War sie ein wenig tollpatschig und gefallen? Oder war sie sogar geschlagen worden? Knurrend wandte er den Blick ab.

„Sieh mich nicht so an, Kindchen“, brummte er. Aamun hasste diese Seite an sich. Schon als Jungdrache hatte er die Angewohnheit gehabt, sich über jeglichen Unsinn den Kopf zu zerbrechen. Zum Teil kamen dabei immer total absurde und paranoide Ergebnisse heraus. Diese Eigenschaft zeichnete ihn jedoch aus und hatte ihn zum Wächter werden lassen. Dies und seine Stärke!

Wie er nun bemerkte, ließ Anouk sich überhaupt nicht von ihm einschüchtern. Noch immer grinsend begann sie zu gestikulieren.

„Dein ägyptischer Name passt so überhaupt nicht zu einem Mann, der wie aus Eis gemeißelt zu sein scheint.“
Aamun blinzelte perplex, dann strich er sich eine nervige Haarsträhne aus dem Gesicht.

„So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt“, murmelte er und löste sich von Anouk, weil sie nun vor den Stadtmauern angelangt waren. Ein schmaler Durchgang führte hinein, wurde nicht einmal bewacht. Doch wen wunderte es, hier gab es ja nichts und niemanden, was den Bewohnern gefährlich werden könnte. Dennoch geschah etwas unerwartetes. Mit einem vielsagenden und eindringlichen Blick fasste Anouk ihn bei der Hand, dann zog sie ihn mit. Was brachte sie denn jetzt bitteschön dazu, seine Hand zu nehmen? Fürchtete sie, er würde sich aus dem Staub machen? Dummes Ding. Ihre Beharrlichkeit gefiel ihm jedoch. Nicht viele Menschen ließen sich selbst von einem Drachen nicht verunsichern. Aamun war das Ganze trotzdem nicht geheuer. So viele auffallend positive Gedanken von und über einen Menschen hatte er noch nie gehabt. Besser, zwischen ihnen wurde es nicht persönlich.

In der Stadt angekommen, konnte Aamun die Entscheidung der Frau auf der Stelle nachvollziehen. Die Menschen hier starrten sie an, tuschelten hinter hervorgehaltener Hand und irgendetwas sagte ihm, dass dies nicht an ihm, einem Drachen, lag. Finger zeigten auf Anouk. Aamun ignorierte das alles erst einmal und sah sich aufmerksam um.

Diese überraschend große Stadt beeindruckte ihn, beunruhigte ihn aber auch, aufgrund der offensichtlichen Fortschrittlichkeit. Er bezweifelte jedoch, dass sich das Denken der Menschen verändert hatte. Ihre offen zur Schau gestellte Abneigung gegen Anouk machte es deutlich. Dabei konnte er sich nun wirklich nicht vorstellen, dass diese Frau ihnen etwas getan hatte oder gar eine streitsüchtige Person auf. Aamun sagte nichts dazu, sah sich lediglich weiter um. Diese Stadt erinnerte ihn doch glatt an die einstigen Großstädte der USA, wie zum Beispiel New York. Zwar gab es hier keine Wolkenkratzer, die netzförmige Struktur der Straßen war aber identisch. Die Häuser hier waren aus Beton oder Ziegeln und dichte Menschenmassen drängten sich durch sie Straßen, in denen Geschäfte und Botiquen zu finden waren. Überall standen Gaslaternen und sogar mehrere Cafés fielen dem Drachen ins Auge.

Anouk lief schnell, was dank ihrer langen Beine kein Problem war, und wich all den Menschen mühelos aus. Sie mochte das Kinn zwar hoch erhoben haben, doch ihre zusammengepressten Lippen machten klar, wie unangenehm ihr diese Situation war. Sie führte Aamun in eine ruhigere Gegend, wo ältere Häuser die Wege säumten und nur noch wenige und schon ältere Menschen unterwegs waren. Sie machte schließlich vor einem kleinen Geschäft halt und zückte einen Schlüssel. Ein rascher Blick ins Schaufenster genügte und Aamun wusste, hierbei handelte es sich um eine Apotheke. Das kleine Häuschen wirkte sehr heruntergekommen, doch all die Gefäße und Tinkturen im Inneren machten klar, dass hier jemand ohne jeden Zweifel Herz und Verstand besaß. Da Anouk den Ladenschlüssel besaß ging er davon aus, dass sie die Besitzerin war. Das würde ihren Kräutergeruch und die medizinischen Kenntnisse erklären. Allerdings war ihm jedoch auch schnell klar, dass sie in dieser Gegend schnell pleite gehen würde.

Anouk schloss auf, hielt ihm die Tür auf und verschwand dann ganz schnell in einem Hinterraum, um das Licht einzuschalten.

Aamun holte tief Luft, als er eintrat. Staub, Kräuter, Öle, Alkohol, all diese Gerüche schlugen ihm ins Gesicht und ließen ihn blinzeln. Der Raum war klein und ziemlich voll gestellt, doch Aamun bemerkte irritiert, dass er sich augenblicklich wohl fühlte. Sehr eigenartig...

Anouk tauchte in der Tür zum Hinterzimmer auf und winkte ihn zu sich. Neugierig beobachtete sie, wie er sich durch den Laden schob. Die Tatsache, dass er viel zu groß für dieses kleine Lädchen war, hätte sie beinahe lachen lassen. Ständig stand er kurz davor, etwas umzustoßen. Aamun bemerkte ihre zuckenden Mundwinkel und die Schultern, die drohten sich auf und ab zu bewegen und zog deshalb die Augenbrauen noch.

„Du kannst nicht einmal lachen?“, hakte er nach, worauf Anouk ganz still da stand und sich mit der Hand den Hals rieb. Ihr Blick dabei machte klar, dass sie selbst dabei Schmerzen zu haben schien. Mitleid flackerte in Aamuns Augen auf. Jahrelang nicht lachen zu können und es vermutlich auch nie wieder können. Für eine zugegeben hübsche Frau durchaus schade. Für einen kurzen Moment fragte er sich, wie ihre Stimme, wie ihr Lachen wohl klingen mochte? Wie lange sie wohl schon damit zu leben hatte? Ohne sich noch länger Gedanken darum zu machen, trat er nun vor sie. Anouk gewährte ihm den Zugang zu dem Hinterzimmer, welches anscheinend auch ihre Wohnung war. Ein Kühlschrank, ein runder Tisch, ein Sofa, auf dem mehrere Kissen lagen und ein Schrank. In einer Ecke des Raumes befand sich auch noch eine Arbeitsfläche und eine Vitrine voller Arbeitsgeräte und Chemikalien.

„Lebst du etwa hier?“, platzte es aus Aamun heraus, ehe er es hätte verhindern können.

Anouk nickte und bedeutete ihm nun, am Tisch oder auf dem Sofa Platz zu nehmen. Aamun entschied sich für den Tisch und sah sich genauer um, während Anouk zum Kühlschrank ging. Putz bröselte von der Decke und den Wänden und sonderlich heimisch wirkte dieser Raum nicht. Die Wände waren weiß, das helle Linoleum völlig verdreckt und abgetreten. Lampen gab es nur eine auf der Anrichte, ansonsten waren viele Kerzen aufgestellt worden. Persönliche Gegenstände suchte man hier vergebens. Das einzig gemütliche in diesem Zimmer, war die unglaublich weiche und flauschig aussehende violette Decke auf dem Sofa. Sie lebte also alleine hier. Ein trauriges Leben, wie er fand. Doch wer war er schon, das zu beurteilen? Dennoch... Sie konnte nicht älter als achtundzwanzig sein, hatte sie denn keine Familie? Anouk riss ihn aus den Gedanken indem sie ein kleines Tablett vor ihm abstellte, auf dem mehrere lecker aussehende Brotscheiben angerichtet worden waren. Aamun hatte schon sehr lange nicht mehr solch einfache Dinge genossen und nahm sich deshalb ohne zu zögern ein Käsebrot.

„Danke“, sagte er ganz höflich, dann biss er hinein. Und während er aß, beobachtete er mit Argusaugen wie sie sich wieder daran machte, ein paar Dinge zu suchen. Nach ein paar Minuten hatte sie eine ganze Arztpraxis auf dem Tisch ausgebreitet. Vor dem Stuhl, auf dem Aamun saß, ging Anouk in die Knie, dann nahm sie den Verband um seinen Schenkel ab. Blut sickerte hervor, doch er hatte die Wahrheit gesprochen: Die Löcher waren kleiner geworden, hatten schon längst begonnen zu heilen. Anouk sah zu ihm auf und zupfte dabei an seiner schwarzen Hose. Er verstand sofort, was sie von ihm wollte und zog deshalb pikiert eine Augenbraue in die Höhe.

„Bitte“, sagte sie mit ihren Händen, dann nahm sie einen Waschlappen zur Hand. Aamun knurrte leise. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Glaubte sie wirklich, er würde sich jetzt vor ihr die Hose ausziehen?

„Vergiss es, Kindchen“, knurrte er und wandte den Blick ab. Doch er hatte die Rechnung ohne Anouk gemacht. Ohne auf sein Einverständnis zu warten machte sie sich am Verschluss seiner Hose zu schaffen. Aus einem reinen Reflex heraus sprang Aamun auf, wobei polternd der Stuhl umfiel, auf dem er gesessen hatte. Mit einem lautlosen Seufzer zog Anouk die schmalen Brauen hoch, dann räusperte sie sich und zwang sich, ein paar richtige, wenn auch strenge Worte heraus zu bringen.

„Zieh dich aus!“

In ihrer Kehle vibrierte und schmerzte es, doch sie hielt es aus, ohne zu zucken oder sich die Schmerzen anmerken zu lassen.

Aamun weigerte sich noch immer, auch wenn ihm klar wurde, dass sie nicht locker lassen würde. Er rührte sich nicht, war schockiert von der Tatsache, dass sich ein Mensch ihm gegenüber so taktlos verhielt. Schon seit vielen hundert Jahren hatte es niemand mehr gewagt. Anouk nutzte den Moment seiner Regungslosigkeit und trat vor ihn, um endültig den Knopf und den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen.

Lass mich doch wenigstens das Blut wegwischen, dachte sie energisch, in der Hoffnung er möge es irgendwie hören, oder zumindest nur erahnen. Das durchgängige Knurren in seiner Brust zeugte vom Gegenteil, Anouk ließ sich davon aber nicht stören. Sie zog ihm die Hose bis zu den Knien herunter und hielt dann kurz inne. Sie hatte ja schon so einiges gesehen, gerade bei ihren Kunden, doch das hier... Das waren wohl die schönsten Schenkel, die sie je gesehen hatte, so bekloppt es auch klingen mochte. Die Löcher in der Oberschenkelarterie taten der Schönheit überhaupt keinen Abbruch. Auch hier war seine Haut wie Alabaster, seidig und weich, ohne Makel. Ausgeprägte Muskeln lauerten hart und angespannt unter der seidigen Haut und seine Behaarung wirkte auch hier gespenstisch silber-weiß. Fast hätte Anouk ihm einen Kuss auf die Haut gedrückt, sie nahm jedoch einfach den Lappen und säuberte die Wunden. Dabei versuchte sie angestrengt nicht daran zu denken, dass sie ja nur den dünnen grauen Stoff seiner Boxer zur Seite schieben musste, um einen Blick auf seine Kronjuwelen zu werfen. Aamun schien das Gleiche durch den Kopf zu gehen, denn sein Knurren wurde lauter. Oder hatte er womöglich einfach nur Schmerzen? Gerne hätte sie ihn sachte berührt, um ihn zu besänftigen, doch in ihrer Position wäre es viel zu anzüglich gewesen.

„Jagt es dir keine Angst ein, dass ich dir jetzt einfach so deinen schlanken Hals umdrehen und dir das Genick brechen könnte?“, fragte Aamun plötzlich in die Stille hinein. Anouk hielt mitten in der Bewegung inne und sah zu ihm auf. Recht mochte er haben, doch er durfte nicht vergessen, wo sie gerade war. Noch einmal ignorierte sie den Schmerz in ihrem Hals.

„Vorsichtig!“, warnte sie und streifte wie zum Beweis seine Genitalien. Ein drohendes und ungezügeltes Knurren von Aamun genügte und Anouk ging wieder ihrer Arbeit nach. Er konnte sie anknurren und ihr drohen so viel er wollte, doch sie würde sich nicht hiervon abhalten lassen. Niemals würde sie einen Verletzten einfach so ignorieren! Aamun wurde langsam aber sicher ein wenig ruhiger als er erkannte, dass Anouk sich ausschließlich auf seine Wunden konzentrierte. Die glatten Wundränder machten klar, dass er von irgendetwas durchstoßen worden war, aber das versiegende Blut beruhigte sie. Ein beruhigende Tinktur zum versiegeln war nicht nötig, sie legte also nur einen neuen Verband an und richtete sich danach wieder auf.

„Lass es in den nächsten Tagen langsam angehen“, sagte sie mit ihren Händen. „Und wenn du Schmerzen hast, musst du dich ausruhen.“

Fast hätten Aamuns Mundwinkel gezuckt. War ihr denn nicht klar, dass diese Wunde für ihn als Drachen nur ein Kratzer war? Und Schmerzen machten ihm nicht das geringste aus. Was man von dieser Menschenfrau nicht behaupten konnte. Aamun hatte beobachtet, wie sie nun schon mehrmals hintereinander geschluckt hatte und ständige Handbewegungen machten klar, dass sie Schmerzen im Hals hatte. Solch jämmerliche Geschöpfe, ging es ihm durch den Kopf, doch er ließ sich diesen Gedanken nicht anmerken. Aamun zog sich die Hose wieder hoch, der Moment wurde dann aber von einem eindringlichen Ruf unterbrochen.

„An! Bist du da?“

Der verhasste Spitzname ließ Anouk sogleich zusammenzucken und herumfahren. Sie wollte schon in den Laden eilen, den ungebetenen Gast von Aamun fernhalten, da war es auch schon zu spät und ein weiterer Mann stand im Hinterzimmer. Anouks steife Haltung gab zu erkennen, dass sie vollends überfordert war. Es war ihr Bruder Arwon, der dort stand und erst sie, anschließend Aamun anstarrte. Dessen Anblick schien ihn aber völlig kalt zu lassen, denn der große und breite Mann ging zielstrebig auf Anouk zu, um sie dann an der Hand zu fassen. Aamun gefiel dieser Anblick gar nicht, denn die Frau fühlte sich sichtlich eingeschüchtert. Er musterte den Mann, dessen Gesichtszüge Ähnlichkeit mit denen von Anouk aufwiesen. Er war ein kleines bisschen kleiner als Aamun, dafür aber umso breiter und mit dickeren Oberarmen. Seine Haare waren genauso braun und dick wie die von Anouk, nur die Augen wirkten aufgrund ihrer taubengrauen Farbe eiskalt. Seine Ausstrahlung mochte stark sein, doch etwas an ihm gab Aamun das Gefühl, dass es sich bei ihm um einen gebrochenen Mann handelte.

„Du musst mitkommen, Süße! Er braucht ganz dringend ein starkes Beruhigungsmittel, sonst...“, drängte er Anouk jetzt, beendete seinen Satz aber nicht und sah nur verheißungsvoll an. Anouk wirkte sowohl grimmig als auch abweisend. als sie des Mannes Hände von sich schob.

„Ich komme nicht mit, Arwon“, begann sie mit den Händen, „Zum einen habe ich gerade nichts vorrätig und zum anderen habe ich gar nicht die Zeit immer angelaufen zu kommen, wenn es mal wieder Schwierigkeiten gibt. Wie du siehst, habe ich gerade einen anderen Patienten.“

Sie wies auf Aamun, doch ihr Bruder beachtete es überhaupt nicht und nahm wieder ihre Hand.

„Willst du, dass er sie wieder schlägt?“, fuhr er sie an.

Aamun konnte nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie sehr dieser Kerl sie bedrängte. Ihre ganze Körperhaltung verriet, wie unwohl sie sich fühlte. Sie zitterte, doch ihre Hände behielt sie auch weiterhin unter Kontrolle. Aamun schritt ein, indem er sich zwischen die beiden drängte und Anouk somit hinter sich in Sicherheit brachte.

„Sie hat nein gesagt. Und nun verschwinde“, donnerte Aamun mit der Stimme eines Gebieters. Erst daraufhin sah Arwon ihm ins Gesicht. Die geschlitzten Pupillen ließen Anouks Bruder schließlich schockiert zurückweichen.

„Stehst du etwa unter der Fuchtel eines Drachen? Anouk, was hast du getan? Auf dieser Insel gab es noch nie Drachen, verdammt noch mal! Die ganze Stadt wird dich hassen“, ging er sie an. Diese Worten trafen Anouk mitten ins Herz, dabei sollte sie diesen dumpfen Schmerz – verursacht durch ihr eigen Fleisch und Blut – schon längst gewöhnt sein. Aus einem Instinkt heraus legte Anouk Aamun die Hände auf den Rücken. Von ihm beschützt zu werden, rief eine unerwartet angenehme Wärme in ihr hervor, doch sie wusste ganz genau, dass der Drache sich wohl nicht viel dabei dachte und es für ihn auch keine solch große Bedeutung hatte, wie für sie selbst. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, wie muskulös Aamun war. Die Muskeln spielten unter seiner Haut und das bei jeder seiner Bewegungen. Sie wusste nicht, was genau er wohl getan haben mochte, doch sie hörte deutlich, wie Arwon aus ihrem Laden verschwand. Mit gefletschten Zähnen wandte Aamun sich zu ihr um.

„Was, zur Hölle, war das?“, knurrte er und konnte sich selbst nicht erklären, warum er auf einmal so impulsiv reagierte. Vermutlich regte er sich einfach nur über Anouks viel zu schüchterne und zurückhaltende Art auf. Sie zögerte, ehe sie die Hände zu einer Antwort hob.

„Das war Arwon, mein Bruder. Ich habe mit meiner Familie gebrochen, aber sie glauben, sie könnten noch immer wie nach einem Hündchen nach mir rufen“, erklärte sie kurz angebunden. Mehr wollte sie nicht dazu sagen und Aamun ließ es ihr sogar durchgehen.

Dennoch passte ihm das alles nicht. Anouk schien eine gebildete, unglaublich kluge und liebevolle Frau zu sein, der das Wohl anderer sehr am Herzen lag. Solch eine Behandlung, und dann auch noch von ihrer eigenen Familie, hatte sie mit Sicherheit nicht verdient. In ihm kamen Gedanken auf, die mit Sicherheit nichts Gutes bedeuten konnten.

„Hör zu, Kleine“, begann er und ließ sich gebieterisch wieder auf den Stuhl am Tisch sinken. „Deine medizinischen Kenntnisse und deine drängende Art allen helfen zu wollen, kann ich gut gebrauchen. In meinem Anwesen, am Nordpol, gibt es viele Menschen, die in meinem Dienst stehen und sich oft mal verletzen. Komm mit mir und arbeite für mich, es wird dir an nichts mangeln. Meine Leute und ich werden dich gut behandeln und du wirst keine Angst mehr vor deiner Familie haben müssen. Du bekommst deinen eigenen Rückzugsort und kannst den Dingen, die du gerne tust, nachgehen.“

Anouk blinzelte ihn fassungslos an. Sie sollte für ihn arbeiten und einfach so alles zurücklassen, was sie sich mühsam aufgebaut hatte? Wie konnte er das nur von ihr verlangen? Dieser kleine Laden war ihr Herz, auch wenn alle – insbesondere ihre Familie – sie hassten. Doch er hatte ja Recht, was bitte hielt sie sonst noch in dieser Stadt? Dass er offenbar am Nordpol lebte machte ihre Entscheidung aber nicht einfacher. Hier, in Island, war es ja schon kalt, aber am Nordpol? Aamun sah ihr den inneren Konflikt deutlich an, er spiegelte sich regelrecht in ihren Augen.

„Ich soll meinen geliebten Laden aufgeben?“, gestikulierte sie schließlich und lehnte sich unsicher an den Tisch. Aamun wurde erneut von Mitgefühl durchflutet. Verdammt, was war denn auf einmal los mit ihm? Mit einer Handbewegung deutete er auf die Umgebung.

„In meinem Anwesen gibt es ein kleines und ungenutztes Gewächshaus, welches du dir zu eigen machen darfst. Es wäre schade ein Talent wie dich diesen undankbaren Leuten zu überlassen. Also frage ich dich noch einmal, möchtest du einen Vertrag mit mir eingehen?“

Anouk nickte und bereute es auf der Stelle, nicht ausgiebig darüber nachgedacht zu haben. Doch sie sah es als ihre Chance an, endlich von ihrer grauenhaften Familie weg zu kommen. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf Aamuns Lippen, doch seine Augen erreichte es nicht. Er erhob sich in einer eleganten und geschmeidigen Bewegung, dann trat an vor sie. Körpernähe und Berührungen hatten für ihn keinerlei Wert und Bedeutung, dennoch schlang er seinen Arm um Anouks Taille und zog sie an seine Brust.

„Sehr gut“, raunte er lauernd und senkte den Kopf zu ihrem Ohr herab. „Dann wirst du meine persönliche Apothekerin und Heilerin.“

Dieser Gedanke machte ihn unglaublich zufrieden. Nicht viele Drachen konnten von sich behaupten, einen solch kostbaren Bediensteten zu haben. Besser, er sorgte dafür, dass diese hübsche Frau sein kleines Geheimnis blieb. Ein tiefer Atemzug von Aamun war nötig, um das Adrenalin in Anouks Körper zu riechen. Auch ihr rasender Herzschlag drang an seine Ohren und ließen ihn selbstgefällig grinsen. Er konnte sogar wittern, dass eine solche Nähe zu ihm sie erregte. Sehr interessant. Für ihn jedoch nicht von Bedeutung. Dennoch war er neugierig darauf, wie sie wohl gleich reagieren würde.

„Um den Vertrag abzuschließen ist aber noch eine Kleinigkeit notwendig“, sagte er deshalb und brachte Anouk in die richtige Position. Sein fester Griff gefiel ihr insgeheim, weshalb sie sich seiner Hand nicht entzog und zuließ, dass sich seine Finger plötzlich an ihre Wange legten. In seinem Gesicht war keine Gefühlsregung auszumachen und doch senkte er nun den Kopf, bis seine Lippen sacht auf ihre trafen. Ein kräftiges Kribbeln fuhr ihr vom Scheitel bis in die Zehen und ihr Herz schlug so schnell, dass es ihr drohte zu kollabieren. Ihr wurde schwindelig und sengende Hitze breitete sich in ihrem Körper aus, dennoch unterbrach sie den Kontakt nicht.

Ihre Finger zuckten, wollten ihn berühren und durch seine Haare gleiten, doch sie brachte all ihre Willensstärke auf, um es nicht zu tun. Seine heißen Lippen auf ihren zu spüren raubte ihr den Atem, ließen sie sich wie in einem Traum fühlen. Ein Drache küsste sie, um Gottes willen!

Aamun hatte den körperlichen Gelüsten schon vor mehreren hundert Jahren abgeschworen und konnte sich nicht erklären, warum er ausgerechnet diesen Kuss so sehr genoss. Lag es vielleicht an den vollen und weichen Lippen unter seinen? Oder an diesem köstlichen Duft, der ihm schon die ganze Zeit über in der Nase hing? Oder waren es einfach nur die weiblichen und prallen Kurven, die sich viel zu auffällig, sinnlich durch all den Stoff an ihn drückten? Was immer es auch war, es brachte Aamun dazu, diesen Kuss zu genießen und er erlaubte es sich auch, sich für einen kurzen Moment darin zu verlieren. Er glitt mit der Hand in ihren Nacken, hielt sie dort gepackt und erlaubte seinen Instinkten, sich für einen Moment einfach alles zu nehmen, was er wollte. Seine Brust vibrierte vor plötzlichem Verlangen und mit den Zähnen knabberte er an ihrer Unterlippe, ehe seine Zunge in ihren Mund eindrang und dort das Kommando übernahm. Anouk war wie Wachs in seinen Händen und ihre Knie waren so weich, dass sie nachgegeben hätten, würde sie sich nicht gegen Aamuns starken Körper lehnen. Warum küsste er sie denn auf einmal so leidenschaftlich? Er hatte bisher doch so vehement versucht, sie auf Abstand zu halten. Gerade als sie beschloss, ebenfalls stürmischer zu werden, war der Moment auch schon wieder vorbei. Aamun sah sie an, forschend und neugierig und da konnte Anouk sich nicht mehr zurückhalten.

„Was, zur Hölle, sollte denn das?“, platzte es aus ihr heraus, ohne, dass sie darüber nachdachte. Dann war sie plötzlich wie erstarrt und fuhr sich mit der Hand an den Hals.

„Was zum...“, flüsterte sie, erstaunt und erschrocken über den klaren Klang ihrer Stimme und die fehlenden Schmerzen.

„Wie hast du das gemacht?“, wisperte sie. Am liebsten wäre sie ihm nun um den Hals gefallen vor Dankbarkeit. Seit so vielen Jahren schon hatte sie kein anständiges Wort mehr herausgebracht, nun war endgültig Schluss damit. Aamun machte eine abfällige Handbewegung.

„Die Kraft der Drachen kann auf Menschen übertragen werden, damit wäre unser Kommunikationsproblem also aus der Welt geschafft. Der Vertrag ist mit einem Kuss besiegelt also pack deine Sachen, wir brechen bald auf.“

Anouk konnte ihre Gefühle nicht in Worte fassen, ihre Dankbarkeit könnte sie aber zeigen und so trat sie an Aamun heran, streckte sich ein wenig und drückte ihm einen federleichten Kuss auf die Wange.

„Hab vielen Dank!“

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Anouk war so überwältigt von dem, was passiert war und all den neuen Eindrücken, dass sie noch immer kein Wort herausgebracht hatte. Sie musste sich auch erst einmal an den Gedanken gewöhnen, überhaupt wieder ein Wort sagen zu können.

Der Abschied aus ihrer Heimat war ihr nicht sonderlich schwer gefallen. Sie hatte ihr weniges Hab und Gut eingepackt und ein Schild an die Ladentür gehängt, auf dem stand, dass es eine Geschäftsaufgabe gegeben hatte. Anouk war noch nicht einmal bei ihrer Familie gewesen, um sich zu verabschieden. Sie hätten sie eh nur ausgelacht, beschimpft und verspottet. Vielleicht wäre ihr Vater sogar wieder gewaltätig geworden? Schließlich...

Anouk hatte mit dem Kopf geschüttelt, um diese Gedanken zu vertreiben. Dies wäre ein Neuanfang und ihre schreckliche Vergangenheit würde ab sofort keine Rolle mehr spielen. Aamuns Blick hatte jedoch mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass er noch einmal darauf zurück kommen würde.

Noch war Anouk sich aber nicht sicher, ob sie ihm Rede und Antwort stehen wollte. Darüber würde sie allerdings später nachdenken. Der Schreck steckte ihr noch immer in den Knochen, denn nachdem Aamun die Stadt mit ihr verlassen hatte, musste er sich erst einmal verwandeln. Und ihn in seiner wahren Gestalt zu sehen, war für Anouk wirklich ein Schock gewesen. Aamun war riesig.

So riesig, dass Anouk neben ihm nur die größe einer streunenden Katze aufgewiesen hatte. Sie konnte auf der Stelle nachvollziehen, warum er ausgerechnet am Nordpol lebte, denn der Drache wirkte wie eine riesige Skulptur aus Eis. Wenn auch eine lebende.

Seine Schnauze war kurz und leicht nach unten gebogen, wirkte trotz seiner blass blauen, fast durchscheinenden Farbe, erstaunlich rau. Mehrere kleine Hörner ragten aus der Schädelplatte, welche alle durch lederne dünne Häute miteinander verbunden wurden.

Rautenförmige, glatte Schuppen bedeckten seinen Körper, vorne an der Brust waren jedoch schildartige Platten zu erkennen gewesen, wie ein schützender Panzer. Seine Beine waren lang und muskulös, die Klauen klein, aber spitz wie Dolche. Seine Flügel besaßen eine riesige Spannweite und sahen auf den ersten Blick aus, wie die eines Vogels, doch trotz der nahezu identischen Umrisse täuschte dies. Anouk wusste nicht, wie sie deren Beschaffenheit beschreiben sollte. Sie schillerten und glitzerten beinahe, bestanden aber nicht aus Federn und auch nicht aus Eis. Leder erschien ihr ebenfalls nicht richtig. Doch egal woraus sie auch bestanden, sie waren alles andere als kalt erschienen. Von seinem Halsansatz an zog sich eine stachelige Haut über seinen Rücken, die in die Luft ragte und ein wenig an Schwimmhäute erinnerte, doch vermutlich diente sie zum fliegen. Sie zog sich sogar über seinen Schwanz, wo sie sich schließlich fächerartig ausbreitete. Doch sein Schwanz war gefährlich, an dessen Ende war eine scharfe Pfeilspitze zu erkennen.

In seiner Gegenwart war ihr das Denken schwer gefallen. Dann hatte sie sich auch schon in seiner Pranke befunden. Anouk war wie betäubt gewesen. Ohne sie zu verletzen oder gar grob zu behandeln, hatte sich seine Pranke um sie geschlossen und sie schützend an seine harte, von Panzern geschützte Brust gehalten. Mit lautem und kräftigem Flügelrauschen hatte Aamun sich dann in die Luft erhoben. Anouk war bis dahin nicht klar gewesen, dass sie unter Höhenangst litt. Ängstlich hatte sie sich an die harte Brust des Drachen gedrückt, doch entgegen ihrer Erwartung waren die schützenden Platten seines Körpers nicht kalt und rau gewesen, sondern unglaublich heiß und lebendig. Um sie herum war nichts außer Wolken und Schnee gewesen, weshalb Anouk sich schließlich einigermaßen beruhigen konnte und sich sogar einem leichten Schlaf hingeben konnte. Geistesabwesend hatte sie dabei mit ihren Händen die dicke und heiße Drachenhaut um sich herum gestreichelt. Aamun besaß den Anstand, es schweigend über sich ergehen zu lassen. Er roch ihre Angst, schwer und erdrückend, und erlaubte es ihr deshalb, solch eine Nähe zu ihm aufzubauen. Am Ende war es hilfreich gewesen, sie hatte gedöst und war ausgeruht gewesen, als sie schließlich in seinem Reich angekommen waren.

Beim Anblick seines Eispalastes wäre sie jedoch beinahe in Ohnmacht gefallen. Noch immer kam sie nicht aus dem Staunen heraus.

Anouk musste den Kopf in den Nacken legen, um das volle Ausmaß des Palastes erfassen zu können. Hohe Bögen, glitzernde Türme und sogar Balköne. Die wenigen Fenster waren riesig, die hohe Tür vor ihnen scheinbar aus einer undurchdringlichen Eisschicht, die nur zur Zierde gedacht war. So schien es zuminedst. Anouk war völlig erstaunt gewesen, als ihre zarten Finger das glatte und milchige Material berührt hatten. Es war überhaupt nicht so kalt wie es aussah, ganz im Gegenteil, es zeugte von einer Wärme, die sich dahinter verbarg.

„Ich dachte, solche Dinge gibt es nur im Märchen“, murmelte sie und trat ein Stück zur Seite, um Aamun Platz zu machen. Für einen kurzen Moment huschte der Spott über sein makelloses Gesicht.

„So, wie es auch nur Drachen im Märchen gibt?“, erwiderte er, dann stand die große geheimnisvolle Tür auch schon offen. Warme Luft schlug Anouk entgegen und kaum, dass sie eingetreten war in die Zuflucht des Drachen, fühlte sie sich wohl.

Der Eingangsbereich war groß und auch hier schien alles aus purem Eis zu sein. Links von ihnen befand sich eine Gaderobe mit einem großen Spiegel, direkt daneben stand eine Anrichte, auf der eine weiße Porzellanvase mit gelben Tulpen stand. Anouk schmunzelte. Diesen hübschen Strauß hatte doch mit Sicherheit nicht dieser Mann dort platziert. Als die Frau einen Schritt machte, trat sie auf einen schmalen Läufer, der so flauschig war, dass sie am liebsten barfuß gelaufen wäre.

Aamun schlüpfte derweil aus seinem Mantel und hängte ihn an die Garderobe, danach bedeutete er ihr mit einem Blick, dass sie es ihm gleich tun sollte. Anouk trat an ihn heran, löste den Knoten ihres Umhangs und ließ diesen dann über ihre Schultern gleiten.

Aamun beobachtete sie dabei mit Argusaugen. Unter dem dicken und wärmenden Stoff kam eine hübsche Gestalt zum Vorschein.

Groß, an die einen Meter zweiundsiebzig, mit zartem Knochenbau, aber ordentlichen und weiblichen Kurven. Ihr burgunderfarbenes Oberteil schien gewickelt zu werden, raffte sich hübsch an ihrem Busen, ohne zu tief blicken zu lassen. Die Ärmel waren ihr ein wenig zu lang, sodass man ihre Finger nur erahnen konnte. Die Farbe ließ ihre blasse Haut nur hervorstechen, ebenso ihre großen und klaren Augen. Ihre schwarze Hose saß ihr perfekt auf den breiten Hüften, der Gürtel mit den Taschen saß noch immer auf seinem Platz.

Aamun ahnte, dass sie ihn immer bei sich tragen würde. Nachdem Anouk ihren Umhang an die Garderobe gehängt hatte, schnappte sie sich ihre Tasche mit ihrem Hab und Gut.

„Zeig mir alles“, verlangte sie ganz selbstbewusst und strahlte ihn regelrecht an. Nichts an ihr deutete noch darauf hin, dass sie einst von den Leuten um sich herum schickaniert worden war. Aamun neigte auf eine zustimmende Art und Weise den Kopf, dann setzte er sich in Bewegung und führte sie die große und breite Treppe hinauf, die ebenfalls aus einem Märchen hätte stammen können.

Offenbar waren die Stufen sehr rutschig, denn sie waren mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt. Das Geländer zu beiden Seiten schien aus puren und feinen Eiszapfen zu bestehen, die sich ineinander verschlangen und ein kunstvolles, florales Muster ergaben. Das gesamte Innere dieses Palastes war tatsächlich wie ein Schloss aufgebaut. Lange breite Flure, voller hübscher und farbenfroher Akzente, Gemälde von Drachen und großen Künstlern an den Wänden und edle Teppiche, die jeden Schritt verschluckten. Und obwohl die Eiswände so strahlten und sämtliches Licht reflektierten, hingen Kristall-Leuchten von der gewölbten Decke. Es war Anouk ein Rätsel, woher der Strom dafür wohl kommen mochte. Alles um sie herum schien zu schillern und zu funkeln, was wohl an all den Farben liegen musste, die ja von den Wänden reflektiert wurden. Viele Menschen liefen ihnen über den Weg und verneigten sich tief, wenn sie Aamun sahen. Hausmädchen, Köche und sogar einige Frauen, die ein wenig an Mätressen erinnerten. Anouk fragte sich, ob Aamun wohl all diesen Menschen so geholfen hatte, wie er ihr heute geholfen hatte. Schließlich bekam sie durch ihn eine zweite Chance. Der Mann vor ihr schwieg bisher, blickte jetzt aber zu ihr zurück.

„Du darfst dich hier uneingeschränkt bewegen. Nur in den allerhintersten Winkeln, wo du keine Menschen mehr siehst, ist dir der Zugang verboten, denn dort liegen meine Gemächer“, erklärte er mit unheimlich monotoner Stimme. Anouk nickte gehorsam und wäre beinahe in ihn hinein gelaufen, als er aprubt stehen blieb.

„Das wird dein Zimmer“, verkündete er und öffnete eine Tür, die sich kaum von der Umgebung abhob. Einziges Merkmal: Eine schmiedeeiserne Klinke, die perfekt in der Hand lag und in diesem Moment von Aamun hinunter gedrückt wurde. Zum Vorschein kam ein unglaublich süßes Zimmer, in welches Anouk sich auf der Stelle verliebte. Aamun hatte die Befürchtung, es wäre ihr viel zu klein und könnte ihr nicht gefallen, doch ihre größer werdenden Augen bewiesen das Gegenteil. Sie setzte schon zu einer Antwort an, da fuhr Aamun einfach fort.

„Stell deine Tasche ab und komm“, lockte er geheimnisvoll und wandte sich ab. Anouk verfluchte ihre eigene Neugier und tat wie ihr geheißen. Aamun führte sie in einen weit abgelegenen Teil dieses Anwesens und blieb schließlich vor einer Tür stehen, die genauso gut auch die Eingangstür dieses Palastes hätte sein können. Was sich ihr dann aber offenbarte, war wie ein wahr gewordener Traum.

Sie traten ein in ein riesiges Haus, welches vollkommen aus Glas bestand und den Blick nach draußen freigab, auf das Schneegestöber und die weite Eisfläche des Nordpols. Die hohe Luftfeuchtigkeit hier, zusammen mit der Wärme, ließ Anouk augenblicklich anfangen zu schwitzen. Um sie herum war alles grün und leuchtete voller Farben, die sie in ihrer Heimat noch nie zu Augen bekommen hatte. Pures Glück durchströmte sie und ließ ihr Herz vor Freude hüpfen, als sie dann auch noch Schmetterlinge entdeckte.

„Es gehört dir“, verkündete Aamun so beiläufig, als würde es sich hier nur um eine unbedeutende Kleinigkeit handeln. Doch das war es ganz und gar nicht. Nicht für Anouk. Sie erkannte das Desinteresse in Aamuns Stimme und sah ihn an.

„Bist du dir sicher? Es gehört immer noch zu deinem Reich“, meinte sie. Als Aamun ihren Blick erwiderte, blitzte etwas in seinen Augen auf.

„Ja, bin ich. Für mich hat es schon lange keinen Nutzen mehr. Richte dich hier so ein, wie du magst. Morgens um acht und abends um sieben essen wir alle gemeinsam im Speisesaal. Auch du. Solange, wie ich deine Dienste und Kenntnisse nicht in Anspruch nehme, kannst du tun und lassen, was du möchtest. Und nun entschuldige mich, ich habe zutun.“

So förmlich, so kalt, schoss es Anouk durch den Kopf, doch mit dieser Art wollte sie sich nicht zufrieden geben. Erst verneigte sie sich vor Aamun, dann trat sie an ihn heran, legte ihm ganz vertraut die Hand auf die Wange und küsste diese dann.

„Hab vielen, vielen Dank, Aamun. Dein Zuhause ist so wunderschön und warm, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich freue, meine Stimme wieder zu haben. Vielen Dank für die Chance, die du mir gibst“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Und ehe Aamun auch nur auf den Gedanken kommen konnte diesen Moment zu genießen, war die Frau auch schon wieder zurückgewichen und mitten zwischen all den Pflanzen verschwunden.

 

Selbst nach einer Woche noch verfolgten sie diese unheimlichen weiß-blauen Augen des Drachenmannes im Traum. Sie hatte sich in seinem Reich gut eingelebt, verstand sich blendend mit all den Menschen – seinen Bediensteten – hier und hatte unglaublich großen Spaß dabei den Dingen nachzugehen, die sie liebte. Dennoch musste sie sich an vieles gewöhnen. An die gemeinsamen Essen zum Beispiel. Aamun hatte die Wahrheit gesagt, jeden Morgen und Abend versammelten sich alle Menschen und sogar Aamun war dann anwesend. Anouk hatte schnell bemerkt, dass Aamun, trotz all der Menschen hier, sehr einsam lebte. Er sprach überhaupt nicht mit ihnen und sah sie nicht einmal an. Aber so distanziert er auch immer sein mochte, jedes Mal lag da dieser nachdenkliche Ausdruck in seinen Augen. Anouk hatte ihn ganz genau beobachtet, zumindest so oft es ihr möglich war. Dass er nur einen Arm hatte schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Er musste schon ewig mit diesem Handicap leben, denn von den anderen Bediensteten wusste Anouk, dass Aamun noch nie bei irgendetwas um Hilfe gebeten hatte. Dieser Mann beeindruckte sie zutiefst. Sie hatte sich einen Drachen immer sehr wild und ungezügelt vorgestellt, Aamun war jedoch so... bedacht. Als ob er Angst hatte, zu viel preiszugeben. Wobei man nicht einmal von Angst sprechen konnte, sondern eher von Wachsamkeit. Vielleicht war es sogar Taktik?

Aamun so zu sehen verletzte Anouk auf eine unbestimmte Art und Weise. Welchen Wert hatte ein Zuhause denn, wenn man sich nicht einmal hier fallen lassen konnte? Wahrte er den Schein etwa nur wegen seiner Angestellten? So ging das nicht. Anouk wusste ganz genau, wie sich so etwas anfühlte. Und es war unerträglich. Doch Aamun verschwand immer urplötzlich, weshalb sie nie die Gelegenheit dazu bekam ihn darauf anzusprechen. Doch dies sollte sich ändern.

Anouk saß an ihrem Lieblingsplatz, in ihrem Gewächshaus, wo mittlerweile ein Schreibtisch stand. Nur in kurzem Top und einer knappen Hose saß sie dort, in ihren Händen ein kleiner Setzling. Hier, in dieser Flora, boten sich ihr so viele Möglichkeit! Dicke Wälzer türmten sich auf ihrem Tisch und sie alle stammten wohl aus einer Sammlung von Aamun. Warum besaß er solche Bücher, wenn er doch an einem Ort wie diesem lebte? Mitten in der Antarktis! Noch hatte sie all diese Schriften nicht studiert, doch ihr bliebe von nun an ja genug Zeit. Anouk war gerade dabei, den Setzling in einen Topf zu pflanzen, als sie einen eisigen Hauch in ihrem Nacken spürte.

Der Topf wäre ihr beinahe aus den Händen gefallen, wäre da nicht der Arm gewesen, der um sie herum griff und ihre Hand umfing. Blut tropfte an dem Arm herab. Nun erst recht geschockt wirbelte Anouk herum, dann blieb ihr die Luft weg.

„Aamun!“, hauchte sie erschrocken und ängstlich als sie sah, dass er voller Blut war. Sofort stellte sie den Topf aus der Hand, um eine Schublade ihres Schreibtisches aufzureißen und Verbandsmaterial hervor zu kramen, welches sie hier gebunkert hatte. Aamun hatte noch kein Wort gesagt, doch das war auch gar nicht nötig. Langsam stieg Anouk der metallische und schwere Geruch von Blut in die Nase.

„Setz dich“, drängte sie ihn und zog ihn bestimmend auf ihren Stuhl, als er sich nicht rührte. „Was ist passiert?“, fragte sie und lief gute fünf Meter davon, um sich den Wasserschlauch dieses Gewächshauses zu greifen. Mit dem Wasser und einem Tuch wischte sie ihm zuerst über das Gesicht, welches von Blutspritzern getroffen worden war. Bei all dem Blut musste sie nach möglichen Verletzungen erst einmal suchen. Aamun hätte es eigentlich nicht geduldet, dass sie ihn im Gesicht berührte, doch er ließ es über sich ergehen. Dies war das erste Mal, dass er sich bewusst von jemandem helfen ließ. In der Vergangenheit hatte er sorgsam dafür gesorgt, dass ihm niemals ein Mensch zu nahe kam, doch Anouk hatte es ja schon von Anfang an geschafft, sich darüber hinweg zu setzen. Und irgendwie war ihre Selbstverständlichkeit dabei ja doch schon ein wenig süß.

Aamun verbannte diesen Gedanken aber in den hintersten Winkel seines Verstandes und setzte nun zu einer Antwort an.

„Nur ein jämmerlicher Angriff.“

Er würde ihr nicht verraten, dass er in ihrer Stadt gewesen war. Der Gang dorthin sollte eigentlich nur einer Art Kontrolle dienen, doch Arwon, Anouks Bruder, war auf ihn aufmerksam geworden. Am Ende hatte er es mit der ganzen Familie zu tun bekommen. Und bei Gott, am liebsten hätte er sie alle dem Erdboden gleich gemacht. Anouks Familiengeschichte ging ihn zwar nichts an, doch ihm war alles sofort klar gewesen. Ihr Vater war das Problem. Der muskulöse Mann, der Aamun an den Anblick eines Jägers erinnert hatte, war sofort mit einer Waffe auf ihn losgegangen und hatte verlangt, dass er seine Tochter gefälligst frei lassen sollte. Arwon hatte sogar Prügel von ihm einstecken müssen, weil er es wohl nicht geschafft hatte, Anouk zurück zu bringen. Die Frau, die mit blauem Auge und aufgeplatzter Lippe am Rande gestanden hatte, war wohl Anouks Mutter gewesen. Die Ähnlichkeit war verblüffend, charakterlich gab es aber wohl keine Gemeinsamkeiten, wie Aamun aufgrund der Wodka-Flasche in ihrer Hand vermutet hatte. Der Geruch, der von der Familie ausgegangen war, hatte Aamun sämtliche Selbstbeherrschung abverlangt. Sie rochen nach Alkohol, Blut und Dreck und Aamun hätte schwören können, auch den Geruch von Drogen wahrgenommen zu haben. Die Menschen um ihn herum wussten wohl noch mehr über diese Familie, denn ihr Abstand und die deutlichen Blicke hatten Bände gesprochen. Wie war es nur möglich, dass Anouk in diesem Umfeld zu solch einer hübschen und bemerkenswerten Frau herangewachsen war? Sie schien nicht so schwach zu sein, wie sie aussah.

„Man hat auf dich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1757-9

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