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Prolog

Sie rannte immer weiter und so schnell sie nur konnte. Sie musste unbedingt fort von hier, ansonsten würde der Tod sie viel zu schnell in die Hände kriegen.

Sie lief so schnell und weit, dass ihre Füße schon ganz wund und blutig waren. Oh, wie gerne wäre sie doch geflogen, doch ihre Flügelknochen waren so oft zertrümmert worden und genauso oft wieder zusammengewachsen, dass sie nun viel zu dünn und porös waren, um sie der vollen Belastung auszusetzen.

Rasselnd strömte der Atem aus ihren Lungen, Tränen nahmen ihr die Sicht. Sie hatte schon so oft versucht von hier zu fliehen, doch jedes Mal hatte man sie wieder eingefangen, nur um sie am Ende wieder und wieder zu foltern. Sie hatte es so satt ein Experiment zu sein. Doch sie lebte schon so lange in Gefangenschaft, dass sie nicht einmal mehr wusste, wie alt sie überhaupt war. Aber all das Leid hätte von nun an ein Ende!

Kapitel 1

 

Gelangweilt, ja fast schon finster, scrollte Kryptos durch seine alten Nachrichten auf seinem Smartphone. Es war bereits Monate her, seit sich mal jemand bei ihm gemeldet hatte. Egal wie viele Freundschaften und Bekanntschaften er auch hatte, die einzige tiefe Verbindung die er vorzuweisen hatte, war die von Gabriel und Cath. Doch auch von denen hatte er seit Ewigkeiten nichts mehr gehört.

Doch er konnte es ihnen nicht verübeln. Schon vor über fünfzig Jahren hatten sie ihr Bündnis gefeiert, seitdem machten sie sich ein schönes Leben. Kryptos gönnte es ihnen, keine Frage. Erst recht nach dem, was alles geschehen war. Und auch wenn er es nie zugeben würde, so war er doch verdammt eifersüchtig.

Cath hatte ihn einmal gefragt, warum er denn keine Partnerin hatte. Selbst heute wusste sie nicht, wie sehr ihn die Frage verletzt hatte. Dachte sie wirklich, er würde alleine bleiben wollen? Natürlich nicht! Er wünschte sich eine Gefährtin, so wie alle Drachen es früher oder später taten. Doch alles was ihm blieb, war der freundliche Kontakt zu unzähligen Drachen auf dieser Welt. Glücklich war er so nicht, doch was brachte es, sich den Kopf darüber zu zerbrechen? Vielleicht sollte es einfach nicht anders sein?

Weil der Mann schon seit Tagen in diesem Tief feststeckte, beschloss er nun seinen Wohnsitz – eine kleine Villa in Lettland – zu verlassen und sein Revier mal wieder auszukundschaften. Nicht, dass in seinem Revier je etwas passiert wäre, doch er beobachtete gerne das rege Treiben der Menschen. Er mochte nie ein großer Freund dieser Spezies gewesen sein, doch ihre ganze Art machte ihn neugierig. Davon einmal abgesehen schienen sie ihn als eine Art Beschützer zu betrachten. Wann immer Kryptos in den kleinen Städten und Dörfern unterwegs war, verneigten sich die Menschen vor ihm. Manche von ihnen erweckten sogar den Eindruck, als würden sie ihn verehren. Genau genommen war ihm das alles egal, doch irgendwie war er ja doch froh, von den Menschen akzeptiert zu werden.

Generell schien sich das Verhältnis zwischen Menschen und Drachen noch weiter verändert zu haben. Dass Cath die Tochter eines Menschen und Drachen war, hatte nicht nur in der Welt der Drachen hohe Wellen geschlagen. Auch in der Menschenwelt war ihre Geschichte bekannt geworden und so kam es, dass in den großen Städten dieser Welt die Menschen und Drachen friedlich miteinander lebten. Kryptos vermutete, dass es in Zukunft sogar noch besser werden würde und Cath nicht das einzige Mischlingskind bleiben würde. Jedoch gab es noch immer unglaublich viele Drachen, die an den alten Bräuchen und Traditionen festhielten. Ob sich das wohl jemals ändern würde?

All diese Gedanken vertreibend verließ Kryptos sein Grundstück. Er kam allerdings nicht weit, denn nicht weit von seiner Haustür entfernt, stellte sich ihm ein junges Mädchen in den Weg. Perplex und im nächsten Moment auch fast außer sich, packte Kryptos das zwölfjährige Mädchen am Arm und zog es ein Stück an sich heran.

„Verdamm, Xara, was zur Hölle machst du hier?“, knurrte er leise.

Xara war sich offensichtlich keiner Schuld bewusst, denn sie sah mit großen Augen zu ihrem Patenonkel auf.

„Mama und Papa haben mir erlaubt, alleine draußen zu spielen“, sagte sie mit ihrer leisen Stimme. Wie immer musste Kryptos sich anstrengen, um etwas verstehen zu können. Fassungslos zog er sein Handy aus der Tasche. Er tippte die Nummer ihrer Mutter ein und hörte dann ihr gemurmeltes „Hm?“, als sie nach dem dritten Klingeln abnahm. Kryptos schnaubte.

„Cath, deine Tochter steht gerade vor mir und erzählt mir, dass ihr ihr erlaubt habt draußen zu spielen“, erklärte er. Im ersten Moment klang Cath noch sehr locker.

„Wo steckst du?“, wollte sie wissen. Anscheinend ging sie davon aus, dass er ganz in der Nähe war.

„Zuhause“, knurrte er also, worauf Cath leise fluchte.

„In Lettland? Verdammte scheiße, ich mach mich sofort auf den Weg. Lass sie nicht aus den Augen, hörst du?“

Noch bevor Kryptos irgendwelche Einwände erheben konnte, hatte Cath die Verbindung gekappt. Blinzelnd sah er auf Xara herab, dann nahm er ihre Hand und zog sie mit zurück zu seiner Villa.

„Na dann erzähl mal, Xara. Wie kommst du auf die Idee, so weit von Zuhause weg zu gehen?“, sagte er zu dem Mädchen.

Unauffällig betrachtete er das Kind, das ihren Eltern wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hatte den typisch zarten Körperbau eines Mädchens in ihrem Alter, ihre stahlgrauen Augen, die tiefschwarzen und rückenlangen Haare und die blasse Haut waren aber schon jetzt ungewöhnlich schön und auffällig. Mit einem zuckersüßen Lächeln sah Xara zu ihm auf.

„Du warst lange nicht mehr bei uns zu Besuch, Onkel. Mama und Papa sagen es zwar nie, aber sie machen sich Sorgen.“

Kryptos schmunzelte bei ihren Worten.

„Um einen Drachen muss man sich doch keine Sorgen machen“, erwiderte er, dann wurde es still zwischen den beiden.

 

Nachdenklich beobachtete er, wie das junge Mädchen an seinem Keks knabberte. Seit drei Stunden beschäftigte Kryptos das Kind nun schon und so sehr er Kinder auch mochte, so langsam nervte es ihn. Es frustrierte ihn zu sehen, dass Xara Caths und Riels ganz großes Glück war. Jedoch war die Zeit vor der Geburt des Mädchens nicht sonderlich einfach gewesen. Noch lange bevor Cath schwanger geworden war, hatte die Welt der Drachen einige Erschütterungen verspürt. Wie aus dem Nichts heraus hatte Dragan van Less seinen Teil der Drachenschrift an seine Tochter weitergereicht. Danach hatte er sich selbst das Leben genommen. Für die Öffentlichkeit war der Wächter einfach verschwunden, doch natürlich konnten sich die meisten denken, was genau da im Busch war.

Cath hatte den Wunsch ihres Vaters akzeptiert. Er wollte einfach bei seiner Frau sein. Was seine Tochter anging, so genoss diese als Wächterin einen unglaublich guten Ruf. Dass Riel dann auch noch eine Familie gründen wollte, war Cath zu viel gewesen. Die beiden hatten sich oft gestritten, doch am Ende hatte die Frau eingesehen, dass sie es ruhig hätten wagen können. Dennoch hatte es nicht sofort geklappt. Sie hatten schon aufgegeben und beschlossen sich keine Gedanken mehr darum zu machen, da war Cath doch noch schwanger geworden. So perfekt wie das Leben für seine Freunde nun lief, war es nur verständlich, dass Kryptos neidisch war.

Vielleicht war er so lange nicht mehr bei ihnen gewesen, weil er ihren glücklichen Anblick einfach nicht mehr ertragen konnte?

„Bist du traurig?“

Xaras leiser aber eindringlicher Tonfall riss Kryptos nun aus den Gedanken. Er zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte dann den Kopf.

„Aber nicht doch“, erwiderte er leise, sagte aber nicht mehr dazu. Bevor auch Xara noch etwas sagen konnte, hob der Mann den Blick. Er spürte die Anwesenheit einer starken Frau und wusste sofort, dass es sich dabei um Cath handelte. Dann hielt auch das kleine Mädchen plötzlich ganz still.

„Mama scheint wütend zu sein“, sagte sie leise.

Kryptos neigte den Kopf. Die Atmosphäre mochte zwar kribbeln, Xara schien das aber besser interpretieren zu können, denn sie zog bereits die Schultern ein. Dann klingelte es auch schon an der Tür.

„Du rührst dich nicht vom Fleck“, ermahnte Kryptos das Mädchen, dann erhob er sich und ging zur Tür. Kaum, dass er diese geöffnet hatte, stürmte Cath auch schon an ihm vorbei.

„Ich freue mich auch dich zu sehen“, murmelte Kryptos, dann schloss er die Tür und ging zurück in die Küche, wo Xara schon keine Gedanken mehr an ihre Kekse verschwendete.

„Fräulein“, begann Cath nun und baute sich mit verschränkten Armen vor ihrer Tochter auf. Für einen kurzen Moment schweifte der Mann mit den Gedanken ab.

Cath hatte sich verändert. Sie war ein wenig strenger geworden und war nicht mehr ganz so sorglos, noch dazu hatte sie sich die Haare bis zum Kinn abgeschnitten. All ihre Waffen trug sie mittlerweile aber nur noch selten.

„Hi, Mom“, grüßte Xara kleinlaut und sah nur zögernd auf.

„Was denkst du dir dabei, meilenweit allein hierherzufliegen?“, fauchte Cath und machte durch eine Handbewegung klar, dass sie gefälligst aufzustehen hatte. Das Mädchen tat es und verschränkte ebenfalls die Arme.

„Du und Dad habt mir erlaubt, alleine unterwegs zu sein“, verteidigte sie sich.

Kryptos ließ sich entspannt am Tisch nieder. Bei solchen Streitereien kam doch glatt die Schadenfreude durch. Tja, er war eben auch nur ein Drache. Cath schnaubte und warf aufgebracht die Hände in die Luft.

„Ja, aber doch nicht auf der anderen Seite der Erde! Du solltest in den vereinigten Staaten bleiben, hat dein Vater dir das nicht oft genug gesagt?“

Schmollend schob Xara die Unterlippe vor.

„Ihr seid viel zu streng“, schimpfte sie beleidigt. Tief durchatmend wandte Cath sich halb ab.

„Komm. Ich erkläre dir auf dem Heimweg, warum du dich mit unserer Erziehung noch glücklich schätzen kannst.“

Cath bedankte sich im Anschluss noch bei Kryptos dafür, dass er sich sofort gemeldet hatte und entschuldigte sich dann, da sie und Riel sich in letzter Zeit ja kaum gemeldet hatten.

„Du siehst ja, wie sie im Moment drauf ist“, sagte sie dann zwinkernd und deutete dabei auf ihre Tochter. Die verzog in diesem Moment das Gesicht. Kryptos hatte vollstes Verständnis und verabschiedete sich schließlich von den beiden. Dann war er wieder alleine.

Wieder einmal hatte er das Gefühl, als würde die Stille in diesem Haus ihn erdrücken. So schnell er konnte verließ also auch er wieder seine Villa.

Ziellos wanderte er daraufhin umher. Es ärgerte ihn so ein langweiliger Mann zu sein. Er besaß ja nicht einmal Hobbys und dabei war er schon weit über hundert Jahre alt! Alles was ihm Spaß bereitete, waren die Frauen. Doch dies mochte vielleicht auch daran liegen, dass die sich ihm zu Füßen legten. Wenn er wollte konnte er durchaus charmant sein, doch die meisten Frauen wollten anscheinend keinen Gentleman, sondern ein Arschloch. Und so gab Kryptos sich schon gar keine Mühe mehr. Warum sich für etwas anstrengen, was man schon mit einem Fingerschnippen haben konnte? Gedankenverloren verwandelte der Mann sich, um sich in die Lüfte zu erheben.

Privat hatte er auch sonst nicht wirklich viel zu tun. Seine Finanzen waren abgesichert, da er schon in jungen Jahren damit angefangen hatte, sich mit Edelsteinen abzusichern. Erst hatte er diese glitzernden und farbenfrohen Steine nur unglaublich schön und faszinierend gefunden, dann hatte er irgendwann Minen gekauft und in Gebirgen abgebaut. Heute war er der oberste Kopf eines auf der ganzen Welt verbreiteten Juweliers, der sich auf Luxus spezialisiert hatte. Ja, dutzende Menschen arbeiteten für ihn, standen unter seinem Vertrag, doch sie alle bekam er nur selten zu Gesicht. Kaum einer wusste, dass er der Chef dieses Konzerns war und er legte Wert darauf, dass dies auch so blieb. Streng genommen war er kein guter Mann. Er log viel, war nicht immer zuverlässig und handelte und dachte genauso eigennützig und habgierig wie jeder andere Drache auch. Also dachte er oft, dass es vielleicht besser war, dass sich keine Frau mit ihm herumschlagen musste.

Kryptos wollte nie eine Familie gründen, so wie Cath und Riel es bereits getan hatten, und doch wünschte er sich wirklich eine Gefährtin an seiner Seite. Doch er besaß Geld, Frauen die auf ihn abfuhren und ein wunderschönes Reich und Anwesen, das Schicksal war der Ansicht, dass dies für ihn genügen muss. Fast eine Stunde lang überflog Kryptos sein Territorium, dachte nach, beobachtete die Menschen bei ihrem Tun und vergewisserte sich davon, dass in seinem Land alles in Ordnung war. Er wollte sich bereits auf den Heimweg machen, da wurde er doch aufmerksam. Etwas seltsames lag in der Luft. Nicht etwa der Geruch von Blut oder Tod. Es war so ein komisches Gefühl. Als ob die Natur den Atem anhalten würde, als ob sich pure Angst in der Luft ausgebreitet hätte. Von nun an wachsam ließ Kryptos sich in der Luft ein wenig sinken. Unweigerlich musste er an einige Mordfälle zurückdenken, bei denen es sich so ähnlich angefühlt hatte. Alles war seltsam still gewesen und es war absolut windstill geblieben. So etwas war alles andere als normal.

Gerade als Kryptos über freies Gelände flog und auf einen kleinen, wie tot wirkenden Wald zusteuerte, fiel ihm etwas ins Auge. Am Anfang des Waldes, am Stamm einer Tanne, kauerte eine Gestalt. Die langen schlanken Beine angezogen und mit den Armen umfasst, den Blick starr auf die Hände gerichtet. Kryptos ließ sich ein Stück fallen. Brustlanges, silberblondes Haar fiel der Gestalt über die Schultern und verdeckte somit das Gesicht.

Erschrocken nahm Kryptos zur Kenntnis, dass dieses Wesen nackt war. Unter ihm sah man rotes Leder aufblitzen. Scheiße! Saß dieses Ding etwa auf seinen eigenen Flügeln? Und Moment mal!

Wenn das Lederhaut war, handelte es sich hierbei möglicherweise um einen Drachen? Als der Mann zur Landung ansetzte, stieg ihm auch noch der Geruch von Blut in die Nase. War er, oder sie, verletzt? Unendlich viele Fragen schossen ihm durch den Kopf als er sich verwandelte und nur wenige Meter vom Waldrand zum Stehen kam. Die Person hatte sein Auftauchen bemerkt und hob fauchend den Blick. Erschrocken und geschockt starrte Kryptos es an.

 

 

Kapitel 2

 

Kein Es. Eine Frau. Filigrane Gesichtszüge, ein leicht spitzes Kinn, mandelförmige große goldbraune Augen, eine schmale Stupsnase und volle, geschwungene Lippen. Über ihre hohen Wangenknochen spannte sich alabasterfarbene Haut, die keinen Fleck, keine Falte und keine Unreinheit zu erkennen gab. Das verstörende Bild von Tränen aus Blut würde Kryptos nie wieder im Leben vergessen. Es stach auf ihren blassen Wangen genauso hervor, wie ihre goldbraunen Augen in ihrem ganzen Gesicht. Es wirkte makaber und doch schien es noch nicht das Schlimmste zu sein. Für einen kurzen Moment fiel sein Blick auf die Leiche, die zwischen einigen Baumstämmen lag. Striemen und Flecken am Hals machten klar, dass sie erdrosselt worden sein musste. Es war ein stattlich gebauter Mann. Nun betrachtete Kryptos wieder die Frau. Ihre Arme und Beine waren voller blauer Flecken. Hatte man sie verprügelt? Vielleicht sogar vergewaltigt? Sie fauchte ihn noch immer an, weshalb er ganz langsam in die Hocke ging.

„Shht“, machte er. „Ich tue dir nichts.“

Die Frau wollten zurückweichen, doch aufgrund des Baumes in ihrem Rücken ging dies nicht.

Kryptos seufzte leise und richtete sich wieder auf, um dann sein schwarzes Hemd aufzuknöpfen und auszuziehen. Was war hier bloß passiert? Als er schließlich das Hemd aufhielt, hielt die Frau plötzlich inne. Sie dachte erst er wäre hier, um sie ebenfalls wieder einzufangen, doch er hatte sie nicht berührt, ja war ihr noch nicht einmal zu nahegekommen. Konnte er wirklich von „ihnen“ geschickt worden sein? Vorsichtig hielt er ihr das Hemd auf, weshalb ihr Blick auf seine Brust fiel. Feine, ausgeprägte, blasse und hervorstechende Narben. War er so wie sie? Zögernd nur erhob sie sich. Dieser Mann war so unglaublich groß, noch größer als sie. Er hatte kurzes dunkelblondes Haar und ein unglaublich markantes Gesicht, was in ihren Augen aber doch unglaublich schön war.

Nebenbei bemerkte sie, wie auch er sie musterte. Kryptos hielt den Atem an.

Sie war tatsächlich nackt. Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, musterte er sie ganz genau. Sie war fast so groß wie er, was für eine Frau doch schon sehr ungewöhnlich war. Er fand, sie sah aus wie eine Elfe. Von zierlicher und filigraner Gestalt. Ein langer schlanker Hals ging in eine etwas breitere Schulterpartie über, zwei kegelförmige kleine Brüste zogen sein Augenmerk an und ließen seinen Blick weiter über ihren flachen Bauch, hin zu ihrer Scham wandern. Ein paar silberblonde Löckchen kräuselten sich zwischen ihren Beinen und ließen ihn schlucken. Schnell hob er den Blick wieder, wodurch er ihre Flügel ins Visier nahm. Es waren definitiv schwach rötlich schimmernde Drachenschwingen, die in ihrem Rücken schlaff herunterhingen und bereits mit Dreck besudelt waren.

„Nun komm schon her, dir muss doch kalt sein“, sagte Kryptos nun sanft. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so vorsichtig gewesen sein zu müssen. Der Blick mit dem sie ihn bedachte machte klar, dass sie ihn noch für den Feind hielt und jederzeit weglaufen würde, käme es darauf an. Kryptos rührte sich deshalb kein Stück. Langsam und wie ein scheues Reh kam die Frau auf ihn zu.

„Ich verspüre keine Kälte“, sagte sie plötzlich mit einer Stimme, die Kryptos einen Schauer über den Rücken jagte. Leise und eindringlich klang sie, jedoch schwang in ihr der Hauch des Todes mit. Der Mann konnte es nicht zurückhalten und stieß ein Schnauben aus.

„Du magst zwar hübsch sein, aber hältst du es für eine gute Idee nackt durch das Land zu wandern?“

Auf diese Worte hin hielt die Frau erst einmal inne, dann neigte sie den Kopf und sah an sich herunter. Sie sah auf einmal völlig verwirrt aus.

„Ich bin immer nackt. Was stimmt daran nicht?“

Kryptos blinzelte. Nun war ihm klar, dass mit dieser Frau definitiv etwas nicht stimmte. Eindringlich sah er sie an.

„Ich weiß nicht, wo du herkommst und was du alles erlebt hast, aber es ist alles andere als normal. Komm, zieh dir mein Hemd an, dann kann ich dich von hier wegbringen. Keine Ahnung was dieser Typ dir da getan hat, aber man wird nach ihm suchen.“
Die Frau horchte auf und kam dann wieder näher. Er war so... locker. Seine Wortwahl überzeugte sie davon, dass er keiner ihrer Feinde war. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Als sie schließlich vor ihm stand sah sie unbeholfen auf das Hemd. Nur selten hatte sie Kleidung getragen, erst recht nicht die Kleidung eines Fremden. Und dann auch noch eines Mannes. Für Kryptos wurde die Situation immer seltsamer, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Dreh dich um und schlüpf mit den Armen in die Ärmel“, wies er sie an. Die Frau zögerte erst, dann aber gehorchte sie und kehrte ihm den Rücken.

„Lass deine Flügel verschwinden“, verlangte Kryptos dann. Aufmerksam beobachtete er, wie sich die rötlichen Schwingen in Luft auflösten. Kryptos hatte schon viel von diesen Teilverwandlungen gehört, doch außer Riel kannte er keinen anderen Drachen der dazu in der Lage war. Nun schlüpfte die Frau in das Hemd und drehte sich um. Hilflos fingerte sie an den Knöpfen herum.

„E-Es tut mir leid, aber ich...“, begann sie, da schüttelte Kryptos den Kopf, um sie zu unterbrechen.

„Ich mach das schon“, sagte er leise. Da knöpfte er ihr das Hemd auch schon zu. „Wie heißt du?“, wollte er dabei vorsichtig wissen.

„Leeann“, hauchte sie und beobachtete fasziniert, wie er geschickt die Knöpfe schloss. Plötzlich sah sie ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.

„Freut mich dich kennenzulernen, Leeann. Ich bin Kryptos“, erwiderte er.

Als er fertig war seufzte der Mann erleichtert. Sie mochte fast so groß sein wie er, doch dank seiner breiten Statur saß das Hemd an ihr so locker, dass es glücklicherweise auch ihren Po bedeckte.

„Kannst du fliegen?“, fragte er dann leise.

Aufgrund ihres seltsamen Zustands wäre er zwar lieber mit ihr gelaufen, doch sie befanden sich mitten im Nirgendwo. Plötzlich wich Leeann panisch zurück.

„D-Das geht nicht“, stotterte sie ängstlich. „Dann finden sie mich. Und... ich glaube, meine Flügel machen das auch nicht mit.“

Kryptos rieb sich die Stirn. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, er hätte die Frau einfach hier sitzen lassen. Mit einer Kopfbewegung setzte der Mann sich in Bewegung.

„Na gut, dann laufen wir. Aber dann beeilen wir uns besser. Ich bring dich zu mir, dort bist du in Sicherheit“, erklärte er.

Leeann folgte ihm zwar, doch ihr Blick machte klar, dass sie ihm misstraute.

„Und du lügst mich auch nicht an?“, fragte sie scharf.

„Nein, keine Sorge. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass du mit mir nicht das Gleiche machen würdest wie mit diesem Typen da drüben.“

Die Frau schwieg und so stellte Kryptos sich auf einen langen Fußmarsch ein.

 

Erschöpft betrachtete Kryptos die Frau, die auf seiner schwarzen Wohnlandschaft lag und tief und fest schlief. In was für eine Situation war er nur geraten? Nachdem Kryptos mit ihr seine Villa erreicht hatte, war sie aus allen Wolken gefallen. Vollkommen fasziniert hatte sie sich hier umgesehen und ihn dabei immer wieder gefragt, ob er denn wirklich alleine hier lebte. Die beiden hatten sich daraufhin gar nicht mehr groß unterhalten, denn Leeann war scheinbar so fertig gewesen, dass sie kaum auf dem Sofa angekommen, sofort eingeschlafen war. Kryptos saß ein wenig Abseits und ließ sie keine Sekunde lang aus den Augen. Sie hatte die Hände unter dem Gesicht gefaltet und die langen Beine angezogen, was sie unglaublich verletzlich aussehen ließ.

Was meinte sie damit, man würde sie finden? Und warum war sie nackt? Selbst solch alltägliche Dinge wie Kleidung schienen für sie alles andere als normal zu sein. Wer zur Hölle war sie und wo kam sie her? Verdammt, er fühlte sich wahrscheinlich nicht viel besser als die Frau.

„Was mache ich nur mit dir?“, murmelte er.

Sobald sie wach war, hätten sie wirklich so einiges zu klären. Solange Leeann jedoch schlief, konnte der Mann nicht viel tun. Er konnte sie nicht aus den Augen lassen, das wäre zu riskant.

So misstrauisch war er für gewöhnlich nicht, doch es konnte ja sein, dass sie nur so tat als würde sie schlafen. Verdammt noch mal, er traute sich ja nicht einmal den Raum zu verlassen, um etwas zu essen zu machen. Ob er wohl Riel anrufen und ihn um Rat fragen sollte? Nein, lieber nicht. Noch wusste er ja gar nicht, worum es hier eigentlich ging. Er wollte ganz sicher niemanden in Gefahr bringen. Und wer konnte schon sagen wie gefährlich die Frau war, die gerade hier lag und schlief. Vielleicht war sie ja das Problem und nicht die Leute, die ja anscheinend hinter ihr her waren.

In den darauffolgenden Stunden zerbrach sich Kryptos auch weiterhin den Kopf darüber. Und so müde er auch sein mochte, einschlafen konnte er unter diesen Umständen garantiert nicht. Irgendwann seufzte Leeann plötzlich leise. Langsam schlug sie die Augen auf, dann sah sie sich verwirrt um.

„Entschuldige, ich wollte nicht...“, begann sie schon rasch, da stand Kryptos auch schon bei ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Ganz ruhig, du musst dich nicht entschuldigen. Du musst sehr müde gewesen sein, du hast einige Stunden geschlafen“, sagte er ruhig.

Während Leeann sich aufrichtete, rieb sie sich erschöpft über das Gesicht.

„Ich bin... schon seit einigen Tagen unterwegs“, murmelte sie und bemühte sich, dabei seinem Blick auszuweichen. Kryptos ließ sich neben ihr nieder und nahm die Hand dabei nicht von ihrer Schulter.

„Ich kann mir denken, dass du nicht gerne darüber reden willst, aber es führt leider kein Weg daran vorbei. Also, warum hast du diesen Mann ermordet?“

Leeann spürte sofort die erdrückende Atmosphäre. Wollte er sie nun verhören? Sie sah das Misstrauen in seinen schokoladenbraunen Augen, konnte es ihm aber nicht verübeln.

„Er“, begann sie also langsam und leise, „wollte mich stoppen. Mich einfangen und wieder zurückbringen.“

Nun verschwand die Hand des Mannes von ihrer Schulter.

„Wohin wollte er dich wieder zurückbringen?“, war seine nächste Frage. Plötzlich und völlig unerwartet sprang die Frau auf und raufte sich die Haare.

„Ich weiß es nicht. Ich... Es ist kompliziert und... Ich weiß auch nicht ob es normal ist, aber...“

Kryptos erhob sich ebenfalls und fasste sie an den Schultern. Sie sah aus als würde sie gleich hyperventilieren, weshalb er sie zurück auf die Couch drückte.

„Ganz ruhig. Atme erst einmal tief durch und dann erklärst du mir alles ganz in Ruhe. Vielleicht kann ich dir helfen“, sagte er leise, worauf Leeann tatsächlich versuchte ruhiger zu atmen. Dennoch konnte sie ihr Zittern vor ihm nicht verbergen.

„Ich... lebe in Gefangenschaft. Ich weiß nicht, wo sich der Ort befindet aber es ist ein seltsamer Ort. Ich war als Kind schon dort. Alles dort ist gesichert und voller Menschen. Ich stehe dort unter ständiger Beobachtung. Deswegen fühlt es sich für mich auch so komisch an zu sehen, dass du hier vollkommen alleine lebst.“

Perplex starrte Kryptos sie an. Oh scheiße! Wo sollte er bloß anfangen?

„Aber du bist doch ein Drache, oder etwa nicht? Warum zur Hölle, lebst du denn dann in Gefangenschaft? Es ist doch ein leichtes für dich, dich zu befreien“, brachte er schließlich heraus. Zögernd sah Leeann ihn an.

„Ich habe Angst, Kryptos. Ich kenne mich in dieser, in deiner Welt, nicht aus.“

Mitfühlend sah der Mann sie an. Warum lebte sie überhaupt in Gefangenschaft? Was hatte man dieser wunderschönen Frau nur angetan?

„Wer hält dich denn überhaupt gefangen?“, wollte er langsam wissen.

Beinahe erschrak er darüber, als die Frau ihm plötzlich lange und starr in die Augen sah.

„Dieser Mann behauptet er sei mein Vater. Er... sagt, dass er mich liebt und nur will, dass ich in Sicherheit bin. Aber die Dinge die er tut, fühlen sich so falsch an.“

Und schon wieder jagte ihm ihr Tonfall Angst ein. In ihren Augen spielte sich das pure Grauen wieder. Kryptos kam die Galle hoch. Das wurde immer schlimmer.

„Was hat dir dieser Mann angetan?“, fragte er so leise, dass seine eigene Stimme beinahe versagt hätte. Leeann schluckte und wich seinem Blick nun doch aus.

„Nicht er direkt. Er gibt die Befehle, seine Handlanger führen sie aus. Sie haben mich regelmäßig aus meinem Zimmer geholt und mich in ein Labor gebracht. Spritzen und Schläuche, irgendwelche Flüssigkeiten und was nicht noch alles in mich...“

Sie unterbrach sich und holte zitternd Luft.

„Ich weiß nicht, was genau das alles zu bedeuten hat aber als ich ein Gespräch belauscht habe, fiel das Wort Genmanipulation“, sagte sie dann.

Fassungslos rieb Kryptos sich über das Gesicht. Das konnte unmöglich wahr sein! Doch ausdenken tat sie sich dies mit Sicherheit nicht. Außerdem würde das erklären, warum diese Frau Tränen aus Blut weinte. Der Puls des Mannes beschleunigte sich. Er wollte diese zerbrechlich wirkende Frau in den Arm nehmen und trösten, doch eine solche Geste war ihr mit Sicherheit unbekannt. Nun musste auch er tief durchatmen.

„Egal was sie auch damit bezwecken, sie wollen dich auf jeden Fall zurück, nicht wahr?“, erwiderte er. Leeann zuckte unsicher mit den Schultern.

„Ja. Ich hätte niemals damit gerechnet frei zu kommen, aber nun wo ich es bin, fühle ich mich noch hilfloser als je zuvor“, gestand sie. Dem Mann brummte der Schädel.

„Also gut, das ist genug für heute. Du bleibst erst einmal bei mir. Ich werde es bemerken, wenn sich jemand diesem Grundstück nähert, ich verspreche dir also, dass dir nichts geschehen wird. Wir werden in den nächsten Wochen wohl einiges zu tun haben, wenn aus dir eine anständige und selbstständige Drachendame werden soll“, erklärte er.

Mit großen Augen starrte Leeann ihn an.

„Warum? Warum willst du mir helfen?“, hauchte sie. Kryptos knurrte leise, was der Frau für einen kurzen Moment Angst einjagte.

„Weil jeder Drache auf dieser Welt frei sein sollte, ganz einfach. Und nun komm, wir kleiden dich erst einmal ein.“

 

Genervt warf Kryptos einen Blick auf die Uhr. Seit fast zwei Stunden schon befand Leeann sich in dem Zimmer hinter ihm, mit ihr zusammen eine Schneiderin und gleichzeitig sehr gute Bekannte von Kryptos. Er hätte den beiden Frauen genauso gut auch Gesellschaft leisten können, doch Höflichkeit und Anstand hatten für ihn noch Bedeutung. Er hatte Leeann zwar schon nackt gesehen, doch das musste er ja nicht auch noch fortsetzen. Der Mann seufzte. Eigentlich war es der Plan gewesen eine Stadt aufzusuchen, doch die Frau hatte panisch reagiert. Sie wollte nicht gesehen werden und deswegen partout kein Risiko eingehen. Einmal mehr war der Mann dankbar für die Kontakte, die er pflegte. Maria, die Schneiderin, hatte auch für ihn schon oft gute Arbeit geleistet. Just in diesem Moment öffnete sich die Tür in seinem Rücken.

„Mister Erkki, das Fräulein wäre nun soweit“, verkündete Maria, wie immer übertrieben höflich. Die bereits ergrauende Frau trat zur Seite und gewährte dem Mann somit Zutritt zu dem Zimmer. Kryptos zögerte keine Sekunde und rauschte an ihr vorbei, nur um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben. Leeann stand vor ihm, mit unsicherem Blick und in einem roséfarbenen Kleid, welches ihr locker bis zu den Knien reichte und nur von zwei hauchdünnen Trägern auf ihren Schultern gehalten wurde. Es ließ sie unglaublich feminin und zerbrechlich aussehen, gleichzeitig stachen ihre elfenhaften Züge nur noch mehr hervor. Kryptos musste sich konzentrieren um Maria zuhören zu können, als diese nun auf ihn einredete.

„Wir sind jetzt einiges für sie durchgegangen aber sie weigert sich, Hosen, Shirts oder Blusen anzuziehen. Mit Kleidern kann sie sich jedoch anfreunden. Deswegen lasse ich euch einige hier. Von Unterwäsche hält sie leider auch nichts“, erklärte sie, wobei die Frau vor ihnen fast schon trotzig aussah.

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Kryptos. Er wollte sie gewiss nicht überfordern mit all diesen neuen Eindrücken. Davon einmal abgesehen, hatte sie Unterwäsche ohnehin gar nicht mal so nötig. Bei ihren hübschen kleinen Brüsten war ein BH zum Beispiel völlig überflüssig.

„Ich danke dir, Maria. Schick mir die Rechnung, ja?“, sagte er nun zu der Schneiderin.

Die Frau hatte sich recht schnell verabschiedet und so blieben Leeann und Kryptos schweigend und verunsichert zurück.

„Du siehst hübsch aus“, durchbrach der Mann irgendwann die Stille, auch wenn dieser Kommentar vielleicht ein wenig unangebracht war. Bevor sie also peinlich berührt darauf antworten konnte, trat er näher an sie heran.

„Ich hoffe, du fühlst dich wohl?“, fragte er schnell. Ein wenig hilflos sah Leeann an sich hinunter.

„Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Aber ich schätze, es ist in Ordnung. Also, was machen wir nun?“, erwiderte sie leise.

Für einen Moment musste Kryptos nachdenken, dann machte er entschieden kehrt.

„Du hast mit Sicherheit Hunger. Also essen wir erst einmal etwas. Dabei kannst du mir erzählen, was du noch alles über deinen angeblichen Vater weißt“, entschied er.

Leeann folgte ihm.

Kryptos hatte extra einen großen Topf Kartoffelsuppe gemacht, doch bisher starrte Leeann nur mit großen Augen in ihre Schüssel.

„Stimmt etwas nicht?“, wollte Kryptos also vorsichtig wissen. Sofort sah man, wie unangenehm der Frau die Situation war.

„Ich habe... immer nur Fleisch vorgesetzt bekommen. Entschuldige, aber was ist das?“, erwiderte sie.

„Probiere es einfach“, kam es sofort von Kryptos zurück. Da er nicht mehr dazu sagte, konnte die Frau nichts anderes tun außer den Löffel zu nehmen und anfangen zu essen.

Die cremige, ja fast flüssige Konsistenz in ihrem Mund irritierte sie im ersten Moment, doch erstaunt stellte sie fest, dass es gut schmeckte. Und da bemerkte sie auch den Hunger, der ihren Magen schon fast schmerzen ließ. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Frau gleich drei Schüsseln geleert. Schmunzelnd beobachtete Kryptos, wie sie sich danach satt und zufrieden zurücklehnte.

„Diese Dinge, die man dir angetan hat, weißt du, was genau damit bezweckt werden soll?“, fragte er plötzlich. Und schon sah die Frau wieder unsicher aus.

„Mein Vater hat ständig etwas von „Optimierung“ gemurmelt. Ich habe es nicht wirklich verstanden, aber einmal hat er mir über den Kopf gestreichelt und gesagt, dass ich einmal das mächtigste Wesen auf der Welt sein werde. Außerdem trägt er oft so ein komisches Buch bei sich. Jedes Mal wenn ich wieder im Labor war, schreibt er etwas neues hinein“, erklärte sie.

Kryptos ging zwar gerade so einiges durch den Kopf, doch als sie ein Buch erwähnte, wurde er hellhörig. Er konnte es nicht verhindern, dachte aber automatisch an die heilige Drachenschrift.

„Wie sieht dieses Buch aus?“, fragte er und ging in Gedanken gleichzeitig etwas ganz anderes durch. Offenbar führte man Experimente an Leeaan durch. Er wusste nicht was ihr angeblicher Vater für ein Typ war, doch bei ihren Worten bekam er den Verdacht, dass man sich die Frau zu Nutzen machen wollte. Blieb die Frage, was für „Optimierungen“ das eigentlich sein sollten. Leeann zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht genau. Sehr dick und alt, auf jeden Fall. Es ist in braunes Leder gebunden und scheint irgendwelche Einkerbungen und Gravierungen auf der Vorderseite zu haben. So wie ich mitbekommen habe, lässt er es wohl nie aus den Augen.“

Unauffällig ballte Kryptos die Hände zu Fäusten. Das klang tatsächlich nach der Drachenschrift. Dank Cath wusste er nämlich ganz genau, wie und woran man diese Bücher erkannte. Doch konnte das wirklich sein? Cath, Ace, Corvus, Aamun und Aquila. Sie alle besaßen einen Teil dieser Schrift. Und mit diesen fünf Teilen war sie komplett. Oder etwa nicht?

„Und was hat es mit diesen Optimierungen auf sich?“, wollte Kryptos als nächstes wissen.

Wieder zuckte die Frau mit den Schultern. Verdammt, das Ganze musste ihr unglaublich unangenehm sein.

„Mein Vater spricht zwar immer darüber, aber für mich ist es ganz normal. Unter anderem verheilen meine Verletzungen unglaublich schnell. Und ich meine, wirklich unglaublich schnell. Es bleiben nicht einmal Narben zurück. Ich... weine Tränen aus Blut, kann Geräusche aus kilometerweiter Entfernung hören, ich speie sowohl Feuer als auch Säure und kann, sollte ich doch einmal in eine lebensgefährliche Situation geraten, meine Herzfrequenz senken und all meine Körperfunktionen herunterfahren.“

Ungläubig starrte Kryptos sie an. War das ihr Ernst? Er wusste ja, dass einige Drachen irgendwelche besonderen Fähigkeiten hatten.

Aber gleich so viele auf einmal? Nun war dem Mann klar, was Genmanipulation zu bedeuten hatte. Brummend rieb er sich das Kinn.

„Aber warum tut dir dieser Mann das an? So unheimlich ich das auch finde, aber will er dich etwa als Waffe missbrauchen?“, antwortete er schließlich, nach langer Zeit des Schweigens.

Plötzlich entdeckte der Mann Tränen in den Augen der Frau. Erneut waren es Tränen aus Blut.

„Du findest mich unheimlich?“, hauchte sie mit zitternder Stimme.

Kryptos war schon dabei aufzuspringen und streckte überfordert die Hände aus.

„Ich finde nicht dich persönlich unheimlich“, begann er unbeholfen. Oh Gott, jetzt brachte er sie auch noch zum weinen. Wie reagierte man denn auf solch eine Situation? Weil sie bereits schniefend zu ihm aufsah, ging Kryptos schließlich in die Hocke und legte ihr die Hände ans Gesicht.

„Würde ich dich wirklich unheimlich finden, hätte ich dich mit Sicherheit nicht mit zu mir genommen. Also vergiss das bitte ganz schnell wieder, hast du gehört?“, sagte er eindringlich.

Im gleichen Moment noch verfluchte Kryptos sich selbst. Er würde verdammt vorsichtig mit dieser Frau sein müssen. Leider war er den Umgang mit so empfindlichen Frauen nicht gewöhnt. Wenn er nicht aufpasste, würde er sie schneller wieder zum weinen bringen, als ihm lieb war. Weil Leeann ihm nicht antwortete, sondern lediglich leicht nickte, wich Kryptos wieder zurück.

„Nun gut. Wenn du doch so stark bist und besondere Fähigkeiten hast, warum hast du dich dann nicht schon viel eher befreit?“

Beschämt senkte Leeann den Blick.

„Lange Zeit habe ich mich gar nicht erst getraut. Dann habe ich es ein paar Mal versucht, aber mein Vater hat irgend so ein komisches Mittel, mit dem er mich ruhigstellen kann. Jedes Mal ist es ihnen gelungen mich aufzuhalten oder einzufangen. Dass es diesmal funktioniert hat lag daran, dass mein Vater nicht in der Nähe war“, antwortete sie leise.

Kryptos seufzte leise. Das wurde immer schlimmer.

„Dann ist es also sehr wahrscheinlich, dass dein Vater alle Schwachstellen eines Drachen kennt, nicht wahr?“, murmelte er.

Die Frau zuckte mit den Schultern.

„Gut möglich.“

Kryptos ließ sich langsam wieder auf das Sofa sinken. Er hatte Leeann zwar gesagt er würde ihr helfen, doch langsam fragte er sich, wie genau er das anstellen wollte. Er wusste nicht um was für einen Mann es hier ging, doch er klang nach einem ernstzunehmenden Feind. Um ehrlich zu sein spielte er sogar mit dem Gedanken, die Wächter zurate zu ziehen. Doch noch war dies keine gute Idee.

Bisher ging es hier nur um Leeann. Solange kein anderer Drache angegriffen wurde, konnten auch die Wächter nichts tun. Blieb die Frage was Kryptos nun tun sollte.

„Es tut mir leid“, riss Leeann ihn plötzlich aus den Gedanken. Überrascht sah der Mann sie an.

„Was meinst du?“, hakte er irritiert nach.

Die Frau erhob sich und ging langsam auf und ab, dabei rieb sie sich über die Arme.

„Du bereust es sicher mich hier aufgenommen zu haben. Vielleicht ist es besser, wenn ich wieder gehe“, murmelte sie und ging auch schon auf die Tür des Raumes zu. Kryptos sprang auf.

Vielleicht kannten sie sich nicht und vielleicht würde er auch noch in Schwierigkeiten geraten, wenn er sich wirklich darauf einließ, doch er stürmte hinter ihr her und bekam ihr Handgelenk zu fassen.

„Geh nicht“, knurrte er. Es war ihm selbst unheimlich, doch er wollte sie nicht gehen lassen. Wäre sie weg, würde er sich Sorgen machen. Unsicher sah die Frau ihn an.

„Aber ich bereite dir nur Umstände“, warf sie ein.

Kryptos erkannte sich selbst nicht wieder als er Leeann an sich heranzog und einen Arm um ihre Taille legte.

„Wenn du jetzt gehst, kriegt dein Vater dich möglicherweise in die Finger und das kann ich nicht verantworten. Du bleibst schön hier, keine Sorge“, stellte er klar. Leeann sagte nichts, sondern sah ihn nur mit großen Augen an.

„So etwas hat man mir noch nie gesagt“, sagte sie leise. „Ist das... ist das zwischen uns das, was man als Freundschaft bezeichnet?“

Schlagartig versteifte Kryptos sich. Um ehrlich zu sein wusste er das selbst nicht so genau. Eine Freundschaft definierte er persönlich eigentlich anders und noch waren die beiden nichts weiter als Fremde füreinander. Hinzu kam, dass sie eine attraktive Frau war und allein das Wissen, dass Leeann keine Unterwäsche trug, ließ ihn schlucken.

„Wenn du das so möchtest, dann sind wir Freunde“, erwiderte er dennoch und verstärkte seinen Griff für einen kurzen Moment.

Dann aber ließ er sie los und trat zurück.

 

 

 

Kapitel 3

 

„Lass mich dich ansehen.“

Das waren Kryptos' Worte gewesen. Ihm hätte klar sein müssen, dass Leeann erst einmal panisch reagieren würde.

Glücklicherweise hatte er sie beruhigen können. In seinem Revier war sie sicher, darum würde er sich kümmern. Zögernd war die Frau ihm in seinen Garten gefolgt, wo sie sich zu aller erst unsicher umgesehen hatte. Just in diesem Moment jedoch, standen die beiden sich gegenüber. Kryptos trat einige Schritte zurück, um ihr Platz zu machen. Erneut sah Leeann sich unsicher um, doch Kryptos nickte ihr aufmunternd zu.

„Nur zu“, sagte er leise.

Es dauerte zwar noch einige Augenblicke, doch dann verwandelte sie sich tatsächlich. Mit angehaltenem Atem legte der Mann den Kopf ein Stück in den Nacken. Er war durchaus beeindruckt. Leeann war auch in Drachengestalt sehr groß. Ihre ledernen Schuppen waren von einem kräftigen rot und ließen einen sofort an Blut denken. Ihre Flügel waren heller, die Flughäute schimmerten schon fast rosafarben. Ihre Augen, die goldbraun zu leuchten schienen, stachen richtig aus ihrer Erscheinung heraus und ließen ihre schmale Schnauze fast unscheinbar wirken. Generell war ihr ganzer Körperbau unglaublich zart und filigran. So groß sie auch sein mochte, ein ordentlicher Hieb mit einem dicken Schwanz und sie ginge zu Boden. Hörner besaß sie keine, stattdessen erkannte man an den Seiten des Kopfes zwei fächerartige Häute, die sie auf- und zuklappen konnte. Ihre Ohren vielleicht?

Ihre Klauen jedoch sahen gefährlich aus. Lang und gebogen, scharf wie Dolche. Ihr Schwanz sah da schon wieder harmlos aus. Keine Stacheln, keine Zacken, nur eine schmal zulaufende Spitze, deren Ende sich leicht kringelte. Kryptos schluckte. Sie sah unglaublich harmlos und friedliebend aus, wäre da nicht die Tatsache, dass sie Feuer und Säure spucken konnte.

Lächelnd trat der Mann vor. Sie zum Feind zu haben könnte verdammt unangenehm werden.

„Beug dich mal zu mir hinunter“, verlangte er.

Mit blitzenden Augen und Argwohn im Blick sah Leeann ihn an, doch sie gehorchte. Als sie schließlich ihren Hals senkte und mit ihrer Schnauze direkt vor seinem Gesicht verharrte, schnaubte sie ihm ins Gesicht. Lachend legte der Mann seine Hand an ihre Nüstern.

„Du bist ziemlich hübsch, weißt du das?“, verkündete er leise.

Dann war er auch schon wieder zurückgewichen.

„Soll ich mich, der Fairness halber, auch verwandeln?“, fragte der Mann, worauf die Drachenfrau wieder ein Schnauben ausstieß.

Kryptos nahm dies als Zustimmung und verwandelte sich deshalb ebenfalls. Nun nahm auch Leeann ihn ganz genau unter die Lupe.

Verdammt, was war dieser Mann groß! Nachdem er seinen breiten Hals gestreckt hatte wurde klar, dass er doch noch ein Stückchen größer war als sie. Leeann schluckte. Tiefgrau, ja fast schon schwarz war er, mit einer unglaublichen Besonderheit. Die Ränder seiner Schuppen schimmerten leicht gelblich, beinahe golden. Seine Schwingen sahen aus wie die von Fledermäusen und auf seinem breiten Kopf thronten zwei massive Hörner, die sich wie die eines Widders verbogen. Seine Schwanzspitze zierte ein dicker Stachel, bei dem die Frau erneut schlucken musste. Alles an ihm war so breit und massig, er hätte sie locker zerquetschen können.

Noch im gleichen Moment trat Kryptos näher an sie heran. Er hatte schon bei seiner Verwandlung einen ganz bestimmten Gedanken verfolgt. Er trat dicht an sie heran, beugte seinen langen Hals und verharrte mit seiner Schnauze direkt an ihrer, sodass sie sich von der Seite her mit nur einem Auge ansehen konnten. Er versuchte so flach wie möglich zu atmen, spürte auf einmal aber ganz genau wie sie zitterte. Sie spürten die intensive Wärme des anderen, fühlten sich beide für einen Moment sicher und geborgen und verloren sich in diesem Moment. Leeann fühlte sich so sicher, dass sie ihren Körper gegen seinen lehnte. Kurz fühlten sie beide den kräftigen Herzschlag des jeweils anderen, dann aber kam die Wendung.

Nahezu panisch wich Kryptos mehrere Schritte zurück, den Blick dabei aber immer noch starr auf die Frau gerichtet. Diese fragte sich natürlich sofort, ob und was sie falsch gemacht hatte. Doch es war nicht ihre Schuld. Es lag an Kryptos. Er war erschrocken über das, was ihn da gerade durchströmte. Was war das nur für ein Gefühl? Er war verwirrt, schob es in diesem Moment aber einfach auf die Sorge, die er für Leeann empfand. Unsicher verwandelte er sich zurück.

„Es tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahekommen“, murmelte er und starrte auf seine Füße.

Als Leeann sich auf einmal ebenfalls verwandelte und vor ihn trat, reagierte er überrascht. Mit verletzlichem Gesichtsausdruck sah sie ihn an.

„Mach das noch mal“, bat sie ganz leise. „Mir ist noch nie jemand so nahegekommen“, sagte sie dann und legte ihre Hand direkt auf ihr Herz. Perplex starrte Kryptos sie an. Nicht nur, dass Leeann immer gefangen gehalten und gequält worden war, nein, noch dazu schien ihr auch körperliche Nähe vollkommen fremd zu sein. Aber ob er es deshalb wagen konnte? Er zögerte erst, zog die Frau dann aber sanft an seine Brust und schloss die Arme um ihren Leib.

„Es hat dich also noch nie jemand umarmt?“, fragte er leise und strich ihr dabei mit der Hand übers Haar. Leeann schüttelte leicht den Kopf.

„Nein. Ist es normal, dass mir so warm wird?“, erwiderte sie peinlich berührt. Kryptos konnte ein Schmunzeln nicht verhindern.

„Das kommt darauf an, wie du diese Wärme empfindest. Es könnte an meiner Körperwärme liegen, die auf dich übergeht“, erklärte er und nahm dann auf einmal wahr, wie Leeann ihre Arme um seine Leibesmitte schlang und sich an ihn presste.

„Nicht nur mein Körper wird warm“, flüsterte sie. „Auch mein Herz.“

Kryptos schwieg. Vielleicht hätte er ihr das ausreden sollen, doch es war wichtig, dass sie solche Erfahrungen machte. Wenn aus ihr ein starker und eigenständiger Drache werden sollte, dann musste sie so viele Erfahrungen sammeln, wie es ihr überhaupt nur möglich war.

„Ich kann deine Muskeln spüren“, stellte sie fest.

Kryptos biss sich auf die Zunge, als die Frau ihre Hände plötzlich wandern ließ. Erst betastete sie nur seinen Rücken, dann aber lagen ihre Hände auch schon auf seiner Brust. In Kryptos kam Verlangen auf. Am liebsten hätte er sie nun von sich gestoßen, damit er nicht auf dumme Gedanken kommen konnte. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Leeann es nicht begreifen oder bemerken würde. Die Finger der Frau glitten über seine Seiten, fanden seine Brustmuskeln und verweilten schließlich an seinen Lenden. Sie versuchte es zwar zu verbergen, doch ihr Blick fand immer wieder seinen Schritt.

„Man hat mir immer gesagt, dass Kleidung nicht nötig ist, aber ich war immer die Einzige, die nackt war. Ich habe noch nie einen nackten Mann gesehen.“

Kryptos schluckte. Oh Gott, sie wäre wahrscheinlich die erste Frau, die ihm die Röte in die Wangen trieb.

„Sieh mich mal an, Annie“, bat er, damit sie ihm endlich mal in die Augen sah. Ihre schmalen Augenbrauen hoben sich.

„Annie?“, hakte sie verwirrt nach. Der Mann lächelte schwach.

„Ein Spitzname“, erklärte er. „Und nun hör mir mal zu. In der heutigen Zeit ist nackt sein... ein bisschen schwieriger. Man zieht sich nicht einfach so aus. Es ist etwas sehr Privates und vielen gleichermaßen auch unangenehm. So neugierig du auch bist, aber ich werde mich nicht vor dir ausziehen. Wenn ich das nämlich tue, dann, weil meine Triebe geweckt wurden.“

Kryptos konnte es sich nicht verkneifen ihr dabei seine Lippen ans Ohr zu legen und leise zu knurren. Annie war die Situation unangenehm, denn auch wenn sie nicht wusste was genau er denn nun mit Trieben meinte, wich sie mit hochrotem Kopf zurück. Sie war verwirrt.

„Aber“, begann sie unsicher. „Warum musste ich dann... Warum haben sie mir dann nie Kleidung gegeben?“

Kryptos eben noch vorhandene Belustigung verschwand, stattdessen ergriff ein beklemmendes Gefühl von ihm Besitz.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er ehrlich. Er hoffte wirklich, dass diejenigen die sie festgehalten hatten, sich nicht an ihrem Anblick aufgegeilt hatten. Dieses Wissen hätte nämlich nicht nur Leeann fertig gemacht, sondern auch ihn selbst.

„Komm“, sagte er nun. „Ich habe dir noch gar nicht das Zimmer gezeigt, in dem du unterkommen wirst.“

„Kann ich nicht bei dir, in deinem Zimmer, schlafen?“

Überrascht sah Kryptos die Frau an seiner Seite an.

„Gefällt dir das Zimmer nicht?“, wollte er wissen. Sein einziges Gästezimmer wurde so gut wie nie benutzt, dennoch war es sauber und in gutem Schuss. Zusammen mit den dunklen Farben wirkte es unglaublich beruhigend. Nur scheinbar nicht auf Leeann.

„Doch, aber“, begann sie und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. „Ich will nicht wieder alleine sein“, gestand sie.

Brummend legte der Mann den Kopf in den Nacken. Das wurde ja wirklich immer besser. Erst gab sie indirekt zu, dass sie ihn nackt sehen wollte und nun wollte sie auch noch in seinem privaten Schlafgemach unterkommen. Wie zur Hölle sollte er denn darauf reagieren? Da sie just in diesem Moment flehend zu ihm aufsah, konnte er gar nicht anders als zu seufzen und zuzustimmen.

„Also meinetwegen. Aber sollte es nicht funktionieren, wirst du hier unterkommen“, sagte er und stupste sie an, damit sie aus dem Zimmer ging. Er ging an ihr vorbei und führte sie dann den Flur entlang, an dessen Ende sein Schlafzimmer lag. Kaum eingetreten, hielt Leeann auch hier inne. Sein ganzes Anwesen war schon ein krasser Gegenzug zu dem, was sie eigentlich gewohnt war, doch sein Schlafzimmer übertraf es noch einmal. Es war groß und sah auf den ersten Blick sehr düster aus, doch bei genauerem Hinsehen war es einfach nur gemütlich. Viel rot und braun, ein Kamin, ein riesiges Bett mit schwarzer Bettwäsche, zwei Kommoden und ein flauschiger und großer Teppich auf dem Boden. Auf einmal war sie sich gar nicht mehr so sicher in dem, was sie gerade noch gesagt hatte.

„Ist es auch wirklich in Ordnung?“, fragte sie deshalb. Kryptos wollte schnauben, riss sich aber zusammen und legte ihr lediglich seufzend die Hand auf den Scheitel.

„Hör auf zu zweifeln. Ich habe zugestimmt, also ist es in Ordnung“, erwiderte er.

An sich war es das auch. Nur überlegte er immer noch verzweifelt, wie er ihr in dieser Situation nicht zu nahekam. Er war kein Schwein. Oh Gott, bei weitem nicht, aber er war auch nur ein Mann. Und wenn eine Frau ihm zu nahe kam, kam ihm durchaus der Gedanke dies auszunutzen. Um sich von diesen Dingen abzulenken, ging Kryptos zu seinem Bett, um sich darauf niederzulassen.

„Also, du weißt wirklich nicht wo dieser Ort ist, an dem man dich festgehalten hat?“, fragte er in neutralem Tonfall. Leeann sah sich um und wusste erst einmal wieder nicht, wie sie reagieren sollte. Dann aber ging sie zu ihm und ließ sich neben ihm nieder.

„Nein, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass es allzu weit von hier nicht entfernt sein kann. Ich bin nur gelaufen und nicht einmal geflogen. Zwar bin ich sehr lange gelaufen, aber trotzdem“, erklärte sie und zuckte mit den Schultern. Kryptos grummelte leise.

„Dieses Versteck könnte also hier in Lettland liegen, oder aber in Estland, Litauen oder Russland. Ich weiß zwar nicht wie weit die Hände deines angeblichen Vaters reichen aber was hältst du davon, wenn wir die nächsten Tage auf einem anderen Kontinent verbringen?“

So unsicher wie Leeann jetzt aussah, musste sie erst gar nicht zugeben, dass sie das für eine schlechte Idee hielt.

„Annie, ich sagte dir doch, dass dir nichts passiert. Ich passe auf dich auf, versprochen“, sagte Kryptos und versuchte, ihr ein zuversichtliches Lächeln zu zeigen.

„Hast du an etwas bestimmtes gedacht?“, wollte die Frau dann wissen.

Nachdenklich sah der Mann auf sein Handy, welches er aus seiner Tasche zog.

„Allerdings. Zwei enge Freunde von mir haben mehrere Anwesen, sie werden uns mit Sicherheit unterbringen können“, erklärte er, dann wählte er auch schon die Nummer seines besten Freundes.

 

„Onkel Kryptos!“

Xara rannte schon freudig auf ihren Patenonkel zu, da wurde sie von der Hand ihrer Mutter aufgehalten.

„Kindchen, du musst noch eine Menge lernen“, murmelte Cath, dann lächelte sie Leeann an, die sich schüchtern hinter Kryptos versteckte. Der Trubel in dem Anwesen in Nevada jagte der fremden Frau offenbar totale Angst ein, schon die ganze Zeit über hing sie an Kryptos und ließ ihn nicht los.

„Hallo, Kryptos“, begrüßte die Wächterin nun ihren Freund. „Wie ungewohnt dich in Begleitung einer Frau zu sehen. Stellst du sie uns vor?“

Kryptos sah die Frau an seiner Seite an und nickte beruhigend.

„Keine Sorge, du kannst ihnen vertrauen“, sagte er leise, dann wandte er sich wieder Cath zu. „Das ist Leeann. Ich habe sie zufällig am Rande meines Reviers aufgegabelt. Ich erkläre euch später ganz in Ruhe, was genau eigentlich los ist. Sie hat noch einiges zu lernen und ich hatte gehofft, dass wir deshalb hier bleiben könnten.“

Für einen Moment sah man das Misstrauen in Caths grünen Augen, doch dann lächelte sie auch schon wieder. Sie schien zu ahnen, dass Gefahr im Verzug war.

„Aber natürlich, ihr seid uns immer herzlich willkommen. Riel ist noch unterwegs, aber er dürfte bald hier sein. Xara, geh und zeig ihnen die Gästezimmer. Wir sehen uns dann beim Abendessen alle wieder.“

„Annie, jetzt beruhig dich doch mal“, knurrte Kryptos so leise, dass Riel, Cath und Xara es hoffentlich nicht hören konnten. Um Leeann zu beruhigen, nahm er unter dem Tisch ihre Hand.

Doch selbst dann zitterte sie noch weiter. Eigentlich war die ganze Situation harmlos. Die Familie saß zusammen mit ihren Gästen am Tisch, um zu Abend zu essen. Leeann war aber so überfordert von all den neuen Eindrücken, dass sie langsam aber sicher immer unruhiger geworden war. Kryptos hatte den Eindruck, als würde sie jeden Moment panisch aufspringen und davonlaufen. Oder spürte sie womöglich einfach nur die heimlichen Blicke von Cath und Riel?

Sie hatten Kryptos leise gemurmelten Worte durchaus verstanden und waren sofort aufmerksam geworden. Kryptos und die Frau zeigten sich nämlich ungewöhnlich vertraut.

Xara nahm die Situation aber ganz anders wahr. Sie hatte Leeanns Spitznamen aufgeschnappt und plauderte munter drauf los.

„Woher kommst du, Annie?“, wollte sie mit vollem Mund wissen.

Cath räusperte sich streng und Xara verstand. Sie schluckte den großen Happen rasch herunter, gleichzeitig sahen nun auch Riel und Cath Leeann neugierig an.

Diese wurde schon wieder unruhig. Kryptos seufzte und verschränkte seine Finger mit ihren.

„Das kann sie leider nicht sagen“, antwortete er an ihrer Stelle. Dann wurde er leiser. „So wie es aussieht, hat sie ihr ganzes Leben lang in Gefangenschaft gelebt. Wer genau dahinter steckt können wir aber nicht sagen.“

Den beiden Drachen ihnen gegenüber entglitten die Gesichtszüge. Nur die jüngste in der Runde schien es nicht so zu begreifen. Riel stieß ein Knurren aus.

„Xara, geh auf dein Zimmer“, donnerte er, worauf seine Tochter ohne zu zögern hörte. Als schließlich nur noch vier Drachen am Tisch saßen, wurde die Situation sofort ernst.

„Wie zur Hölle kann ein Drache in Gefangenschaft leben?“, knurrte Riel und starrte seine Gäste finster an. Leeann zuckte schon zusammen, doch Kryptos drückte ihre Finger.

„Sie ist so aufgewachsen. Angeblich steckt ihr eigener Vater dahinter. Er hat sie gefangen gehalten und an ihr experimentiert. Sie hat, um ehrlich zu sein einige beängstigende Fähigkeiten. Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, mindestens einen Wächter hinzuzuziehen. Leeann sagt, dieser Mann habe immer ein Buch bei sich. Die Beschreibung davon hat mich an die Drachenschrift erinnert.“

Mit einem lauten Rumpeln sprang Cath auf, gleichzeitig schlug sie mit den Händen auf den Tisch, sodass das Geschirr klapperte.

„Was?“, brüllte sie. Mit ihrer Handlung jagte sie Leeann solche Angst ein, dass die Frau sich wieder an Kryptos klammerte. Mit einem bösen Blick auf die Wächterin tätschelte der Mann Leeanns Arm. Ungläubig schüttelte Cath nun den Kopf.

„Ich habe alle Teile der Drachenschrift genauestens studiert und sie ist, dank meines Vaters und mir, so gut wie komplett. Auch die Vorgänger sind mittlerweile in meinem Besitz. Es ist unmöglich, dass ein weiterer Teil existiert.“

Leeann fasste sich ein Herz und nahm all ihren Mut zusammen.

„Mein Vater trägt dieses Buch immer bei sich und schreibt nach jedem Experiment hinein. Es ist in braunes Leder gebunden und hat komische Gravuren auf der Vorderseite“, sagte sie leise.

Daraufhin wurde Cath leichenblass.

„Scheiße“, hauchte sie und wechselte einen Blick mit ihrem Gefährten. „In einem Teil der Schrift wird von Genmutationen und Experimenten gesprochen. Hat etwa...“, begann sie, dann verstummte sie. Sie stürmte plötzlich aus dem Raum und ließ alle anderen zurück. Nachdem sie weg war, stieß Riel ein Seufzen aus.

„Diese verdammten Bücher machen nichts als Ärger“, murmelte er, dann aber betrachtete er Kryptos und Leeann mit einem schelmischen Grinsen.

„Von den Umständen einmal abgesehen, scheint ihr euch ja gut zu verstehen“, bemerkte er.

Weil die Farbe in Leeanns Gesicht zurückkehrte und ihre Augen begannen zu glänzen, beschloss Kryptos einfach zu schweigen.

Erstaunlicherweise antwortete sogar die Frau selbst darauf.

„Ich bin ihm wirklich dankbar“, gestand sie leise. „Wenn ich ihn nicht hätte, würde ich immer noch nackt in diesem Wald hocken und panisch darauf warten, dass man mich findet.“

Bei diesen Worten zog Riel die Augenbrauen hoch, zeitgleich sah er Kryptos an.

„Nackt?“, wiederholte er perplex, worauf Kryptos schon peinlich berührt den Blick abwandte.

„Ich konnte sie doch nicht einfach dort lassen. Du hättest sie mal sehen sollen. Sie hat Blut geweint, verdammt noch mal“, knurrte er leise.

Für einen Moment sah Riel irritiert aus, dann aber trat ein komischer Ausdruck in seine Augen.

„Kann es sein, dass sich deine Instinkte zu Wort gemeldet haben?“, wollte er von Kryptos wissen.

Dieser blinzelte.

„Was meinst du?“, erwiderte er. Riel neigte den Kopf. Wusste er wirklich nicht, was er meinte? War diesem Mann nicht klar, dass er zum ersten Mal Kontakt zu einer Frau hatte, ohne auf Sex aus zu sein? Doch Riel würde schweigen, denn darauf musste Kryptos schon von alleine kommen. Dass der Mann dafür eine Weile brauchen würde, war jedoch von vorneherein klar. Noch bevor sie ihr Gespräch fortführen konnten, betrat Cath wieder das Esszimmer. Sie war gerade dabei, ihr Smartphone zurück in ihre Tasche zu schieben.

„Ich habe mit Aamun gesprochen und er sagt, dass es keine weiteren Teile der Drachenschrift geben dürfte. Leeann, weißt du wie dein Vater heißt?“

Die Frau an Kryptos' Seite versteifte sich kurz, dann aber verstand sie, dass sie hier wirklich nichts zu befürchten hatte. Sie entspannte sich und nahm die Schultern ein Stück zurück.

„Er meinte einmal, dass ich ihn Dzamel nennen kann, aber ob das sein wirklicher Name ist, weiß ich nicht“, antwortete sie schließlich.

Cath dachte angestrengt nach, seufzte am Ende aber und ließ sich niedergeschlagen auf dem Schoß ihres Gefährten nieder. Sie umschlang seinen Hals, blieb gleichzeitig aber auch völlig ernst.

„Wir werden uns, was diesen Namen angeht, umhören, aber ich glaube, dass wir nicht viel tun können. Hast du vor dich um diese Sache zu kümmern, Kryptos?“

Der Mann neben Leeann grummelte leise.

„Das war eigentlich nicht geplant. Ich will Leeann helfen zu einer starken Frau zu werden, was ihr Vater treibt kann uns genau genommen egal sein. Aber wenn von diesem Dzamel eine Gefahr ausgeht, dann kümmere ich mich darum. Allerdings wüsste ich nicht, wie ich anfangen sollte. Leeann kann nicht sagen, wo sich sein Aufenthaltsort befindet“, antwortete er schließlich.

Leeann hörte in diesem Moment gar nicht mehr richtig zu. Sie war zu abgelenkt von dem Bild, welches sich ihr bot. Der Mann und die Frau die da gegenüber von ihnen saßen, waren sehr vertraut miteinander. Es schien ein inniges Verhältnis zwischen ihnen zu geben, also waren sie das, was man als Liebespaar bezeichnete? Heimlich betrachtete sie Kryptos.

Noch nie in ihrem Leben hatte man jemanden an sie herangelassen und schon immer hatte sie sich jemanden gewünscht, dem sie nahe sein konnte. Was wäre, wenn sie mit Kryptos auch einmal so ein inniges Verhältnis hätte?

„Also, was genau hast du nun vor?“, fragte Riel und riss Leeann somit aus den Gedanken. Kryptos schien nachzudenken, weshalb die Frau einfach das Wort an sich nahm.

„Ich könnte den Köder spielen und wenn sie mich haben, drehst du den Spieß einfach um“, schlug sie mit einem Blick auf Kryptos vor. Mit großen Augen starrte man sie an.

„Auf keinen Fall!“, stieß Kryptos in solch einem beängstigenden Tonfall aus, dass Leeann automatisch zusammenzuckte.

„Erst einmal ist es wichtig die beizubringen, in der normalen Welt zu überleben. Wir werden unter Menschen gehen und ich werde dir alles über deine eigene Rasse beibringen, nur damit das klar ist“, entschied der Mann knallhart. Demütig senkte Leeann den Kopf.

Sie war es gewohnt Befehle auszuführen, weshalb sie nun automatisch so reagierte. Als Kryptos sah wie ängstlich sie zu sein schien, tätschelte er seufzend ihren Kopf.

„Ich komme ein andern Mal auf deine Idee zurück, in Ordnung?“, grummelte er dann.

Leeann sah ein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8408-6

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