Sieben lange Monate hatten sie hinter sich, in denen Gefühlsausbrüche an der Tagesordnung standen. Vorsicht hatten sie walten lassen und sich komplett von der Öffentlichkeit abgeschottet, selbst der Bruder des Fürsten hatte sie nicht sehen dürfen.
Geflucht hatte die Frau, weil sie keine Aufträge mehr ausführen konnte. Doch sie war dankbar gewesen, denn ihr Mann tat alles für sie, damit sie sich so wohl wie nur möglich fühlte.
Verstört hatte sie ihm eines Tages gebeichtet, was los war und sie hatte es zuvor selbst nicht gemerkt. Erst nach einigen Monaten wuchs ihr Bauch und zeugte vom Leben.
Angst hatte sowohl sie als auch Dragan erfasst, denn keiner von ihnen wusste, wie es ablaufen würde.
Die Schwangerschaft war verdächtig angenehm, denn es gab keine Morgenübelkeit, keine Stimmungsschwankungen und keine Fressanfälle. Es war alles wie immer, bis auf der größer werdende Bauch.
Sie hatte die Magie des Kindes in ihrem Inneren gespürt, wusste, dass es ein Drachenkind war was in ihr heranwuchs und vermutete, dass es ihr deshalb so gut ging. Doch nach bereits sieben Monaten setzten die Wehen ein. Die Frau hatte wahnsinnige Angst, selbst ihr Gefährte konnte sie nicht beruhigen, doch die Drachenmagie ihres Kindes war bei der Geburt bereits so machtvoll, dass sie nur wenig Schmerzen erdulden musste.
Fassungslos hatte die Frau ihr Kind nach nur einer Stunde in den Armen gehalten, verblüfft über das Aussehen des kleinen Mädchens. Helle, ja leuchtend grüne Augen hatten sie mit schlitzförmigen Pupillen gemustert. Von den schwarzen Härchen einmal abgesehen, hatte sie das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu blicken. Ihre Gesichtszüge waren fast identisch, nur die Nase und der Mund zeugten vom Vater.
Das kleine Mädchen war vollkommen ruhig, doch als ihr Vater es endlich zu fassen bekam, stieß das Drachenkind einen Laut aus, der wohl ein Brüllen sein sollte. Lachend hatte der Mann seine Frau angesehen, die bei dem Anblick der sich ihr bot sanft lächelte. Sie hatte in den sieben Monaten nicht ein einziges Mal über den Namen ihres Kindes nachgedacht, doch nun fiel es ihr geradezu in den Schoß.
„Cath“, hauchte sie und sah ihren Mann abwartend an.
„Cath?“, wiederholte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Bist du dir sicher?“
Er wollte es ihr überlassen einen Namen auszusuchen. Er war mit Sicherheit nicht gut in solchen Dingen. Nachdem er seine Tochter einige Minuten lang stolz betrachtet hatte, reichte er sie wieder an seine Frau, die lange Zeit lang mit einem Gesichtsausdruck auf das Kind herab sah, der klar machte, dass sie etwas zu ahnen schien.
„Ja, Cath. Ein kurzer und knapper Name, für eine starke und unabhängige Frau die einmal aus ihr werden wird!“
Es war entschieden. Ihre Tochter hieße Cath van Less.
Doch das Glück währte nicht ewig...
„Cath!“
Donnernd hallte die dunkle Stimme von den Wänden wider, die die junge Frau augenblicklich in der Bewegung erstarren ließ. Dabei hatte sie gar nichts getan! Sie stand doch nur hier. Langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite, worauf ihr Vater in ihr Blickfeld fiel.
„Vater“, sagte sie leise und entschuldigend, obwohl sie wusste, dass sie noch keinerlei Schuld traf.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du hier absolut nichts zu suchen hast“, knurrte Dragan und trat nun näher. In seinen trüben, goldenen Augen funkelte der Zorn und seine muskulöse Gestalt war voller Anspannung.
„Du wirst diesen Raum niemals betreten, hast du das verstanden?“, donnerte er. Cath zog die Schultern ein und trat sofort einige Schritte zurück.
„Jawohl, Vater“, flüsterte sie und senkte den Blick.
Der Mann schickte sie auf ihr Zimmer und die junge Frau sputete sich. Sie respektierte ihren Vater und seine Entscheidungen und tat fast immer, was er ihr sagte. Doch es würde der Tag kommen, an dem sie dieses Zimmer betrat und endlich herausfand, was sich dahinter verbarg.
Hier, in diesem Anwesen in Nevada, gab es haufenweise Zimmer in denen sie tun und lassen konnte was sie wollte, also was konnte sich so schlimmes in diesem verbergen?
Hatte ihr Vater Geheimnisse vor ihr? Kopfschüttelnd ging sie in ihr Zimmer. Er war ihr Vater, sie hatte zu respektieren, dass er das nicht wollte. Auch, wenn sie es nicht verstand.
„Ich frage mich, ob Mutter es auch verboten hätte“, sprach sie zu sich selbst und schmiss sich in ihr Bett, nachdem sie ihr Reich betreten hatte. Nachdenklich starrte sie an die blutrote Zimmerdecke. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, doch ihre Mutter war gestorben, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Alles woran sie sich noch erinnerte, war das feuerrote Haar und dieser süße Duft. Bei dem Gedanken an diese Dinge, fühlte sie sich augenblicklich geborgen.
Selbst heute, mit neunzehn Jahren, wusste sie nicht viel über ihre Mutter. Laut ihrem Onkel Ace, einem weiteren Wächter, hat sie für Drachen gearbeitet. Sie soll eine sehr mächtige Frau gewesen sein, vor der jeder Respekt und Angst hatte, genauso wie vor ihrem Vater.
Was ihren Vater, Dragan, anging, so hatte sein Leben sich wohl in eine Hölle verwandelt. Doch davon wusste Cath nichts und sie konnte es auch nicht beurteilen.
Betrübt sah Dragan seiner Tochter nach, dann machte er sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer.
Dreizehn Jahre war es nun her, seit seine Gefährtin ihn verlassen hatte und noch immer raubte der Schmerz darüber ihm seine Sinne. Noch immer hörte er ihr neckisches Lachen so deutlich, als würde sie neben ihm stehen und ihn herausfordernd anfunkeln. Mit verzogenem Gesicht und Verbitterung erinnerte er sich an diesen einen Tag zurück...
„Ich habe den jungen Drachen aufgespürt und bin jetzt auf dem Weg zu ihm. Er lässt es wohl auf einen Kampf ankommen, aber den habe ich schnell überwältigt. Ich dürfte heute Abend wieder Zuhause sein, achte bis dahin bitte darauf, dass Cath ausreichend lernt, sie hat sich in letzter Zeit immer davor gedrückt“, grummelte Jael am anderen Ende der Leitung.
Dragan lachte leise und warf dem kleinen Mädchen, welches vor dem Kamin das Handbuch der Drachen laß, einen liebevollen Blick zu.
„Keine Sorge, sie verbringt ihre Freizeit auch so mit wertvollen Dingen“, lachte er und wurde dann ein wenig leiser. „Sei vorsichtig, hörst du?“, hauchte er, worauf es am anderen Ende ebenfalls ruhiger wurde.
„Immer. Ich liebe dich!“
Noch bevor er das erwidern konnte, hatte die Frau das Gespräch beendet. Schmunzelnd ließ Dragan das Handy in seiner Hosentasche verschwinden. So war sie, seine Gefährtin.
…
Es vergingen genau vier Stunden, dann erreichte ihn die grauenhafte Nachricht.
Dragan war gerade dabei seiner Tochter die schulterlangen, tiefschwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden, da kam Ace in den Raum gerauscht, mit feuchten Augen und dreckverkrusteten Händen.
„Dragan!“, keuchte er, außer Atem und mit brüchiger Stimme.
Irritiert über das Auftreten und Verhalten seines Bruder, stupste der Mann seine Tochter an.
„Geh und lerne, Cath. Ich bin gleich wieder bei dir“, sagte er herrisch. Seine Tochter lächelte ihn an und wandte sich ab, dann ging sie zum anderen Ende des Raumes und schnappte sich dort wieder einmal ein Buch.
„Was gibt es?“, wollte Dragan jetzt wissen und trat an seinen Bruder heran. Dieser war aschfahl im Gesicht und beunruhigte ihn somit nur noch mehr.
„Jael“, murmelte Ace und sorgte bei Dragan für Verwirrung. Himmel, was hatte sie nun schon wieder für einen Ärger verursacht? Missmutig und ungeduldig sah er Ace an, doch dieser sah ihn einfach nur schockiert an.
„Sie... hatte einen Unfall“, sagte er dann leise und so langsam, dass Dragan erst glaubte er mache einen Scherz. Schnaubend verschränkte er die Arme.
„Was denn bitte für einen Unfall?“, brummte er.
„Dieser junge Drache, den sie gejagt hat“, fuhr Ace bedacht fort. „Offenbar hat sie ihn an eine Klippe herangetrieben aber... irgendwie hat sich das Blatt gewendet und... er hat Jael bedrängt, so sehr, dass sie...“
Langsam wurde der schwarze Drache ungeduldig. Er packte seinen Bruder an den Schultern und schüttelte diesen wild.
„Nun spuck es schon aus, verdammt noch mal“, befahl er, dann wurde Ace zusehends noch blasser. Sämtlicher Glanz verschwand aus dessen Augen.
„Er wollte sie nur einschüchtern und hat einen Schritt auf sie zugemacht aber...“ Er schluckte, dann senkte er den Blick. „Sie hat sich offenbar verschätzt und einen Schritt zurück gemacht und dabei ist sie über die Kante der Klippe getreten. Der junge Drache ist in Panik geraten und ist hinterher gestürzt aber... Es war zu spät. Ihr Körper... war vollkommen zertrümmert. Ich bin sofort hin um irgendetwas zu unternehmen, aber Dragan, es war zu spät. Sie hat es nicht überlebt.“
Die Zeit blieb stehen und nichts war mehr zu vernehmen, selbst Dragans eigener Herzschlag setzte für einen Moment aus. Er wollte es nicht glauben, er konnte es auch gar nicht. Seine geliebte Frau war eine Kopfgeldjägerin, die selbst einen Drachen getötet hatte, sie wäre niemals so leichtsinnig und verschätzen tat sie sich auch nicht! Ace musste sich einfach einen Scherz mit ihm erlauben. Doch Ace hatte seine Frau genauso gern gehabt wie auch Ivan und Amir, beim Anblick der feuchten Augen seines Bruders war ihm klar, dass es die Wahrheit war.
Jael war tot und würde nicht mehr zurück kommen.
Dragan bemerkte es nicht, doch Tränen traten ihm in die Augen und liefen über. Wie in Trance sah er zu seiner Tochter hinüber, die nun aufmerksam geworden war und ihren Vater eingehend betrachtete.
„Was ist los, Papa? Ist etwas passiert?“, fragte sie mit ihrer kindlichen Stimme.
Sie ließ das Buch in ihren Händen fallen und kam zu ihm, um mit den Händen den Bund seines Hemds zu ergreifen und mit großen Augen zu ihm aufzusehen. Der Mann hielt sich die Hand vor den Mund um ein Schluchzen zu unterdrücken, die andere Hand legte er auf Caths Scheitel. Wie, zur Hölle, sollte er ihr bitte erklären, dass sie ihre Mutter nie wieder zu Gesicht bekäme? Cath vergötterte Jael schließlich!
Dragan ging schließlich in die Hocke, doch noch bevor er etwas sagen konnte, wischte das Mädchen mit ihren winzigen Händen seine Tränen fort.
„Du hast noch nie geweint, Papa“, stellte sie leise fest.
Das ließ den Mann nur noch mehr schluchzen. Er konnte sein geliebtes Mädchen doch nicht alleine großziehen.
„Cath, Liebes“, begann er sanft und bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln. „Süße, du musst jetzt tapfer sein, hörst du? Mama kommt nicht mehr zurück, sie hatte einen Unfall.“
Noch nie hatte seine Stimme so brüchig geklungen und nie würde er vergessen, wie verständnislos Cath ihn angesehen hatte. Doch dann brach sie in Tränen aus und fing an zu schreien.
„Aber Mama kann uns nicht alleine lassen!“, schrie sie all ihren Schmerz hinaus. Mit gebrochenem Herzen drückte Dragan seine Tochter an sich.
„Shh, meine Kleine. Es wird alles wieder gut!“
Es war nicht alles wieder gut geworden. Dragan hatte sich stets bemüht ein guter Vater zu sein, doch die grausame Wahrheit war, dass er sich am liebsten selbst umgebracht hätte. Alles was ihn noch auf dieser Welt hielt, war seine Tochter. Solange sie noch ein Kind war, musste er sie beschützen. Dabei bemühte er sich Cath genau so zu erziehen, wie Jael es gewollt hatte. Ständig hatte sie ihm klar gemacht, dass sie die menschlichen Seiten an ihrer Tochter erhalten wollte.
Cath war durch und durch Drache, das Temperament hatte sie von ihrem Vater, doch die Wissbegier, Stärke und ihr großes Herz, hatte sie von ihrer Mutter.
Heute, mit ihren fast zwanzig Jahren, sah sie seiner Frau immer ähnlicher und genau das, machte es für Dragan nur noch unerträglicher. Ein einziges Mal hatte dieses Kind ihm gesagt, er solle sich endlich neu verlieben, doch daraufhin war er so ausgeflippt, dass Cath endlich begriffen hatte, wie es wirklich um ihren Vater stand. Jael war tatsächlich die einzige Frau, die er lieben konnte. Ihr Wappen auf seiner Brust zeugte noch heute davon.
Als Dragan ins Hier und Jetzt zurückkehrte, saß er mit schmerzender Brust hinter seinem Schreibtisch. Diese Schmerzen würden niemals aufhören. Völlig egal, wie sehr er auch versuchte sie zu verdrängen. Ein Klopfen an der Tür des Raumes ließ ihn aufmerksam werden. Die Tür war geöffnet, wodurch er sah, dass es sich um seine Tochter handelte.
„Hatte ich dich nicht auf dein Zimmer geschickt?“, murmelte er, doch Cath ließ sich dadurch nicht beeindrucken.
„Dad, kann ich mit dir reden?“, fragte sie leise und trat auch schon ein. Seufzend winkte der Mann sie an sich heran.
„Komm mal her“, befahl er.
Cath zögerte zwar erst, gehorchte aber dann und ging um den Schreibtisch herum, um vor ihn zu treten. Sie wusste gar nicht wie ihr geschah, da legte ihr Vater ihr auch schon die Hand auf den Hinterkopf und küsste ihre Stirn.
„Du bist mein Ein und Alles, Cath, und ich liebe dich. Vergiss das niemals!“, hauchte er.
„Werde ich nicht“, murmelte die junge Frau und trat dann einen Schritt zurück. Leichtfüßig setzte sie sich auf Dragans Schreibtisch, so wie auch Jael es immer gemacht hatte.
„Ich weiß du willst das eigentlich nicht hören, aber kannst du mir etwas über Mom erzählen?“, bat sie leise. Dragans Miene verhärtete sich.
„Wir haben nie über deine Mutter gesprochen, Kind. Warum willst du auf einmal damit anfangen?“, knurrte er leise.
„Ich weiß, Dad. Aber sie fehlt mir“, gestand Cath.
Daraufhin wurden Dragans Züge wieder sanfter. Er ertrug es nicht über seine tote Frau zu sprechen, doch seinem Kind zuliebe hatte er wohl keine andere Wahl. Kurz schloss er die Augen.
„Deine Mutter war eine sehr beeindruckende Frau, Cath. Sie kam aus reichem Hause und hat gegen alles und jeden rebelliert, indem sie zur Kopfgeldjägerin wurde. Und sie hat ihren Job geliebt. Sie war sehr stur und aufbrausend aber unglaublich liebevoll. Jeder hatte Respekt vor ihr und nachdem ich sie zu meiner Frau gemacht habe, konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten. Der Grund, warum es mir immer so schwerfällt darüber zu reden ist, weil du fast so aussiehst wie sie, Liebes“, erklärte er leise. Mit geschmälerten Augen beobachtete er, wie ihre sich weiteten.
„E-Es tut mir leid“, hauchte sie, irgendwie geschockt. Sie hatte wirklich nicht gewusst, dass sie so aussah wie ihre Mutter. Aber vielleicht erklärte das die komischen Blicke von Amir und Ivan immer.
„Es muss dir nicht leid tun, Kind“, sagte ihr Vater mit einem sanften Lächeln. „Ich habe alles an dieser Frau geliebt, selbst ihre Narben. Es ist kaum zu glauben, aber du hast sogar die gleiche Figur wie sie.“
Cath blinzelte perplex und sah dann an sich hinunter. Mit ihrer ausladenden Oberweite und den breiten Hüften hatte sie sich immer recht dick gefühlt und wie ein Elefant im Porzellanladen.
Ihre schmale Taille hingegen bewies das Gegenteil. Ihrem Vater schien ein Gedanke gekommen zu sein, denn plötzlich erhob er sich.
„Komm mal mit“, verlangte er und verließ den Raum.
Neugierig folgte Cath ihm. Sein Blick eben hatte erkennen lassen, wie sehr er ihre Mutter noch immer liebte. Und nun verstand sie durchaus, warum ihn das alles so quälte. Wenn sie aussah wie sie, musste er jedes Mal seine Frau sehen wenn er in das Gesicht seiner Tochter blickte.
Auf der Stelle hatte sie Mitleid mit ihm. Und trotz all seiner Verbitterung, war er ein unglaublich toller Vater. Sie würde ihm unbedingt noch einmal dafür danken müssen.
Ihr Vater führte sie in sein Schlafzimmer, in dem sie ehrlich gesagt nur sehr selten gewesen war. Das ganze Ambiente hier drinnen erdrückte sie, so auch jetzt. In Sekundenbruchteilen hatte Dragan ein Feuer im Kamin entfacht, dann ging er zum Kleiderschrank. Verblüfft beobachtete Cath, wie er daraus eine verdammt knappe Lederrüstung zog. Er reichte sie ihr und bedeutete ihr dann, sie anzuziehen. Mit skeptischem Blick kehrte Cath ihm den Rücken zu, dann zog sie sich ihr schwarzes T-Shirt über den Kopf. Hinter sich konnte sie ihren Vater murmeln hören.
„Du kommst wirklich voll und ganz nach ihr. Du besitzt genauso wenig Schamgefühl wie sie.“
Cath erwiderte nichts darauf. Sie vermisste ihre Mutter wirklich, auch wenn sie sich kaum an sie erinnerte. Aber ihr ganzes Leben lang schon, fehlte ihr eine weibliche Bezugsperson.
Es dauerte nur fünf Minuten, da hatte die junge Frau sich umgezogen. Und scheiße, das Leder schmiegte sich perfekt an ihre Haut. Als sie sich umdrehte, entglitten ihrem Vater für einen kurzen Augenblick die Gesichtszüge. Dann machte er eine Geste mit der Hand.
„Vor den Spiegel mit dir“, wies er sie an.
Als Cath dem nachkam, trat der Mann hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Stell dir vor, du hättest feuerrotes Haar. Dann wärst du von ihr nicht mehr zu unterscheiden“, sagte er leise.
„Dad...“, erwiderte Cath leise, doch Dragan trat vor sie und unterbrach sie, indem er ihr die Hand ans Gesicht legte.
„Ich bin sehr stolz auf dich, Cath. Aus dir ist eine unglaublich hübsche und äußerst kluge Frau geworden. Deine Mutter wäre genauso stolz auf dich. Und es tut mir leid, dass du immer meine Launen ertragen musst“, sagte er leise. Und in der Tat konnte Cath den Stolz in seinen Augen ausmachen.
„Das macht nichts, Dad. Du bist ein toller Vater, keine Sorge“, erwiderte sie, dann trat sie zurück. „Darf ich sie behalten?“, fragte sie dann und deutete auf die Rüstung. Mit glasigem Blick wandte Dragan den Blick ab.
„Nein. Aber wir lassen dir eine eigene anfertigen, versprochen.“
Cath gab sich damit zufrieden, denn sie hatte Verständnis. Sicherlich würde ihr Vater dann erst recht an seine Gefährtin denken. Während sie sich umzog, kam ihr aber ein anderer Gedanke.
„Vater?“, hauchte sie. Aufmerksam sah Dragan sie an.
„Mutter war ein Mensch, richtig? Also wie zur Hölle ist es ihr gelungen, einen Drachen zu töten?“
Sie hatte diese Geschichte durchaus schon einmal gehört, doch sie war eine Erinnerung, bei der sie immer wieder nachfragen musste. Dragan lachte leise als er die Rüstung am Ende wieder an sich nahm. Sie war warm und erinnerte ihn einmal mehr daran wie großartig es gewesen war, als Jael die Rüstung immer abgelegt und dann zu ihm ins Bett gekommen war.
„Sie hat ihn erschossen. Ohne zu zögern und eiskalt.“
Nachdenklich saß der Mann auf dem Sofa und starrte in die offenen Flammen. Nur am Rande hörte er, wie seine Tochter am Tisch in der Ecke saß und in einem Buch blätterte.
Sie laß ständig, allem voran das Handbuch der Drachen. Die heilige Drachenschrift verwehrte er ihr. So weit war sie noch nicht. Doch als er ihr das damals gesagt hatte, war der Protest deutlich in ihren Augen zu erkennen gewesen. Keine Frage, es würde der Tag kommen, an dem sie erneut danach verlangen würde. Und Dragan konnte sie nicht ewig davon abhalten, dessen war er sich bewusst.
Was ihn selbst betraf, so war er kaum noch aktiv. Er hatte sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und überließ es den anderen seiner Art, um neue Herrschaftsgebiete oder anderweitige Macht zu kämpfen. Er bewachte von nun an nur noch die heilige Drachenschrift und achtete darauf, dass seine Tochter keinen Unsinn anstellte. Das war's. Selbst Menschen hatte er schon seit Jahren keine mehr unter Vertrag genommen.
Sein zurückgezogenes Dasein hatte viele Drachen auflachen lassen. Für sie war das Geschehene der ultimative Beweis dafür, dass sie Recht gehabt hatten. Sich auf einen Menschen einzulassen war und blieb einfach ein riesengroßer Fehler. Doch trotz der Häme waren genauso viele Drachen auch besorgt. Dragan nicht mehr zu Gesicht zu bekommen, ließ sie das Schlimmste befürchten und so kursierte des öfteren das Gerücht, er habe sich ebenfalls von einer Klippe gestürzt.
Cath hatte dies einige Male mitbekommen und wollte sofort aufbrechen, um diese Männer und Frauen zur Rede zu stellen, doch am Ende war es ihr Onkel gewesen, der sie davon abgehalten hatte.
Dragan war sein Leben lang selbst für seinen Ruf veranwortlich gewesen, wenn dies nun seine Tochter in die Hand nehmen würde, wäre das Gelächter nur noch größer und der Schaden erst recht nicht mehr zu minimieren. Seitdem bemühte Cath sich, ihren Vater wenigstens ab und zu vor die Tür zu bekommen. Sie verlangte oft mehr von der Welt zu sehen und wusste ganz genau, dass ihr Vater sie nicht alleine ziehen lassen würde. Also war er dazu gezwungen, sie an die Orte hinzubringen die sie sehen wollte. Madagaskar hatte sie dabei ganz besonders beeindruckt.
Ihre dutzenden Notizbücher waren mittlerweile voll von Skizzen und Infos, die sie selbst zusammengetragen hatte. Dragan war stolz, keine Frage, Spaß empfand er bei ihren Ausflügen allerdings nicht. Selbst dabei fehlte ihm seine Frau. Viel zu selten hatten die beiden zusammen die Welt bereist, meistens waren sie immer alleine unterwegs gewesen.
Dragan schloss die Augen und konzentrierte sich nun auf die Schritte, die in der Ferne zu vernehmen waren. Sie waren schnell und ungleichmäßig und scheinbar handelte es sich nicht nur um eine Person. Die Schritte wurden lauter und auch Stimmengemurmel war zu vernehmen, doch egal wie sehr Dragan sich anstrengte es zu verstehen, es wurde viel zu schnell gesprochen um einzelne Worte verstehen zu können. Erst als die Personen vor dem Raum angekommen waren und scheinbar vor der Tür standen, waren einzelne Satzfetzen zu verstehen.
„Sie haben hier...“, hörte Dragan heraus, doch da wurde die schwere und hölzerne Tür des Raumes auch schon aufgerissen. Der schwarze Drache sah zur Seite und versteinerte, als er die zwei altbekannten Gesichter erkannt hatte. Die Zeit hatte auch an ihnen ihre Spuren hinterlassen und so sah Dragan in zwei faltenreiche Gesichter, die von grauen Haaren umrahmt waren. Sofort war er aufgesprungen.
„Was habt ihr hier zu suchen?“, krächzte er, kurz davor die Beherrschung zu verlieren. Bellatrix stürmte auf ihn zu und packte ihn am Kragen, um ihn wie wild zu schütteln.
„Was, zum Teufel, hast du mit unserer Tochter gemacht, du Monster!“, schrie sie mit Tränen in den Augen.
Dragan erbleichte und hielt kurz still. Niemals hätte er erwartet, dass diese Frau so reagieren könnte und ihm auch noch so nahe kam. Blitzschnell stieß er die kleine Frau von sich.
„Ich habe überhaupt nichts gemacht“, hauchte Dragan noch immer erzürnt und sah nun abwechselnd von Bellatrix zu Vincenc und wieder zurück. „Und was fällt euch überhaupt ein, hier einfach so aufzutauchen? Ich dachte ich hätte euch damals klar gemacht, dass wir euch nie wiedersehen wollen?“, knurrte er dann leise.
Nun trat der Mann ihm gegenüber einen Schritt nach vorne und es wunderte ihn kein Stück, dass auch er ihn anbrüllte.
„Dachtest du wirklich wir bleiben still sitzen, wenn wir erfahren, dass unsere Tochter tot ist?“
Nun reichte es Dragan, mit einem Schlag kehrte all die Farbe in sein Gesicht zurück und es war eine Menge rot dabei.
„Sie ist schon seit dreizehn Jahren tot, verdammt!“, schrie er seinen Frust hinaus. „Sie ist von einer Klippe gestürzt.“
Ehrlich gesagt kotzte es ihn an, dass ihre Eltern es nun erst geschafft hatten daran teilzunehmen. Doch ihre fassungslosen Gesichter machten auf der Stelle klar, dass sie es vor kurzem erst erfahren haben mussten. Bellatrix hielt sich die Hand vor den Mund, um bloß kein Schluchzen hören zu lassen.
„Dreizehn Jahre“, wisperte sie. Sie konnte es genauso wenig begreifen, wie Dragan auch heute noch.
„Was ist denn hier los?“, brummte hinter ihnen nun eine junge Frauenstimme, die das Ehepaar Nova herumwirbeln ließ. Cath hatte sich aus solch lautstarken Konversationen nie etwas gemacht, denn sie war es mittlerweile gewöhnt. Beim Thema war sie allerdings stutzig und aufmerksam geworden. Wer waren diese Leute, die ihr Vater offenbar so sehr hasste?
Als Bellatrix und Vincenc die Frau sahen, entglitten ihnen erneut ihre Gesichtszüge.
„Jael“, flüsterte Vincenc und Cath hob sofort abwehrend die Hände.
„Verzeihung, aber Sie verwechseln mich mit meiner Mutter“, klärte sie auf, als Bellatrix schon auf sie zukam. Als die Blicke der beiden Menschen Dragan trafen, hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Wie gerne hätte er seine Tochter nun fortgeschickt, sie sollte nicht in die Nähe dieser beiden kommen, doch er wusste es war zwecklos. Er konnte ihr das nicht vorenthalten. Auch, wenn er es liebend gerne täte. Mit einem bedeutsamen Blick bedeutete er Cath an seine Seite zu treten, was sie auch sofort verstand und tat. An seiner Seite ankommend, legte ihr Vater eine Hand an ihre Schulter. Sofort spürte sie die Anspannung, die seine Muskeln beherrschte.
Was zur Hölle war hier eigentlich los?
„Das ist Cath, Jaels und meine Tochter“, stellte er sein Kind vor, ohne noch weiter mit der Wimper zu zucken. Dass Vincenc wieder lospolterte, verblüffte Dragan keineswegs. Als er also näher kam, schob er seine Tochter hinter sich.
„Erst hältst du uns den Tod unserer Tochter vor und dann auch noch unser Enkelkind? Was fällt dir eigentlich ein?“, schnauzte er.
Nun erst fiel Dragans Blick auf Cemal, der noch immer entschuldigend am Rande stand und ihn wartend ansah. Er wusste genau, was sein Untergebener wissen wollte.
„Cemal, begleite unsere Gäste hinaus. Da sie ihre Enkelin ja nun kennengelernt haben, gibt es keinen Grund ihre Anwesenheit weiter zu erdulden“, befahl er.
Cemal verneigte sich leicht und versuchte dann, die Eheleute aus dem Raum zu schaffen. Erstaunlicherweise gelang es ihm, allerdings nicht, ohne dabei von lautstarken Flüchen und Protesten begleitet zu werden. Dragan und Cath blieben zurück.
Um ehrlich zu sein war sie fassunslos und genau so sah sie ihn nun auch an.
„Warum hast du mir meine Großeltern verschwiegen?“, fauchte Cath.
Sie war verdammt wütend auf ihren Vater. Er konnte ihr doch nicht einfach einen Teil ihrer Familie vorenthalten. Erst recht nicht die Eltern ihrer Mutter.
Dragans Gestalt wurde ihr gegenüber nicht sanfter, so wie es sonst immer der Fall war, ganz im Gegenteil. Er baute sich in solch beängstigender Gestalt vor ihr auf, dass sie sich für einen Moment fragte wer denn je so lebensmüde wäre, solch einen Mann zu lieben? Wer wäre mutig genug dazu? Ihre Mutter war es...
Sie würde sich ein Beispiel an dieser Frau nehmen. Wenn sie mit Dragan umgehen konnte, dann konnte ihre Tochter das erst recht.
„Diese Menschen haben Jaels Leben zur Hölle gemacht, Cath!“, brüllte ihr Vater. „Sie haben sie misshandelt und haben ihre Tochter nie Kind sein lassen. Deine Mutter hat selbst noch als erwachsene Frau unter ihren Eltern gelitten und ich werde nicht zulassen, dass sie sich nun an dir vergreifen. Du wirst diese Menschen nie wieder sehen und auch keinen Kontakt zu ihnen aufbauen, nur damit das klar ist!“
Cath zog ein Stück die Schultern ein und senkte den Blick.
„Jawohl, Vater“, hauchte sie und beobachtete, wie der Mann knurrend aus dem Saal rauschte. Nachdenklich und eine Spur entschlossen sah seine Tochter ihm nach. Sie würde nicht auf ihn hören. Nicht dieses Mal.
Mit energischen Schritten stapfte auch sie aus dem Raum, um sich auf den Weg in ihr Zimmer zu machen. Dort angekommen hielt sie unwillkürlich erst einmal inne. Mit einem Schlag war ihr klar geworden, wie gut sie es in ihrem Leben eigentlich hatte. Sie war wohlbehütet aufgewachsen und wurde sich dessen jetzt erst bewusst.
Ihr großes Zimmer mit den dunkelroten Wänden mochte auf den ersten Blick sehr düster erscheinen, doch dies täuschte. Ein Kronleuchter vollständig aus Kristall hing von der Decke und verstreute das Licht wie ein Kaleidoskop. Unzählige Bilder und Fotos von Wasserfällen auf der ganzen Welt hingen an den Wänden, selbst ihr riesiger Kleiderschrank war voll von Skizzen und Zeichnungen. Allerdings zeigten diese Abbildungen Artefakte und Schätze, von denen man nicht einmal wusste ob diese überhaupt noch existierten, geschweige denn auch zu finden waren.
Caths Blick wanderte weiter und fand ihren Schreibtisch, auf dem das pure Chaos herrschte. Aufgeschlagene Bücher, alte Schriften und Pergamente, Dinge von Menschen erschaffen, hinter deren Geheimnisse selbst heute noch keiner gekommen war.
Ihr Blick fand ihre Bücherwand. Sie wusste nicht wie viele Bücher sie besaß und sie wusste auch nicht, wie es ihrem Vater gelungen war ihr diese auszuhändigen, denn diese Bücher und Schriften waren so alt, dass sie eigentlich in ein Museum gehörten. Als Cath sich in Bewegung setzte, ging sie an ihrem schmalen Wandregal vorbei. Auf diesem standen unzählige Flakons von hochwertigen und wertvollen Parfüms, die sie von überall auf der Welt sammelte.
Ihr Vater hasste es. Jedes Mal verzog er knurrend das Gesicht, wenn ihm einer dieser Düfte in die Nase stieg. Cath hingegen liebte es diese verschiedenen Düfte zu entschlüsseln und herauszufinden, aus welchen Bestandteilen sie denn bestanden. Sie gab nicht viel auf ihr Aussehen, band sich die Haare fast jeden Tag zu einem Pferdeschwanz zusammen und trug fast ausschließlich schwarze Klamotten. Was das anging, ließ ihr Vater ihr freie Wahl. Schon als kleines Kind hatte sie sich ihre Sachen selbst aussuchen dürfen.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ja, sie hatte es wirklich gut. Doch irgendwann musste sie auch mal ein Risiko eingehen und dieser Zeitpunkt war nun da.
Entschlossen riss sie die Kleiderschranktüren auf, dann zog sie einen Rucksack aus Leder heraus. In diesen stopfte sie wahllos ein paar T-Shirts hinein und zwei Hosen, dann machte sie kehrt und lief ins Bad, wo sie sich Zahnbürste, Haarbürste und Haargummis schnappte und auch diese im Rucksack verschwinden ließ. Als sie sich dann ihre lederne Bikerjacke überzog und schon zur Tür hinaus wollte, hielt sie jedoch noch einmal inne.
„Unterwäsche“, murmelte sie und drehte sich noch einmal um. Kopfschüttelnd packte sie auch diese ein, worauf der Rucksack schon fast nicht mehr zuging.
„Das nächste Mal plane ich so etwas besser, ehe ich Hals über Kopf los stürze."
Binnen fünf Minuten stand sie dann vor dem Anwesen, doch natürlich konnte sie nicht einfach so aufbrechen. Nicht, ohne dass ihr Vater Wind davon bekam.
„Was hast du nun schon wieder vor?“, ertönte ein Knurren hinter ihr. Cath biss die Zähne zusammen und drehte sich mit unschuldigem Blick zu Dragan um.
„Ich wollte zu Ivan und Amir. Die Luft hier ist mir zu dick“, erwiderte sie frech. Offenbar glaubte der Mann nicht daran, dass sie ihn wirklich anlügen würde, dennoch verengten sich seine Augen.
„Und seit wann verabschieden wir uns da nicht mehr?“, brummte er. Ohne seinem Blick auszuweichen und fast schon trotzig, sah Cath ihren Vater an.
„Du bist so mies drauf, da gehe ich dir lieber aus dem Weg“, sagte sie ausdruckslos.
Schnaubend wandte Dragan sich ab.
„Melde dich einfach“, grummelte er, worauf die junge Frau die Brauen hochzog. Himmel, er musste wirklich schlechte Laune haben, wenn er einfach so kehrt machte und ging. Doch sollte ihr recht sein. Umso weniger Probleme würde sie bekommen. Ohne noch weiter darüber nachzudenken machte Cath ebenfalls kehrt und verwandelte sich.
Als Ivan den schlanken und grauen Drachen am Himmel entdeckte, blieb er stehen. Cath hatte noch nie ohne Ankündigung in Seattle vorbeigeschaut, war etwas passiert?
Als auch die Menschen Cath entdeckt hatten sahen sie zwar kurz dabei zu, wie sie durch die engen Straßen navigierte, dann gingen sie aber wieder ihrem Alltag nach. Dragans Familie war in den Metropolen bereits ziemlich bekannt, es störte sich also kein Mensch mehr an einem Drachen, der mal zufällig in der Stadt war.
Als die Drachenfrau gelandet war und sich vor Ivan verwandelt hatte, hielt sie kurz inne. Dieser Mann sah, zusammen mit seinem Bruder, jedes Mal anders aus wenn sie hier war. Der muskelbepackte Mann mit nur einem Arm hatte bereits ergrauendes Haar und dieses Mal noch dunklere und tiefere Ringe unter den Augen. Statt einer Rüstung trug er heute nur Shirt und Jeans, was ein ungewohnter Anblick für Cath war.
„Hallo, Ivan“, grüßte sie mit einem strahlenden Lächeln und zog den Kopfgeldjäger in eine Umarmung. Statt ebenfalls zu grüßen, zog Ivan die Brauen hoch.
„Kleines, was machst du hier?“, fragte er irritiert.
Seufzend trat Cath zurück. Dieser Mann wurde zusammen mit Amir seinem Vater immer ähnlicher und strenger. Auf einmal überkamen sie deshalb Zweifel an ihrem Vorhaben. Die Augen verdrehend strich sie sich eine Strähne ihrer schwarzen hüftlangen Haare zurück.
„Ich brauch 'ne Pause von meinem Vater. Und habe ein mehr oder weniger großes Anliegen. Kannst du, wenn er sich hier meldet, sagen, dass alles in Ordnung ist und ich brav bin?“
Ivan bedeutete ihr das Gebäude der Organisation zu betreten und setzte erst im Inneren zu einer Antwort an.
„Das kommt darauf an. Was hast du vor?“
Cath wog für ein paar Sekunden die Situation ab. Sollte sie ihrem Freund die Wahrheit sagen oder die Situation verharmlosen und gar schön reden? Mit ernstem Gesicht und erhobenem Kinn antwortete sie darauf.
„Meine Großeltern waren vor ein paar Stunden bei uns. Ich will wissen, wer diese Leute sind. Dad hat mir den Kontakt verboten, aber das ist die Chance mehr über Mom zu erfahren.“
Ivan schwieg erst. Caths Entschlossenheit zeugte von ihrer Herkunft und er war im ersten Augenblick stolz zu sehen, was aus Jaels kleinem Mädchen geworden war, allerdings...
„Wenn das so ist, muss ich deinem Vater Recht geben. Bellatrix und Vincenc sind der Abschaum unserer Gesellschaft. Ich und mein Bruder wussten damals nicht auch nur im Ansatz, was deine Mutter bereits alles durchgemacht hat, als sie zu uns kam. Erst nach weit mehr über zehn Jahren haben wir einen Teil davon erfahren. Und überhaupt, haben dein Vater und wir dir nicht schon genug über deine Mutter erzählt?“
Cath war enttäuscht. Sie hätte nicht mit solch einer Reaktion von ihm gerechnet, war er doch sonst immer so locker. Mit einem leisen Fauchen wandte sie den Blick von Ivan ab.
„Ich weiß, dass ich ihr aus dem Gesicht geschnitten bin, sie eine starke Kopfgeldjägerin war und scheinbar eine hartes Leben hatte. Das ist dann aber auch schon alles“, regte sie sich auf.
Seufzend bedeutete der Mann ihr, ihm zu folgen. Sie war zwar schon neunzehn Jahre alt, aber noch lange nicht erwachsen. Ein Wunder, dass sie noch nie in Gefahr geraten war. Das hatte man wohl Dragan zu verdanken.
„Ich gebe dir Deckung und werde dich nicht verpfeifen, sollte dein Vater sich melden. Aber solltest du durch deine Großeltern in Schwierigkeiten geraten, brauchst du von mir keine Hilfe erwarten, hast du verstanden?“, murmelte er leise, was dadurch nicht weniger bedrohlich klang.
„Danke“, antwortete Cath, wenn auch nur halbherzig.
Sie fragte sich wo Ivan sie hinführte, bis sie vor einer gesicherten Tür im sechsundachtzigsten Stock standen. Noch bevor Ivan klopfen konnte, öffnete die Tür sich und der Mann verschwand wieder im Gang. Cath sah ihm verdutzt nach. Er ließ sie einfach so alleine? Kopfschüttelnd trat sie in das Büro, wo Dubois hinter seinem Schreibtisch aufsah. Für einen Moment weiteten sich die Augen des hager gewordenen Mannes.
„Cath?“, hauchte er. Er hatte das Drachenmädchen nun schon seit gut fünf Jahren nicht mehr gesehen, aufgrund seiner ganzen Arbeit, und als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch nicht einmal in der Pubertät gewesen. Cath nickte mit einem schwachen Lächeln auf den Zügen, worauf der Mann sich erhob und seinen Tisch umrundete.
„Kind, was siehst du deiner Mutter ähnlich“, fuhr er fort und begutachtete sie von oben bis unten. So langsam konnte sie es nicht mehr hören.
„Ich weiß“, antwortete sie leise. Das ist dann aber auch schon alles, was ich weiß., fügte sie genervt in Gedanken an.
Dubois sah kränklich aus und so ganz anders, als Cath ihn in Erinnerung hatte. Wie wichtig war Zeit auf dieser Welt eigentlich? Der Mann gab ihr ein Zeichen, dass sie Platz nehmen sollte, was sie auch tat.
„Wie kann ich dir helfen?“, wollte Dubois wissen, nachdem auch er Platz genommen hatte. Cath setzte ein ernstes Gesicht auf und ermahnte sich, sich bloß nicht wie ein Kind aufzuführen. Dubois würde sonst ebenfalls nur Verbote aussprechen.
„Ich bin hier, weil ich mehr über meine Mutter herausfinden will. Ich hatte gehofft Sie könnten mir sagen, wo ich meine Großeltern finde?“
Dubois zog die Brauen hoch. Wie, zur Hölle, kam dieses Kind auf Bellatrix und Vincenc? Dragan würde sie niemals miteinander bekannt machen, eher fror die Hölle zu. Seine Miene verhärtete sich, als er sich zurücklehnte.
„Erst einmal kannst du mich ruhig duzen, Liebes. Und nein, ich kann dir nicht sagen wo du deine Großeltern findest. Das Anwesen in dem sie früher gelebt haben steht leer, weil sie pleite gegangen sind. Ich kann dir zwar die Anschrift geben, dass war es dann aber auch schon. Und ein gut gemeinter Rat von mir, halt dich von ihnen fern. Was deine Mutter angeht, da kann ich dir vielleicht wirklich helfen.“
Neugierig beobachtete Cath, wie der Mann sich umdrehte und nach einem silbernen Aktenschrank griff. Er zog einer dessen Schubladen auf und zog eine dicke Mappe heraus, die er ihr dann auf den Tisch knallte. Das Foto, welches auf der Vorderseite der Mappe mit einer Büroklammer fixiert worden war, machte Cath einen Augenblick stutzig. Sie wusste zwar wie ihre Mutter ausgesehen hatte, ein Foto hatte sie aber nie zu Gesicht bekommen. Bis jetzt.
Zögernd griff sie nach der Mappe. Das war die atemberaubendste Frau, die sie je gesehen hatte. War das wirklich Jael Nova? Ihre üppigen Locken waren in der Tat feuerrot und ihre Haut war fast schneeweiß. Ihre katzenhaften grünen Augen stachen in ihrem Gesicht ebenso hervor, wie ihr Schmollmund. Ihre Figur kam Cath tatsächlich bekannt vor, doch es gab Unterschiede. Deutlich sah man die Muskeln unter der blassen Haut dieser Frau lauern und alles an ihr wirkte so unglaublich elegant und filligran.
„Darf ich es behalten?“, hörte Cath sich selbst flüstern. Dubois schmunzelte. Sah ganz so aus, als wäre sie beeindruckt.
„Natürlich“, erwiderte er.
Cath starrte weiterhin auf das Foto. Ihre Mutter trug auf dem Bild die gleiche Rüstung, die sie selbst noch anprobiert hatte. Und an ihrer Mutter sah sie tausend mal besser aus. Wie eine zweite Haut schmiegte sie sich an die Kurven ihrer Mutter und machte aus ihr eine Kriegerin, die aus einem Film hätte stammen können. Überall an ihrem Körper waren Waffen befestigt. Messer, Dolche, Schwerter, Pistolen. Und verdammt, Cath konnte verstehen warum ihr Vater sie so toll gefunden haben musste. Sie schien einfach pefekt zu ihm zu passen.
„Nimm ruhig die ganze Akte. In ihr findest du auch die Adresse ihres Elternhauses“, hörte sie nun Dubois sagen.
Sie nahm es kaum wahr, doch sie bedankte sich mehrmals bei dem Kopf der Organisation und hetzte dann aus dem Büro. Sie wusste nicht wo sie hin sollte, wusste nur, dass sie in Ruhe diese Akte durchgehen wollte. Nach einer Viertelstunde fand sie sich in einem Café wieder, in dem kaum etwas los war und sie definitiv ihre Ruhe hatte. Man beachtete sie fast gar nicht, auch nicht, als sie in der hintersten Ecke des Lokals verschwand und dann in der Mappe in ihrer Hand versank.
Jael Nova, geboren in Seattle
Erste und einzige Tochter des Nova-Unternehmens
Blutgruppe 0 negativ
1,67m groß, von natur blond und grünäugig
Der Oranisation beigetreten mit fünfzehn, zum damaligen Zeitpunkt gefühlskalt und
keinerlei Erfahrung im Umgang mit sozialen Kontakten
Verliert schnell die Beherrschung, besitzt aber eine brilliante Auffassungsgabe
Ausgebildet und spezialisiert auf den Nahkampf mit Waffen aller Art
Schmerzresistent bis zur Ohnmachtsgrenze
Geschätztes Vermögen: Circa zwei Millionen US Dollar
Mit über zweihundert erfolgreich ausgeführten Aufträgen Stufe fünf in der Organisation
Bereits diese Datenmenge musste Cath erst einmal verarbeiten. Alle schwärmten immer so von ihrer Mutter, dabei machte es den Anschein, als wäre sie damals alles andere als umgänglich gewesen.
Waren ihre Großeltern also möglicherweise einfach nur mit ihrer Tochter überfordert gewesen?
Die Drachenfrau überflog die Zeilen erneut. Sie war beeindruckt als sie erneut las, dass ihre Mutter beim Eintritt in die Organisation erst fünfzehn Jahre alt gewesen war. Wie konnte ein junges Mädchen in dem Alter denn schon töten?
Cath erschauerte als sie begann, sich mit ihrer Mutter zu vergleichen. Ihr Vater hatte sie schon in jungen Jahren das Kämpfen gelehrt und egal wie tollpatschig sie sich am Anfang dabei auch angestellt hatte, mittlerweile war sie verdammt gut. Ehrlich gesagt hielt sie von körperlichen Auseinandersetzungen aber nicht viel. Ihre Mutter mochte eine ausgezeichnete Jägerin gewesen sein und ihr Vater ein grausamer Herrscher, sie selbst hatte von dieser Natur aber nichts abbekommen. Sie setzte da lieber auf ihren Verstand.
Kurz fragte sie sich, ob ihr Vater Recht hatte und ihre Mutter wirklich stolz auf sie gewesen wäre. Immerhin hatte sie im Gegensatz zu ihrer Mutter noch nicht sonderlich viel erreicht in ihren jungen Jahren.
Kopfschüttelnd ging Cath die Akte weiter durch. Ob ihre Mutter stolz war oder nicht spielte keine Rolle, sie war tot...
Die junge Frau hielt geschockt inne als sie sah, dass sämtliche Verletzungen die diese Frau in ihrer Laufbahn davongetragen hatte, dokumentiert worden waren. Dutzende Fotos von Schussverletzungen fielen ihr in den Schoß, ebenso wie Fleisch- und Stichwunden und zerfetzte Haut- und Gewebeschichten. Auf der Rückseite der Fotos waren Datum und Geschehen notiert, ebenso wie ein Satz, der überall zu lesen war.
„Gab während der Behandlung keinen Ton von sich.“
Cath zog die Brauen hoch. Diese Wunden sahen alle so scheußlich ekelerregend aus, es war unmöglich, dass eine zierliche Menschenfrau da keinen Schmerzenslaut von sich gab.
„War sie wirklich ein Mensch?“, murmelte sie.
Eine halbe Stunde später klappte Cath die Mappe erschöpft zu. Es machte den Eindruck, als wäre diese Frau nur ein Forschungsobjekt gewesen. Dinge über ihre Menschlichkeit oder Persönlichkeit waren in diesem Dokument nicht zu finden. Die ehemalige Anschrift ihrer Großeltern allerdings schon, also stopfte sie auch die Mappe entschlossen in ihren Rucksack und verließ das Café, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben. Die Adresse stammte aus einem Viertel, in dem die wirklich ganz, ganz reichen wohnten. Also wie kam es, dass Cath noch nie etwas von diesem Nova-Unternehmen gehört hatte? Sie dachte einen Augenblick darüber nach, bis ihr wieder einfiel was Dubois vorhin zu ihr gesagt hatte. Offenbar waren ihre Großeltern pleite gegangen. Aber das Vermögen ihrer Mutter hatte sich noch auf gut zwei Millionen Dollar belaufen, also wie war das möglich?
Cath machte sich zu Fuß auf den Weg ins Reichenviertel der Stadt, das würde weniger Aufsehen erregen. Allerdings war sie den gut eine Stunde dauernden Fußmarsch nicht gewöhnt und so merkte sie erneut, wie verwöhnt sie eigentlich war. Auf dem Weg durch die Stadt lief sie plötzlich Amir in die Arme. Himmel, waren denn alle Kopfgeldjäger heute in Zivil unterwegs?
„Cath, welch Überraschung“, begrüßte der Mann sie, jedoch weitaus freudiger als sein Bruder vor wenigen Stunden. „Was machst du hier?“, wollte der Blinde wissen.
Erneut fragte Cath sich, warum dieser Mann so gezeichnet war. Nie hatte man ihr etwas darüber erzählen wollen, wieso nur?
„Ich bin auf den Spuren meiner Mutter. Mir ist vorhin etwas gegeben worden und es hat mich sehr beeindruckt“, gestand sie leise.
Amir neigte den Kopf und Cath wusste sofort, was diese Geste zu bedeuten hate.
„Ein Foto“, erklärte sie also, worauf sich etwas in Amirs Gesicht tat. Ein Ausdruck nahe der Bestürzung war zu erkennen als er anfing nach seiner Geldbörse zu kramen. Gespannt darauf was er vorhatte, verfolgte Cath seine Bewegungen mit Reptilaugen. Nach einigen Minuten drückte er ihr ebenfalls drei Fotos in die Hand.
„Dragan und Ivan konnten es nicht ertragen diese Bilder zu sehen, ich habe sie also aufbewahrt, auch wenn ich sie selbst nicht sehen kann“, erklärte er traurig.
Cath stockte der Atem. Auf dem ersten Foto war ihre Mutter mit einem fast wehmütigen Lächeln zu sehen. Sie trug ein atemberaubendes Kleid, welches sie wie eine Königin aussehen ließ. An ihrer Seite standen Amir und Ivan und auch noch zwei weitere Männer, die den erst genannten ziemlich ähnlich sahen.
„Wer sind diese beiden anderen Männer?“, wollte sie vorsichtig wissen. Daraufhin trübte sich Amirs Stimmung nur noch mehr.
„Das sind Gero und Enver, unsere Brüder. Aufgrund eines tragischen Vorfalls, sind die beiden um's Leben gekommen. Das war, lange bevor auch deine Mutter verstorben ist“, erklärte er, ebenso leise wie sie gefragt hatte. Cath senkte den Blick.
„Das tut mir leid, ich wollte keine alten Wunden aufreißen.“
Während Amir schwieg, betrachtete Cath auch die anderen beiden Fotos. Das zweite zeigte ihre Mutter mit eiskaltem Blick, die immer noch mit demselben Kleid eine Treppe hinunterstieg. Ihre Tochter hätte gut verstanden wenn in dem Moment alle Angst vor ihr gehabt hatten. Denn sie sah wirklich furchteinflößend aus, trotz des atemberaubenden Looks.
Das letzte Foto zeigte ihre Eltern zusammen, wie sie eng umschlungen tanzten und scheiße, so glücklich hatte Cath ihren Vater im ganzen Leben noch nicht gesehen. Dann dämmerte es ihr.
„Das war ihr Bündnis, nicht wahr?“, flüsterte sie.
Ihr Vater hatte ihr vor einigen Jahren mal das ganze Ritual erklärt, sein Wappen auf seiner Brust hatte er ihr jedoch nie zeigen wollen. Amir nickte nun.
„Ja. Deine Mutter hatte wahnsinnige Angst davor sich an diesen Mann zu binden, aber sie war nie glücklicher in ihrem Leben.“
Cath atmete langsam ein und aus, sie konnte gar nicht in Worte fassen, was ihr gerade alles durch den Kopf ging.
„Meine Mutter hatte Angst?“, hakte sie dann nach.
Nach allem was Cath gehört und gelesen hatte, war Angst das Letzte, woran sie gedacht hätte wenn es um diese Frau ging. Lächelnd erkundigte Amir sich, in welche Richtung Cath musste, weshalb er am Ende mit ihr ging und dabei einen Teil der Vergangenheit offenlegte.
„Deine Mutter hat es immer abgestritten, aber die Gefühle deinem Vater gegenüber waren schon früh da. Der Gedanke sich für den Rest ihres Lebens an einen Mann und noch dazu an einen Drachen zu binden, hat ihr tatsächlich eine scheiß Angst eingejagt. Sie hatte nie vor sich auf deinen Vater einzulassen, aber er hat nicht locker gelassen.“
Zu hören, dass ihre Mutter durchaus Angst gefühlt hatte, beruhigte Cath im Nachhinein denn das ließ sie weitaus menschlicher erscheinen. Plötzlich hörte sie Amir neben sich fluchen.
„Verdammt, schon so spät. Ich muss los, Cath, wir sehen uns, ja?“
Amir war so schnell, dass die junge Frau nichts mehr darauf erwidern konnte, sondern lediglich still zum Abschied winkte. Dabei vergaß sie völlig, dass er es ja nicht einmal sehen konnte. Woher wusste er dann eigentlich, wie spät es war?
Nicht weiter darüber nachdenkend ging Cath weiter. Sie konnte einfach nicht aufhören, die Bilder in ihrer Hand anzustarren.
„Ich fass es einfach nicht. Unsere Tochter hat die Brut eines Drachen ausgetragen. Schon schlimm genug, dass sie dieses Monster geheiratet hat, nein, dann bringt sie auch noch eine dieser Bestien zur Welt.“
Bellatrix war völlig außer sich. Und Cath nun auch, denn sie konnte nicht glauben was sie da hörte. Sollte ihr Vater wirklich Recht behalten haben? Waren diese Menschen wirklich so grauenhaft?
Ein kleiner verborgener Teil, nämlich das kleine unschuldige Mädchen, hoffte, dass ihr Opa sie vielleicht in Schutz nehmen würde. Doch so war es nicht. Stattdessen sagte Vincenc etwas gänzlich anderes.
„Beruhige dich doch, Liebes. Warten wir doch erst einmal ab, vielleicht kann uns unsere Enkelin ja ganz behilflich sein?“
Cath zog die schmalen Brauen hoch. Sein Tonfall gefiel ihr gar nicht. Die Drachenfrau wusste noch immer nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Vor dem pompösen Anwesen der Familie Nova angekommen hatte sie tatsächlich feststellen müssen, dass es leer stand. Doch sie hatte Glück im Unglück gehabt. Ein Nachbar, der sie bemerkt hatte, sprach sie an und gab ihr schon nach wenigen Minuten die neue Adresse. Seit gut zehn Minuten befand sie sich nun am anderen Ende der Stadt, im wohl heruntergekommensten Wohnviertel, welches die Stadt Seattle zu bieten hatte. Das Haus in dem sie sich befand war so zerfallen, dass nur eine Familie hier lebte. Und zwar Familie Nova. Die Türen in diesem Haus schlossen nicht richtig, dies zusammen mit ihrem Gehör machte es Cath einfach.
„Du glaubst doch nicht etwa wirklich, dass dieser Mann uns noch einmal in ihre Nähe kommen lassen wird“, kam es nun von Bellatrix zurück, doch Vincenc blieb keine Gelegenheit mehr um darauf zu antworten. Mit einem lauten Räuspern trat Cath hinter der Steinwand, hinter der sie gelauscht hatte, hervor. Als die beiden sie entdeckt hatten, zeigten sie nicht den Ansatz einer Regung. Cath hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie zumindest blass werden würden, doch alles was sie taten war sie anzustarren.
„Es tut mir leid, dass mein Vater so die Beherrschung verloren hat. Aber er kommt bis heute nicht mit dem Tod meiner Mutter klar“, versuchte Cath mit einem gezwungenen Lächeln das Eis zu brechen. Vincenc war es, der darauf antwortete und seine Antwort fiel anders aus, als gedacht.
Die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer als er sie runzelte.
„Das ist kein Grund für sein Verhalten, mein Fräulein. Wir hätten es gerne damals schon erfahren, dass unsere Tochter tot ist. Und von dir hätten wir auch gerne gewusst.“
Cath wog die Situation ab. Es war wohl besser, sie achtete ganz genau auf ihre Reaktionen. Langsam deutete sie schließlich ein respektvolles Nicken an.
„Ich kann mich nur wiederholen, es tut mir außerordentlich leid. Ich kann Ihren Ärger verstehen, denn es geht mir gerade nicht anders. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Vater mir meine Großeltern verschwiegen hat. Spricht etwas dagegen, wenn wir uns ein bisschen besser kennenlernen?“
Erstaunt zogen Vincenc und Bellatrix die Brauen hoch. Mit solchen Umgangsformen hatten sie gewiss nicht gerechnet. Eigentlich wären sie nun vorsichtig gewesen, es stand ihnen schließlich immer noch ein Drache gegenüber. Doch sie war noch ein Kind, wie gefährlich konnte sie da schon sein? Bellatrix fasste sich ein Herz und trat näher an die junge Frau heran, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen.
„Komm, mein Kind. Trinken wir einen Tee.“
Neugierig versuchte er die leisen Wortfetzen zu verstehen, doch trotz seiner guten Ohren gelang es ihm einfach nicht. So ein Mist aber auch, warum war er nicht einfach Zuhause geblieben? Schon klar, seine beschissene Neugier war Schuld daran. Und sein Vater, dessen widerlicher Zorn auf die Menschen auf ihn übergegangen war. Er war in Seattle, dem Reich seines Vaters, als Mensch unterwegs gewesen und hatte dabei zufällig diese Drachenfrau gesehen, die vor dem Gebäude der Organisation gelandet war und sich verwandelt hatte. Das Gesicht der noch äußerst jungen Frau, kam ihm dabei von irgendwoher bekannt vor. Als er dann den bekannten Kopfgeldjäger gesehen hatte war ihm klar geworden, dass es sich bei dem Mädchen um die Tochter dieser berühmten Kopfgeldjägerin handelte. Der Vater dieses Mädchens war also niemand geringeres, als einer der wohl mächtigsten Drachen überhaupt, Dragan van Less.
Kopfschüttelnd war er ihr gefolgt. Nicht zu fassen, dass auch Dragans Tochter etwas für Menschen übrig zu haben schien. Dabei schienen die Menschen sie zu kennen und keinerlei Angst vor ihr zu haben. Sehr ungewöhnlich, gab es Drachenkinder doch nur sehr selten.
Er selbst war eines dieser seltenen Kinder. Gut, mit seinen sechsundzwanzig Jahren gewiss kein Kind mehr, aber immer noch ein Spross für all die anderen Drachen. Allerdings gab es zwischen den beiden Drachenkindern einen gehörigen Unterschied. Im Gegensatz zu ihm stammte Cath van Less aus einer intakten Familie. Sie hatte ihre Mutter nach ein paar Jahren zwar verloren und das tat ihm irgendwo auch leid, doch er selbst hatte nie eine Mutter gehabt. Genau genommen war er nur ein Unfall. Die Drachenfrau die ihn gebar, hatte ihn nach der Geburt dem Mann in die Hände gedrückt, mit der Begründung, dass sie sich eher selbst umbringen würde anstatt ein Kind großzuziehen. Maras, sein Vater, hatte ihn zwar bei sich aufgenommen, allerdings nur halbherzig großgezogen. Bis heute war nicht bekannt, dass Maras Vater geworden war und auch hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn. Alles was von ihrer Verbindung zeugte, war das Geld welches er von Maras bekam. Damit schlug er sich bis heute über die Runden.
Kopfschüttelnd kehrte der Mann ins Hier und Jetzt zurück. Seine nicht vorhandene Vater-Sohn-Beziehung war ihm egal. Es hätte schlimmer sein können. Im Gegensatz zu den van Less Brüdern hatte er seine Eltern nicht auf dem Gewissen...
Spaßeshalber war er vor einer Stunde Dragans Tochter gefolgt. Sie war zwar unglaublich hübsch, das musste er schon zugeben, allerdings sah sie auch ein wenig naiv aus. Er fragte sich, was sie hier unter den Menschen wollte und war ihr, um sich die Langeweile zu vertreiben, einfach gefolgt.
Nun lauschte er ihrem Gespräch bei einer Tasse Tee.
„Erzähl mir von meiner Mutter“, bat Cath leise. „Ich war sechs Jahre alt als sie gestorben ist, ich glaube dem dadurch entstandenen Trauma habe ich es zu verdanken, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann.“
Bellatrix saß ihr mit einer Tasse Tee in den Händen gegenüber, still schweigend. Vincenc saß ein wenig Abseits, an einem hölzernen und wackelnden Tisch. Plötzlich brach die alte Frau mit einem Seufzen die Stille.
„Deine Mutter war schon als Kind sehr schwierig, Liebes. Sie war immer unser einziges Kind, es war also unabdingbar, dass sie in die Fußstapfen meines Mannes tritt und unseren Konzern übernimmt. Leider wollte sie nie einsehen, wie wichtig das ist. Alles haben wir probiert aber nichts hat geholfen. Sie hatte immer alles, was sie wollte und dennoch hat sie sich irgendwann aus dem Staub gemacht. Indem sie das Töten angefangen hat, hat sie unseren Ruf ruiniert. Danach ging es für uns nur noch abwärts. Wir haben immer versucht Kontakt zu unserer Tochter aufzunehmen, aber sie hat uns immer auflaufen lassen. Familie hat ihr nie etwas bedeutet. Wir haben sie jahrelang nicht gesehen und nun ist sie tot.“
Bellatrix Stimme verlor sich in einem leisen Schluchzen, wogegen Cath schwieg. Sie musste diese Informationen erst einmal verarbeiten. Sie traute diesen Leuten hier keinesfalls und glaubte ihnen auch diese Geschichte nicht so ganz. Hätte ihr Vater nicht so überschäumend reagiert, wäre sie aber wohl auf alles hereingefallen. Cath konnte verstehen, warum ihre Mutter damals abgehauen war. Sie selbst hätte sich solch einen Willen auch nicht aufzwingen lassen wollen. Nach jahrelanger Unterdrückung wollte Jael vermutlich einfach nur frei sein und hatte sich deshalb aus dem Staub gemacht. Und Cath hatte sofort herausgehört, worum es hier wirklich ging. Anscheind war das Geld der beste Freund des Menschen. Und der manipulativste. Cath beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und nippte an ihrem Darjeeling.
„Ihr müsst furchtbar sauer auf sie gewesen sein. Es ist bei eurem ehemaligen Lebensstil sehr undankbar, einfach so abzuhauen“, bemerkte sie leise.
Ihr entging nicht der Blick, den die beiden Alten miteinander wechselten. Mit solch einer Antwort hatten sie offenbar nicht gerechnet, aber scheinbar stieß sie auf Wohlwollen.
Bestürzt legte Bellatrix sich die Hand auf die Brust.
„Liebes, du glaubst ja gar nicht wie sehr sie uns damit verletzt hat“, hauchte sie und fast hätte Cath ihr die Nummer abgekauft. Unbeirrt fuhr ihre Großmutter fort.
„Wir haben immer alles für sie gegeben und sie dankt es uns mit ihrem Verschwinden. Weißt du eigentlich wie hart es damals war, ein Kind großzuziehen?“
Um Caths Mundwinkel herum zuckte es, doch sie ließ es verschwinden noch bevor es jemand hätte bemerken können.
„Nein, das weiß ich natürlich nicht“, sagte sie leise und zeigte sich aufmerksam, als sich nun erstmals wieder Vincenc zu Wort meldete und an den Küchentisch herantrat, an dem sie saßen.
„Verzeih, Cath, aber wir müssen uns wohl bei dir entschuldigen. Es hat den Anschein, als wärst du doch gar nicht so übel. Allerdings wirst du sicher verstehen, dass wir für deinen Vater dennoch nicht viel übrig haben.“
Rasch überdachte Cath die ganze Situation. Bellatrix und Vincenc waren ihr mit dieser heuchlerischen Art alles andere als sympathisch, dies allein war Grund genug für sie, ihnen gehörig die Meinung zu geigen. Allerdings ging es hier noch immer um ihre Mutter, über die sie unbedingt noch mehr erfahren wollte. Da sie sich aber ziemlich sicher war, dass die beiden schon längst keinen Gedanken mehr an ihre Tochter verschwendeten, entschied die junge Frau sich für die erste Option und knallte ihre Teetasse mit solcher Wucht auf den Tisch, dass sie auf der Stelle zersprang.
„Freut mich zu hören, dass ihr mich mögt, aber ich muss euch enttäuschen, es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Was sagt ihr dazu, dass Jael nur abgehauen ist, weil sie jahrelang von euch missachtet und misshandelt wurde?“
Ihr eiskalter Tonfall und ihr ausdrucksloses Gesicht ließen Bellatrix in gespielter Bestürzung nach Luft schnappen.
„Was fällt dir eigentlich ein? Nur uns hat unsere Tochter es eigentlich zu verdanken, dass sie so bekannt war“, fauchte sie.
Caths Herz zog sich immer mehr und mehr zusammen. Waren sie denn kein bisschen Stolz auf den Erfolg ihrer Tochter? Nicht nur weil sie so berühmt war, sondern auch, weil sie einen tollen Mann gefunden hatte, mit dem sie eine Familie gegründet hatte?
„Vielleicht war meine Mutter durch euch mit ihrem Namen bekannt“, schnitt Caths Stimme eisig durch den kleinen Raum. „Aber ihren Erfolg hat sie sich zusammen mit ihrem Leben mit eigenen Händen aufgebaut. Ihr tut hier einen auf scheinheilig, dabei habt ihr meiner Mutter unvorstellbares angetan.“
Erst breitete sich eine Eiseskälte in dem Raum aus, dann unheilvolle Stille.
„Raus“, flüsterte Bellatrix dann und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Tür, die nur noch halb an einer Angel hing. Als Cath sich im ersten Augenblick keinen Millimeter rührte, sprang die Frau schreiend auf.
„Raus mit dir, habe ich gesagt!“, schrie sie erneut und stapfte klischeehaft mit dem Fuß auf. Provokant und natürlich mit purer Absicht, erhob Cath sich betont langsam.
„Wenn ihr noch ein schlechtes Wort über meine Mutter verliert und noch ein einziges Mal bei meinem Vater aufaucht, dann schwöre ich euch, werde ich euch das Leben zur Hölle machen“, drohte sie leise. Vincenc und seine Frau wurden blass und beinahe hätte Cath gegrinst. Sie alle hatten Recht, von diesen beiden Menschen hielt sie sich besser fern. Die unheimliche Aura um sie herum hätte ihr eigentlich vorher schon eine Warnung sein sollen. Noch während die junge Frau kehrt machte, drang plötzlich ein Knacken von Holzbalken an ihre Ohren, weshalb sie kurz inne hielt. Komisch, das schien nicht aus diesem Raum zu kommen. Nicht weiter darüber nachdenkend ging Cath weiter. Dieses Gemäuer war so alt und zerfallen, mit Sicherheit war es auch noch einsturzgefährdet. Doch das konnte ihr egal sein. Ab sofort hatte sie nichts mehr mit ihren Großeltern zutun. Als sie um die Ecke bog und das Treppenhaus betrat, drang ihr aber ein fremder Geruch in die Nase. Perplex blieb sie stehen, dann sah sie sich um. Es roch nicht nach altem Holz und Stein oder moosig, wie es zu dieser Ruine gepasst hätte, sondern weitaus komplexer. Cath brauchte einen Augenblick, um alle Noten herauszufiltern. Es war ein männlicher Duft, der sie umhüllte. Sehr frisch und leicht. Sofort musste sie an all die rauschenden Wasserfälle denken. Doch da war noch eine salzige Unternote, irgendwie würzig. Zum Schluss war da noch etwas sehr herbes, doch sie konnte es nicht zuordnen. Eigentlich hätte Cath beunruhigt sein sollen, da ja offensichtlich jemand hier war. Doch der Geruch hatte zur Folge, dass sie sich augenblicklich entspannte.
Mit vollem Kopf beschloss Cath, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Das war zu viel für einen Tag.
Die graue Drachenfrau hatte noch keine fünf Kilometer hinter sich gelassen, da drang plötzlich wieder dieser seltsam beruhigende Duft von Wassermassen an ihre Sinne.
Sie schlug einmal kräftig mit ihren Flügeln, dann ließ sie sich mit dem Wind treiben und hielt Ausschau nach der Quelle des Geruchs. Was sie nicht ahnte: Der Begleiter war gut einen Kilometer über ihr.
…
Neugierig neigte er seine Schnauze, um den vergleichsweise filligranen Drachenkörper unter sich zu betrachten. Die dunkelgraue Drachenfrau war sehr schlank und hatte einen athletischen Körperbau, doch der stachelige Schwanz und die spitzen Hörner machten klar, dass sie immer noch eine Bestie war. Ihre Drachengestalt erinnerte sehr an ihren Vater, doch anhand ihres zarten Körperbaus sah man, dass sie eine Frau war.
Ihre hellen leuchtend grünen Augen stachen aus dem ganzen grau heraus und ließen ihn kurz die Luft anhalten. Noch nie hatte er solch klare Augen gesehen und trotz ihres jungen Alters war ein Ausdruck in ihnen zu sehen, der ihn beeindruckte. Es machte den Eindruck, als stände nichts als Wissen und somit Macht in ihnen. Mit einem Schnauben, welches einem Lachen gleichkam, ging er in den Sinkflug und tauchte neben ihr auf. Er wartete auf ein Zeichen oder eine andere erschrockene Reaktion, doch im ersten Augenblick geschah nichts, außer dass sich ihre Nüstern kurz blähten. Als ihr Blick dann seinen traf, hätte er beinahe vergessen mit den Flügeln zu schlagen. Etwas neugieriges, aber auch herausforderndes lag in ihrem Blick und zwang ihn somit dazu, zu handeln. Er schlug einmal kurz und kräftig mit den Flügeln und stürzte hinab. Dann begann das Schauspiel.
Mit großen Augen verfolgte Cath das Geschehen. Dieser frische und beruhigende Duft hatte es zwar angekündigt, doch der bläulich-weiße Drache war dennoch wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht.
Die junge Frau hatte es sich zwar nicht anmerken lassen wollen, doch sie war fasziniert von seinem Äußeren. Die bläulich-weiß schimmernde Farbe seiner ledernen Schuppen erinnerte sie an gewaltige Gletscher, diese zusammen mit seinen wolkengrauen Augen die sie eindringlich gemustert hatten, ließen sie frösteln. Noch nie hatte sie solch außergewöhnliche Farben an einem Drachen gesehen. Wobei sie einen anderen Drachen außer ihren Vater und ihren Onkel nie aus nächster Nähe gesehen hatte.
Cath überkam das Bedürfnis, diesen Drachen zu zeichnen, und zwar mit all seinen Einzelheiten.
Der lange, von spitzen Zacken überzogene Schwanz, die abgerundeten, schimmernden Schuppen, die wie Perlmutt aussehenden riesigen Schwingen und die breite Schnauze, auf dessen Kopf zwei kleine Hörner aufragten, auf die man totes Fleisch hätte aufspießen können. Schon als kleines Mädchen hatte Cath angefangen Dinge zu zeichnen, die sich ihr besonders ins Gedächtnis gebrannt hatten. Dass dies je bei einem Drachen der Fall wäre, hätte sie nicht für möglich gehalten. Doch sie ließ sich nun von genau diesem Drachen beeindrucken, der just in diesem Moment unter ihr einige Flugmanöver vollführte, bei denen einem schon vom Zusehen übel wurde. War das etwa ein Versuch sie zu beeindrucken? Wenn ja, dann funktionierte es. In seinen Loopings und Schrauben steckte trotz all seiner unglaublichen Muskelkraft so viel Anmut und Leichtigkeit, dass Cath in Menschengestalt nun ein strahlendes Lächeln gezeigt hätte. Doch sie gab sich betont kühl als der Drache nach einigen Augenblicken wieder an ihrer Seite auftauchte und sie herausfordernd anfunkelte.
„Komm, tanz mit mir“, schien sein Blick zu sagen und beinahe wäre Cath dazu gewillt gewesen, ja zu sagen. Sie spürte wie seine Flügel beinahe ihre streiften und überdachte die Situation deshalb. Dies konnte genauso gut auch nach hinten losgehen, sie hatte schließlich nicht die geringste Ahnung um wen es sich hier eigentlich handelte. Vielleicht ja ein Feind? Die faszinierenden und hypnotisch grauen Augen des Drachen nahmen einen spöttischen Ausdruck an, weshalb Cath ein Schnauben ausstieß und in den Sturzflug ging. Scheiß drauf, ihr Vater hatte ihr das Kämpfen nicht umsonst beigebracht.
Beeindruckt verfolgte der Drache jede ihrer Bewegungen. Sie schien keine Angst zu haben, obwohl sie mit rasender Geschwindigkeit und ohne Widerstand auf die Erde zuraste. Unter ihnen befand sich noch immer der Rand der Stadt. Kurz bevor sie den aufragenden Wolkenkratzern jedoch zu nahe kam, breitete sie wieder ihre Schwingen aus und schoss in die Höhe. Ja, er war wirklich beeindruckt. Er dachte sie würde sich nicht darauf einlassen, wo ihr Blick doch so kühl gewesen war, doch da hatte er sie offenbar unterschätzt. Sie war gewillt ihm zu zeigen was sie drauf hatte, also lehnte er sich zurück und genoss die Show. Lange zusehen konnte er bei dieser Eleganz aber nicht, denn während er sie so beobachtete, überkam ihn selbst wieder das Bedürfnis mit dem Wind zu spielen. Ohne an ihre vielleicht abweisende Reaktion zu denken ließ er sich ein wenig fallen und hielt kurz an ihrer Seite inne. Dann begann er sie zu umrunden und stachelte sie an, mitzumachen. Und Cath tat es, ohne zu zögern.
Tanzende Drachen sah man nicht oft, denn es war ein intimes Schauspiel und nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Auch war es eher nur unter den sich Liebenden bekannt, doch davon ahnten die beiden nichts...
Cath ließ Vorsicht walten als sie mehrere Kilometer vom Anwesen ihres Vaters entfernt landete und sich verwandelte. Sie wollte den Fremden nicht sofort in die Nähe ihres Heimes lassen, erst recht nicht da ihr Vater es sofort bemerken würde. Sie war beeindruckt von der Anmut des Drachen und sah deshalb abwartend und mit verschränkten Armen zu ihm auf.
Er zögerte einen Augenblick und hielt sich mit schwachen Flügelschlägen noch in der Luft. Sollte er sich ihr wirklich offenbaren? Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel und der Schalk blitzte in ihren Augen. Keine Frage, sie selbst hatte dabei so viel Spaß gehabt, wie auch er. Sie hätte noch immer laut loslachen können, so gut war sie drauf. Da der Drache das offenbar erkannte, setzte auch er nun zu einer sanften Landung an. Als er sich dann auch noch in seine Menschengestalt verwandelte, hielt Cath erst einmal erstaunt inne.
Verdammt, sah der gut aus. Der Mann ihr gegenüber war weit über einen Meter neunzig groß, wodurch sie sich mit ihren nicht einmal einssiebzig ziemlich winzig fühlte. Sie hatte nicht mit braunen Haaren gerechnet, doch so war es. Eine lässig gestylte Frisur mit der Farbe von Vollmilchschokolade, verrückt. Und scheiße, er war so unglaublich blass, er hätte locker mit ihrer Mutter mithalten können. Graue Augen stachen in seinem kantigen Gesicht genauso hervor, wie seine schmalen und unglaublich geschwungenen Lippen. Seine schmale Nase hatte einen leichten Höcker, was ihn aber nur noch grausamer aussehen ließ. Sie entdeckte an seiner linken Ohrmuschel drei feine Ringe, die im Licht der Sonne funkelten.
Für einen kurzen Moment heftete sich ihr Blick darauf, dann musterte sie ihn weiter. Er trug ein einfaches schwarzes Shirt, enganliegend und seinen durchtrainierten Oberkörper betonend, es ließ seine helle Haut und sein Gesicht nur noch mehr hervorstechen. Gott, er sah aus wie ein Vampir.
Seine langen Beine steckten in einer einfachen Blue-Jeans, weshalb Cath nun mit hochgezogenen Brauen an sich hinunter sah. Sie trug genau das Gleiche.
Ein wenig mit dem Kopf schüttelnd und ohne über die möglichen Konsequenzen nachdenkend, trat Cath auf den Mann zu und strich mit den Fingern über sein Gesicht. Über die hohe Stirn, die ebenso hohen Wangenknochen und das störrische Kinn. Seine helle Haut war makellos und spannte sich über seine hervorstehenden Knochen.
„Das ist ziemlich beeindruckend“, murmelte sie und nahm jedes Detail an ihm wahr. „Du siehst aus, als kämest du direkt aus der Arktis. Lebst du tatsächlich in den USA?“, fuhr sie unbekümmert fort.
Mit geweiteten Augen sah der Mann sie an, dann warf er schallend lachend den Kopf in den Nacken. Cath wusste nicht was so lustig war, dann begriff sie es und trat hastig einen Schritt zurück.
„Verzeihung“, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. „Aber wenn ich von etwas fasziniert bin, kann ich mich nicht mehr zurückhalten.“
Ihre Erklärung ließ den Mann natürlich nur noch lauter lachen. Himmel, sie war so schonungslos ehrlich.
„Keine Sorge, ich bin nicht sehr empfindlich. Allerdings wäre es nur fair, wenn ich gleiches bei dir dürfte“, erwiderte er und trat auch schon näher.
Cath war verblüfft über den tiefen aber doch klaren Klang seiner Stimme und wäre beinahe einen Schritt zurückgetreten als er näher kam. Doch das Recht war eigentlich auf seiner Seite, es wäre tatsächlich nur fair. Sie ließ seine Nähe also zu und beobachtete mit großen Augen aber Misstrauen im Blick, wie er seine Hände an ihr Gesicht legte und mit dem Daumen einige Konturen nachzog.
„Du hast sehr feine Züge“, stellte er fest, als er dabei war mit dem Daumen über ihre geschwungenen Lippen zu streichen. Cath schwieg und nahm sich heraus, diesen Augenblick zu genießen. Er war ihr so nahe, dass sein Geruch ihr verdammt schnell in die Nase gestiegen war, dementsprechend entspannt war sie also. Sein muskulöser Körper strahlte eine Hitze aus, die sie beinahe in Schweiß hätte ausbrechen lassen, doch beim Blick in seine stahlgrauen Augen hätte sie gleichermaßen auch erschauern können. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht, also wie konnte es sein, dass sie sich bei ihm so wohl fühlte?
„Verrate mir deinen Namen“, verlangte sie, nach endloser Stille. Schmunzelnd ließ der Mann von ihr ab.
„Ich bin Riel“, stellte er sich mit neckischem Grinsen vor. Die Mundwinkel der Frau zuckten, als sie ihre Hand ausstreckte.
„Ich bin Cath“, erwiderte sie mit einem Zwinkern. Mit hochgezogenen Brauen starrte Riel auf ihre Hand. Sie wollte ihn so begrüßen, wie all die Menschen es taten? Als Cath seinen Blick bemerkte, trat Spott in ihre Augen.
„Was denn, keine Manieren?“, hauchte sie, worauf sich graue Augen in ihren Blick bohrten. Sie erschauerte. Erneut. Mit einem leisen Schnauben packte Riel ihre Hand und schüttelte diese. Sein ziemlich fester Griff sollte klar machen wer hier der Stärkere war, doch Cath ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Nachdem sie sich losgelassen hatten verengten sich ihre Augen. Bitterer Ernst trat anstelle ihrer Freundlichkeit.
„Was hast du in dem alten Haus gemacht? Und warum bist du mir auch noch gefolgt?“, wollte sie verdächtig ruhig wissen. Schulterzuckend schob der Mann seine Hände in seine Hosentaschen.
„Du bist eine Drachenfrau, da habe ich mich gefragt was du unter den Menschen treibst. Ich war neugierig. Außerdem bist du unerwartet faszinierend“, antwortete er ehrlich, worauf die junge Frau erst einmal nichts zu erwidern wusste. Was hieß denn bitte unerwartet faszinierend?
Leise knurrend verschränkte sie die Arme.
„Ich bin im Besitz eines menschlichen Herzens, da ist es nur selbstverständlich, dass die Menschen ein Teil meiner Welt sind“, erwiderte sie schließlich.
Still lächelte Riel in sich hinein. Das war eine sehr schöne Formulierung für die Tatsache, dass ihre Mutter ein Mensch gewesen war. Es beeindruckte ihn nur noch mehr, denn er hatte damit gerechnet, dass sie sich als vollständigen Drachen sehen würde. Aber das war sie nicht. Und vielleicht wollte sie das auch gar nicht sein?
Sein seltsam zufriedener Gesichtsausdruck ließ Cath den Kopf neigen.
„Wie dem auch sei, du bist mir gefolgt. Warum?“, fragte sie jetzt vorsichtig. Riel zeigte ein strahlendes Lächeln, welches sie erst einmal stutzen ließ.
„Ich würde dich gerne besser kennenlernen. Spricht etwas dagegen?“, gestand er leichthin. Cath blinzelte. War sie im falschen Film?
„Soll das ein Witz sein?“, platzte es dann auch schon aus ihr heraus. Um ehrlich zu sein versuchte sie damit nur ihre Unsicherheit zu überspielen. In Wahrheit hatte sie noch nie Kontakt zu einem Jungen oder Mann gehabt. Da waren immer nur die Männer in ihrer Familie gewesen. Klar, sie fühlte sich von Riels äußerer Erscheinung allein schon angezogen, doch konnte sie sich wirklich darauf einlassen?
„Hast du je in deinem Leben einen Drachen gesehen, der zum Scherzen aufgelegt ist?“, kam es von Riel zurück und das so bedrohlich, dass Cath die Stirn kraus zog.
„Nein. Aber was nicht ist, kann ja noch werden“, erwiderte sie scharf und wandte sich dann halb ab. Sie sah aus den Augenwinkeln heraus wie der Mann das Gesicht verzog und hätte deswegen beinahe ein Lächeln zugelassen, doch sie zog lediglich die Brauen hoch und sah ihn dann wieder abwertend an.
„Also meinetwegen, lernen wir uns besser kennen. Den gleichen Kleidergeschmack teilen wir offenbar bereits. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich dich mit zu mir nach Hause nehmen soll. Mein Vater ist im Moment nicht gut drauf“, erklärte sie dann.
Riel ließ es sich zwar nicht anmerken, doch er war überrascht. Niemals hätte er damit gerechnet, dass sie zustimmen würde. Ohnehin schon beeindruckend, dass sie sich traute ihn zum Anwesen ihres Vaters zu führen. Doch bei ihren Worten wurde klar, dass Dragan van Less ihn schon ausschalten würde, beträchte er ihn als Bedrohung. Die Laune des schwarzen Drachen war, nach all den Jahren in denen seine Frau nun schon tot war, wohl noch immer tödlich und gefährlich nahe eines Abgrunds. Doch Riel hatte die Wahrheit gesagt. Er wollte Cath besser kennenlernen. Nach ihrem Tanz in der Luft war er erst recht fasziniert von diesem Mädchen, Familiengeschichte hin oder her.
„Ich bin jung und ein unbekannter Drache. Ich glaube nicht, dass dein Vater dir verbietet Freunde kennenzulernen“, erwiderte er entspannt. Cath sah ihn mit schmalen Augen an und es erweckte den Eindruck, als wüsste sie ganz genau wessen Sohn denn vor ihr stand.
„Da kennst du meinen Vater schlecht“, nuschelte sie, dann wurde sie noch wachsamer. „Und überhaupt, woher weiß ich, dass du kein Feind bist?“
Riel zog die Brauen hoch. Sie war wohl doch nicht so naiv, wie er dachte. Schmunzelnd und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen trat der Mann so nah an sie heran, dass sie sich fast berührten.
„Ich bitte dich, Cath. Hätten wir so verwoben miteinander getanzt, wäre ich wirklich dein Feind?“, raunte er. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus und oh, Riel sah es ganz genau. Doch auch er konnte dieses eigenartige Knistern zwischen sich beiden fühlen.
„Um mich zu täuschen, ja“, schoss Cath plötzlich zurück und brachte Riel somit aus der Fassung. Respekt, manipulieren ließ dieses Kind sich mit Sicherheit nicht. Doch das war auch gar nicht seine Absicht. Er wollte sich doch nur die Langeweile vertreiben.
„Glaubst du das wirklich?“, hauchte er und legte seine große Hand an ihre Wange. In Schockstarre ließ Cath zu, dass der Mann ihr immer näher kam. Ihr Herz raste, pumpte gefährlich viel Adrenalin durch ihre Adern und ließ das Blut in ihren Ohren rauschen. Ihr Pulsschlag dröhnte und jagte ihr aufgrund dieses ungewohnten Gefühls eine Heidenangst ein. Sie hatte nie darüber nachgedacht wie es sich wohl anfühlte geküsst zu werden, doch mit Sicherheit hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sich so anfühlen würde.
Sanft legten sich Riels Lippen auf ihre, waren warm, fühlten sich auf ihren aber siedend heiß an.
Ich verbrenne!, dachte sie und nahm perplex zur Kenntnis, wie sich flüssige Lava sich in ihren Venen auszubreiten schien und sich an Stellen ansammelte, wo sie noch nie zuvor solch ein beinahe quälendes Gefühl verspürt hatte. Fast war es ihr peinlich, als sie den zaghaften Kuss erwiderte. Sie hatte wirklich absolut und keinerlei Erfahrung. Also warum fühlte es sich so an, als wäre ihrem Körper dies so vertraut? Riel witterte ihre Lust und hätte beinahe überrascht von ihr abgelassen.
Sie reagierte schon auf einen so einfachen Kuss so heftig? Interessant. Vielleicht sollte er später noch ein bisschen weiter gehen? Fast schon keuchend ließ Cath nun von ihm ab.
„Du versuchst nur, mich zu manipulieren“, keuchte sie und verkniff es sich, mit der Hand über den Mund zu fahren. Vielleicht hätte ihr seine Nähe unangenehm sein sollen, doch so war es nicht. Ganz im Gegenteil. Sie bildete sich noch immer ein, diese sengende Hitze seines Mundes zu spüren. Überall schien es zu kribbeln und fast hätte Cath ihn gepackt und ihn angebettelt, er solle nicht aufhören. In diesem Augenblick musste sie sich aber mit Riels verheißungsvollem Blick zufrieden geben.
„Glaubst du wirklich das hätte ich nötig, Cath? Mein Charme reicht doch völlig aus, oder etwa nicht?“, erwiderte er nun. Cath hielt erneut kurz inne. Warum zur Hölle klang ihr Name aus seinem Mund so unglaublich?
„Charme?“, fragte sie perplex, um die Situation zu überspielen. „Das nennst du Charme? Also beeindrucken tust du mich damit nicht.“
Mit deinen Flug- und Tanzküsten allerdings schon., fügte sie in Gedanken kleinlaut an. Wieder sah Riel überrascht aus, dann fing er erneut an zu lachen.
„Schwer zu beeindrucken, was? Na los, gib mir eine Chance. Wie du schon sagtest, unser Kleidergeschmack ist der Gleiche.“
In der Tat war auch ihm dies nicht entgangen. Um ehrlich zu sein trug er nicht gerne Hemden oder andere förmliche Kleidung, darin fühlte er sich eingeengt und bei weitem nicht so frei, wie es für einen Drachen angemessen wäre. Cath schien ähnlich zu denken, was ihm nur noch mehr gefiel. Das schwarze T-Shirt und die Röhrenjeans mochten schlicht sein, lagen aber eng an und betonten ihre Vorzüge. Er erlaubte es sich, sie noch einmal genauer zu betrachten.
Ihre langen tiefschwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zum Po reichte. Ein schräg geschnittener Pony fiel ihr ständig über das linke Auge, doch sie bemerkte scheinbar schon gar nicht mehr wie sie ihn immer wieder zurückstrich.
Riel erinnerte sich an ein öffentliches Foto der Kopfgeldjägerin und bis auf die schmaleren Lippen, war sie dieser wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Die schwarzen glatten Haare und der wissende Ausdruck in Caths klaren Augen gefielen ihm aber bei weitem besser.
„Schätze, jeder hat eine Chance verdient“, meinte die Frau und wandte sich ab.
Sie wusste nicht ob es wirklich eine gute Idee war diesen Mann mitzunehmen, doch auch nun, wo er in ihrem Rücken hinter ihr herlief, hatte sie kein schlechtes Gefühl. Vielleicht mochte dies noch immer an seinem Geruch liegen, der sie auch weiterhin einhüllte.
„Was hat es mit deinem Namen auf sich?“, erkundigte sie sich beiläufig und etwas kühler. Sie hatte schon so einige Namen dieser Welt gehört, doch noch keinen wie seinen. Als der Mann nun an ihrer Seite auftauchte, verzog er das Gesicht.
„Eine Abkürzung meines eigentlichen Namens“, knurrte er leise.
Cath zog die Brauen hoch, doch darüber nachzudenken war zwecklos. Auf Kommando fiel einem nämlich nie etwas ein. Als Riel ihren grüblerischen Gesichtsausdruck sah, wurde das Knurren in seiner Brust lauter.
„Gabriel.“
Sie zerbrach sich tatsächlich den Kopf darüber? Süßes Mädchen. Mit hochgezogenen Brauen sah sie ihn an.
„Ein sehr klassischer Name. Gefällt dir nicht, stimmt's?“, stellte sie mit zuckenden Mundwinkeln fest.
„Kein bisschen“, gab er mit einem Kopfschütteln zu verstehen, doch sein Vater hatte sich keinerlei Gedanken um seine Namensgebung gemacht.
„Ich mag ihn“, verkündete Cath aber mit einem Augenzwinkern. Bei all den unkonvetionellen Namen in ihrem Umfeld war Gabriel da eine vergleichsweise wohlklingende Abwechslung. Riel sah sie jedoch skeptisch an.
„Was ist mit deinem Namen? Klingt auch nach einer Abkürzung. Catherine vielleicht?“
Cath lachte leise. Versuchte er etwa, sie zu ärgern?
„Nein“, erwiderte sie entspannt. „Offenbar hat meine Mutter mir diesen Namen gegeben.“
Riel zeigte ein kleines Lächeln, behielt aber im Hinterkopf, dass er sich nun vielleicht auf dünnes Eis begab.
„Deine Mutter hatte einen guten Sinn dafür. Der Name passt zu dir.“
Cath schien diese Worte ebenfalls für brenzlig zu halten, der Blick mit dem sie ihn bedachte bewies es.
„Du kennst mich doch gar nicht“, sagte sie, worauf Riel still und zufrieden in sich hinein lächelte.
„Das was ich bisher an dir kennenlernen durfte, beweist es“, erwiderte er, worauf es zwischen den beiden still wurde. Cath verkniff es sich auf dem restlichen Weg, Riel immer wieder einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Waffen schien er keine bei sich zu tragen, doch dies könnte täuschen. Vor wenigen Augenblicken war ihr ein furchteinflößender Gedanke gekommen. Was, wenn es hier gar nicht um sie ging? Riel hatte gesagt er wäre ein junger und unbekannter, unbedeutender Drache. Aber was wäre, wenn er in Wahrheit ihrem Vater schaden wollte, um sich mehr Macht anzueignen? Es war schließlich kein Geheimnis, was vor dreizehn Jahren geschehen war.
„Dafür, dass ich dir hier Zutritt gewähre, will ich später aber auch deinen Hort sehen“, durchbrach sie nun mit schneidender Stimme die Stille. Dass Riel daraufhin immer unruhiger zu werden schien, gefiel ihr dabei ganz und gar nicht. Den wirklichen Grund dafür konnte sie aber nicht einmal erahnen. Der Mann hatte das riesige Anwesen der Familie van Less schon von weitem erkennen können und je näher sie kamen, desto eingeschüchteter war er in Wirklichkeit.
„Bist du dir sicher, Kleines?“, sagte er langsam. „So wie ich das sehe, bist du den Luxus gewöhnt. Meine... Wohnung erscheint dir da mit Sicherheit ziemlich verstörend.“
Cath horchte auf, blieb nach außen hin aber kühl.
„Ich habe schon viel von der Welt gesehen, Riel. Und wenn du auf der Straße leben würdest, es würde mich nicht verjagen, keine Sorge.“
Und es stimmte. Die Ureinwohner Papua Neuguineas lebten auch heute noch fernab jeglicher Zivilisation in Lehm- oder Strohhütten, ohne fließend Wasser oder anderen Bequemlichkeiten und es faszinierte sie zutiefst, wie sehr sie an all ihren Traditionen festhielten. Niemals wäre sie von einem einfachen Leben abgeschreckt, im Gegenteil, es beeindruckte sie nur. Riel betrachtete sie stumm. Viel von der Welt gesehen, hm? Das würde den Ausdruck in ihren Augen wohl erklären.
„Also meinetwegen“, stimmte er dann zu. „Solltest du am Ende aber das Weite suchen, bedenke, dass ich dich gewarnt habe.“
Stille.
„Die Wächter haben zu einer Konferenz berufen.“
Dragan sah auf und richtete seinen Blick auf seinen Bruder, der vor den Schreibtisch getreten war. Ace' trübe Augen machten klar, dass die Vergangenheit auch an ihm nicht spurlos vorbei gegangen war. Selbst seine Partnerin Kyra konnte daran nichts ändern.
„Wieso das?“, wollte Dragan mit rauer Stimme wissen. Er hatte vor nicht einmal einer Stunde versucht zu schlafen, doch der Gedanke an seine Tochter hielt ihn wach. Ivan hatte ihm zwar versichert, dass alles in Ordnung war, glauben tat er dies irgendwie nicht. Nicht dieses Mal. Er hatte so ein komisches Gefühl und er meinte sich ziemlich sicher zu sein, woher es stammte. Er hatte es Cath zwar verboten, doch mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie sich darüber hinweg gesetzt, um ihren Großeltern einen Besuch abzustatten. Dragan war nicht dumm, er wusste ganz genau, dass Bellatrix und Vincenc Seattle nie verlassen hatten. Auch, wenn die Medien einem dies weiß machen wollten.
Dragan zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Bruder zu richten, der ihm nun antwortete.
„Ich nehme mal an, sie wollen sich ein Bild davon machen, wie ich als Wächter zurecht komme. Oder es interessiert sie dein Wohlergehen. Die anderen haben schon wieder jahrelang nichts von dir gehört.“
Dragan dachte nach. Letzteres mochte wohl stimmen. Nachdem Dragan seine Frau hinter dem Anwesen hatte begraben lassen, hatten die anderen Wächter ihn tatsächlich kaum noch zu Gesicht bekommen. Er verstand ihre Sorge durchaus, war auf eine Konferenz aber nicht sonderlich scharf. Das hieße, sein Bruder und er mussten Cath alleine zurücklassen. Ob Ivan und Amir ununterbrochen auf sie aufpassen konnten, war bei ihrem Beruf fraglich. Beim Gedanken daran stieß der schwarze Drache ein unwillkürliches Schnauben aus, dessen Bedeutung Ace sofort verstand.
„Sie mag noch jung und grün hinter den Ohren sein, aber sie ist nicht mehr das kleine Mädchen von damals, Dragan. Wie viele Weltreisen hat sie nun schon gemacht, hm? Sie hat genug Grauen auf der Welt gesehen, sie ist vorsichtig geworden und das weißt du auch.“
Dragan schwieg. Natürlich hatte sein Bruder Recht, Cath war so gut wie erwachsen. Doch er würde es sich nie verzeihen, wenn auch seiner Tochter etwas geschähe, wahrscheinlich war er deshalb so streng und überfürsorglich.
Als die beiden Brüder nun jedoch einen Fremden witterten, warf Dragan Ace einen skeptischen Blick zu. Sie konnten Cath ebenfalls wittern, doch der fremde Geruch konnte nichts Gutes bedeuten.
„Bist du dir sicher?“, schien Dragans Blick zu sagen, doch sein Bruder zuckte nur mit den Schultern.
„Geduld. Sie ist nicht dumm“, sagte er leise.
Wenigstens scheinen es nicht Bellatrix und Vincenc zu sein, die sie da mitbringt, dachte Caths Vater und beobachtete mit Argusaugen, wie seine Tochter nun vorsichtig den Kopf zur Tür seines Arbeitszimmer hinein streckte. Beim Anblick von Ace beruhigte sie sich ein wenig. In der Nähe ihres Onkels würde ihr Vater nämlich nicht ausrasten, das wusste sie. Cath beobachtete ihren Vater ganz genau und seine geblähten Nasenlöcher machten klar, dass er bereits ganz genau wusste was Sache war.
„Ist es in Ordnung?“, fragte sie also direkt und versuchte, unter seinem stechenden Blick nicht zusammen zu schrumpfen. Es kam nur selten vor, dass sie sich ihrem Vater so stark und selbstbewusst zeigte, dies machte sie sonst nur bei den Kopfgeldjägern. Doch Riel sollte nicht glauben, dass sie noch ein Kind war. Irgendwie wollte sie ihn ja doch beeindrucken. Schwäche zeigen war im Augenblick also nicht erlaubt. Mit gehobenen Augenbrauen lehnte Dragan sich zurück.
„Das kommt ganz auf deine Begleitung an“, brummte er düster.
Leise seufzend betrat Cath nun ganz den Raum, worauf sie auch Riel herein winkte. Als dieser den Raum betrat, zog sowohl Dragan als auch Ace die Brauen hoch. Sie erkannten sofort wie jung der groß gewachsene Mann ebenfalls war. Allerdings war er ihnen gänzlich unbekannt, dabei war er mit seinem Aussehen nicht gerade unauffällig. Noch bevor Cath etwas erklären konnte, schnitt Dragan ihr das Wort ab.
„Was hat ein fremder Drache unbefugt in meinem Territorium zu suchen?“, grollte er.
Vielleicht erwartete er von dem Mann selbst eine Antwort, doch es war seine Tochter die zurückschoss.
„Er ist nicht unbefugt hier. Ich habe ihm Zutritt gewährt“, verkündete sie.
Dragans Stirn legte sich in Falten und weil auch Riel die sich veränderte Atmosphäre ganz genau spüren konnte, beschloss er einzugreifen, ehe die Situation noch Konsequenzen für Cath haben würde. Er trat einen Schritt vor, schob Cath hinter sich und verneigte sich dann leicht.
„Fürst Dragan van Less, mein Name ist Riel und ich bin Eurer Tochter zufällig begegnet. Wir sind fasziniert voneinander und wollen einander besser kennenlernen. Erlaubt Ihr mir dies?“
Die junge Drachenfrau hätte beinahe die Kontrolle über ihre Gesichtszüge verloren. Er klang ja beinahe selbst wie ein Adeliger. Dragan schien das ebenfalls zu denken, denn er betrachtete den Burschen genauer.
„Über welches Herrschaftsgebiet verfügst du?“, wollte ihr Vater streng wissen.
Ace sah seinen Bruder nachdenklich an. Da war er wieder, der eiserne Herrscher. Schon seit Jahren hatte er den nicht mehr zu Gesicht bekommen. Beruhigend zu wissen, dass Dragan doch nicht alles egal zu sein schien.
Riel wirkte in der Tat ein wenig eingeschüchtert.
„Herrschaftsgebiet würde ich es nicht nennen. Ich lebe in den peruanischen Gebirgen“, erwiderte er nun aber mit gestrafften Schultern. Cath wurde aufmerksam. Peruanische Gebirge? Das war tatsächlich ein Ort, an dem sie noch nie gewesen war. Interessant...
Dragans Gesichtszüge entspannten sich und auch das Knistern in der Luft schien nachzulassen. Offenbar betrachtete er den Jüngling nicht als ernsthafte Bedrohung.
„Trägst du Waffen bei dir?“, wollte er dennoch wissen. Riel schüttelte den Kopf und verneinte. Klar konnte er kämpfen, wenn es darauf ankam verließ er sich aber lieber auf seine Fäuste. Waffen waren für ihn ein Zeichen der Schwäche.
„Du kannst bleiben“, verkündete Dragan leise. „Aber pass auf was du sagst oder tust, sonst werfe ich dich eigenhändig raus.“
Erleichtert stieß Cath die Luft aus. Er würde zwar misstrauisch bleiben, aber eine Szene war ihr Gott sei Dank erspart geblieben. Sie bedeutete Riel bereits ihr zu folgen, als ein scharfer Pfiff sie zurückhielt.
„Cath, wir reden später noch miteinander“, versprach Dragan. Die Drachenfrau hielt inne.
„Natürlich“, sagte sie leise, dann war sie zur Tür hinaus.
„Wirst du meinetwegen Ärger bekommen?“
Cath schmunzelte und blieb stehen, ehe sie die Hand an die Klinke ihrer Zimmertür legte. Süß, dass er das glaubte.
„Eher weniger“, antwortete sie. Die Sorge die ihr Vater hatte war eine gänzlich andere, das wusste sie. Zwischen ihnen hatte es nämlich nie ein Aufklärungsgespräch gegeben. Lächelnd erinnerte sie sich daran zurück, wie Amir und Ivan das übernommen hatten. Oft hatten die beiden Kopfgeldjäger mit ansehen müssen, wie das junge Mädchen von anderen jungen Kopfgeldjägern in der Organisation angesprochen wurde. Da sie damals keine Ahnung davon hatte wie man jemandem eine Abfuhr erteilte, hatten die beiden sie über einiges aufgeklärt. Und wo sie schon dabei gewesen waren, auch gleich den ganzen Rest. Klar, damals war Cath das peinlich gewesen, heute allerdings war sie ihnen wirklich dankbar. Nicht vorzustellen wie peinlich es gewesen wäre, hätte ihr Vater das übernommen. Schlagartig wurde ihr wieder bewusst, wie sehr ihr ihre Mutter fehlte.
So wie es aussah, würde sie sich mit typischen Mädchenproblemen nie an eine Frau wenden können. Cath schüttelte diese Gedanken ab. Darüber könnte sie nachdenken wenn sie alleine war und nicht in Begleitung eines Mannes. Als die junge Frau nun mit Riel zusammen ihr Zimmer betrat, stieß dieser erst einmal einen beeindruckten Pfiff aus.
„Oha“, murmelte er. „Für ein junges Ding wie dich, ziemlich hohe Interessen.“
Cath zog eine einzelne Braue hoch und deutete mit einer Geste an, dass er Platz nehmen konnte wo er wollte. Er ließ sich in ihrem Chefsessel, vor ihrem Schreibtisch nieder und ließ den Blick über das Chaos schweifen. Verdammt, sie hatte gar nicht daran gedacht, wie unordentlich es hier aussah. Mist, wie unangenehm.
„Woher willst du wissen wie jung ich bin?“, erwiderte sie jetzt kühl und herausfordernd.
Vielleicht war ihr die Situation peinlich, anmerken lassen würde sie sich dies aber nicht. Dafür war sie dann doch zu stolz.
„Du willst mir also weiß machen, du bist bereits an die dreißig Jahre alt?“, schnaubte Riel und richtete seinen Blick auf sie. Vielleicht ließ er es nicht erkennen, doch das Chaos auf ihrem Tisch imponierte ihm ein wenig. Sie schien sich gerne mit komplizierten Dingen zu beschäftigen und deswegen auch durchaus einiges im Köpfchen zu haben. Ihm waren die ganzen Skizzen und Zeichnungen an den Wänden und Schränken aufgefallen und die immer gleiche Signatur ließ erkennen, dass alles aus ihrer Feder stammte. Wahrlich ein beeindruckendes Talent. Man erkannte sofort, wofür sie sich interessierte, dennoch hatte sie noch einige Geheimnisse, dessen war er sich sicher. Cath verzog das Gesicht und ließ sich plumpsend auf ihrem Himmelbett nieder.
„Ich bin neunzehn, na und? Bist du etwa an die dreißig?“, schnaubte sie. Auf die Lippen des Mannes stahl sich ein verschmitztes Grinsen.
„Du wirkst älter“, bemerkte er.
Sie wirkte jung, ja. Aber auf ihn hatte sie den Eindruck erweckt, sie sei bereits über zwanzig. Dreiundzwanzig, vierundzwanzig vielleicht. Sie schien reifer zu sein als andere in ihrem Alter. Sofern man das von einem Drachenkind sagen konnte.
Als er neunzehn gewesen war, hatte er nächtelang durchgefeiert und Chaos in den Straßen der Metropolen verursacht. Daran schien sie allerdings nie auch nur einen einzigen Gedanken verschwendet zu haben.
„Und ich bin sechsundzwanzig, also ja. Die dreißig ist nicht mehr weit entfernt“, fügte er dann leise lachend an. Cath zog die Brauen hoch und betrachtete ihn einen Augenblick lang. Sechsundzwanzig also.
Sie wäre dumm gewesen hätte sie ihn für ebenfalls neunzehn oder zwanzig gehalten, denn er wirkte weitaus eleganter und anmutiger, als es jemandem in ihrem Alter entsprochen hätte.
Mit diesem Alter hatte sie dann aber doch nicht gerechnet. Sie ging nicht weiter auf dieses Thema ein und zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern.
„Entschuldige bitte die Unordnung. Hier sieht es leider immer so aus.“
Sie blieb ehrlich. Warum auch nicht, es war nun mal ihre Natur. Sie mochte keinen Perfektionismus, außerdem fand sie nichts wieder, wenn alles an seinem Platz stand. In dem Chaos fand sie immer alles auf Anhieb, sie wusste ja wo sie was zuletzt gebraucht und abgelegt hatte. Noch dazu war sie ständig an ihrem Schreibtisch am arbeiten, was brachte es da aufzuräumen, wenn sie es nach ein paar Stunden eh wieder verwüstete?
„Es stört mich nicht“, kam es erheitert von Riel zurück. „Du scheinst kreativ zu sein, nicht?“
Cath nickte. Aber das war ja auch offensichtlich. Sie schwieg. Noch etwas, das ihr unangenehm war. Wie verhielt man sich denn in so einer Situation? Was sollte sie sagen? Oder sollte sie ihm
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2016
ISBN: 978-3-7396-6250-3
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