Prolog:
Sie lauschte. Schon seit Stunden hetzte sie durch den Wald, ohne Pause. Die goldenen Augen suchten langsam und geduldig die Gegend ab, konnten jedoch nichts entdecken. Ein leises Schnauben ertönte. Sie konnte unmöglich schon alle Wildtiere erlegt haben! Plötzlich, nicht weit entfernt, ertönte erst das Rascheln der Blätter auf dem Boden, dann das Knacken von Ästen. Ihre Ohren zuckten, ebenso wie ihr Schwanz. Erwartungsvoll kauerte sie sich auf den Ast. Es dauerte nicht lange, da tauchte ein Rehkitz zwischen den Bäumen auf. Der Panther leckte sich die Schnauze. Und sprang.
1
„Miss Cygni!“
Shira zuckte kaum merklich zusammen und richtete den Blick auf Mr Hudson und erwiderte kühl:
„Mr Hudson?“
Einige der Schüler kicherten, Jack Hudson jedoch erlaubte sich ein empörtes Schnauben.
„Nur, weil Sie Klassenbeste sind heißt das nicht, dass Sie sich Entspannung gönnen dürfen!“
Shira drehte ihren Oberkörper vom Fenster weg und wandte ihre Aufmerksamkeit nun dem Lehrer, wobei ihr das überhaupt nicht passte. Seit kurzem gab es nämlich Probleme im Revier...
„Hören Sie!“, begann sie nun deutlich gereizt. „Klar wäre es schön, wenn ich mit der Note eins Komma null bestehe aber selbst wenn nicht, es ist doch meine Note, also was kümmert es Sie, wenn ich im Unterricht nicht aufpasse?“
Schweigen. Shira war schon immer still und gefährlich gewesen. Für ihre Kameraden war dieses Verhalten normal, weshalb sie schwiegen. Mr Hudson jedoch war noch nicht lange an dieser Schule und kam mit dieser Art nicht klar. Das störte sie jedoch nicht im Geringsten. Sie hatte sowieso lieber mehr Feinde, als Freunde. Das machte mehr Spaß! Hudson zeigte auf die Tür. Schweigend und ohne dem Mann Beachtung zu schenken, griff sie nach ihrer Tasche und schlenderte aus dem Klassenraum. Tja, selbst in der zehnten Klasse eines Gymnasiums blieb man vor solchen Dingen nicht verschont. Sie öffnete die Tür und zum Vorschein kamen zwei junge Männer. Der eine klein und dicklich, mit frohem Grinsen im Gesicht, der andere groß und muskulös, mit kalten und ausdruckslosen Augen. Ein Schauer überlief Shira. Genau wie ihre Augen... Sie tat so, als hätte sie die beiden nie gesehen und ging, ohne Kommentar, aus der Klasse hinaus.
Bane kicherte und stieß ihm den Ellenbogen in die Niere.
„Na, das war doch mal ein heißes Teil!“, lachte er und zog verschwörerisch die Brauen hoch.
Er selbst blieb still und ließ sich, wie immer nichts anmerken. Doch Bane hatte recht. Dieses Mädchen war hübsch gewesen. Verdammt hübsch sogar! Ihre tiefschwarzen Haare reichten ihr, wie glatte Seite bis an den Po! Und ihre karamellfarbenen Augen, die wie Gold gefunkelt hatten, stachen aus ihrem blassen Gesicht hervor. Aber das wichtigste: Sie schien genauso kalt und ausdruckslos gewesen zu sein, wie er. Ja, dieses Mädchen gefiel ihm. Vielleicht, was jedoch eher unwahrscheinlich war, würde er sich mit ihr anfreunden. Nun allerdings, stand ihm eine ganz andere Herausforderung bevor. Nämlich seine neue Klasse.
„Kommt herein.“, sagte der Mann, der vorne im Raum stand.
Scheinbar der Lehrer., dachte er und trat widerwillig, zusammen mit Bane ein. Kam es ihm nur so vor oder schien der Mann wirklich genervt zu sein? Er vertrieb diesen Gedanken und ließ den Blick schweifen.
Klasse., dachte er. Fast nur Weiber.
Doch ab und zu tauchte ein männliches Gescht in der Runde auf.
Vollidioten., dachte er nun und schob die Hände in die Hosentaschen. Er wusste genau, wie das letzte halbe Schuljahr ablaufen würde. Die Weiber würden ihn anhimmeln, die Kerle wären sein Erzfeind. Tja, Schule war eben Schule. Nachdem er und Bane die Vorstellungsrunde überlebt hatten, nahmen die beiden in der letzten Reihe Platz. Hier saß niemand. Er ließ den Blick schweifen, dann fiel ihm etwas auf. In der gesamten Klasse war nicht ein Platz frei, bis auf die vier Stühle in der letzten Reihe, auf denen sich auch Bane und er selbst befanden. Das Mädchen...
Es schien, als hätte Bane seine Gedanken gelesen, denn er tippte seinem Vordermann auf die Schulter.
„Hey, wer war dieses Mädchen eben?“, flüsterte er, frech grinsend. Der Bursche verzog missmutig das Gesicht.
„Haltet euch besser von ihr fern!“, waren seine einzigen Worte, ehe er sich wieder nach vorne drehte. Bane und Sin tauschten einen Blick aus.
Als sie die Mensa betrat, bemerkte sie sofort die stechenden Blicke der beiden Neuankömmlinge. Bane und Sin, wenn sie sich recht erinnerte. Als der Kleine, Bane, sie bemerkte, winkte er sie zu sich. Shira zog eine Augenbraue in die Höhe, ging auf sie zu und...ging an ihrem Tisch vorbei. Sie hatte keine Lust auf Gesellschaft. Naja, die hatte sie nie. Die junge Frau konnte die Blicke der beiden im Rücken spüren, doch das kümmerte sie nicht. In Gedanken versunken lief sie zu ihrem Schließfach, in den sie dann ihre Tasche schmiss.
Als sie ihr Schließfach schloss, stand plötzlich jemand neben ihr. Überrascht hob Shira den Blick. Normalerweise kam nie jemand in ihre Nähe. Es war einer der beiden Burschen, die neu in der Klasse waren. Grüne Augen funkelten sie an, als er ihr mit ausdruckslosem Gesicht die Hand entgegenstreckte.
„Sin.“, sagte er trocken, um sich vorzustellen. Shiras Mundwinkel zuckten seit langem mal wieder.
„Shira.“, erwiderte sie kühl und ergriff seine Hand. Beide hatten einen kräftigen Händedruck, was bei beiden beinahe ein Lächeln verursachte. Plötzlich reichte Sin ihr einen Becher.
„Kaffee?“, fragte er, so ausdruckslos wie sie immer und zog eine Augenbraue in die Höhe. Ein leiser Laut der Überraschung entfuhr ihr. Doch er war genauso wortkarg wie sie, weshalb sie stumm nickte und den Kaffeebecher entgegen nahm.
„Ich hoffe, du magst ihn schwarz.“, sagte er. Sie ließ ein angedeutetes Lächeln über ihre Lippen huschen.
„Wie es der Zufall will, trinke ich ihn nur schwarz.“, sagte sie leise aber deutlich. Der junge Mann schien über ihre Reaktion ziemlich überrascht zu sein, denn für einen kurzen Augenblick entglitten ihm die Gesichtszüge. Sie schwieg und nahm einen Schluck ihres Kaffees, der heiß ihre Kehle hinunterrann. Sin lehnte sich an die Schließfächer und schob die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans.
„Ich muss mich für Bane entschuldigen. Er ist ziemlich...“
„Aufdringlich.“, beendete Shira seinen Satz und warf ihm einen kurzen Blick zu. Sin nickte.
„Nun, du scheinst sehr still zu sein, das gefällt mir! Tut mir leid, falls dir auch das zu direkt war.“
Zufrieden wandte Shira den Blick von Sin ab.
„Na endlich mal jemand, der den Mumm hat, mir seine Meinung zu sagen.“, murmelte sie und leckte sich über die Lippen.
„Dann nehme ich an, dass auch noch nie jemand das gemacht hat.“, sagte Sin und trat näher an sie heran. Fasziniert beobachtete sie, wie er sich mit den Armen an den Schließfächern abstützte, um sich dann zu ihr hinunter zu beugen. Sin griff nach ihrem Kinn, damit sie sich ihm nicht entziehen konnte, und streifte mit seinen Lippen ihre. Amüsiert ließ sie es geschehen. Er lag richtig. Noch nie hatte es jemand gewagt, sie einfach so zu küssen! Erst war es nur ein flüchtiger Kuss, lediglich ein Hauch, doch als er merkte das sie sich nicht zurückzog, wurde er drängender. Er presste seine Lippen grob auf ihre, teilte sie mir seiner Zunge und drang somit in ihren Mund ein. Ihre Zungen kämpften miteinander, keiner wollte nachgeben. Nie hätte Sin damit gerechnet, doch...Shira dominierte ihn sogar! Sie spürten bereits die Blicke der perplexen Schüler, doch sie ignorierten es. Nach einigen Minuten wich Sin leise keuchend zurück.
„Zum Teufel...“, keuchte er. Er starrte sie an und es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Sie war vergleichbar mit einem...wilden Tier! Wild und ungestüm, leidenschaftlich. Shira schmunzelte.
„Nun, das hat in der Tat noch keiner mit mir gemacht.“, murmelte sie und hob den Kaffebecher, den sie noch immer in der Hand hielt.
„Danke für den Kaffee.“, sagte sie nun wieder monoton, wandte sich ab und ließ ihn stehen.
Und für den Kuss., fügte sie in Gedanken hinzu und leckte sich erneut über die Lippen.
„Alter, willst du mich verarschen?“
Bane rammte ihm, mal wieder, den Ellenbogen in die Niere. Sofort hatte Sin wieder sein emotionsloses Gesicht aufgesetzt.
„Was meinst du?“, erwiderte er tonlos.
„Du hast gerade die „Eisprinzessin“ geküsst!“, rief der Junge aus.
Eisprinzessin?, dachte er, sprach seinen Gedanken aber nicht laut aus. Nun bemerkte er das Getuschel im Hintergrund. Bane packte ihn am Arm und zog ihn ein Stück zurück.
„Dieses Mädchen ist verdammt gefährlich! Nicht nur das sie ein gefühlsloses Monster ist, nein, mir ihren Sprüchen hat sie schon die Gefühle von fast jedem hier verletzt.“, zischte er ihm zu. Bane stieß ein Seufzen aus, als Sin sich mit seiner Hand arrogant durch die kupferfarbenen Haare fuhr.
„Was ist so besonders an einem Kuss?“, sagte er trocken und ließ seinen alten Freund stehen.
2
Sie hielt inne. Da war jemand! Sie hörte ein Herz schlagen. Nein, nicht eins, sondern drei.
Ihr Körper spannte sich bis auf jeden Muskel und jede Sehne an und sie spitzte die Ohren. Seit einigen Wochen drangen ständig kleine Rudel in ihr Territorium ein. Ein leises Knurren drang aus ihrer Kehle. Vielleicht würde eine Drohung ja dieses Mal ausreichen? Sie sprang vom Baum und lief in die Richtung, aus der das Geräusch der schlagenden Herzen drang. Erst trabte sie nur, doch da die drei Eindringlinge schneller wurden, preschte sie schließlich durch das Unterholz. Je näher sie kam, desto deutlicher wuden die Gerüche. Wieder zuckten ihre Ohren. Scheinbar waren es ebenfalls Raubkatzen. Geparden, um genau zu sein. Ein Knurren stieg in ihrer Kehle auf. Scheinbar waren es alles drei Männer. Am liebsten würde sie sie zerfleischen. Sie hasste Geparden! Sie waren so unglaublich arrogant. Außerdem waren sie die schnellsten Lebewesen an Land. Aber das störte sie nicht, schließlich hatte sie selbst dafür mehr Muskeln und somit Kraft als diese knochigen Biester. Nach wenigen Sekunden hatte sie den drei Eindringlingen schließlich den Weg abgeschnitten und versperrt. Erschrocken starrten sie die drei Geparden an, jedoch machten sie keinerlei Anstalten zu verschwinden. Sie stieß ein lautes Fauchen aus, doch die drei blieben unbeeindruckt. Okay, scheinbar war mehr nötig, als nur eine kleine Drohung.
Lysander, Jeremy und Ezekiel tauschten einen kurzen Blick aus.
Man erzählte, dass es einen schwarzen Panther gab, der ganz alleine im Besitz eines riesigen Territoriums war. Genau dieser Panther schien sich gerade vor ihnen zu befinden. Und er setzte alles daran, sein Revier zu verteidigen. Erst hatte die große Katze nur gefaucht, doch als die drei Brüder darauf nicht reagiert hatten, wurde aus dem Fauchen ein Knurren. Noch immer regten die drei sich nicht. Erst als der Panther ein unerwartetes, lautes Brüllen ausstieß, zuckten die Brüder erschrocken zurück. Lysander stieß einen Laut der Überraschung aus.
Dieser Panther ist eine Frau!, dachte er, damit auch seine Brüder es mitbekamen. Diese sahen die Pantherin nun ebenfalls mit ganz anderen Augen. Seit wann waren weibliche Gestaltwandler so mutig? Normalerweise würden sie es sich nie trauen, sich alleine drei Männern gegenüber zu stellen. Lysander neigte den Kopf und überlegte, ob er es riskieren sollte, sich in einen Menschen zu verwandeln. Diese Frau konnte ihn schließlich zerfleischen! Die goldenen Augen der Pantherin blitzten. Ihr Körper war bis auf jeden Muskel angespannt, jederzeit bereit sie anzugreifen. Fast schon erwartungsvoll starrte sie sie an. Er beschloss, es zu riskieren. Mit einem Flimmern in der Luft verschwand der Gepard. An dessen Stelle trat ein junger, gutaussehender Mann, dessen blaue Augen darauf warteten, dass sie ihre Angriffshaltung auffgab. Einige Minuten vergingen, ehe auch seine Brüder menschliche Gestalt annahmen. Sie erstarrten alle drei zu Eis, als ihnen plötzlich ein unglaublich hübsches Mädchen gegenüber stand. Allerdings war deren Blick in der Lage, zu töten! Ihre goldenen Augen hatten auf einmal keinen Glanz mehr und sie selbst schien aus Eis zu sein.
Shira beobachtete amüsiert, wie alle drei Burschen zu Eis erstarrten. Beinahe hätte sie bei deren Anblick angefangen zu lachen, doch sie verkniff es sich. Natürlich. Einer von ihnen, er hatte blonde Haare und funkelnde blaue Augen, hob abwehrend die Hände.
„Wir wollen keinen Ärger!“, versicherte er. Shira zog eine Braue hoch.
„Wenn das so ist, solltet ihr wieder von hier verschwinden. Das ist mein Revier.“, sprach sie monoton. Lysander wurde wütend. Wenn dieses Weib alleine, ein so großes Revier besaß, warum ließ sie dann nicht führerlose Gestaltwandler hier leben? Er und seine Brüder hatten keinen Ort der Zulfucht, hier wäre es perfekt. Doch die junge Frau war scheinbar nicht auf Freundschaft aus.
„Was will ein einziger Panther bitte mit solch einem großen Territorium anfangen? Was ist mit den Heimatlosen?“
Shiras linker Mundwinkel zuckte.
„Ihr solltet wirklich verschwinden, ehe ich mich auf euch stürze.“
Noch ehe Shira reagieren konnte, hatte Lysander sich wieder in einen Gepard verwandelt. Ohne zu zögern stürzte er sich auf sie. Gerade noch rechtzeitig konnte auch sie sich verwandeln, damit sie zur Seite springen konnte. Bevor Lysander es bemerkt hatte, war Shira auf ihn zugesprungen und hatte ihre Fangzähne in deine Schulter gebohrt. Ein lautes Brüllen hallte durch den Wald.
„Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Stadt einen solch gigantischen Wald gibt.“, murmelte Bane und zischte, als ihm einige Zweige ins Gesicht schlugen. Sin seufzte leise.
„Genau genommen, sind wir gar nicht mehr in der Stadt. Wir haben die Grenze schon längst überquert.“, erklärte er. Allerdings erklärte das nicht, warum hier auf einmal Totenstille herrschte. Es schien nicht ein einziges Tier in diesem Wald zu leben. Keine Vögel waren zu hören, ja sogar das Rascheln der Blätter an den Bäumen war nicht mal mehr zu hören. Ein Schauer überlief Sin. Irgendetwas stimmte nicht. In einem Wald fand man immer Lebewesen. Hier aber nicht...
„Wo glaubst du, endet dieser Wald?“, fragte Bane und sah über seine Schulter zurück. Sin antwortete nicht. Irgendwie wollte er das gar nicht wissen... Nun war Bane derjenige, der seufzte. Plötzlich ertönte ein lautes Brüllen. Bane erschrak, Sin ließ sich jedoch nichts anmerken. Auch wenn er zugeben musste, dass er mit so etwas nicht gerechnet hatte.
„Das hat sich angehört wie..., wie ein L-Löwe.“, stotterte Bane und schluckte. Sins Augen verengten sich. Ein Löwe? Nein, wohl kaum. Dennoch...eine Katze. Vielleicht ein Leopard? Oder ein Gepard?
„Es kam aus dieser Richtung.“, sagte Sin ausdruckslos und drehte seinen Kopf Richtung Süden. Der Boden schien zu vibrieren.
„Was auch immer es ist, es ist gefährlich.“, murmelte er und setzte sich in Bewegung. Bane bekam ihn am Arm zu fassen.
„Du willst doch nicht etwa der Gefahr in die Arme laufen?“, keuchte er.
„Warum denn nicht?“, erwiderte der „Eisklotz.“ Bane verdrehte die braunen Augen.
„Ich hatte vergessen, dass dir alles und jeder egal ist.“
Sin erwiderte nichts, widersprach in seinen Gedanken allerdings. Nein, es gab tatsächlich etwas...jemanden, der ihm nicht egal war. Noch bevor er darüber nachdenken konnte, kamen Bane und er auf eine Lichtung, auf der zwei Tiere miteinander kämpften.
Ein Gepard und ein...Panther.
3
Der plötzliche Geruch von Menschen lenkte sie ab, jedoch schaffte sie es, sich in dem Kampf auf den Beinen zu halten. Als sie die beiden jungen Männer erkannte, gefror ihr das Blut in den Adern. Zum Teufel, was machten die beiden hier? Plötzlich bohrte sich ihr etwas in den Nacken. Es waren die spitzen Fänge Lysanders, der beschlossen hatte, ernst zu machen. Eigentlich wollte sie brüllen, doch das wollte sie den Geparden nicht gönnen, weshalb sie es bei einem Knurren beließ. Sie sträubte sich gegen seinen Griff und teilte mit den großen Pranken aus. Als sie merkte, dass die anderen zwei Geparden auf Sin und Bane zuliefen, reagierte sie blitzschnell. Sie kehrte Lysander den Rücken zu und sprang mit einem Satz vor ihre beiden Mitschüler, um Jeremy und Ezekiel aus vollem Halse anzubrüllen. Erschrocken traten die Geparden einige Schritte zurück. Lysander jedoch stieß ein Schnaufen aus, welches sagen sollte:
„Wie süß! Scheint als wären das ihre Freunde.“
Shira verstand und gab als Antwort ein Knurren zurück. Vorsichtig streifte sie mit ihrem Schwanz Sins Bein. Sie hoffte, er würde dieses Zeichen verstehen und zusammen mit Bane abhauen. Doch beide bewegten sich keinen Zentimeter. Shira atmete tief ein, um dann eines ihrer gefährlichsten Brüllen von sich zu geben, das sie in Petto hatte. Das hier war ihr Revier und niemand würde ihre Beute in ihrem Revier auch nur ansehen! Die Drohung zeigte Wirkung. Langsam aber sicher zogen sich die Geparden zurück. Erst nachdem Shira sie nicht mehr hören konnte, drehte sie sich zu den beiden Jungs um. Alleine würde sie die beiden hier nicht weggehen lassen...
Sin blinzelte perplex. Seit wann beschützten frei lebende Raubkatzen Menschen? Und seit wann konnten goldene Augen eines Panthers so...menschlich wirken? Der lange Schwanz dieses Tieres hatte sein Bein gestreift. Mehrere Male. Das war doch kein Zufall gewesen, oder etwa doch? Bane war nicht in der Lage sich zu rühren. Verständlich, sie standen schließlich einem Raubtier gegenüber. Sin allerdings war in der Lage sich zu bewegen, nur...wollte er das nicht. Der Panther schnaufte leise und ging dann ein wenig in die Knie. Mit dem Kopf deutete er auf seinen Rücken. Moment mal...Wollte er etwa, dass sie auf seinen Rücken stiegen? Dieses Tier konnte ihm unmöglich so etwas deutlich machen, dennoch...Er hatte es verstanden. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. Sin konnte unmöglich einem Leoparden vertrauen. Und ein Leopard konnte unmöglich mit ihm kommunizieren! Erwartungsvoll sah das Tier ihn an. Sin schluckte. Das schwarze Fell glänzte und ließ es weich, wie feinste Seide erscheinen. Zögernd streckte er seine Hand aus, um es zu berühren. Er war betroffen von der Schönheit dieses anmutigen und starken Wesens. Er blinzelte, als er das leise Schnurren der großen Katze vernahm. Er konnte nicht anders, er musste einfach lächeln! Goldene Augen fixierten ihn. Warum nur fühlte er sich so ertappt? Er schluckte wieder.
Shira schmunzelte, auch wenn das in ihrer tierischen Gestalt gar nicht möglich war. Am Ende waren Sin und Bane doch auf ihren Rücken gestiegen. Sie hatte die beiden aus dem Wald gebracht, schließlich konnten die Geparden immer noch zurückkommen. Innerlich seufzte sie. Sie hoffte, Sin würde ihre Augen nicht mit ihrer menschlichen Hälfte in Verbindung bringen...Das würde nur Probleme geben und die hatte sie, im Moment schon genug. Nachdem sie die beiden abgesetzt hatte, wandte sie sich ohne weiteres von ihnen ab und ließ sie alleine mit ihren Gedanken zurück.
Als Shira die Klasse betrat, senkten sich alle Blicke. Alle, bis auf Sins, der sie unentwegt anstarrte. Sie unterdrückte das Lächeln, das sich auf ihre Lippen stehlen wollte und ging ohne eine emotionale Regung zu ihrem Platz. Erst nachdem sie nach draußen starrte, richteten sich alle Blicke auf sie. Dasselbe Phänomen hatte auch Sin vor wenigen Minuten erlebt. Shira stützte den Kopf auf ihrer Hand ab. War es wirklich so unvorstellbar, dass sie geküsst wurde? Sie biss sich auf die Zunge, um ein Seufzen zu unterdrücken.
„Glotzt nicht so.“, sagte sie laut und kalt wie immer, ohne den Blick von den Bäumen draußen abzuwenden. Sofort waren alle Geräusche im Raum verstummt. Doch dann ertönte plötzlich ein leises Lachen. Nun doch interessiert, ließ Shira den Blick schweifen und entdeckte Sin, der sich die Faust vor den Mund hielt und leise hinein lachte. Noch bevor jemand ihre zuckenden Mundwinkel sehen konnte, hatte sie ihren Blick wieder von ihm abgewandt.
Die ganze Zeit über beobachtete Sin sie. Zwar unauffällig, aber er tat es. Leider wusste er nicht, ob sie es schon bemerkt hatte. Im Sportunterricht, war sie gerade dabei über einen Bock zu springen, als sich ihr Blick auf ihn richtete. Er zuckte. Nun war klar, sie hatte es bemerkt, und zwar schon längst. Er gestattete sich einen ausgiebigen Blick und betrachtete ihren Körper. Sie trug ein bauchfreies schwarzes Shirt und eine kurze, graue Hose. Beides gab den Blick auf ihren kurvenreichen aber durchtrainierten Körper frei. Unbewusste leckte er sich über die Unterlippe. Plötzlich sah er, wie sich ihr Gesichtsausdruck verhärtete und als er Banes Stimme hörte, wusste er auch wieso.
„Jetzt schmachtest du sie auch noch an, dass darf doch nicht wahr sein!“
Sins Körper spannte sich an. Er schmachtete sie nicht an, sondern träumte davon sie, beziehungsweise ihren Körper zu erobern.
„Ich schmachte nicht.“, erwiderte er ausdruckslos und sah Bane an. Er kannte den jungen Mann schon seit seiner Kindheit und wusste genau, dass seine Charakterzüge sich nie verändern würden. Er war neugierig, aufdringlich und direkt. Sin konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie genau sie Freunde geworden waren. Bane sah ihn skeptisch an. Er war schon so misstrauisch, seit Sin heute morgen gelacht hatte.
„Sie ist verdammt heiß und das sie so freizügig gekleidet ist, macht es nicht besser. Gib es zu, du willst sie flachlegen!“
Sin sah ihn schweigend an. Obwohl er nie etwas zu sagen pflegte, kannte Bane ihn erstaunlich gut! Er hatte recht. Sin wollte es in der Tat darauf ankommen lassen. Erstaunlicherweise hatte er schon viele Frauen ins Bett bekommen, das lag aber wohl eher daran, dass er gut aussah. Seinen wahren Charakter hatte schließlich noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Das Trillern einer Pfeife riss beide aus ihrer Konversation.
„Sin! Leisten Sie gefälligst Hilfestellung bei den Mädchen!“, brüllte Mrs Heather und wies auf den großen Kasten, in der Mitte der Sporthalle, über den die Mädchen springen sollten. Was nicht ganz ungefährlich für sie war, da die meisten hier nicht über eins sechzig groß waren, der Kasten somit also fast genauso groß war wie sie. Lediglich Shira hatte keine Probleme, sie sprang schon fröhlich drauf los. Wobei...fröhlich war der falsche Ausdruck. Sie schien halt keinerlei Probleme mit dem Fach Sport zu haben. Bane erlebte zum ersten Mal, wie Sin ein deutliches Seufzen ausstieß. Sin war klar, dass die Mädchen sich über seine „Hilfestellung“ freuen würden, er allerdings fand das nervig. Ebenso wie alle anderen anwesenden Jungs hier. Seufzend trat er an den Kasten heran um darauf zu achten, dass sich keine der Schülerrinen verletzte. Nachdem einige Minuten lang die einzelnen Mädchen an ihm vorbei gesprungen waren, kam schließlich Shira an die Reihe. Ohne groß zu zögern nahm sie Anlauf. Sie nahm Schwung und stützte sich mit den Armen am Kasten ab, als plötzlich ihr Fuß wegknickte. Fluchend löste sie die Hände vom Kasten, um kurz darauf zu Boden zu gehen. Kurz bevor sie auf dem Boden aufkam, streckte Sin die Hand aus, um sie am Arm zu packen und wieder hochzuziehen. Sein Griff war grob und feste weshalb er vermutete, dass er ihr weh tat, doch sie gab keinen Laut von sich. Starrte ihn lediglich verwirrt an.
„Alles okay?“, fragte er leise, da sie still blieb. Sie nickte, scheinbar völlig neben der Spur.
„Kannst du laufen?“
Die Behutsamkeit, die er an den Tag legte, verwirrte sie. Er hatte nicht den Eindruck einer sanften Seele auf sie gemacht. Nein, er kam ihr eher wie ein Rebell vor. Shira löste sich aus seinem Griff und versuchte, einen Schritt zu machen. Sofort rührte sie sich nicht mehr. Sin war klar, dass sie keine Schwäche zeigen wollte und deshalb so ruhig war. Aber er bermekte das unmerkliche Zucken ihrerseits, als sie einen Schritt wagen wollte.
„Sin, bringen Sie sie ins Krankenzimmer!“, rief Mrs Heather, noch bevor einer von den beiden etwas sagen konnte. Die beiden tauschten einen Blick aus. Dann begann Sin zu grinsen.
„Tja, da du nicht laufen kannst...“, begann er, wurde aber durch ein Seufzen von Shira unterbrochen.
„Männer.“, hauchte sie und ließ zu, dass Sin sie auf seinen Rücken hob. Der junge Mann schnaubte.
„Man, du bist ganz schön schwer.“, sagte er neckend, lief los und sah dabei über seine Schulter. Shira zog eine geschwungene Braue in die Höhe und schnürte ihm aus Rache die Luft, für einen kurzen Moment, mit den Armen ab.
„Und du bist ganz schön frech.“, murmelte sie. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn auch er fing leise an zu lachen.
„Glaubst du nicht wir sollten mal ein „vernünftiges“ Gespräch miteinander führen?“, sagte er plötzlich, nachdem sie die Sporthalle verlassen hatten und nun durch die Schulflure liefen.
„Warum? Ich mag die Ruhe, die zwischen uns herrscht. Laute Personen sind nervig...So, wie dein Freund.“, erwiderte Shira fast schon flüsternd. So ehrlich ihre Gedanken auszusprechen passte nicht zu ihr. Und sie war noch nie getragen worden, weshalb sie ein wenig verunsichert war. Wieder ein leises Lachen von Sin.
„Du bist gar nicht so grauenhaft, wie hier alle behaupten. Woran liegt das?“
Damit hatte Shira nicht gerechnet. Es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte. Auch wenn diese Antwort keinerlei Informationen enthielt.
„Ich weiß nicht. Ich schätze, ich führe sämtliche Leute gerne hinters Licht.“, murmelte sie. Nun erst entspannte sich ihr Körper. Sin hatte es natürlich bemerkt.
„Erstens:“, begann er. „Du bist mir ein Rätsel, Shira. Und zweitens:“ Er sah über seine Schulter.
„Hast du dich etwa absichtlich schwer gemacht?“
Shira grinste frech, lächelte aber dann entschuldigend.
„War keine Absicht...“, hauchte sie. Sin erschauderte. Dieses Mädchen war so...undurchschaubar! Doch er bertrachtete es als eine Herausforderung. Nur wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Im einen Moment war sie so wild und unberechenbar, wie ein wildes Tier, im anderen Moment allerdings ähnelte sie einem zahmen Haustier. Plötzlich kam ihm der Panther von neulich in den Sinn. Diese goldenen Augen erinnerten ihn so unglaublich stark an Shira! Wieder sah er über seine Schulter wobei er bemerkte, dass sie die Augen geschlossen hatte. Seine Mundwinkel zuckten. Nicht zu fassen, wie süß sie so aussah. Noch immer dachte er über das Verhalten den Panthers nach. Kein Tier konnte sich so menschlich verhalten. Und keine junge Frau konnte sich so sehr wie ein Tier benehmen! Ihm war das Ganze zu komisch. Naja, vielleicht hatte er auch einfach zu viel Zeit mit Bane verbracht. Der Unsinn seines Freundes bekam ihm sowieso nicht... Erst als Shira die Augen aufschlug bemerkte er, dass er sie die ganze Zeit über angestarrt hatte.
„Bin ich so hübsch oder warum starrst du mich so an?“, fragte sie schnippisch. Ihre Mundwinkel zuckten, was ihm nicht entging.
„Du bist nicht hübsch, du bist wunderschön!“, entgegnete er und zwinkerte ihr zu. Sin hätte sie beinahe fallen gelassen als er sah, dass sich ein leises Lächeln auf ihre Lippen stahl.
„Ich mag dich. Du bist direkt und nicht so feige wie die anderen.“, sagte sie leise und sah ihm dabei, ohne zu blinzeln in die Augen. Das überraschte Sin dann noch mehr. Ihm wurde klar, dass sie genau das wusste. Und sie nutzte es aus!
Sie spielt mit mir!, stellte er gereizt fest.
„Und ich mag dich.“, erwiderte er. „Dafür, dass du so raffiniert und undurchschaubar bist.“
Shiras Lächeln wurde breiter. Sie roch das Adrenalin, das durch seine Adern gepumpt wurde. Er hatte also begriffen, dass sie spielen wollte.
„Scheint, als könntest du gut spielen.“, sagte sie kalt und schloss die Augen wieder. Für heute hatte sie genug gespielt. Mit einem wütenden Schnauben wandte Sin seinen Blick von ihr ab. Von nun an schwiegen beide.
4
Nachdem Shiras Fuß verarztet wurde, es war nur eine Zerrung, hatte sie ihn ignoriert.
Ob es wohl besser so ist?, fragte er sich und stapfte durch den Wald. Doch in diesem Moment war ihm das egal. Sin wollte nur noch einmal diesen Panther sehen. Stundenlang irrte er umher, immer mit den goldenen Augen im Kopf. Doch dieses Mal herrschte hier keine Ruhe. Im Gegenteil, es hätte nicht lebendiger sein können. Vielleicht war es ja letztens so still gewesen, weil Gefahr herrschte? Es hatten schließlich zwei Raubkatzen miteinander gekämpft. Fast schon hoffnungslos ließ Sin wieder den Blick schweifen. Vielleicht war das doch nur ein einmaliges Erlebnis gewesen? Schon die Tatsache, dass in diesen Wäldern solche Raubtiere herumstreiften, klang verrückt! Er beschloss, die Hoffnung aufzugeben. Vielleicht war es ja doch nur ein Traum gewesen? Sin drehte sich um und lief in die Richtung, aus die er gekommen war. Er war so in Gedanken versunken, dass er die aufsteigende Stille erst im allerletzten Moment bemerkte. Nach einigen Minuten Totenstille, bemerkte er es. Er blieb stehen und da erst hörte er das leise Knurren, nur wenige Zentimeter hinter ihm. Sin wagte es nicht sich umzudrehen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er wusste, dass das Tier dies ganz genau hörte. Das Knurren wurde lauter, er verstand die Aufforderung und drehte sich langsam, ganz langsam um. Und da trafen sich ihre Blicke. Sin blieb die Luft weg. Nie hatte er etwas schöneres oder vergleichbares gesehen. Es war einfach ein kleines Wunder. Es dauerte eine Weile bis Sin es wagte, wieder Luft zu holen. Schon wieder lag ein menschlicher Ausdruck in den Augen des Panthers. So, als ob er sagen wollte: „Na? Hast du mich gesucht?“
Sin neigte den Kopf. Er würde sich zwar dämlich dabei vorkommen, doch...
„Du scheinst gewusst zu haben, dass ich komme.“, sagte er ausdruckslos und beobachtete unter angespannten Nerven, wie die große Katze stolz auf ihn zuschritt. Plötzlich neigte das Tier den Kopf. Moment mal... War das ein Ja? Sins Augen verengten sich.
„Ich komme mir gerade ziemlich bescheuert vor aber...“, gestand er und blickte dem Panther geradewegs in die Augen.
„Kannst du mich verstehen?“
Wieder neigte die Katze den Kopf.
Also wirklich!, dachte Sin. Diese Tatsache musste er erst einmal verdauen...
Shira lachte sich innerlich ins Fäustchen. Dieser Junge war unglaublich! Und unglaublich klug... Sie roch seine Verunsicherung und hörte, wie sein Herz in einen unregelmäßigen Ryhtmus verfiel. Dennoch sah sie die Stärke und Willenskraft in seinen Augen. Sie kam nicht drumherum sich zu fragen, was Sin wohl erlebt hatte, um zu dem zu werden, was er nun war. Langsam schritt sie auf ihn zu. Shira wollte ihm ein wenig Zeit geben, allerdings waren das trotzdem nur wenige Sekunden. Sie kam vor ihm zum stehen und sah ruhig und gelassen zu ihm auf. Sie liebte es zu spielen und anderen Schaden zuzufügen, doch als er sie letztens gestreichelt hatte... Noch nie hatte es jemand gewagt, sie so zu berühren, doch nachdem Sin das getan hatte, hatte sie begriffen, dass sie in dieser Hinsicht einiges verpasst hatte. Shira hoffte, Sin würde dem Verlangen sie zu berühren wieder nachgeben, doch nach einigen Sekunden verflog dieser Gedanke. Was, wenn er Angst vor ihr hatte? Auch diesen Gedanken sperrte sie weg als sie sah, dass seine Hand ihrem Fell tatsächlich wieder nahe kam. Erwartungsvoll reckte sie ihren Kopf ein wenig vor, wobei Sin ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. In diesem Moment war dieses Tier einfach nur...süß! Dann traf seine Hand ihre tierische Stirn. Ein lautes Schnurren ertönte, als Sin gleichmäßig über das dichte, schwarze Fell strich. Sin lachte leise.
„Kannst du auch mauzen?“, fragte er spielerisch. Er zuckte nicht einmal, als das warnende Fauchen ertönte.
„Ja, das dachte ich mir.“, erwiderte er und brach nun in völliges Gelächter aus. Ob man wohl eine Freundschaft zu einem Tier aufbauen konnte? Er hatte keine Antwort auf diese Frage, schließlich hatte er nie ein Haustier gehabt. Er hatte nie jemanden gehabt. Selbst Bane war...
Shira bemerkte sofort, wie glasig seine Augen geworden waren, weshalb sie ihn mit dem Kopf anstieß. Gedankenverloren starrte er sie an.
„Verzeihung, du brauchst wohl deine Aufmerksamkeit.“, murmelte er. Shira schnaubte. Das sollte zwar humorvoll sein, doch die Worte, oder viel besser seine Augen konnten die...Trauer nicht verbergen. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde die Situation von einem lauten Brüllen unterbrochen. Shira rümpfte die Nase. Sie roch Blut. Und Tod. Mit einem Stechen im Herzen kehrte sie dem Mann vor ihr den Rücken zu. Wenn die Geparden wieder in der Nähe sein sollten, musste sie Sin so schnell wie möglich von hier fortbringen. Doch der Mensch hinter ihr hatte schon längst begriffen, dass etwas nicht stimmte. Aber das war ja offensichtlich. Die Ohren des Panthers zuckten. Wer oder was immer das auch war, zwischen denen und ihr gab es noch einige Kilometer Abstand.
Gut., dachte sie und drang Sin einige Schritte zurück. Sie würde sich alleine darum kümmern, war doch klar! Doch...
„Du willst mich doch nicht allen Ernstes loswerden, oder?“, entrüstete sich Sin empört und beugte sich so dermaßen vor, dass sein Kopf neben ihr auftauchte. Bedeutungsvoll starrte Shira geradeaus, in die Richtung, aus der die Gefahr drohte.
„Du witterst Gefahr, nicht wahr?“, fragte er. Innerlich lächelte sie. Er schien Haustiere gehabt zu haben. Sie senkte den Kopf und hob ihn dann wieder, um zu nicken.
„Willst du deshalb, dass ich verschwinde?“, hakte er unbeirrt nach. Wieder nickte Shira.
„Ist es eine Gefahr, die mir zum Verhängnis werden könnte?“, fragte er weiter. Okay, nun war sie genervt. Doch die Situation war ernst. Sie starrte ihn an.
Ein Schauer überlief Sin. Das ein Panther ihn so dermaßen anstarren konnte...gruselig!
„Dann verschwinde ich wohl besser.“, sagte er schließlich und grinste. Noch bevor er einen Schritt machen konnte, hatte sich Shira vor ihm geduckt. Ein drängendes Schnauben. Leise lachend stieg er auf ihren Rücken. Für einen kurzen Moment schweifte Shira mit den Gedanken ab. Ob er wohl bemerkt hatte, dass sie ein Weibchen war? Die Kilometer zwischen ihr und den Eindringlingen verringerte sich, weshalb sie sofort lospreschte.
Sins Herz stolperte einige Male. Dieses Tier schien unglaublich kräftig zu sein, wenn es ihn mit Leichtigkeit durch die Gegend kutschieren konnte. Bei jedem Schritt das es machte, spürte er die Sehnen und Muskeln des Tieres unter sich.
„Sag mal, bist du ein Kater?“
Shira reagierte nicht.
„Also eine Katze?“, sagte Sin dann. Für einen Sekundenbruchteil sah Shira zu ihm zurück. Dabei ertönte ein bestätigendes Schnauben.
„Ich nehme an, du hast keinen Namen?“, plapperte Sin munter weiter. Shira knurrte ein wenig lauter. Was war denn los mit ihm? Sie wollte nicht, dass er ihrer tierischen Hälfte einen Namen gab, sie hieß schließlich immer noch Shira. Auch, wenn er das nie herausfinden würde, so hoffte sie zumindest. Vielleicht war es ja Angst oder Nervosität, die ihn so viel reden ließen?
„Tut mir leid, falls ich zu viel rede. Aber mein Kopf ist voll.“, sagte er plötzlich leise. Wieder sah sie über ihre Schulter. Er war wirklich seltsam.
„Weißt du...“, murmelte er. „...du erinnerst mich an jemanden.“
Sie lauschte angespannt und ahnte, was gleich kommen würde.
„Ihr habt die gleichen Augen. Und im Charakter seid ihr euch auch sehr ähnlich. Allerdings bist du nur ein Tier...“
Beinahe wäre Shira stehen geblieben, um ihn abzuwerfen. Nur ein Tier? Das war eine Frechheit! Sie war schließlich eine Gestaltwanderlin. Shira knurrte leise und ihm zu zeigen, was sie von seinen Worten hielt.
Sin lachte leise und geistesabwesend. Da dieses Tier ihn verstand, war aufgrund des Knurrens anzunehmen, dass dem Leopardenweibchen seine Worte gar nicht gefielen. Natürlich nicht, allein schon das sie ihn verstand beweiste, dass sie viel mehr war als „nur“ ein Panther. Er versank weiter in Gedanken. Er musste wirklich immer an Shira denken. Doch wie sollte es auch anders sein, dieses Mädchen war einfach unglaublich! Allein schon diese Augen. Gold oder wie flüssiges Karamell... Doch nicht nur die Farbe ihrer Augen zog ihn in den Bann. Sie hatte einen hammer Körperbau, liebte es zu spielen und war so...facettenreich. Immer wieder zeigte sie ihm ein neues Gesicht. Wie sollte er sie da nicht interessant finden? Langsam realisierte Sin, dass die Pantherin stehen geblieben war. Wachsam ließ er den Blick schweifen. Es schien, als wäre das Tier unter ihm nervös oder beunruhigt, denn es trat von einer Pfote auf die andere und musterte die Umgebung ebenfalls mit wachsamen Augen.
„Du wirkst beunruhigt. Glaubst du, die Entfernung ist zu gering?“, hakte Sin nach, worauf die Leopardin ihn unglaublich...ausdrucksstark anstarrte. Hatte er also richtig gelegen? Nun erst betrachtete er seine Umgebung genauer. Moment mal! Seit wann gab es in dieser Gegend einen solch riesigen Fluss?
„Wir sind schon weit über die Grenze hinaus, nicht wahr?“, murmelte er und erhielt als Antwort ein Nicken von dem Tier. Sie standen am Ufer des Flusses. So dicht, dass Sins Füße kurz davor standen, das Wasser zu berühren. Er bekam nur am Rande mit, wie die Leopardin mit dem schwarzen Fell hinter ihn trat. Er dachte sich nichts dabei, bis er plötzlich einen kräftigen Stoß verpasst bekam. Mit einem lauten Platschen landete er in dem Fluss, was ihn für einen kurzen Moment ziemlich dumm aussehen ließ. Shira lachte sich innerlich über Sins Gesichtsausdruck kaputt und auch ihre tierische Hälfte schnaubte belustigt.
5
Völlig perplex starrte Sin die Pantherin an. Hatte sie ihn gerade tatsächlich in den Fluss gestoßen? Unverwandt starrte das Tier ihn an. Mit ihrem bedeutsamen Blick wollte sie ihm etwas zu verstehen geben, aber was? Plötzlich hob sie den Kopf und witterte. Das war es! Die Verfolger konnten sicher noch immer seine Witterung aufnehmen.
„Verstehe. Sie können also meinem Geruch folgen.“, murmelte Sin und stieg nun langsam aus dem Wasser.
„Glaubst du wirklich, das hilft?“, fragte er dann. Der Panther schüttelte den Kopf. Und wie zu Beweis, ertönte nicht weit von ihnen entfernt ein Knurren. Sofort war Shira vor Sin gesprungen, um ihn vor möglichen Angriffen zu schützen. Der Geruch von Angst stieg der Gestaltwanderlin in die Nase. Sin war also bis zum zerreißen angespannt. Natürlich, ihm standen schließlich fünf Raubtiere gegenüber. Vier Raubkatzen traten aus dem Schatten des Waldes. Drei Geparden, es waren dieselben von neulich, und ein Löwe.
Scheinbar ihre Unterstützung., dachte Shira und fauchte leise.
Sie wäre den vieren am liebsten in ihrer menschlichen Gestalt gegenüber getreten, doch aufgrund Sin hinter ihr, ging das leider nicht.
So ein Mist aber auch!, dachte sie. Ich komme nicht gegen alle gleichzeitig an. Mindestens einer wird versuchen, an Sin heranzukommen.
Das Pantherweibchen steckte in einer Zwickmühle. Sie musste diesen Menschen auf jeden Fall schützen, das ginge allerdings nur in ihrer menschlichen Gestalt. So durfte er sie aber nie sehen.
Verdammt!
Shira atmete tief durch und sandte ihre Gedanken dann an die anderen Raubtiere.
Das ist immer noch mein Territorium und dieser Mensch hier, somit meine Beute. Also wenn ihr nicht sofort von hier verschwindet verspreche ich euch, werdet ihr so einige Probleme bekommen!
Zwei der Geparden traten erschrocken einen Schritt zurück, der andere Gepard und der Löwe jedoch, rührten sich keinen Millimeter. Doch die beiden wussten, dass die Leopardin recht hatte. Dies war ihr Revier, sie hatte hier das Sagen. Jagen war hier für andere verboten. Die vier Raubkatzen wussten genau, wer diese Frau war. Sie hatten auch die unzähligen Gerüchte über sie gehört. Das sie kalt war und brutal sein sollte. Doch womit sie alle nicht gerechnet hatten, war diese extreme Feindseligkeit. Es war auch erstaunlich, dass eine einzige Frau so viel Macht über ein Revier hatte. Sie alle fragten sich, was diese Frau wohl erlebt haben musste. Der Löwe knurrte. Er wollte nicht nachgeben. Er hatte noch nie verloren. Und er würde es auch nie! Er spielte mit dem Gedanken, sich vor den Augen des Menschen zu verwandeln. Ihm war jedoch klar, dass die Frau ihn dafür töten konnte. Sie würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar tun! Doch er konnte sich immer noch zurückverwandeln. Der Löwe beschloss, es zu riskieren und gab seine tierische Hälfte, zumindest für den Moment, auf.
Shira fauchte laut. Sie konnte es nicht fassen, der Löwe hatte sich tatsächlich vor Sins Augen verwandelt! War ihm klar, dass sie ihn jetzt töten könnte? Shira ahnte, dass er mit ihr reden wollte. Und sie beschwichtigen wollte. Sie sah hilflos über ihre Schulter zu Sin. Zum ersten Mal in ihrer tierischen Gestalt, fühlte Shira sich verzweifelt. Sin war noch immer perplex, doch er schien zu spüren, dass die Frau verunsichert war, denn er berührte sie vorsichtig an ihrer Flanke. Es half ein wenig. Shira beruhigte sich durch diese Berührung ein wenig, jedoch war sie noch immer in höchster Alarmbereitschaft.
„Ich wäre erfreut darüber, wenn ich meinem Gegenüber in die menschlichen Augen sehen könnte.“
Shira ließ ein lautes Knurren in ihrer Kehle aufsteigen. War dieser Kerl lebensmüde? Sie hätte ihn am liebsten angegriffen aber dann wäre Sin schutzlos gewesen.
„Du kannst dich ruhig verwandeln...Ich komme damit zurecht.“, sagte Sin leise hinter ihr. Hastig warf sie den Kopf hin und her. Sie konnte ihm unmöglich ihr wahres Gesicht zeigen!
„Sieht so aus, als hätte die Kleine ein Geheimnis.“, stellte der Löwe fest und grinste breit. In seinen braunen Augen blitzte es gefährlich. Wieder fauchte Shira. Kleine? Sie wusste ganz genau, dass er sie nur provozieren wollte, trotzdem gefiel ihr dieser Ausdruck nicht.
Was soll ich nur machen?, dachte sie verzweifelt und sah zwischen den Raubkatzen hin und her.
„Also.“, begann der Löwe, dessen Namen sie nicht einmal kannte, gedehnt und zeigte ihr wieder sein schönstes Grinsen.
„Entweder du zeigst uns jetzt deine wahre Gestalt...“
Die anderen drei Geparden waren plötzlich verschwunden, wie ihr auffiel.
„Oder dein kleiner Freund hinter dir, muss für deine Ungehorsamkeit bezahlen.“
Erschrocken über des Löwen Worte, wirbelte sie herum. Die Geparden hatten sich tatsächlich unbemerkt an Sin herangeschlichen. Ihre Reißzähne blitzten gefärhlich, ebenso wie die langen Krallen an ihren Pranken. Shira stieß ein Brüllen aus.
Dieser Mistkerl!
Wäre es nicht Sin gewesen, der da nun in der Tinte saß, hätte sie sich nicht verwandelt. Da er es allerdinge war, musste sie nachgeben. Nur widerwillig gab sie ihre tierische Gestalt auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie Sin reagieren würde... Dann hatte sie auch schon menschliche Gestalt angenommen. Sie hörte ein Keuchen und wusste sofort, dass es von Sin kam, doch darüber konnte sie sich keine Gedanken machen. Langsam drehte sie sich um, damit sie die Geparden verscheuchen konnte. Ihre tödlichen Blicke zeigten Wirkung, die Raubkatzen zogen sich zurück und gesellten sich wieder zu dem Löwen.
„Was wollt ihr?“, knurrte sie bedrohlich in Richtung des Löwenmannes. Dieser wurde ernst.
„Du bist nichts als ein Kind! Was willst du mit solch einem großen Revier?“, fragte er leise.
„Meine Erbgeschichte geht euch nichts an. Und nun, komm zum Punkt.“, erwiderte die junge Frau.
„Wir wollen, dass du die Regentschaft mit einem anderen teilst. Die Heimatlosen brauchen einen Ort der Zuflucht.“
„Vergesst es!“, widersprach Shira sofort. Dies missfiel den Raubkatzen. Sie hatten ebenfalls niemanden, der sie unter seine Fittiche nehmen wollte.
„Warum nicht? Wie kann man nur so herzlos sein?“, brüllte der Löwe. Shiras Gesicht blieb ausdruckslos.
„Du hast recht, ich habe kein Mitleid mit Streunern. Allerdings ist das nicht der ausschlaggebende Grund. Der Punkt ist folgender: Ihr dringt in mein Revier ein. Unbefugt. Und droht mit dem Tod eines unwissenden Menschens, falls ich nicht gehorche. Wieso sollte ich so jemanden hier leben lassen? Das hier ist mein Territorium und dieser Mensch hier, ist demnach auch meine Beute. Ich teile nicht gerne! Wenn ihr nicht sofort verschwindet verspreche ich euch, wird keiner von euch lebend diese Gegend verlassen!“
Nach Shiras Ansprache waren alle, auch der Löwe verunsichert. Sie zogen sich tatsächlich zurück.
Langsam, ja fast in Zeitlupe, drehte Shira sich wieder zu Sin um. Zum Teufel mit diesem Löwen, sie würde ihn aufspüren und töten! Ausdruckslos sah sie den jungen Mann an. Sie zerbrach sich gerade den Kopf darüber, wie er wohl reagieren würde. Doch sie würde es ja in wenigen Sekunden erfahren...
Von Sekunde zu Sekunde glänzten ihre goldenen Augen mehr, vor Verzweiflung. So sprachlos und irritiert Sin auch war, nach wenigen Sekunden bemerkte er den Ausdruck in ihren Augen. Vorsichtig und langsam streckte er die Hand nach ihr aus, um sie an ihre Wange zu legen. Erst ließ sie es geschehen, doch schon nach wenigen Augenblicken packte sie seine Hand, um sie dann niederzudrücken.
„Es ist besser, wenn ich dich von hier fortbringe.“, sagte sie monoton und leise und kehrte ihm dann den Rücken zu. Sin war verärgert, was die Leopardin auch sofort bemerkte.
„Was denn, keine Erklärung?“, brummte er wütend und starrte auf ihren Rücken. Nun war ihm klar, warum sie einen solch duchtrainierten Körper hatte. Der des Panthers war es schließlich auch.
„Kein Mensch auf dieser Welt weiß Bescheid. Die, die Bescheid wussten, wurden getötet.“, sagte Shira kalt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
„Dann willst du mich also umbringen?“, fragte Sin und zog eine Augenbraue in die Höhe. Warum nur, ließ ihn das so kalt? Seine Worte brachten Shira dazu, nun doch über die Schulter zu schauen.
„Wäre dies meine Absicht, hätte ich dich den Geparden eben zum Fraß vorgeworfen. Oder es schon längst selbst getan.“, erwiderte sie und zeigte dabei ein animalisches Grinsen. Ein eisiger Schauer kroch Sin in die Knochen. Dieses Mädchen war durch und durch gefährlich! Naja, sie war ja auch eine Leopardin.
„Ach? Ich dachte, ich wäre deine Beute.“
Mochte sein, dass ihn das alles schockte. Trotzdem war er noch in der Lage, seinen Humor zu verwenden. Shira bedeutete ihm mit der Hand, ihr zu folgen und sah dabei wieder mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, über die Schulter.
„Oh, das bist du auch. Aber nur, weil ich dich nicht töte heißt das nicht auch automatisch, dass ich nicht mit dir spielen werde.“, erklärte sie, nun ein wenig freundlicher gestimmt und führte ihn zurück. Zurück, in die Stadt.
6
„Also, was genau bist du nun?“
Es waren die ersten Worte, die er seit dem Nachmittag gesprochen hatte. Zu sehr hatten ihn ihre Worte, sie würde mit ihm spielen, verwirrt. Erst jetzt, ein paar Stunden später, meldete er sich wieder zu Wort.
„Eine Gestaltwanderlin.“, antwortete sie trocken.
„Du meinst, wie ein Werwolf? Nur als Leopardin?“, kam es darauf prompt zurück.
„Der Name Werwolf existiert nicht. Es sind ebenfalls Gestaltwandler.“
Sin zog wieder die Brauen hoch.
„Bist du eigentlich immer so kalt?“
„Das fragst du noch?“, murmelte sie und sah ihn, nun endlich an. Ihre goldenen Augen wiesen zum ersten Mal keinen Glanz auf. Sin seufzte, trat näher an sie heran und berührte sie wieder an der Wange.
„Ich muss zugeben, dass ich verwirrt bin. Du bist zwar ein Raubtier, brauchst aber trotzdem deine Streicheleinheiten.“, sprach er seine Gedanken aus und musterte sie ausgiebig. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie seine Hand packte und diese wegdrückte.
„Streicheleinheiten? Du warst und wirst der einzige bleiben, der mich je so berührt hat. Bisher hat es sich niemand, bis auf dich, getraut.“
Nun war Sin überrascht.
„Es hat nie jemanden gegeben, der dich umarmt hat, deine Hand genommen hat oder so?“
Shira schüttelte ausdruckslos den Kopf.
Warum schockt ihn das so?, fragte sie sich. Ist das so ungewöhnlich?
Sin schnaubte leise, was die junge Frau aufmerksam werden ließ.
„Wir sind gar nicht mal so verschieden.“, sagte er leise und blieb stehen.
„Von hier aus schaffe ich es alleine nach Hause.“
Shira blieb ebenfalls stehen und sah mit einem komischen Ausdruck in den Augen zurück. War es Spott? Oder zweifelte sie nur?
„Mag sein aber wir befinden uns ganz in der Nähe, der Grenze meines Reviers. Sie werden dir auflauern.“
Sin schnaubte. Auf der einen Seite war ihr Gerechtigkeitssin bewundernswert. In diesem Moment zumindest. Auf der anderen Seite jedoch, war er kein kleines Kind mehr.
„Verrate mir wo genau die Grenze verläuft und ich achte darauf, sie nicht zu überqueren. Ich glaube sie sind schlau genug, sich nicht mehr in deinem Territorium blicken zu lassen.“, erklärte er strotzig und ging an dem Mädchen vorbei.
„Du bist genauso stur, wie ich.“, hauchte Shira und wandte sich ab. Als Sin sich umdrehte, war sie bereits verschwunden.
Verzweifelt kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Was sollte sie denn nun tun? Wenn die Ältesten das herausfanden, würden sie sowohl Sin, als auch sie töten! Der Grund, warum sie Sin töten mussten lag auf der Hand. Shira würden sie jedoch aus einem anderen Grund beseitigen. Sie hatte es zugelassen, beziehungsweise sich nicht darum gekümmert den Menschen zu töten.
Sie tigerte auf dem Dach der Villa, auf dem sie nun stand, auf und ab. Sie war ihm gefolgt, bis zu ihm nach Hause. Doch sein Zuhause hatte sie ein wenig geschockt...
Er oder besser gesagt seine Eltern, schienen reich zu sein. Diese Villa konnte man ja schon in die Kategorie „Schloss“ einstufen.
Scheint, als müsste ich mehr über ihn herausfinden., dachte Shira und sah vom Dach aus in den Garten hinterm Haus, in dem Sin scheinbar eine Kampfkunst zu trainieren schien.
Na sieh mal einer an, er scheint gar nicht so schwach zu sein., dachte sie junge Frau dann und ging entspannt in die Hocke. Es war nicht kalt aber auch nicht sonderlich warm, dennoch trainierte Sin mit nacktem Oberkörper. Shira leckte sich über die Lippen. Ja, er sah verdammt gut aus!
Nicht nur seine unglaublichen grünen Augen faszinierten sie, sondern auch sein Körper, unter dessen hellen Haut sie die Muskeln spielen sehen konnte. Automatisch lehnte sie sich ein wenig vor. Sie wollte noch immer ihre Spielchen mit ihm treiben, allerdings hatte sie ganz andere Sorgen... Shira wollte nicht, dass er starb. Warum wusste sie selbst nicht, doch es würde sich nicht verhindern lassen. Es gab schon mal einen Menschen, der es erfahren hatte. Es war zwar schon mehrere Jahrhunderte lang her, aber dennoch...Er wurde getötet, weil er dieses Geheimnis nicht für sich behalten wollte. Auch die Menschen, die es wegen ihm erfahren hatten, wurden ermordet. Die Gefahr war einfach zu präsent. Die ältesten Mischwesen dieser Welt hatten sich zu einem Rat zusammengeschlossen. Sie bestimmten noch heute heute die Regeln und daran würde sich auch so schnell nichts ändern. Shira schüttelte den Kopf, um unnötige Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und nicht auf vergangene Zeiten. Ihre Augen nahmen ihn wieder ins Visier. Er schien völlig in Gedanken versunken zu sein, dennoch bewiesen seine Bewegungen, dass er konzentriert war. Die Katze in ihr war der körperlichen Oberfläche verdammt nah, die kleinste Kleinigkeit und sie würde sich verwandeln. Sin faszinierte sie einfach zu sehr. Sie schüttelte wieder den Kopf und versuchte, die Katze in ihren Käfig zu sperren. Leider gelang ihr dies nicht. Ein leises Fauchen drang aus ihrer Kehle. Verdammt, wenn sie nicht leise wäre, würde er sie bemerken. Und das wollte sie tunlichst vermeiden. Für ihr Handeln hatte sie nämlich keine Erklärung parat. Sie lehnte sich noch ein wenig weiter vor. Zum Teufel, diese Muskeln! Der tierische Teil in ihr wollte sich an ihm reiben, so, wie es eine Katze nun mal tat. Der menschliche Teil allerdings, würde niemals nachgeben. Es hatte schon gereicht, dass er ihre tierische Seite kennengelernt hatte, da musste sie nicht auch noch ihren wahren Charakter zu Tage fördern! Plötzlich hielt Sin mitten in der Bewegung inne. Und sah auf.
Sin ließ den Blick schweifen. Er fühlte sich beobachtet, sah jedoch niemanden.
Vielleicht Shira?, dachte er. Vermutlich., fügte er in Gedanken hinzu. Natürlich konnte er sie nicht sehen. Sie war eine Leopardin, und somit eins mit der Natur. Außerdem war sie stur. Niemals würde sie zulassen, dass er sie entdeckte. Erschöpft ließ er sich ins Gras fallen. Fast eine Stunde lang, hatte er nun schon trainiert. Doch es half nicht, er bekam den Kopf einfach nicht frei. Sie wollte einfach nicht aus seinen Gedanken, verdammt noch mal! Er sah gen Himmel, der mit Sternen übersäht war. Er war alleine, naja, von seinem heimlichen Beobachter mal abgesehen, weshalb er ungestört in Gedanken versinken konnte. Er musste dringend nachdenken. Sei es drum, ob es dabei nur um eine einzige Sache ging. Diese Frau war ihm ein Rätsel. Diese ganze Gestaltwandlergeschichte war ihm ein Rätsel. Es kam ihm so vor, als wäre alles nur ein Traum gewesen, doch nein! Shira hatte sich tatsächlich vor seinen Augen von einem Panther, in einen Menschen verwandelt! Und nicht nur sie, nein, auch ein fremder Mann war in der Lage, sich in ein Tier zu verwandeln. Sin kaute auf der Innenseite seiner Wange herum. Hatte er jetzt völlig den Verstand verloren? Nein, sicher nicht. Er war klug. Schon immer gewesen. Es musste alles der Wahrheit entsprechen. Shiras Augenfarbe und die, des Leoparden war schließlch dieselbe gewesen. Er würde akzeptieren, dass es Gestaltwandler gab, allerdings weigerte sich sein Verstand diese Informationen zu verarbeiten. Für einen kurzen Moment schlossen sich seine Augen. Als er sie wieder öffnete, hätte er am liebsten laut ihren Namen geschrien. Sin wusste inzwischen ganz genau, dass sie da war. Nie hatte ihm jemand so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie sie.
„Na los, komm schon raus.“, sagte er schließlich laut. Für einen langen Augenblick war nichts zu hören, bis auf betretende Stille. Dann spürte er einen Windhauch. Nach einigen Sekunden ließ sich jemand neben ihm im Gras nieder. Nur langsam wagte er es, den Kopf in ihre Richtung zu drehen. Da saß sie. Stur geradeaus blickend, ohne zu blinzeln.
„Du bist tatsächlich gekommen.“, murmelte Sin überrascht und musterte sie ausgiebig. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, einige Strähnen jedoch hingen ihr locker ins Gesicht. Ihre goldenen Augen funkelten auf unglaubliche Art und Weise, doch sie tat so, als wäre sie an nichts interessiert. Sie saß im Schneidersitz neben ihm und hatte sich ein wenig zurückgelehnt.
„Die Katze in mir war neugierig.“, antwortete sie leise, ohne ihn anzusehen.
„Erzähl mir mehr über deine Art.“, verlangte Sin und wagte es sich, ein wenig näher an sie heranzurücken.
„Es ist verboten.“, erwiderte sie kühl.
„Das ich es weiß, ist auch verboten.“, sagte er und grinste frech. Sie sah ihn noch immer nicht an, als sie sagte:
„Das ist nichts, worüber du lachen kannst.“
Schlagartig war das Grinsen auf seinen Lippen verschwunden. Nun endlich wandte Shira sich ihm zu.
„Das Gesetz verlangt von mir, dass ich dich töte. Wenn ich dies nicht tue, werden es die Ältesten tun und weil ich das Gesetz nicht befolgt habe, werde auch ich getötet.“
Ihre Erklärung ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Eure Art ist ziemlich brutal und grausam.“, hauchte er. Shira konnte das Zucken ihrer Mundwinkel nicht unterdrücken.
„Ach, findest du?“
Wieder sah sie ihn an.
„Wir wollen lediglich überleben. Wüssten die Menschen von uns, wäre dies nicht möglich. Außerdem...“
Sie zögerte einen Augenblick.
„Außerdem seid ihr Menschen um einiges schlimmer! Ihr tötet euch gegenseitig, lasst andere verhungern und seid nur aufs Geld aus. Die ganzen Kriege nicht zu vergessen. Und du glaubst, Gestaltwandler wären herzlos?“
Die Leopardin stieß ein Schnauben aus.
„Ich will dich nicht beleidigen aber ihr Menschen seid ausgesprochen dumm. Ihr lernt nicht aus euren Fehlern und daran wird sich auch nichts ändern.“
Sin konnte einfach nicht anders. Er musste einfach lächeln. Schmunzelnd sah er zu ihr hinüber.
„Ich würde ebenfalls gerne einige Komplimente geben, allerdings kenne ich dich und deinesgleichen dafür zu wenig.“
Shira ließ ein leises Fauchen hören.
„Darüber lächelst du? Das ist nicht witzig!“
Sin neigte lächelnd den Kopf. Für Shira war der Ausdruck in seinen Augen dabei unbeschreiblich.
„Weißt du, nicht alle Menschen sind schlecht, Shira.“, sagte er leise und streckte dabei vorsichtig die Hand nach ihr aus. Kalt wandte sie ihren Blick von ihm ab, um seine Hand somit zu ignorieren. Leise lachend legte er seine Finger unter ihr Kinn, um ihr Gesicht wieder zu ihm zu drehen.
„Oder glaubst du, ich bin schlecht.“
Sin lächelte verführerisch.
„Du bist ein Aufreißer und spielst mit Frauen, also ja!“, fauchte sie.
Doch trotz dieses groben Tonfalls, schlug sie seine Hand nicht weg. Sin neigte den Kopf.
„Du treibst doch auch seine Spielchen mit Männern.“, erwiderte er. In Shiras Augen trat ein typisch katzenhaftes Funkeln.
„Ich bin nur zur Hälfte ein Mensch. Und es liegt in den Genen einer Katze, zu spielen.“, war ihre kurze aber plausible Erklärung. Sin ging nicht weiter darauf ein und wurde stattdessen ernst.
„Außerdem verarsche ich keine Frauen. Ich fange nur etwas mit ihnen an, wenn sie es auch wollen. Die, die es nicht wollen, werden von mir in Ruhe gelassen.“
„Woher weiß ich, dass du nicht lügst?“, hauchte sie. Sin erschauderte. Dieser Unterton in ihrer Stimme...War das die Katze? In seinem Kopf ratterte es. Es schien, als wäre ihr das wichtig. Aber warum?
„Ich würde es nicht wagen, dich anzulügen. Du könntest mich schließlich in Stücke reißen.“, hauchte er an ihren Lippen.
„Um das zu tun, brauche ich nicht mal einen solch bedeutenden Grund. Ich könnte dich auch dafür bestrafen, dass du mir so nahe bist!“, erwiderte sie schwach lachend an seinem Mund.
„Würdest du das auch tun?“, flüsterte er mit seiner rauen Stimme und grinste breit.
„Wenn ich mich nicht im Griff hätte, ja.“, raunte sie und wich zurück, ehe er sie richtig küssen konnte.
„Aber du hast dich unter Kontrolle, nicht wahr?“
Shira ließ ein kleines Lachen hören, packte Sins Kinn und küsste ihn kurz und grob.
„Allerdings.“, hauchte das Mädchen, ehe sie ruckartig auf die Beine kam und auf einen Baum, wenige Meter entfernt sprang. Verwirrt und mit geweiteten Augen sah Sin in ihre Richtung. Ihre goldenen Augen funkelten bedrohlich und das raubtierhafte Grinsen auf ihren Lippen, jagte ihm zugegebenermaßen doch ein wenig Angst ein.
„Du solltest dennoch Angst vor mir haben, Sin!“, brüllte sie. Er zuckte zusammen und erschrak abermals, als sie plötzlich wieder vor ihm hockte und ihm eine Haarsträhne aus die Stirn strich.
„Warum zeigst du mir gegenüber solch ein Interesse? Das sollte nicht sein.“, hauchte sie. Interessiert und fast schon ein wenig ehrfrüchtig starrte sie ihn an.
„Ich zeige dir gegenüber Interesse, weil...“
Sin zögerte einen Augenblick, ehe er den wahren Grund nannte.
„Weil ich glaube, dass du vorgibst jemand zu sein, der du nicht bist.“
Entweder täuschte er sich oder er hatte sie soeben tatsächlich verunsichert!
„Vielleicht ist es besser, wenn ich mich im Hintergrund halte.“, murmelte sie und kam langsam auf die Beine.
„Sag bloß, du flüchtest.“, erwiderte Sin und schmunzelte, als sie ihn wütend anstarrte.
„Willst du etwa behaupten, ich sei feige?“, fauchte sie. Lächelnd schüttelte er den Kopf.
„Nein, Shira, das wollte ich nicht.“
Doch., dachte er. Genau das wollte ich damit sagen!
7
Lysander verneigte sich vor dem Rat.
„Sie hat ihn nicht getötet?“, brüllte Ragnar. Der Mann mit den silbrigen Haaren war mehr, als nur wütend. Es gab nur selten jemanden der es wagte, das Gesetz zu missachten. Nun war es also wieder soweit.
„Nein, Sir, hat sie nicht. Wir haben sie eine Weile beobachtet. Sie hat keinerlei Anstalten gemacht, ihm Gewalt anzutun.“, fuhr Lysander fort, ohne zu blinzeln.
„Beruhige dich, Ragnar.“, versuchte Jaz den Schneeleoparden zu beruhigen.
„Shira Cygni, also.“, fuhr Jaz fort. „Das kleine Mädchen scheint gar nicht mehr so gefühlskalt zu sein, wie früher. Sie scheint erwachsen zu werden.“
Es war nicht Lysanders Art, sich vor diesen hohen Tieren unaufgefordert zu Wort zu melden, doch in diesem Moment lag es in seinem Interesse, seine Meinung zu äußern.
„Verzeiht mir meine Einmischung, Master Jaz, aber ich muss euch widersprechen. Dieses Mädchen ist eiskalt und weigert sich, Heimatlose unter ihre Fittiche zu nehmen, trotz ihres riesigen Reviers. Sie hat kein Rudel, also was bitte will sie mit solch einem weitreichenden Territorium? Außerdem ist mir aufgefallen, das sie offensichtlich Spaß daran hat, mit diesem Menschenburschen zu spielen.“
Ragnar wurde bei Lysanders Worten aufmerksam.
„Sie spielt mit ihm?“, hakte er nach. Lysander nickte.
„Ja. Vor einigen Tagen hat sie spielerisch die Krallen ausgefahren. Sie ist ihm bis nach Hause gefolgt.“
Die Ratsmitglieder tauschten Blicke aus.
„Wir sollten sie nicht aus den Augen lassen.“, meinte Jaz und ballte unauffällig die Hände zu Fäusten. Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden. Es war also beschlossen...
Sin traute sich nicht an sie heran. Sie wirkte völlig verzweifelt, auch in der Schule. Er fragte sich, wie wie wohl reagieren würde, wenn er sich ihr gegenüber benahm, so wie immer. Er atmete tief durch. Den ganzen Tag schon konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Bane, der ihm ein Ohr abquatschte, machte es da nicht besser.
„Alter, wenn du ihr so verfallen bist, dann versuch es doch einfach mal. Du bist doch sonst nicht so zurückhaltend.“
Sin knurrte leise.
„Du verstehst das nicht, Bane. Es geht nicht darum, dass ich sie irgendwie mag, sondern um etwas...sehr persönliches.“
Bane stieß ein tiefes Seufzen aus und machte kehrt.
„Weißt du was? Mach, was du willst. Meld dich, wenn du wieder der Alte bist.“, brummte sein Freund und verschwand in die Masse der Schüler. So etwas hatte Sin sich schon fast gedacht. Bane hatte „stille Typen“ schon immer gehasst. Er verstand diese nachdenklichen Typen nicht und liebte es, zu feiern. Doch egal, wie gut die beiden auch befreundet waren, nie hatte Bane erfahren, wie Sin wirklich tickte... Shira befand sich gerade an ihrem Schließfach, also beschloss Sin, es zu riskieren.
„Hey, Shira.“, sagte er leise und lehnte sich an eines, der Schließfächer.
„Hallo, Sin.“, erwiderte die junge Frau ausdruckslos, wie immer. Und das, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Wir tun also, als wäre nie etwas gewesen?“
Das Sin sofort zur Sache kam, überraschte Shira kein bisschen.
„In der Schule wäre das angebracht, also ja.“, antwortete sie. Sin grinste. Er wollte nicht zugeben, dass ihn diese kleine Geste von ihr verletzte...
„Traust du dich nun nicht mal mehr, mir in die Augen zu sehen?“, hauchte er. Shira schnaubte und hob den Blick. Ihre Mundwinkel zuckten belustigt.
„Verzeih mir meine Geistesabwesenheit aber es scheint, als würde es dich stören das ich mir verzweifelt Gedanken darüber mache, wie wir dein Leben, und meines noch dazu, retten können!“
Sin blinzelte. Mit solch einer aggressiven Antwort hatte er dann doch nicht gerechnet.
„Entschuldige, ich...“
Er konnte seine Entschuldigung nicht zu Ende formulieren, denn Shira knallte das Schließfach zu und lachte leise.
„Du willst dich entschuldigen? Wofür?“
Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Grinsen auf den Lippen sah sie ihn an. Das sie lachte, hatte ihn nun völlig aus dem Konzept gebracht. Irritiert starrte er sie an. Lachend schüttelte sie den Kopf.
„Du bist unglaublich!“, lachte sie und setzte sich in Bewegung. Sin folgte ihr, ohne zu zögern.
„Ich nehme an, das ist gut.“, sagte Sin nachdenklich und lief neben ihr her.„Ja, ist es.“, gab Shira leise und und ließ zu, dass sich ihre Lippen zu einem sichtbaren Lächeln verzogen.
„Na, sieh mal einer an. Du lächelst, sodass es jeder sehen kann.“
Das Mädchen versank für einen kurzen Moment in Gedanken. Nie hatte sie ein sichtbares Lächeln in der Öffentlichkeit gezeigt. Also was war an Sin so besonders, dass sich das geändert hatte?
„Erstaunlicherweise, ja.“, murmelte sie nun und warf ihm zusätzlich noch einen kurzen Blick zu. Der junge Mann erwiderte ihr Lächeln, doch plötzlich wandte sie ihren Blick ruckartig von ihm ab. Doch auch wenn sie geradeaus starrte konnte er sehen, dass ihr Blick glasig geworden war.
„Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir helfen soll, Sin.“, sagte sie so leise, dass nur er es hören konnte.
„Der Rat weiß wahrscheinlich schon längst, dass ich dich am leben gelassen habe aber ich finde einfach keine Möglichkeit, dein Leben zu retten!“
Sin konnte einfach nicht anders, er musste das Ganze einfach ins Lächerliche ziehen.
„So, wir schweigen also doch nicht.“, schmunzelte er.
„Verdammt, würdest du das Ganze mal ernst nehmen?“, brüllte Shira drauf los und packte Sin am Kragen, um ihn gegen eine Reihe Schließfächer zu drücken. Erschrocken hielt er inne. Ein leises Knurren war zu hören. Nachdem sie die Blicke der Mitschüler bemerkt hatte, atmete sie tief durch und ließ von ihm ab.
„Verzeihung, ich habe mich manchmal nicht im Griff.“, flüsterte sie und trat einige Schritte zurück. Sin hatte sich in Sekundenschnelle wieder gefasst.
„Ich fange an dich zu mögen, Shira. Wirklich!“, sagte er leise, zog sie an sich heran und küsste sie kurz auf den Mund, ehe er weiterging.
„Zum Teufel, hör auf es mir so schwer zu machen.“, flüsterte Shira und folgte ihm schlurfend in die Sporthalle.
Er war verwirrt. Hatte sie etwas mit diesem Menschen? Nein, sicher nicht. Der Ausdruck in ihren Augen bewies, dass ihr das zuwider war. Unauffällig folgte er ihnen bis in die Sporthalle, wo sie sich den Anweisungen der Lehrerin fügten. Als er sah, dass Shira sich des Öfteren unauffällig umsah, bekam er einen Schreck. Sie konnte ihn unmöglich bemerkt haben! Irritiert beobachete er, wie der Menschenjunge seine Späße mit dem Mädchen trieb. Seine Augen verengten sich. Schon einige Male hatte er es mit Shira Cygni zutun gehabt. Oder besser gesagt, mit ihren Eltern. Dieses Mädchen war schon in ihrer frühesten Kindheit kalt und grausam gewesen, doch sie schien sich zu verändern. Sein Blick fiel auf Sin. Scheinbar war dieser Menschenbengel Schuld daran. Der Adler musste zugeben, dass er ein wenig fasziniert war. Bisher hatten sie die Menschen in solchen Situationen immer getötet, doch er fragte sich was passieren wüde, wenn man den Dingen einfach freien Lauf lassen würde. So neugierig er auch war, er musste einschreiten.
„Shira Cygni.“, sagte er laut und trat vor. Augenblicklich herrschte Ruhe. Nur für den Bruchteil einer Sekunde sah man dem Mädchen den Schrecken an, doch ihr Gesicht verwandelte sich sofort wieder in eine ausdruckslose Maske.
„Master Jaz.“, sagte sie leise und trat einige Schritte vor. Jaz zog eine Augenbraue hoch.
„Du verbeugst dich nicht, junge Frau?“, dröhnte die Stimme des Ratmitglieds durch die Halle.
Nun zog auch Shira die Brauen in die Höhe. Was erlaubte sich dieser Mann eigentlich?
„Die hier ist definitiv der falsche Ort, findet Ihr nicht?“, erwiderte sie kühl und stemmte eine Hand in die Seite. Jaz stieß ein Schnauben aus. Vorlaut und frech war dieses Mädchen also noch immer.
„Shira, ich hoffe doch sehr, dass das Auftauchen eines Verwandten mitten im Unterricht, auch einen bedeuteten Grund hat.“
Mrs Heathers Stimme war in diesem Moment fast noch beängstigender, als die von Jaz.
„Ich denke, der Grund ist mehr als nur bedeutend.“, murmelte das Mädchen, ging auf Jaz zu und packte ihn am Arm, um ihn dann aus der Sporthalle zu ziehen.
„Was erlaubst du dir eigentlich?“, zischte der Mann und funkelte sie wütend an.
„Das müsste ich Euch fragen!“, brüllte Shira drauf los. „Ihr könnt doch unter den Menschen nicht solch eine Show abziehen!“
Jaz war perplex. Er kam ihm so vor, als wäre sie sogar noch frecher geworden.
„Ich bin das zweite Mitglied des Rats. Natürlich kann ich das.“, fauchte Jaz. Shira rieb sich die Schläfen und schloss die Augen.
„Lassen wir das. Ich nehme an Ihr seid hier, weil...“
Das Mädchen sah besorgt über ihre Schulter, Richtung Eingang der Sporthalle.
„Ich habe dich bisher für ein äußerst schlaues und cleveres Mädchen gehalten aber ich glaube, ich habe zu viel in dich hinein interpretiert. Warum lebt dieser Bengel noch?“
Jaz kalte Art war für Shira nichts Neues. Genau deshalb blieb sie ebenfalls so kalt.
„Bevor der Rat mir die Schuld an allem gibt sagte ich lieber gleich, dass mich diese Schuld nur teilweise trifft. Ist eine Anhörung möglich?“
Jaz kniff die Augen zusammen. Eine Anhörung? Natürlich war so etwas möglich, allerdings kam es nur einmal in tausend Jahren vor, dass ein Verdächtiger selbst um eine solche Anhörung bat.
„Natürlich. Jedoch muss ich zugeben, dass mich deine Bitte überrascht.“
Shiras linker Mundwinkel zuckte, sie zwang sich jedoch wieder zu einer ausdruckslosen Miene.
„Ich weiß, welche Fehler ich begangen habe und das ich diese an Eurer Stelle nicht mit dem Tod bestrafen würde. Daher weiß ich auch, dass ich nichts zu befürchten habe.“, erklärte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Jaz war mal wieder irritiert. Dieses Mädchen war unglaublich von sich überzeugt. Vielleicht war das ja doch nur ein Missverständnis? Er atmete geräuschvoll ein und aus und nickte dann langsam.
„Also gut, Shira Cygni. Du kriegst deine Anhörung.“
Sein Blick richtete sich auf die Sporthalle.
„Aber lass dir gesagt sein, dass dein kleiner Freund da drinnen, auch da zu sein hat!“
Noch bevor Shira etwas erwidern konnte, hatte das Ratsmitlgied sich in seine tierische Gestalt verwandelt. Dann war er weg. Shira seufzte leise. Vielleicht ging das Ganze ja doch besser aus, als gehofft. Doch Hoffnungen machte sie sich lieber keine.
8
Sin zog die Brauen hoch. Zehn Minuten lang saßen sie hier nun schon im Garten. Und in diesen zehn Minunten hatte Shira nichts anderes getan, außer ihn anzustarren.
„Wer war dieser Mann?“, fragte er eindringlich. Nachdem dieser braunhaarige Mann verschwunden war, hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Sie war völlig weggetreten, so als ob sie in ihrer ganz eigenen Welt leben würde. Naja, irgendwie tat sie das ja auch... Shira seufzte laut und ließ sich ins Gras fallen.
„Sein Name ist Jaz und er ist das zweite Mitglied des Rats.“, murmelte sie.
„Was wollte er?“, war Sins nächste Frage. Grimmig starrte die junge Frau ihn an.
„Na, was wohl? Fragen warum du noch lebst.“
Erwartungsvoll zog der Bursche die Brauen hoch.
„Du hast Glück, Sin.“, hauchte sie und brach nun ihr Schweigen. „Ich habe um eine Anhörung gebeten, in der ich um dein Leben kämpfen werde. Du wirst dabei sein. Noch fragen?“
Entgeistert starrte Sin sie an. Er sollte dabei sein? Was sollte das denn heißen?
„Das musst du mir genauer erklären.“, murmelte er. Ein wenig beunruhigt erwiderte Shira seinen Blick.
„Ich weiß natürlich nicht genau warum sie wollen, dass du dabei bist, ich kann es also nur vermuten. Ich schätze sie wollen von dir persönlich wissen, wie alles abgelaufen ist.“
Fast schon amüsiert beobachtete das Mädchen, wie sich die Augen von Sin weiteten.
„Ich werde einer Horde wilder Tiere gegenüber stehen?“, hakte er mit, fast schon zu ruhiger Stimme nach. Shira neigte, wieder belustigt, den Kopf.
„Bezieht sich das „wilde Tiere“ auf ihr Verhalten oder auf ihre animalische Seite?“
Sie blieb gelassen. Er konnte die Ausdrücke verwenden, die er wollte, er war schließlich gänzlich mit der Situation überfordert.
„Ich glaube, auf beides.“, murmelte er. Shira lächelte und musste feststellen, dass sie das viel zu oft tat.
„Mag sein, dass sie zur Hälfte tatsächlich Wildtiere sind, allerdings ähneln sie in ihrem Verhalten her eher einem...Eisberg.“
Für einen Moment war sie sprachlos, denn auch Sin lächelte und zwar völlig verträumt! Naja, nicht völlig aber genug...
„Du bist anders. Du bist kein wildes Tier und ein Eisklotz bist du auch nicht.“
Shira starrte ihn ungläubig an.
„Du hast bisher viel zu oft meine kalte und grausame Ader zu Gesicht bekommen und glaubst, ich wäre kein Eisblock?“, hauchte sie fassungslos. Er schüttelte den Kopf. Mochte sein, dass sie eine gefährliche Raubkatze war aber in ihrer menschlichen Gestalt hielt er sie keinesfalls für wild! Nun gut, sie mochte villeicht die meiste Zeit kalt erscheinen, doch er hatte auch schon sanfte Seiten an ihr gesehen. Sie hatte ihn schließlich angeschnurrt, als er sie gekrault hatte. Es hatte ihr dementsprechend also gefallen. Außerdem besaß jeder Gefühle. Dieses Mädchen war halt nur unglaublich gut darin, diese zu verstecken. Er grinste sie frech an und streckte dabei die Hand aus, um diese dann an ihre Wange legen. Vorsichtig zog er mit dem Daumen die Konturen ihrer Lippen nach.
„Du bist absichtlich so kalt und abweisend. Du willst nicht, dass dir jemand zu nahe tritt, stimmt's?“, sagte er leise. Ihre Lider senkten sich, denn er hatte gar nicht mal so unrecht. Shira überlegte fieberhaft. Warum zum Teufel, konnte dieser Mensch sie so gut einschätzen? Als es ihr dämmerte, lächelte Shin verständnisvoll.
„Glaub mir, ich war...naja, bin eigentlich immer noch genauso. Deswegen kommte ich bei dir auch so gut damit klar.“
Shira grübelte weiter. Sollte sie diesem Jungen vielleicht etwas über sich verraten? Noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, lehnte Sin sich zurück und begann zu erzählen.
„Weißt du, meine Eltern sind reich. Und immer auf Geschäftsreise. Ich lebe alleine in diesem riesigen Haus. Früher, als ich klein war, hatten wir viele Bediensteten hier. Zimmermädchen, Butler, Köche und so weiter. Doch je älter ich wurde, desto mehr hatte ich mit den ganzen Bediensteten ein Problem. Ich ließ mir nichts mehr sagen. Ich habe es gehasst, rund um die Uhr nicht aus dem Auge gelassen zu werden. Freunde hatte ich keine. Bane vielleicht aber der weiß bis heute nicht, wie ich mich zu der Zeit gefühlt habe. Ich war, trotz der ganzen Leute im Haus, also immer alleine... Irgendwann wurde mir alles zu viel. Als ich alt genug war beschlos ich, im Namen meiner Eltern alle Angestellten des Hauses zu feuern. Bereut habe ich es nie. Meine Eltern wissen bis heute nichts davon. Sie waren seit gut sechs Jahren nicht mehr Zuhause...“
Er verfiel in Schweigen. Die ganze Zeit über hatte Shira stumm neben ihm gesessen und ihm mit geweiteten Augen zugehört.
„Deine Eltern waren seit sechs Jahren nicht mehr Zuhause?“, hauchte sie. Sin lächelte. Fröhlich wirkte es auf seinen Lippen allerdings nicht.
„So schlimm ist das nicht. Ich habe sie schon ein paar Jahre länger nicht mehr gesehen. Es geht das Gerücht um sie seien ermordet worden, allerdings bin ich misstrauisch, denn die Presse hätte schon längst Schlagzeilen gemacht.“
Shira verspürte ein komisches Gefühl. War es...Mitleid?
„Wie stehst du zu deinen Eltern?“, fragte sie vorsichtshalber, bevor sie ein lahmes „Das tut mir leid.“ aussprach. Sin warf ihr einen Seitenblick zu.
„Was glaubst du? Es waren nicht meine Eltern die mich großgezogen haben, sondern die vielen Privatlehrer und Bediensteten unseres Anwesens. Meine Erzeuger sind mit also egal.“
Shira stieß ein tierisches Schnauben aus.
„Wir sind gar nicht mal so verschieden, Sin.“, murmelte sie und schloss lächelnd die Augen. Shira hatte noch nie richtiges Vertrauen zu jemandem gefasst, weshalb sie schwieg. Allerdings machte es ihr ein wenig Mut zu wissen, dass auch er sich alleine durchgeschlagen hatte. Vielleicht sollte sie es doch erzählen? Außer dem Rat, wusste es ja niemand. Na gut, bis auf ihre Erzeuger aber das galt nicht. Sie waren schließlich tot...
„Sin?“, hauchte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an. Der junge Mann neigte fragend den Kopf.
„Ist es grausam, seine Eltern zu töten?“, fragte sie so leise, dass er es kaum verstand. Er verzog keine Miene, um sie nicht zu verletzen, dennoch hätte er nie mit solch einer Frage gerechnet.
„Das kommt ganz auf die Umstände an. Aus welchem Grund hast du deine Eltern getötet?“, erwiderte er ebenfalls leise. Das Mädchen seufzte.
„Ach, da ist einiges passiert.“, sagte sie bloß. Neugierig rutschte Sin näher an sie heran.
„Erzähl es mir. Bitte!“, verlangte er. Zögernd sah sie ihn an.
„Ich weiß nicht.“, hauchte sie. Schwach lächelnd fügte sie hinzu: „Ich habe so meine Probleme, was Vertrauen angeht.“
Sin zog eine Braue hoch.
„Hey, keine Feigheit! Ich habe meine Geschichte auch zum ersten Mal erzählt!“
Zum ersten Mal erlebte Sin, wie sich Unsicherheit in den Augen von Shira spiegelte. Lächelnd fasste er ihr Kinn.
„Du musst es mir nicht erzählen, Shira! Du musst mir gar nichts über dich verraten, wenn du nicht willst, hörst du?“
Aufmunternd sah er sie an. Diese Worte gaben ihr Hoffnung. Shira atmete tief durch und nahm sich ein Herz. Sanft aber bestimmend schob sie seine Hand weg.
„Meine Mutter hat mich verstoßen, als ich noch eine kleine Leopardin war.“, begann sie nun selbstsicher.
„Mein Vater versuchte mich alleine großzuziehen, was auch wunderbar geklappt hätte, wäre ich nicht auf die Milch meiner Mutter angewiesen gewesen. Mein Vater schaffte es, andere Mütter davon zu überzeugen, mich zu säugen, allerdings war das nicht von Dauer. Nach gut zwei Jahren verlor mein Vater völlig den Verstand. Er war einfach nicht für ein Kind geschaffen. Ich glaube, er hat mich gar nicht geliebt...Wie dem auch sei, er versuchte mich loszuwerden, indem er mich immer wieder meiner Mutter unterschieben wollte. Das war die Zeit, in der ich mich veränderte. Ich bin geflohen, einfach in die Wildnis. Ich war noch immer auf eine Mutter angewiesen, konnte nicht jagen, geschweige denn überleben! Diese Flucht ins Wilde ist der Grund dafür, dass ich so kalt und grausam wurde. Ich lernte zu töten um zu überleben, habe unzählige Kämpfe ausgetragen und gelernt, niemanden an mich heran zu lassen, um nicht verletzt zu werden. Nach und nach wude mir klar, wie sehr ich meine Eltern hasste. Ich wollte geliebt werden und machte mich heimlich wieder auf den Weg zurück zu ihnen. Ich hörte, wie sie über mich sprachen. Wie froh sie waren, mich losgeworden zu sein. Ich war zutiefst verletzt und machte mich wieder aus dem Staub. Ich wollte stärker werden und floh in eine Großstadt. Dort als Katze zu leben ist weitaus gefährlicher, als in einem Wald und genau deshalb wurde ich stark und reifer. Auch in der Stadt hatte ich einige Rückschläge ertragen müssen, doch nicht einer davon verletzte mich so sehr wie das, was meine Eltern mir angetan hatten. Als ich zehn Jahre alt war beschloss ich, es zu riskieren. Lediglich mit meinen Reißzähnen und Krallen ausgestattet machte ich mich auf den Weg zur der Höhle, in der meine Eltern das letzte Mal gesichtet worden waren. Und tatsächlich, sie waren noch da! Ich hatte meine Gefühle schon Jahre zuvor weggesperrt, weshalb ich nichts empfand, als ich sie umbrachte. Auch heute noch verspüre ich keinerlei Reue. Das ich keine Liebe erfahren habe hat Spuren hinterlassen und ich glaube, diese Spuren werden auch weiterhin zu erkennen sein.“
Shira schloss die Geschichte mit geflüsterten Worten ab. Sin hatte mit Tränen gerechnet, doch als er sie ansah entdeckte er nur Verbitterung in ihren Augen. Wieder legte er seine Hand an ihre Wange. Gerne hätte er sie in seine Arme gezogen um sie zu trösten, jedoch wusste er nicht, wie sie darauf reagieren würde. Er wusste ja nun, warum ihr nie jemand nahe gekommen war.
„Dein Instinkt hat dich getrieben, Shira. Nicht eine deiner Handlungen erscheint mir grausam, sondern notwendig. Du wolltest schließlich leben. Und das tust du nun. Wenn auch nicht so, wie du es dir erhofft hattest.“
Mit großen Augen starrte sie ihn an. Dann lächelte sie.
„Das klingt ziemlich weise. Und das passt nicht zu dir.“, kicherte sie und sah in den Himmel.
„Stimmt, ich wollte leben. Und das tue ich. Und egal wie viel ich schon erlebt habe, ich habe noch immer ein ganze Menge zu lernen!“
Sin antwortete nicht darauf. Stattdessen beschloss er, das Thema zu wechseln. Shira sprach es zwar nicht aus, doch dafür war sie ihm dankbar. Sie fühlte sich in diesem Moment nämlich unglaublich verletzlich.
„Wann findet diese Anhörung statt?“, fragte er. Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich werden sie jemanden schicken, der uns holen soll.“
Sin nickte wissend.
„Verstehe. Und was passiert, wenn sie gegen uns sind?“
Shira hob drohend den Zeigefinger.
„Daran solltest du nicht einmal denken!“
Sie sprang auf die Füße und hielt ihm dann die Hand hin.
„Zeigst du mir dein Haus?“
Sin lächelte und ergriff ihre Hand. Er machte das zwar zum ersten mal, bei Shira sollte das allerdings kein Problem sein.
9
Nachdem Jaz die Berichtserstattung beendet hatte, zog Ragnar überrascht die Stirn kraus.
„Sie hat um eine Anhörung gebeten?“
Das verwirrte ihn. War ihr nicht klar, in welch einer Situation sie sich befand? Er hätte eher damit gerechnet, dass sie sich verstecken würde. Jaz hatte alles bis ins kleinste Detail verraten, lediglich seine eigenen Gedanken und Gefühle hatte er dabei nicht preisgegeben.
„Ich habe dieser Bitte nachgegeben.“, fuhr der Adler fort. „Denn ich habe Grund zur Annahme, dass andere Gestaltwandler ebenfalls schuldig sind.“
Keyra, eine Fledermausdame, mischte sich ein.
„Das musst du uns genauer erklären, Jaz.“, forderte sie. Der Adler begab sich auf seinen Platz und verschränkte die Hände ineinander.
„Ganz einfach. Shira war nicht diejenige, die dem Burschen gezeigt hat, wer wir sind.“
Sofort herrschte Stille. Dann sprang Ragnar auch schon auf.
„Willst du damit sagen, dass ein Gestaltwandler sich absichtlich vor den Augen dieses Menschen verwandelt hat?“, brüllte er und ballte die Hände zu Fäusten. Jaz nickte stumm. Aminael, eine Gestaltwandlerwölfin fletschte die Zähne.
„Das die Menschen von allein hinter unser Geheimnis kommen, ist schon schlimm genug aber das einer von uns absichtlich die Menschen auf uns lenkt, ist unverzeihlich! Wer auch immer das war, wir sollten die Todestrafe auf ihn ansetzen!“
Ihre hellbraunen Augen blickten durch die Runde und entdeckten ausschließlich Zustimmung in den Gesichtern der anderen.
„Okay, dann wäre das ja geklärt. Was gedenkt ihr, mit dem Menschenbengel zu tun?“, sagte Aminael dann. Bevor Ragnar oder jemand anderes antworten konnte, meldete Jaz sich zu Wort.
„Wir sollten die Anhörung abwarten. Ich will wissen, wie Shira vorgeht.“
Erst blieb es still, dann nickten Keyra und Aminael. Auch die anderen fanden das sinnvoll, lediglich Ragnar blieb misstrauisch.
„Sie wird versuchen, uns übers Ohr zu hauen!“, äußerte er seine Meinung. Jaz schüttelte den Kopf.
„Nein, wird sie nicht.“, widersprach er.
„Was macht dich da so sicher?“, mischte sich Keyra wieder ein. Jaz schmunzelte.
„Vertrau mir. Sie wird bei der Wahrheit bleiben.“
„Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt.“, murmelte Shira und ließ den Blick erneut schweifen. Sin lächelte und msuterte sie ausgiebig. Sie schien die Wahrheit zu sagen, denn ihre Augen wirkten nicht so leer wie sonst.
„Es ist wirklich schön hier.“, sagte sie lächelnd. Neugier keimte in Sin auf.
„Wo hast du in deiner Vergangenheit gewohnt?“, fragte er leise. Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
„Eine Zeit lang auf der Straße. Dann in leerstehenden Gebäuden und so weiter.“
So erschreckend Sin ihre Vergangenheit auch fand, er ließ sich nichts anmerken. Eine falsche Reaktion würde sie verletzen. Doch woher wusste er das eigentlich? Er hatte keine Ahnung.
„Und wie sieht es heute aus?“, fragte er leise.
„Ein Baumhaus muss herhalten.“, erwiderte sie gelassen. Sin schwieg, weshalb Shira ihn ansah.
„Warum fragst du?“, halte sie misstrauisch nach. Nun war Sin derjenige, der mit den Schulter zuckte. Irgendwie war ihm das, was folgte peinlich.
„Wieso bleibst du nicht hier, im Anwesen?“, sagte er lässig, ohne sie anzusehen. Er befürchtete rot zu werden, weshalb er sie nicht ansah. Aus den Augenwinkeln sah er jedoch, wie sie ihn überrascht anstarrte.
„Warum?“, fragte sie leise. Ein erneutes Schulterzucken von Sin.
„Weil ich es an deiner Stelle beschissen finden würde, in einem Baumhaus leben zu müssen. Das Haus hat mehrere Gästezimmer. Such dir eines aus.“
Shiras Augen verengten sich.
„Du hast Mitleid mit mir, oder?“, hauchte sie. Sin hätte am liebsten geseufzt. Nun war sie doch verletzt. Er blieb stehen und sah sie ernst an.
„Hör zu, mir ist egal, wenn dich das in deinem Stolz verletzt aber glaubst du nicht, dass ein richtiges Zimmer besser ist, als in der Wildnis zu leben?“
Er war lauter geworden und befürchtete, dies könnte ihr nicht gefallen, doch sie blieb ruhig.
„Ich bin es gewohnt, Sin. Außerdem bin ich eine Einzelgängerin.“
Sin seufzte und fasste wieder einmal ihr Kinn.
„Meinetwegen, dann nicht. Aber solltest du deine Meinung ändern, sag mir Bescheid.
In schnellen Schritten entfernte er sich von ihr. Shira machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Anwesen. Sie musste nachdenken.
Sin rieb sich die Augen und versuchte den Traum, den er in der Nacht gehabt hatte, loszuwerden. Eine Raubkatze hatte ihn angegriffen. Aber es war nicht irgendeine Raubkatze gewesen, sondern ein schwarzer Panther. Gähnend schlurfte er in die Küche, wo er sich Frühstück machen wollte. Doch als er da ankam, blieb er erst einmal angewurzelt stehen. Shira saß lediglich in einem großen Shirt am Tisch und aß eine Scheibe Brot mit Marmelade.
„Guten morgen.“, sagte sie kalt, ohne ihn anzusehen. Er verkniff sich ein breites Grinsen. Sie hatte sein Angebot zwar angenommen, allerdings wusste Sin, dass sie zu stur war sich für seine Hilfsbereitschaft zu bedanken.
„Guten morgen.“, erwiderte Sin. Auch verkniff er es sich, zu lächeln.
„Du hast Augenringe.“, stellte Shira überrascht fest und sah auf.
„Ich habe nur schlecht geträumt, das ist alles.“, erwiderte er leise und machte eine Kanne Kaffee fertig.
„Möchtest du auch einen Kaffee?“, fragte er dann und sah über seine Schulter.
„Gerne, danke.“, kam es von Shira zurück. Erst nachdem er seinen Blick von ihr abgewandt hatte erlaubte er es sich, zu grinsen. Für eine Kleinigkeit, wie einen Kaffee zum Beispiel, bedankte sie sich, für größere Sachen allerdings... Fünf Minuten später saßen sie sich am Tisch gegenüber.
„Ich schätze, ich sollte mich bei dir bedanken.“, hauchte sie plötzlich und starrte auf die Tischplatte.
„Hast du dich je, aufrichtig bei jemandem bedankt?“, hakte er nach und sah sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf.
„Nur für Kleinigkeiten. Wie einen Kaffee zum Beispiel.“ Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Aber mir ein Zimmer zur Verfügung zu stellen...Außer dir wäre nie jemand auf diese Idee gekommen.“
Sin überlegte kurz.
„Du hast gesagt, wir seien gar nicht mal so verschieden. Vielleicht habe ich deshalb so gehandelt?“
Shira erhob sich lächelnd, ging um den Tisch herum und legte eine Hand an Sins Wange. Dann beugte sie sich vor, um ihn auf die andere Wange zu küssen.
„Danke, Sin.“, flüsterte sie. Danach verließ sie die Küche.
Die Augen der Wölfin verengten sich. Nun konnte sie verstehen, warum Jaz abwarten wollte. Seit fast vierundzwanzig Stunden schon beobachtete sie die beiden. Sie sollte die beiden eigentlich schon längst beim Rat abgeliefert haben, jedoch war sie von der Beziehung der beiden zueinander so fasziniert, dass sie nicht anders konnte als die beiden zu beobachten. Allerdings wurde ihr nun klar, wie viel Zeit sie schon verschwendet hatte. Sie tippte dem Burschen auf die Schulter. Als er sich umdrehte musste sie feststellen, dass er gar nicht mal so schlecht aussah. Seine grünen Augen musterten sie bis ins kleinste Detail. Sie war irritiert. Warum erschrak er sich nicht? Noch bevor einer von den beiden etwas sagen konnte, tauchte die Leopardin plötzlich in der Tür auf. Sie schien gerochen zu haben, dass die Wölfin aus ihrem Versteck hervorgekommen war.
„Aminael.“, stellte Shira mit zusammengekniffenen Augen fest.
„Was denn, keine förmliche Anrede, wie bei Jaz?“, kam es spielerisch von der Wölfin zurück. Shira wurde aufmerksam.
Scheinbar hat Jaz ihnen alles bis ins kleinste Detail erzählt., dachte sie und neigte den Kopf.
„Dafür bin ich im Moment nicht in der Stimmung, tut mir leid.“, erwiderte sie. Ihre wachsamen Augen musterten den Wolf ausgiebig.
„Frech wie eh und je.“, stellte Aminael fest und wandte sich dann an den Menschenjungen.„Wie lautet dein Name, Mensch?“
Shira biss die Zähne zusammen. Aus ihrem Mund klang das Wort Mensch wie eine Beleidigung.
„Sin.“, antwortete der junge Mann so monoton und selbstbewusst, wie sonst nur Shira. Aminael musste feststellen, dass ihr dieser Name gefiel. Er hatte etwas...sinnliches. Und er war kurz und bündig.
„Deinen vollen Namen, wenn ich bitten darf.“, knurrte die Wölfin leise.
„Sin Accel.“
Shira legte den Kopf schief. Accel? Von AccelCompanies? Okay, das überraschte sie dann doch.
„Sin Accel und Shira Cygni, der Rat verlangt nach euch. Wenn ihr euch widersetzt mit mir zu kommen, werdet ihr gezwungen.“
Die Drohung in Aminaels Stimme war nicht zu überhören. Natürlich würden die beiden sich nicht widersetzen, allerdings gab es da eine Kleinigkeit...
„Ist es uns erlaubt, uns erst etwas anderes anzuziehen?“, fragte Shira genervt. Aminael kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich hatte sie sich verhört, doch sie war sich ziemlich sicher eine Spur Spott aus der Stimme der Pantherin herausgehört zu haben.
„Ihr habt drei Minuten.“, sagte die Frau aus dem Rat und kehrte den beiden den Rücken zu. Hastig ergriff Shira Sins Hand, um ihn dann eilig ins Obergeschoss zu ziehen.
„Wer ist diese Frau?“, fragte Sin währenddessen leise.
„Ihr Name ist Aminael und sie ist eine Wölfin. Eigentlich ist sie die freundlichste und netteste aus dem Rat, allerdings kommt es mir so vor, als hätte sie heute schlechte Laune.“
Shira schubste den Jungen in dessen Schlafzimmer.
„Zieh dich um. Und beeil dich!“
Sie ließ den Jungen alleine, damit sie selbst sich ebenfalls umziehen konnte.
Ich hoffe, das klappt..., dachte sie und legte sich einige Worte parat.
10
Fast schon sehnsüchtig wartete der Rat darauf, dass die drei eintraten. Aminael ließ sich nämlich reichlich Zeit!
„Ich wette, sie treibt wieder ihre Spielchen.“, murmelte Keyra und verdrehte die Augen. In diesem Moment allerdings kamen die drei in die Halle. Zuerst fiel den Ratsmitgliedern Shira auf. Es schien, sie wäre Mitlied des Rats und nicht Aminael, denn die Leopardin war definitiv die selbstbewussteste von den dreien. An zweiter Stelle kam der Menschenjunge. Er wirkte ziemlich selbstsicher dafür, dass er gleich vor dem Rat reden müsste. Es schien, als hätten die beiden einige Probleme bereitet, denn Aminael verzog wütend und genervt das Gesicht. Als die drei zum stehen kamen, wies sie Wölfin mit ausgestrecktem Arm auf die anderen beiden.
„Schickt nächstes Mal doch bitte jemand anderen, um sie zu holen! Dieser Bengel ist genauso frech und vorlaut, wie das Leopardenweib!“
Die anderen tauschten Blicke aus, Sin schmunzelte.
„Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum wir uns so gut verstehen.“
Die Blicke fielen auf Shira, die sich unerwartet leicht verneigte.
„Zu allererst würde ich mich gerne dafür danken, dass ihr meiner Bitte um eine Anhörung nachgekommen seid. Mir selbst ist bewusst, wie dringend die Lage ist. Allerdings gibt es da einige Dinge, die ich gerne klarstellen würde.“
„Wie schön, dass du gleich zur Sache kommst.“, meldete sich Jaz zu Wort. „Fahre fort.“, verlangte er. Shira trat zwei Schritte vor und verneigte sich erneut leicht.
„Ich hätte ihn töten müssen, dessen bin ich mir bewusst. Doch bevor wir darauf zurückkommen würde ich gerne anmerken, dass sich einer von uns vor seinen Augen verwandelt hat!“
Einige schnappten hörbar nach Luft. Es waren die Frauen aus dem Rat. Nun hatten sie also die Bestätigung. Ragnars Blick fiel auf Sin, der mit wachsamen Augen das Geschehen verfolgte.
„Ich halte es für das Beste, wenn der Junge uns selbst erzählt, was an dem Tag passiert ist.“, sagte er, worauf alle anderen nickten. Es blieb ruhig, weshalb Shira über ihre Schulter zu Sin sah und ihm mit einer Kopfbewegung bedeutete, vorzutreten. Sin tat wie ihm geheißen und verneigte sich so, wie Shira es zuvor getan hatte. Dann erzählte er die ganze Geschichte von Anfang an.
Ragnar konnte den Leoparden nicht zurückhalten. Noch bevor er oder die anderen reagieren konnten, stand mitten im Saal ein Schneeleopard. Knurrend lief er auf und ab.
„Du sagtest, es war ein Löwe?“, meldete sich Keyra zu Wort. Ragnar ignorierte sie. Sin nickte. Keyra sah zu Jaz.
„In dieser Stadt gibt es nur zwei Gestaltwandlerlöwen. Und einer davon hält sich von den Menschen fern.“
Erneut wurden Blicke ausgetauscht.
„Nun gut aber eine Sache wäre da noch...“, murmelte Aminael. Ihr Blick richtete sich auf Shira und der verhieß nichts Gutes.
„Du hättest Verantwortung übernehmen müssten, Shira und ihn töten sollen.“
Das Leopardenmädchen starrte zu Boden und flüsterte: „Ich...kann nicht.“
Ruckartig hob sie den Blick, um die Ratsmitglieder nacheinander selbstbewusst anzusehen.
„Gibt es nicht eine Möglichkeit, sein Leben zu verschonen?“, sagte sie laut. Ragnar hatte sich wieder einigermaßen im Griff, weshalb er sich zurückverwandelte.
„Ich muss zugeben, du überrascht mich, Shira. Bist du sonst nicht immer die kalte und grausame Jägerin? Was hält dich davon ab, diesem Bengel das Leben zu nehmen?“
Shira schluckte. Sie wusste selbst nicht so genau was Sin an sich hatte, dass sie ihn so gut leiden konnte. Wieder blickte das Mädchen zu Boden.
„Ich weiß es nicht.“, murmelte sie. Ragnar sah zu Jaz, Jaz zu Keyra und diese zu Aminael. Forschend betrachtete Shira die vier. Konnte es sein, dass...?
„Ihr verschweigt etwas!“, stellte Shira leise fest und hätte beinahe gekichert, als die vier ihr augenblicklich tödliche Blicke zuwarfen. Sin stand derweil neben Shira und beobachtete unter angespannten Nerven die Situation. Jaz räusperte sich und sah Shira fast schon mitleidig an. Er wusste inzwischen, wie viel ihr an diesem Jungen lag. Scheinbar war sie sich dessen gar nicht mal bewusst.
„Es gäbe da in der Tat eine Möglichkeit, doch selbst mit ihr besteht die Möglichkeit, dass er das Geheimnis nicht für sich behalten kann.“, erklärte er.
„Jaz!“, zischte Aminael. Sin trat vor.
„Es war und ist nicht meine Absicht irgendjemandem zu erzählen, dass es Gestaltwandler gibt. Ohne einen Beweis würden mich sowieso alle für verrückt halten.“
Ragnar stieß ein Brüllen aus.
„Zum Teufel, kein Wort glaube ich dir! Den Menschen konnte man noch nie trauen. Sie sind hinterhältig und belügen und betrügen sich gegenseitig.“
Jaz sah zu Shira. Gestaltwandler redeten eigentlich nicht oft per Gedanken miteinander, doch Jaz wollte sich für Ragnar entschuldigen.
Nimm es ihm nicht übel, Shira. Er hat bisher nur schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht.
Shira blinzelte. Mit so etwas hatte sie schon gerechnet.
„Welche Möglichkeit gibt es?“, fragte Shira laut und überging Ragnars Kommentar einfach. Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen.
„Wir könnten ihm tierische DNS einsetzen und ihn somit zu einem Gestaltwandler machen.“
Die tiefe Stimme kam von Vorago, einem weiteren Ratsmitglied, dass nun aus dem Schatten des Saales trat. Aminael schnappte nach Luft.
„Das können wir nicht machen!“, fauchte sie. Und auf einmal herrschte Chaos. Alle Ratsmitglieder sprachen durcheinander. Vorago schritt in die Richtung von Shira und Sin und blieb kurz vor ihnen stehen.
„Wenn ich mich kurz vorstellen darf, mein Name ist Vorago. Du scheinst mir ein vernünftiger Junge zu sein und auf mich wirkst du vertrauensvoll. Wenn es nach mir allein gehen würde, müsstest du dir um dein Leben keine Gedanken machen.“
Shira bekam keinen Ton heraus. Vorago war das gefährlichste Mitglied des Rats. Fast nie meldete er sich zu Wort und wenn doch, dann war Vorsicht geboten.
„Wie nett.“, erwiderte Sin sarkastisch. Shira schüttelte den Kopf und gestikulierte mit den Händen.
„Ihr wollt mir weiß machen, dass es tatsächlich möglich ist einen Menschen in einen Gestaltwandler zu verwandeln?“, fauchte sie. Alle anderen waren verstummt. Von nun an hatte Vorago das Sagen. Jetzt war er derjenige, der die Entscheidungen traf.
„Vorago, hältst du es wirklich für die richtige Entscheidung, diesem Menschen tierische Gene einzupflanzen?“, hauchte Keyra. Auch sie hatte Respekt vor dem Mann, mit den eiskalten grauen Augen. Vorago ignorierte Keyra und sah Shira an.
„Ja, es ist möglich einen Menschen in einen Gestaltwandler zu verwandeln. Es gab schon einige Versuche diesbezüglich, mehr kann ich allerdings nicht verraten.“
Fast schon ein wenig ängstlich sah Shira zu Sin.
„Und was, wenn Sin mit dieser Möglichkeit nicht einverstanden ist?“, murmelte sie. Vollkommen ernst sah Sin Vorago an. Scheinbar wollte er nicht, dass sie ihm Angst oder Nervosität ansahen, denn seine Kiefer spannten sich an. Seine Augen verrieten nichts.
„Dann wird er sterben.“, erwiderte Vorago kalt.
„Ich habe also keine Wahl.“, stellte der Menschenjunge fest.
„Nicht wirklich.“, brummte Shira zustimmend. Ragnar erhob sich wieder von seinem Platz und knurrte laut.
„Was, wenn er seinen Mund doch nicht halten kann?“
„Dann wird er erst recht sterben.“, stellte der grauäugige Mann fest, ohne den Blick von Sin abzuwenden.
„Eine kurze Frage.“, unterbrach Sin die beiden Männer. „Wenn ihr mir damit droht mich zu töten, wenn ich etwas ausplaudere, warum müsst ihr mich dann verwandeln?“
Vorago zeigte ein gefährliches Lächeln.
„Sieh es einfach als Geschenk. Wann kriegt man bitte solch eine Chance?“
Sin verkniff es sich, die Zähne zu fletschen. Shira warf ihm einen kurzen Blick zu und meldete sich dann in seinen Gedanken zu Wort.
Widersprich ihnen nicht!
Sin fragte sich, ob sie auch seine Gedanken hören konnte und beschloss, es einfach zu versuchen.
Ich soll mir also wirklich tierische DNS einsetzen lassen?
Ein Schleier aus Trauer legte sich über Shiras Augen.
Ja. Entweder du beweist dich somit oder sie töten dich sofort und ohne zu zögern.
Sin war erstaunt darüber, wie schnell ihre Antwort kam. Doch irgendetwas kam ihm komisch vor.
Es geht hierbei gar nicht um mich, stimmt's?, dachte er dann. Shira neigte unauffällig den Kopf.
Ich glaube nicht. Du bist wahrscheinlich nur ihr Versuchskaninchen. Ein Experiment, sozusagen.
Nun konnte der Junge nicht anders. Er verzog das Gesicht.
Na, das sind ja tolle Aussichten.
Vorago wandte sich ab.
„Na, dann ist ja alles geklärt. Keyra, bereite alles vor. Sin, du kommst mit mir.“
Dann blieb er stehen und sah über seine Schulter zu Shira.
„Und du bringst diesen Löwen her. Mir egal, wie du das machst. Du hast achtundvierzig Stunden Zeit.“
Sin und Shira tauschten einen Blick aus.
„Ich arbeite zwar nicht für euch und Drecksarbeiten erledige ich auch nicht gerne aber ich will mal nicht so sein.“, knurrte die Leopardin und wandte sich dann wieder an Sin. Sie wusste nicht was sie jetzt sagen sollte, doch sie machte sich Sorgen und hoffte, dass er nicht verletzt werden würde. Ohne etwas zu sagen umarmte sie ihn kurz. Dann stolzierte sie mit erhobenem Haupt aus dem Saal.
11
Sin schluckte schwer. Der Raum in dem er sich nun befand, wirkte alles andere als einladend. Es sah aus wie ein...Labor.
Wahrscheinlich ist es auch eines..., dachte er genervt und betrachtete die verschiedenen Substanzen, die in großen Gläsern in einem Regal standen. In der Mitte dieses Labors befand sich eine Art Tisch aus Metall. Vielleicht Stahl? An jeder Ecke dieses Tisches befanden sich Ketten. Sin musste feststellen, dass sich nun doch Angst in ihm breit machte. Shira kam ihm in den Sinn. Sie hatte ihn doch tatsächlich umarmt! Doch er hatte die Sorge in ihren Augen gesehen. Auch sie hatte Angst gehabt, er wusste es.
„Auf die Platte mit dir.“, befahl Keyra barsch. Zögernd kam der Junge dem Befehl nach.
„Und, welches Tier wird von mir Besitz ergreifen?“, fragte er scherzhaft. Ja, seinen Humor hatte er noch immer nicht verloren.
„Kannst du dir aussuchen.“, erwiderte Keyra tonlos. Sin zog die Brauen hoch. Okay, damit hatte er nicht gerechnet.
„Wenn das so ist, dann soll es ein Tiger sein.“
Keyra musterte ihn.
„Ich glaube sogar, das passt zu dir.“, murmelte sie. Während Sin es sich auf dem Seziertisch gemütlich machte, suchte sich Keyra alles zusammen. Sins Neugier war geweckt.
„Ich schätze, du bist nicht so scharf auf ein Gespräch mit mir aber ich wäre dir zu Dank verpflichtet wenn du mir erklären könntest, wie genau das jetzt ablaufen wird.“
Die Mundwinkel der Fledermaus zuckten. Eigentlich gefiel ihr dieser Junge. Er schien ziemlich locker drauf zu sein und ließ sich scheinbar auch nicht schnell ängstigen. In der Tat positive Eigenschaften für solch einen Eingriff.
„Es gab zuvor niemanden der es gewagt hat, mich mit einem „Du“ anzureden, also herzlichen Glückwunsch!“
Sin lachte leise, Keyra fuhr fort.
„Man kann es mit einer Operation gleichsetzen.“, begann sie sachlich. „Zu allererst benötigen wir deine DNS. Das mag sich nicht sonderlich schwierig anhören, ist allerdings ein komplizierter Eingriff, da ein Stück deines Herzens entfernt werden muss. Wir benötigen dieses Gewebe um zu testen, ob es sich mit der tierischen DNS verträgt. Wenn nicht, müssen wir eine andere finden. Passt es, wird dir die DNS als Injektion ins Herz injiziert. Von da an dauert es einige Stunden, bis dein Körper sie akzeptiert. Womöglich wird es schmerzhaft werden, denn nach und nach breitet sich das Gen in deinen aus. In spätestens vierundzwanzig Stunden solltest du dann in der Lage sein, deine tierischen Eigenschaften zu nutzen.“
Eisiges Schweigen.
„Könnte ich bei diesem Eingriff draufgehen?“, fragte Sin locker. Er hoffte, die Frau hinter ihm würde seine Angst nicht bemerken. Sie lachte leise. Ja, er war wirklich verdammt locker!
„Nicht wirklich. Es sei denn, wir lassen es zu.“, antwortete sie.
„Beruhigend.“, murmelte er. Unauffällig sah er sich um.
„Scheinbar gibt’s hier kein Narkosemittel.“, stellte er monoton fest. Er und Angst? Niemals! Keyra trat neben ihn, mit einer Spritze in der Hand.
„Du bist ziemlich aufmerksam. Nein, so etwas gibt es hier nicht. Eine Betäubung wird ausreichen.“
Sin zog sich rasch das Shirt aus, dann schob Keyra ihm auch schon die Nadel in die Brust. Nach drei Injektionen sah Sin sie schief an. Sie lächelte.
„Betäubung, Blutverdünner und Lähmungsgift.“, sagte sie nur und begann dann, ihm die Ketten anzulegen.
„Lähmungsgift? Und zusätzlich Ketten?“, hakte er ein wenig stutzig nach. Fast schon verständnisvoll sah sie ihn an.
„Wie ich schon sagte, der Umwandlungsprozess könnte schmerzhaft werden. Das ist also eine reine Vorsichtsmaßnahme.“
Sin zog die Brauen hoch.
„Es könnte nicht schmerzhaft werden, es wird auf jeden Fall schmerzhaft werden, stimmt's?“
„Ja.“, antwortete die Frau kalt und kehrte ihm wieder den Rücken zu. Sin seufzte. Nach und nach spürte er, wie sein Oberkörper taub wurde. Er hoffte nur, das Betäubungsmittel würde bis zu seinem Herzen vordringen. Er war zwar nicht sehr schmerzempfindlich, scharf darauf war er aber trotzdem nicht. Er hörte wie die Tür aufging, dann sah er maskierte Gesichter über sich.
„Also gut, bringen wir's hinter uns.“, murmelte er und schloss genervt die Augen. Er spürte einen kurzen Stich, dann nur noch ein durchgehendes Kribbeln.
Shira knurrte. Sie hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Egal wie der Rat handelte, es ging immer nur um sie selbst. Eigennutz war das Zauberwort. Sin war nur ein Experiment, dessen war sie sich sicher. Sie hatte die ganzen Geschichten gehört. Angeblich wollte der Rat, zum Schutz der Gestaltwandler, Soldaten erschaffen. Ob an diesem Gerücht etwas dran war wusste sie nicht. Der Rat war berüchtigt für seine Geheimhaltung. Shira stieß ein Fauchen aus. Die Fährte des Löwen war gering, sehr schwach, doch er war hier gewesen. Ganz sicher! Sie sprang in die Tiefe. Sie befand sich im Zentrum der Innenstadt und vermutete, dass es noch ein wenig dauern würde, bis sie den dämlichen Löwen gefunden hatte. Sie lief also durch die Gassen, während sie mit den Gedanken abschweifte. Sin hatte zwar vor Selbstbewusstsein gestrotzt, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er Angst gehabt hatte. Es gefiel ihr ganz und gar nicht ihn dort alleine gelassen zu haben. Doch es ging nicht anders. Wenn der Rat wollte, dass sie den Löwen ausliefern sollte, dann hatte sie dies auch zu tun. Es hätte nur Ärger gegeben, wenn sie sich widersetzt hätte.
Hoffentlich geht es Sin gut!, dachte sie verzweifelt. Sie hatte keine Ahnung wie diese Umwandlung funktionieren sollte. Sie wusste ja nicht einmal, dass so etwas möglich war! Vielleicht stimmten diese Gerüchte ja doch? Wie sonst sollten sie in Umlauf gekommen sein?
„Suchst du jemanden?“
Sie wirbelte herum und entdeckte im Schatten einer Hauswand zwei blitzende blaue Augen, die sie amüsiert anfunkelten. Shira knurrte leise. Sie war so besorgt um Sin gewesen, dass sie den stärker werdenden Geruch des Löwen nicht bemerkt hatte.
„Jetzt nicht mehr.“, antwortete sie kühl und verschränkte die Arme.
„Und, ist dein kleiner Freund endlich tot?“, grinste der Löwe und trat aus dem Schatten. Vielleicht sollte sie ja lügen?
„Ließ sich schließlich nicht vermeiden, oder?“, fauchte sie. Der Löwe lachte nun vollends aus vollem Halse.
„Scheint, als hättest du doch verloren.“
Er trat näher an sie heran und beugte sich schließlich vor, bis sein heißer Atem auf ihre Lippen traf.
„Na, wer hat jetzt gewonnen?“, flüsterte er. Ohne Vorwarnung holte Shira aus. Ihre Faust traf ihm direkt im Gesicht und schleuderte ihn einige Meter nach hinten. Shira drängte ihn in eine Gasse. Naja, besser gesagt: Sie schleifte ihn hinter sich her. Augenblicklich verwandelte sie sich. Sie ließ ihm gar keine Zeit um zu reagieren. Sie stieß ihm ihre Krallen ins Fleisch, dann die Reißzähne in den Nacken. Der Löwe hatte gar keine Gelegenheit sich zu wehren, schon nach einigen Augenblicken war er bewusstlos. Sofort verwandelte Shira sich zurück. Sie durfte keine Zeit verlieren, sie musste zurück zu Sin! Sie war schon seit gut dreißig Stunden unterwegs, das war viel zu viel! Mit einem Seufzen schmiss sie sich den Mann über die Schulter. Sie würde sich ohne zu zögern auf den Weg zum Sitz des Rats machen. Gut, dass sie kein Schwächling war...
12
Zwei Stunden später ließ Shira den Löwen auf den Boden fallen, direkt vor die Füße von Vorago. Sie wollte nicht hilflos erscheinen, weshalb sie Sin jetzt nicht erwähnte.
„Gute Arbeit, Cygni.“
Vorago schnalzte mit der Zunge, packte den noch immer bewusstlossen Gestaltwandler am Kragen und zog ihn mit.
„Na mal sehen, wie lange er die Folter aushält.“
Schon war er verschwunden. Shira knurrte leise und starrte die übrigen Gestaltwandler im Saal an.
„Mir scheint, als läge ihr noch etwas auf dem Herzen.“, stellte Aminael amüsiert fest. Jaz warf der Wölfin einen wütenden Blick zu, dann sah er Shira beruhigend an.
„Sin!“, rief er, worauf hinter Shira das Knarren der Tür ertönte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie wartete so lange, bis sich ein Arm um ihr Taille schloss.
„Na, hast du mich vermisst?“, flüsterte eine raue Stimme an ihrem Ohr.
„Sin.“, hauchte sie. Sie blinzelte die Tränen in ihren Augen weg. Allein das er noch lebte war ein Wunder.
„Was denn, keine Umarmung?“, murmelte er und drückte sie noch fester an seine Brust.
Nicht vor ihnen!, dachte sie, lehnte sich aber dennoch unauffällig an ihn.
„Wollt ihr noch etwas oder können wir wieder verschwinden?“, fauchte sie dann laut. Jaz lächelte schwach.
„Ihr könnt gehen aber wir behalten euch noch eine Weil im Auge.“
Das genügte Shira. Sie machte auf dem Absatz kehrt und floh förmlich aus der Halle, dicht gefolgt von Sin.
Draußen, an der frischen Luft angekommen, lief eine einzelne Träne über Shiras Wange.
„Weinst du etwa?“, fragte Sin leise und streckte die Hand nach ihr aus.
„Nein.“, sagte sie leise und kehrte ihm den Rücken zu.
„Was ist los?“, fragte er dann und umschloss ihre Taille wieder mit den Armen.
„Du hättest tot sein können.“, flüsterte sie leise.
„Aber ich lebe noch.“, erwiderte er leise und lächelte.
„Ja aber nur, weil sie es wollten.“, hauchte sie. Hätte Sin sie nicht festgehalten, wäre sie nun zusammengesunken.
„Lass uns erst mal nach Hause gehen.“, murmelte er und nahm ihre Hand.
„Sin?“
Er sah sie aufmerksam an.
„Ich muss mich hinlegen. Ich bin erschöpft.“
Lächelnd nickte Sin.
„Geh schon. Deine Augenringe sind ja schon richtige Krater.“
Sie lachte und stieg die Stufen hinauf.
„Deinen Humor hast du scheinbar nicht verloren.“, murmelte sie und verschwand in ihr Zimmer. Verständnisvoll sah Sin ihr nach. Erleichterung hatte sich in ihren Augen gespiegelt. Nicht zu fassen, sie hatte sogar geweint! Niemals hätte er ihr das zugetraut. Aber sie hatte definitiv die Wahrheit gesagt, sie war erschöpft gewesen. Wahrscheinlich hatte ihr die Suche nach dem Löwen einiges abverlangt. Es wäre besser, wenn sie schlafen würde. Auch Sin zog sich zurück. Er musste sich ebenfalls ausruhen. Er hatte noch immer Schmerzen.
Ihr Schlaf war traumlos, worüber sie ganz froh war. Doch sie musste im Halbschlaf feststellen, dass sie das Gefühl hatte beobachtet zu werden. Wachsam schlug sie die Augen auf und siehe da, der Grund für ihr Gefühl saß nur wenige Meter von ihr entfernt. Sofort sprang sie aus dem Bett. Sie verwandelte sich zwar nicht, stieß aber dennoch ein lautes und bedrohliches Fauchen aus. Der weiße Tiger ihr gegenüber neigte den Kopf und musterte sie interessiert aus grünen Augen. Moment mal! Seit wann hatten weiße Tiger grüne Augen? Sie gab ihre Kampfhaltung auf und machte vorsichtig einen Schritt in seine Richtung.
„Sin?“, flüsterte sie und ging vor dem Tier auf die Knie. Sie hatte keine Worte für diesen Moment. Shira streckte die Hand aus und legte diese dann auf den Kopf des Tigers. Sie kraulte ihn genauso, wie er es bei ihr getan hatte. Es gefiel ihm, er schnurrte laut.
„Ich kann nicht glauben, dass so etwas möglich ist.“, murmelte Shira und musterte ihn wieder. „Nicht zu fassen, in deiner tierischen Gestalt bist du genauso hübsch, wie in deiner menschlichen.“, fügte sie lächelnd hinzu. Der Tiger schnaubte leise. Sollte das ein Lachen sein?
„Sag, hattest du starke Schmerzen?“, flüsterte sie und wich einige Zentimeter zurück, um ihm Platz für die Verwandlung zu lassen. Dann kniete auch schon Sin in Menschengestalt vor ihr.
„Solche Schmerzen kann man mit nichts vergleichen, Shira. Aber mach dir keine Gedanken, es geht mir gut, wie du siehst.“
Shira blieb still, legte lediglich die Hand an seine Wange. Er grinste frech.
„Tja, jetzt kann ich uns auf dieselbe Stufe stellen. Du bist mir nicht mehr überlegen.“
Shira lachte leise.
„Sei dir da mal nicht so sicher! Du bist noch grün hinter den Ohren, im Gegensatz zu mir.“
Sin schnaubte lediglich.
„Erzählst du mir, wie genau alles abgelaufen ist?“, bat Shira und sah den Jungen fast schon flehend an. Er seufzte leise. Es würde zwar lange dauern, doch...
„Meinetwegen.“, sagte er und rutschte an sie heran, um ihr dann alles zu erzählen.
Shira und Sin hatten die Hände ineinander verschränkt und das Mädchen hatte den Kopf auf die Schulter des Jungen fallen lassen.
„Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, wird noch einiges auf uns zukommen.“, murmelte Shira und betrachtete ihre Hand, die von Sin festgehalten wurde. Sie wusste nicht warum es so war, doch in diesem Moment fühlte sie sich geborgen. Sie wollte nicht, dass er sie losließ.
„Wie kommst du darauf?“, erwiderte Sin leise.
„Wahrscheinlich werden sie etwas fordern, dafür, dass sie dir ein neues „besseres“ Leben geschenkt haben.“, antwortete Shira und lehnte sich ein Stückchen mehr an ihn. Sin legte den Arm um sie.
„Ach komm, damit werden wir fertig.“
Vollkommen ernst blickte Shira zu ihm auf.
„Mit dem Rat ist nicht zu spaßen, Sin. Wenn es so einfach wäre wie du glaubst, würde ich mich ihnen dauerhaft widersetzen. Das tue ich aber nicht.“
Sin lachte leise. Dadurch ließ er sich keine Angst einjagen.
„Verdammt, Shira, hör auf so schwarz zu sehen. Dein Fell ist dunkel genug.“
Prustend verpasste das Mädchen dem Jungen einen Schlag auf den Hinterkopf.
„Du bist bescheuert!“, lachte sie. Sin erwiderte ihr Lachen. Ja, irgendwie genoss er diesen Moment.
Jaz hatte verkündet, die Observierung zu übernehmen. Ohne zu zögern war der Adler ihnen bis nach Hause gefolgt. Erstaunt hatte er festgestellt, dass die beiden scheinbar zusammen wohnten.
Auf dem Geländer eines Balkons sitzend beobachtete er durch einen Gardinenspalt, wie die beiden auf dem Boden saßen und herumalberten und lachten. Wäre Jaz in seiner menschlichen Gestalt gewesen, hätte er gelächelt. So hatte er dieses Mädchen noch nie gesehen. So...ausgelassen. Er behielt die beiden noch ein Weilchen weiter im Auge. Er hatte keine Ahnung wie das kam aber sein Gefühl sagte ihm, dass aus den beiden etwas werden würde.
Nach einer gefühlten Viertelstunde lagen beide auf dem Boden, Shira unter Sin. Noch immer lachten sie, doch von einer Sekunde auf die andere verstummten sie. Sin hatte ein freches Grinsen im Gesicht und fasste ganz locker und lässig Shiras Kinn, um sie dann zu küssen. Jaz musste feststellen, dass Shira das kein bisschen zu überraschen schien. Sie erwiderte den Kuss sogar, ohne zu zögern. Jaz breitete die Flügel aus und schwang sich in die Lüfte.
13
Shira war noch immer erstaunt über seine Handlung, machte aber dennoch mit. So hatte er schließlich schon einmal gehandelt.
Gibt es einen Grund dafür, warum du mich küsst?, dachte sie und sah ihm während des Kusses in die Augen.
Mir war danach., kam es von Sin zurück. Vorsichtig stieß er mit seiner Zunge ihre Lippen an, damit sie den Mund öffnete und ihm Einlass gewährte. Sie tat es, ohne zu zögern. Nach wenigen Minuten packte sie ihn an den Schultern und drehte ihn herum, bis sie über ihm lag.
„Ich habe nie jemanden so nah an mich herangelassen, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll oder wie ich mich zu verhalten habe...“, murmelte sie. Sin neigte den Kopf und legte die Hand in ihren Nacken, um sie zu sich hinunterzudrücken.
„Was fühlst du denn?“, flüsterte er. Verwirrt sah sie ihn an.
„Ich weiß nicht.“, hauchte sie. „Vieles aber...ich kann nichts davon zuordnen.“
Erneut küsste Sin sie, dieses mal rasch und stürmisch.
„Du findest es schon noch heraus.“, hauchte er und zeigte ein sanftes Lächeln.„Was fühlst du denn?“, flüsterte sie und sah ihn mit großen Augen an. Sin schluckte.
„Ich vertraue dir und...bewundere dich für einige Dinge und...du faszinierst mich. Ich kann mit dir über ernste Themen reden aber dennoch Blödsonn mit dir machen und das...gefällt mir!“
Perplex starrte sie ihn an.
„Ist das dein Ernst?“, flüsterte sie. „Du vertraust mir wirklich?“
Sin nickte.
„Ich kann mich nicht daran, dass du mir je einen Grund geliefert hast, dir nicht zu vertrauen.“, antwortete er.„Warum misstraust du mir nicht, so wie alle anderen auch?“, kam es dan von der Leopardin zurück. Sin musste feststellen, dass sie völlig aufgelöst gewesen zu sein schien.
„Vielleicht, weil ich weiß was du erlebt hast? Und, weil ich ähnliches durchgemacht habe?“, erklärte er und umarmte sie.
„Hör zu, Shira. Wir waren beide immer alleine und wir haben uns alleine durchgeschlagen. Du bist eine Art Bezugsperson für mich und wahrscheinlich wirst du mir auch dabei helfen, mit meiner neuen tierischen Seite klarzukommen. Du bist mir einfach wichtig!“
Wieder rann eine Träne über ihre Wange. Nie war sie jemandem wichtig gewesen! Auf einmal wurde sie gebraucht und Shira stellte fest, das es ein gutes Gefühl war, dies zu wissen.
„Bitte erzähle niemandem hiervon, okay?“, murmelte sie und wischte sich die Tränen weg.
„Natürlich nicht.“, erwiderte Sin leise und lächelte. Sie war eben doch nur eine sensible Frau, die geliebt werden wollte.
„Und nun?“, schniefte sie und sah ihn an. Sie zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Willst du was bestimmtes machen?“
Shira lehnte sich ein Stück zurück und überlegte.
„Hast du seit deiner Umwandlung eigentlich etwas gegessen?“, fragte sie und studierte aufmerksam sein Gesicht.
„Jetzt, wo du fragst...Nein, habe ich nicht.“, antwortete Sin und legte dabei nachdenklich den Kopf schief. Shira sprang auf und griff dabei nach seiner Hand. Kraftvoll zog sie ihn auf die Beine, um ihn dann mitzuziehen.
Keyra musterte den Adler, der im Schatten seines Schlafgemachs ein altes Schriftstück untersuchte.
„Was ist los, Jaz? Du warst vorhin nicht ganz bei der Sache und um ehrlich zu sein, wirkst du noch immer teilnahmslos.“
Jaz sah zwar nicht auf, legte das Schriftstück aber beiseite.
„Es ist wegen Shira und Sin.“, murmelte er und richtete seinen Blick nun doch auf Keyra.
„Du hast uns doch nicht etwa was verschwiegen, oder?“, meinte diese vorwurfsvoll und zog die Brauen in die Höhe.
„Doch, das habe ich.“, erwiderte Jaz. Sein Blick wurde streng.
„Du bist die einzige, der ich vertraue, Keyra und deswegen spreche ich auch mit dir darüber. Versprich mir, dass du mit niemandem über unser folgendes Gespräch sprechen wirst.“
Keyra lächelte, ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Jaz, ich bitte dich! Um so etwas musst du mich doch nicht erst bitten. Es ist schließlich selbstverständlich.“
Aufmerksam musterte sie den Mann. Er wirkte nachdenklich und in Gedanken versunken.
„Was ist los, Jaz?“, fragte sie, fast schon liebevoll.
„Es ist die Beziehung der beiden zueinander. Sie verwirrt mich.“, murmelte der Adler.
„Was hast du gesehen?“, fragte Keyra neugierig und platzierte sich frech auf dem Schoß den Mannes.
„Sie sind sich mehrere Male schon verdammt nahe gekommen.“, erklärte er leise. Es störte ihn nicht das Keyra auf seinem Schoß saß, sie waren schließlich enge Freunde.
„Du meinst, zwischen ihnen läuft etwas?“, flüsterte die Frau gespannt.
„Ich bin mir nicht sicher.“, fuhr Jaz fort. „Und Shira scheint sich selbst auch nicht sicher zu sein. Sie ist zwar oft abweisend und kalt aber...bei Sin scheint sie schwach zu werden.“
Keyra lachte leise.
„Meiner Meinung nach, passen die beiden perfekt zusammen. Sin ist locker drauf und macht gerne Witze, wie es scheint. Vielleicht ändert Shira sich ja durch ihn?“
Jaz konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Du stehst also auch auf ihrer Seite?“
Wieder kicherte Keyra.
„Natürlich, ich bin schließlich kein Eisblock, so wie Aminael oder Ragnar!“
Dann wurde die Frau ernst.
„Du glaubst, es wäre keine gute Idee den anderen davon zu erzählen?“, hauchte sie leise. Jaz nickte.
„Wer weiß, auf welche Ideen sie sonst kommen würden.“, murmelte er und schloss die Augen.
„Ich werde den beiden noch den ein oder anderen Besuch abstatten um zu sehen, wie sich die Sache zwischen den beiden entwickelt.“
14
Sin schluckte schwer. Shira machte sich bereits über ihre Beute her, nun war er an der Reihe. Er musterte den Panther noch einmal. Shira hatte sich einen ausgewachsenen Hirsch ausgesucht und damit eine ganze Menge Arbeit. Es hatte eine spektakuläre Verfolgungsjagd gegeben, bei der Shira mit dem Tier gespielt hatte. Sie hätte es locker auf der Stelle erlegen können! Mit beängstigender Grausamkeit hatte sie ihm die Krallen ins Fleisch geschlagen. Noch erschreckender war es gewesen, wie sie dem Hirsch mit bloßen Zähnen das Genick gebrochen hatte. Sie schien seinen Blick zu spüren, denn sie hob den Blick und leckte sich über die blutige Schnauze. Sin wandte sich ab. Nun gut, genug bewundert. Er hatte selbst noch eine Jagd vor sich. Er erinnerte sich an Shiras Worte, als sie sich auf den Weg hierher gemacht hatten.
Regel Nummer eins; Verlasse dich auf deinen Instinkt!
Regel Nummer zwei; Nehme Witterung auf und lasse deine Beute niemals aus den Augen!
Regel Nummer drei; Niemals von deiner Beute ablassen!
Wäre er in menschlicher Gestalt gewesen, hätte er nun geseufzt. Es würde dauern bis er sich an seine tierische Hälfte gewöhnt hatte. Und er musste lernen, sich damit abzufinden Tiere zu erlegen. Sin reckte seine Schnauze in die Luft und versuchte, den Geruch potenzieller Beute zu wittern. Schon nach wenigen Sekunden hatte er einen...interessanten Geruch in der Nase. Shira hatte ihm kurz einige Tiere und deren speziellen Gersuch aufgelistet, weshalb er mit Bestimmtheit sagen konnte, dass es sich in diesem Moment um ein Reh handelte. Allerdings war er noch lange nicht weit genug um sagen zu können, ob es sich um ein Jungtier oder ein ausgewachsenes Tier handelte.
Sin folgte der Witterung und entdeckte schließlich ein junges Reh, welches scheinbar selbst noch unerfahren war, denn es hatte ihn noch nicht bemerkt. Er leckte sich über die Schnauze und schlich sich langsam, kaum ein Geräusch verursachend, an das Tier heran. Er hatte keine Ahnung welche Maßstäbe solch eine Jagd hatte, weshalb er sich keine Gedanken machte, es falsch zu machen. Er kam dem Tier immer näher, doch... Plötzlich sah es panisch auf. Feuer breitete sich in Sins Adern aus. Noch bevor das Reh flüchten konnte, sprang er mit einem Brüllen aus dem Versteck heraus. Nur wenige Sekundenbruchteile später schlug er seine Krallen in das Fleisch der Beute. Er hatte keine Ahnung was mit ihm los war, doch der Drang zu töten war immens und nicht zu überwinden. Er begriff, dass dies sein Instinkt sein musste. Er wollte sich dem gar nicht widersetzen, es fühlte sich sogar...gut an! Sin schlug dem Tier ohne zu zögern die kräftigen Kiefer ins Genick. Es ertönte ein Knacken, dann hörte das Reh auf zu zappeln. Stolz wie ein Schneekönig trug er seine Beute im Maul zurück zu der Lichtung, auf der Shira sich befand. Als sie ihn zwischen den Bäumen entdeckte, stieß sie ein lautes Schnauben aus. Dann meldete sie sich in seinen Gedanken zu Wort.
Nicht schlecht! Meine ersten Jagdversuche waren jämmerlich. Du kannst dir was auf deinen Erfolg einbilden, Tiger. Auch, wenn die Beute nicht die größte ist.
Sin ließ das Reh gut einen Meter von Shira entfernt auf den Boden fallen und ließ sich dann entspannt nieder. Angespannt starrte er das tote Tier an. Shira war schon längst fertig, weshalb sie zu Sin hinüber tapste und ihn mit der Schnauze anstieß.
Normalerweise beginnt man jetzt mit dem Fressen.
Shiras Gedanken erreichten ihn sofort.
Ich weiß aber...Ich muss erst einmal mit meinem Gewissen ins Reine kommen., kam es von ihm zurück.
Das ist ebenfalls eine Sache des Instinkts., antwortete Shira und schnappte sich zum Beweis seine Beute. Schon war Sin aufgesprungen. Er stieß ein lautes Brüllen aus und setzte schon zum Sprung an, da ließ Shira sein Tier fallen. Schnaubend sah sie dabei zu, wie er sich auf das tote Tier stürzte und sofort ein großes Stück Fleisch herausriss. Shira ließ ihm seinen Freiraum und machte es sich wieder auf dem Boden bequem.
Irritiert registrierte Sin, wie Shira begann ihn abzulecken.
Beim nächsten Mal solltest du auf deine Manieren achten., teilte sie ihm in Gedanken mit und leckte das Blut von ihm ab. Schnurrend ließ er es geschehen. Es war das erste Mal das sie ihm von sich aus so nahe kam, deswegen musste er diesen Moment genießen. Es dauerte gut fünf Minuten, dann war sie fertig und verwandelte sich zurück.
„Na, fertig mit sauber machen?“, grinste Sin, nachdem auch er sich zurückverwandelt hatte.
„Nein, eine Stelle fehlt noch.“, hauchte Shira und zeigte ihm ebenfalls ein freches Grinsen. Verwirrt ließ Sin zu, dass sie sich vorbeugte und ihm einen sanften Kuss auf die Lippen drückte.
„So, jetzt bin ich fertig.“, flüsterte sie und lehnte sich zurück. Sie lachte leise als sie bemerkte, wie verdattert er sie anstarrte.
„Jetzt schau doch nicht so!“, kicherte sie.
„Sollte das etwa ein Kuss sein?“, brummte Sin und zog die Brauen hoch. Schlagartig verschwand das Lächeln auf Shiras Lippen. Rasch umfasste Sin ihr Gesicht mit den Händen, damit sie sich ihm nicht entziehen konnte. Er küste sie, und zwar ziemlich...animalisch. Shira war zwar verblüfft, ließ sich aber darauf ein und ließ sich, was das Küssen anging, belehren.
„Gott, ist das süß!“
Erschrocken unterbrachen die beiden ihren innigen Kuss, um Keyra anzustarren, die nur wenige Meter entfernt stand und die zwei neugierig musterte. Shira stieß ein Fauchen aus, Sin jedoch schlang einen Arm um sie und brachte sie zum schweigen.
„Sie wird niemandem hiervon erzählen.“, sagte er leise und beruhigend.
„Bist du dir da sicher? Sie gehört zum Rat, schon vergessen?“, zischte Shira und stieß ihn an. Keyra mischte sich ein und trat einen Schritt vor.
„Keine Sorge, Shira, er hat recht. Ich bin nicht hier, um zu spionieren.“, klärte sie auf und lächelte.
„Ach, und weswegen dann?“, fauchte die Leopardin. Sin hielt sich zurück. Er hatte bereits eine Ahnung.
„Jaz und ich sind neugierig und eure Beziehung zueinander verwirrt uns. Wir wollen herausfinden, wie ihr nun zueinander steht. Wir hoffen, das stört euch nicht.“
Shira befreite sich aus Sins Griff und richtete sich auf.
„Ich vertraue Euch nicht, Keyra! Irgendwo gibt es doch sicher einen Haken.“, fauchte sie. Sin seufzte und kam ebenfalls auf die Beine.
„Du kannst ihr glauben, Süße. Sie hat keine bösen Absichten, sie ist bloß neugierig.“
Shira warf ihm einen schrägen Blick zu.
„Woher willst du das wissen?“, fragte sie leise. Sin grinste und sah kurz zu Keyra.
„Wir hatten Zeit zum plaudern und haben dabei ein bisschen über den anderen herausgefunden.“
Shiras Augen verengten sich.
Ich vertraue dir, Sin! Bist du dir wirklich sicher?, dachte sie, damit Keyra es nicht mitbekam.
Sie ist wirklich in Ordnung. Allerdings sollte man sie sich nicht zum Feind machen! Jaz ist übrigens auch in Ordnung, dabei erschien er mir recht...grob.
Shira atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
„Na gut, ich lasse mich mal auf die Situation ein.“, murmelte sie. Innerlich gefiel es ihr allerdings überhaupt nicht, dass ein Mitglied des Rats sie so mit Sin gesehen hatte. Grinsend trat Keyra näher.
„Und? Seit ihr ein Paar?“, fragte sie kichernd, worauf die beiden geschockt aussahen.
„Ich weiß nicht.“, murmelte Shira noch einigermaßen gefasst. „Eigentlich nicht.“
Sie sah zu Sin auf.
„Was sagst du dazu, Sin?“, flüsterte sie. Shira war wirklich neugierig und gespannt auf seine Antwort. Er schwieg jedoch, sah sie nur lange und intensiv an. Keyra erkannte den stummen Wunsch in seinen Augen, sagte aber absichtlich nichts. Shira sah wieder zu der Frau.
„Wie Ihr seht, sind wir uns nicht sicher.“
Keyra schürzte die Lippen.
„Hm, ich hatte mir etwas anderes erhofft...“, murmelte sie, kicherte aber dann.
„Sagt Bescheid, wenn ihr zusammen kommt.“
Sie kehrte beiden den Rücken zu.
„Ich hätte übrigens nie damit gerechnet, dass du jemanden an dich heranlassen würdest, Shira.“
Shira wollte antworten, doch Keyra war schon weg.
„Ich weiß doch gar nicht, wie man eine Beziehung führt.“, flüsterte sie. Sin legte wieder den Arm um das Mädchen.
„Du solltest dir darüber keine Gedanken machen, Shira. Weißt du überhaupt was das wichtigste in einer Beziehung ist?“
Shira schüttelte den Kopf.
„Nein.“
Woher denn auch?, fügte sie gedanklich hinzu, ließ es ihn aber nicht hören. Sin beugte sich vor, bis seine Lippen an ihrem Ohr lagen.
„Es ist Liebe!“, flüsterte er und beobachtete amüsert, wie sich ein zarter Rotschimmer auf ihre Wangen legte.
„Liebst du mich, Shira?“, hauchte er dann. Nun glich ihr Gesicht dem, einer Tomate. Hastig befreite sie sich aus seinem Gesicht.
„I-Ich weiß nicht...W-Wie fühlt sich das denn an?“, stotterte sie. Doch als Antwort bekam sie nur ein kehliges Lachen.
„Entschuldige, ich habe dich verwirrt. Vergiss meine Worte, Shira!“
Sin küsste ihre Stirn und wandte sich dann von ihr ab.
15
Shira starrte in den Himmel. Völlig verunsichert hatte Sin sie im Wald stehen lassen. Sie stand noch immer hier, nicht wissend was sie nun tun sollte. Woher sollte sie wissen, was Liebe bedeutete oder wie sie sich anfühlte? Sie hatte schließlich nie welche erfahren. Shira knurrte leise. Sie konnte nicht aufhören darüber nachzudenken. Wie führte man denn eine Beziehung? Was war wichtig und was tat man? Und das Keyra und Jaz Bescheid wussten, gefiel ihr auch nicht. Natürlich nicht, sie gehörten zum Rat! Wer wusste schon, was sie planten?
„Bist du immer noch hier?“
Shira rührte sich nicht.
„Ich habe doch gesagt, du sollst dir keine Gedanken darüber machen.“, flüsterte Sin ihr ins Ohr. Sofort zuckte sie vor ihm zurück. Wieso nur war es ihr auf einmal so unangenehm, ihm so nahe zu sein? Sins Blick trübte sich.
„Verzeihung, ich wollte dir kein Kopfzerbrechen bereiten. Was willst du wissen?“
Shira drehte sich wieder zu ihm um und sah ihn peinlich berührt an.
„Ich...weiß absolut nichts über Liebe und...Beziehungen. Erzähl mir etwas darüber!“
Seufzend streckte Sin die Hand nach ihr aus und wartete darauf, dass Shira ihre Hand in seine legte. Zögernd tat sie dies.
„Also gut. Aber genauere Fragen wären hilfreich.“, murmelte Sin und führte sie aus dem Wald heraus. Shira überlegte einen Augenblick, dann sah sie Sin von der Seite her aufmerksam an.
„Wie fühlt sich Liebe an?“
Sin hielt kurz die Luft an. Wie sollte er ihr das denn erklären? Er seufzte leise und fuhr sich dann durch die Haare.
„Ich kann es nicht genau beschreiben aber...man spürt ein Kribbeln in der Magengegend. Man muss ständig an den anderen denken und man wird eifersüchtig wenn man sieht, dass die Person auch an anderen Menschen interessiert ist. Man vertraut der Person und man würde alles für sie tun!“
Mit großen Augen sah Shira zu ihm auf.
„Ich hab von so etwas auch nicht viel Ahnung, Shira, also sieh mich nicht so an.“
Shira wandte den Blick von ihm ab.
„Hast du schon einmal eine Beziehung geführt?“, fragte sie dann. Überrascht sah Sin sie an, doch damit hätte er rechnen müssen.
„Nein.“, antwortete er ehrlich. „Sobald die Weiber erfahren haben das ich reich bin, hatten sie es nur noch auf mein Geld abgesehen.“
Shira neigte den Kopf.
„Dann hattest du also schon viele Frauen?“, murmelte sie. Sin nickte.
„Ja, allerdings war es nie etwas Festes. Keine von ihnen hat mir viel bedeutet.“
Shira bemerkte, wie nachdenklich Sin geworden war.
„Das scheint dich traurig zu machen.“, flüsterte sie. Erstaunt beobachtete sie, wie Sins Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.
„Es macht mich nachdenklich, ja. Aber traurig? Nein, warum auch? Solche Umstände kamen mir immer normal vor.“
Die Leopardin wurde aufmerksam.
„Kam? Es hat sich also geändert?“
Sin nickte auf ihre Worte hin nur und sie bemerkte, dass er scheinbar nicht näher darauf eingehen wollte. Shira schwieg. Sie hatte keine Ahnung warum ihr dieser Augenblick so peinlich war.
„Tut mir leid.“
Sie sah auf. Sin starrte zu Boden und fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar.
„Ich habe dich total verlegen gemacht und wahrscheinlich fühlst du dich auch ein wenig hilflos. Deswegen tut es mir leid.“, nuschelte er und sah sie dann vorsichtig an. Shira lächelte aufmunternd.
„Hör auf, dich zu entschuldigen. Du kannst doch nichts dafür, dass ich so unerfahren bin.“, erwiderte sie und drückte kurz seine Hand. Erst nach dieser Geste fiel ihr auf, dass sie noch immer Händchen hielten. Ein wenig verunsichert starrte sie ihre Hände an. Sie verspürte den Wunsch Sin immer nahe zu sein und ihn bei sich zu haben. Aber warum? Liebte sie Sin etwa? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte kein Kribbeln im Bauch. Allerdings...Dieser Drang ihn beschützen zu wollen. Diese Sorgen die sie überkamen, wenn er nicht da war. Irgendetwas musste das ja zu bedeuten haben, oder nicht?
„Shira? Alles okay?“
Erschrocken hob sie den Blck.
„Was?“, hauchte sie.
„Du bist blass. Ist alles in Ordnung?“
Shira nickte.
„Mach dir keine Gedanken. Es geht mir gut.“, murmelte sie so leise, dass es auf Sin nicht sehr überzeugend wirkte. Doch er wollte nicht weiter nachbohren. Wenn sie etwas beschäftigte und sie darüber reden wollte, würde sie dies von alleine tun. Plötzlich stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen. Er beugte sich vor und küsste sie kurz auf den Mund.
„Magst du es, wenn ich dich küsse?“, flüsterte er. Eigentlich war diese Frage unnötg. Würde Shira es nicht mögen, hätte sie es nie zugelassen. Doch er wollte, dass Shira es sich eingestand.
„Ja.“, flüsterte sie. Doch sie schien nicht ganz zu verstehen, worauf er hinauswollte.
„Und du magst mich, nicht wahr?“, fuhr er fort. Shira zeigte ein schwaches Lächeln.
„Täte ich das nicht, würde ich mich nicht mit dir abgeben.“, murmelte sie.
„Und wie sehr magst du mich?“, fragte Sin als nächstes. Shira blinzelte.
„Sehr, glaube ich.“, antwortete sie nachdenklich. Sin lächelte.
„Einiges von dem, was wir tun gehört zu einer Beziehung, Süße.“, teilte er ihr gut gelaunt mit. Wieder sah sie ihn an, dieses Mal sprachlos.
„Wären wir „nur“ Freunde, würdest du nicht zulassen das ich dich küsse. Und du würdest mich nach dem Fressen nicht sauber machen.“
Ein „Warum nicht?“ spiegelte sich in Shiras Augen.
„Diese Dinge sind Zeichen von wahrer Zuneigung, Shira. Oder hast du je gesehen, wie ich so etwas mit Bane mache?“
Allein die Vorstellung brachte Shira zum lachen.
„Nein, habe ich nicht.“, kicherte sie und versuchte, sich einzukriegen. Sin lächelte und wartete geduldig darauf, dass es bei ihr Klick machte. Nach einigen Sekunden verstummte sie plötzlich.
„Moment!“, rief sie aus und blieb stehen. Sin tat es ihr nach.
„Soll das etwa heißen, auf andere wirkt es als wären wir bereits zusammen?“, hauchte sie fassungslos. Sin nickte.
„Das scheint dir nicht zu gefallen.“, stellte er nüchtern und auch wenig verletzt fest.
„Es stört mich nicht, falls du das meinst.“, gab Shira nach wenigen Sekunden kleinlaut zu.
„Es überrascht mich nur.“, fügte sie nachdenklich hinzu. Sie versank in Gedanken. Vielleicht sollte sie ihn ja doch fragen, ob...?
„Vielleicht sollten wir eine Beziehung miteinander eingehen. Es würde keinen Unterschied zu jetzt machen, bis auf...ein paar Kleinigkeiten.“
Wieder weiteten sich Shiras Augen. Es kam ihr so vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Aber...“
Es war nicht ihre Absicht gewesen zu widersprechen, doch das Aber kam wie von selbst über ihre Lippen. Es gab schließlich einige Dinge, die sie beachten mussten.
„Wir würden es niemandem sagen, Shira. Ich kenne dich inzwischen gut genug um zu wissen, dass du nicht willst das jemand von uns erfährt. Allem voran der Rat! Ich weiß, was dir wichtig ist.“, erklärte er und beugte sich am Ende wieder vor. Sprachlos legte Shira ihre Hand an seine Wange.
Okay, versuchen wir's!, dachte sie zögernd und sah ihm in die Augen. Sins strahlendes Lächeln brachte auch Shira dazu, schwach zu lächeln. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn liebte. Ihre Unsicherheit bewies es. Er war sich ebenso sicher, dass sie es noch begreifen würde.
„Hast du jetzt Angst?“, lachte er und drückte ihr einen Kuss auf den Hals.
„Das hättest du wohl gerne.“, erwiderte sie lachend und umschlang seinen Hals mit den Armen. Shira wollte es nicht zugeben, doch sie fühlte sich gut. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus und würde sie so schnell nicht wieder loslassen.
Jaz und Keyra standen auf dem Balkon, wieder erwartungsvoll durch einen Gardinenspalt schauend. Dieses Mal wollten beide zusammen auf Beobachtungsposten gehen. Sie befanden sich auf dem Balkon von Shiras Schlafzimmer und beobachteten, wie das Mädchen sich unruhig im Bett wälzte.
Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und setzte sich ruckartig auf. Keuchend und mit rasendem Puls wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Neben ihr im Bett richtete sich plötzlich Sin auf.
„Das hätte ich jetzt nicht erwartet.“, flüsterte Jaz. Keyra schielte zu ihrem Kollegen, sagte aber nichts weshalb der Adler wieder das Wort ergriff.
„Bist du sicher, dass die beiden kein Paar sind?“, flüsterte er skeptisch als er sah, dass Sin das Mädchen beruhigte und sie hin und wieder küsste. Doch allein die Tatsache das sie sich ein Bett teilten, war verdächtig. Das zwischen zwischen ihnen was lief war sowieso nicht zu übersehen. Keyra seufzte.
„Meine Güte, ist das süß!“, flüsterte sie und lächelte ebenfalls, als Shira sich an den Jungen schmiegte und zuließ, dass sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Gemeinsam legten sich die beiden wieder hin. Sin hielt das Mädchen dabei fest an seine Brust gedrückt. Die Hände hatten sie miteinander verschränkt.
„Wahrscheinlich wollten sie nicht, dass jemand von ihnen erfährt.“, hauchte Jaz und warf Keyra wieder einen Blick zu. Die Frau grinste und trat einige Schritte zurück.
„Ist dir etwas aufgefallen? Shira ist gar nicht mehr so misstrauisch wie sonst. Normalerweise hätte sie schon längst gemerkt, dass sie beobachtet wird.“
Jaz zog die Brauen hoch, denn Keyra hatte recht. Er brummte leise und trat ebenfalls einige Schritte zurück.
„Das hat sicher auch Nachteile.“
Keyra warf einen Blick in den Himmel. Der Mond war dem Horizont bereits gefährlich nahe.
„Wir sollten so langsam zurück. Vielleicht wäre es nicht schlecht den anderen mitzuteilen, dass der Junge sich bisher noch keinen Fehltritt geleistet hat?“
Jaz stimmte mit einem Nicken zu.
„Du hast recht.“
Beide verwandelten sich und schwangen sich in die Lüfte.
16
Shira beruhigte sich langsam. Sie hatte öfters Alpträume, dies war allerdings der erste Traum in Sins Anwesen. Doch das erstaunslichste war...das dieser Traum ihr vollkommen egal war. Er ging ihr nicht nahe und sie hatte ihn sofort vergessen, nachdem Sin sie in seine Arme geschlossen hatte. Tja, hier lag sie nun, noch immer in Sins Armen, dicht an seiner Brust. So dicht, dass sie seinen Herzschlag in ihrem Rücken spüren konnte. Sein heißer Atem streifte permanent ihren Nacken. Ein weiterer Grund ihrer Schlaflosigkeit. Das warme Gefühl in ihrem Inneren hatte sich nicht verflüchtigt. War es Glück, was sie spürte? Zufriedenheit? Geborgenheit? Ja, sie fühlte alles davon aber in diesem Moment passte nichts davon. Das was sie nun verspürte war viel...tiefgehender und wärmte sie von innen heraus. Doch obwohl sie in diesem Moment äußerst zufrieden war, fehlte etwas. Was es war konnte sie nicht sagen, doch es fühlte sich komisch an. Shira fühlte sich Sin zwar nahe, doch...es war ihr noch immer nicht genug! Sie schloss die Augen und versuchte dieses komische Gefühl zu ignorieren.
„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte Sin ihr plötzlich ins Ohr. Sie zuckte kurz zusammen, entspannte sich dann aber wieder sofort.
„Was hat mich verraten?“, flüsterte sie schwach lächelnd zurück.
„Dein Herzschlag.“, antwortete Sin und drückte wie zum Beweis ihre Hand.
„Dein Puls rast.“
Shiras Lächelnd wurde breiter.
„Umso erstaunlicher ist es, dass deiner sich kein bisschen verändert hat.“, erwiderte sie.
„Ich lasse mich nun mal nicht so schnell aus der Ruhe bringen.“, hauchte er und küsste ihren Nacken.
„Worüber denkst du nach?“, fuhr er ohne Umschweife fort.
„Nichts von Belang.“, sagte sie und kuschelte sich an ihn, womit sie ihm zu verstehen gab, dass sie nun schlafen wollte. Er verstand es.
„Mag sein aber daraus muss man doch einen Vorteil ziehen können.“
Vorago konnte über Ragnars Sturheit nur den Kopf schütteln.
„Das Mädchen wird es zu verhindern wissen, Ragnar. Mag sein, dass sie nur ein kleines Mädchen ist aber dieses Kind hat mehr Menschen und Tiere auf dem Gewissen, als Aminael. Und wenn man von mir mal absieht, ist sie die grausamste hier im Rat.“
Ragnar widersprach jedoch noch immer.
„Sie ist in der Tat noch ein Kind, Vorago! Glaubst du, es hat keine Spuren bei ihr hinterlassen, ohne Eltern aufgewachsen zu sein? Sie sehnt sich noch immer nach einer Mutter!“
„Du verstehst das nicht, Ragnar!“, brüllte Vorago und sprang auf. „Dieses Kind war schon immer schwierig und daran wird sich auch nichts ändern. Wenn es so einfach wäre wie du glaubst, hätte ich schon längst gehandelt. Dieses Mädchen hat einen Instinkt wie kein anderer. Ganz zu schweigen von diesem Beschützerinsinkt, der in ihr lodert. Die Stärke dieses jungen Dings ist nicht zu unterschätzen!“
Ragnar hielt die Luft an. Solche Ausbrüche waren alles andere als typisch für Vorago, weshalb er lieber schwieg. Vorago ließ sich zufrieden auf seinem Thron nieder.
„Gehen wir auf die Jagd?“
Shira sah grinsend auf.
„Scheint, als hätte das kleine Reh nicht ausgereicht.“, sagte sie belustigt. Sin schnaubte, das Mädchen nickte aber und legte das Buch beiseite. Entspannt erhob sie sich. Sie hatte zwar am Ende kaum mehr Schlaf bekommen, dennoch fühlte sie sich ausgeruht. Kaum hatten die beiden das Haus verlassen, verwandelten sie sich. Doch irgendetwas stimmte nicht. Bei Shira zumindest.
Kommst du?
Sins Gedanken ließen sie aufschauen. Er war schon einige Meter voraus gelaufen. Shira antwortete nicht, sie lief einfach los. Wenn auch zögernd.
Wie wär's, wenn wir dieses mal gemeinsam jagen?, schlug sie vor. Sin war mit diesem Vorschlag einverstanden und so gingen sie gemeinsam auf Beutezug.
Unruhig lief Shira auf und ab, hin und her. Natürlich blieb dies nicht unbemerkt.
Alles in Ordnung?
Sins Gedanken klangen überaus besorgt, Shira allerdings war zu sehr mit sich selbst beschäftigt um dies zu merken. Sie hatte bereits eine Ahnung was mit ihr los war, jedoch konnte sie Sin unmöglich etwas davon sagen. Nicht mal auf den riesigen Elch der dort auf dem Boden lag, konnte sie sich konzentrieren. Gier keimte in ihr auf.
Shira, zum Teufel was ist los?
Fauchend verwandelte sie sich zurück. Oh ja, sie wusste ganz genau was mit ihr los war!
Doch wenn sie Sin jetzt ansah, würde sie sich nicht mehr zurückhalten können.
„Nein, nichts ist in Ordnung!“, flüsterte sie und schlang die Arme um den Oberkörper. Sin verwandelte sich zurück und ging besorgt auf Shira zu.
„Was ist denn los, Süße?“
Shira trat jedoch mehrere Schritte zurück.
„Wenn du über Katzen Bescheid wüsstest, würdest du wissen was los ist.“, fauchte sie und sah zu Boden. Ein mädchenhaftes Kichern ertönte und erschrak die beiden. Keyra ignorierte das riesige tote Tier auf dem Boden und tänzelte auf die beiden zu.
„Also wirklich, Sin. Du bist zur Hälfte ein Tiger. Ich hatte erwartet, dass du die Gelüste einer Katze nun verstehen würdest.“, lachte sie und musterte Shira.
„Meine Güte, es ist offensichtlich.“
Die Augen der Leopardin weiteten sich. Wenn sogar andere es sofort erkannten, muss es verdammt ernst sein! Wieder kicherte Keyra.
„Sie ist nun mal kein unerfahrenes Jungtier mehr.“
Die Frau neigte den Kopf und sah dann Sin an. Dieser schien es allerdings noch immer nicht begriffen zu haben.
„Gott, Junge, dein Weib ist rollig! Sie würde sich am liebsten auf dich stürzen.“
Sin reagierte...schweigsam. Er kam allerdings gar nicht erst dazu etwas zu sagen, denn Shira stieß ein lautes Fauchen in Richtung Keyra aus und ging in Abwehrhaltung. Die Fledermausfrau machte eine vage Geste mit der Hand.
„Ach bitte, früher oder später hätte er es sowieso geschnallt, also bleib locker!“
Das Fauchen wurde lauter und drohender, das Grinsen auf Keyras Lippen breiter.
„Und, wie lange hat es gedauert bis du begriffen hast, was los ist?“
Shira gab ihre abwehrende Haltung auf, ließ die Arme jedoch überkreuzt.
„Ein paar Stunden.“, flüsterte sie und wich ihren Blick aus. Keyra kicherte.
„Tja, ich hab alles erledigt, was ich erledigen wollte.“, sagte sie, dann war sie auch schon verschwunden. Verletzt wich Shira einige Schritte von Sin zurück. Sin ließ sich dadurch aber nicht abschrecken. Ohne zu zögern ging er zu seinem Mädchen, um es in die Arme zu schließen.
„Warum hast du mir denn nichts gesagt?“, nuschelte er in ihr Haar hinein.
„Wie hätte ich dir das bitte sagen sollen? Sin, ich bin scharf auf dich, zieh dich gefälligst aus?“
Sin fing an zu lachen.
„Okay, ich geb zu solche Worte aus deinem Mund zu hören, hätte mich überrascht.“
Er schloss sie noch fester in die Arme.
„Solche Dinge gehören auch zu einer Beziehung, Shira und wenn du dir so etwas wünschst, dann zögere nícht es mir zu sagen!“
Mit großen Augen sah das Mädchen zu ihm auf, weshalb Sin nur noch lauter lachen konnte.
„Wie fühlst sich das, was du gerade fühlst an?“, fragte er.
„Es ist wie eine Gier.“, flüsterte sie. „Es hat mich gepackt und...lässt mich jetzt nicht mehr los.“
Schmunzelnd packte er sie, um sie dann über seine Schulter zu werfen.
„Dem kann ich Abhilfe verschaffen.“, sagte er zwinkernd und lief los.
Immer tiefer in den Wald hinein.
Noch immer kichernd kam Keyra schließlich in Jaz' Schlafzimmer an.
„Und?“, ertönte es leise vom Bett.
„Das sah vielversprechend aus.“, antwortete sie grinsend. Als sie sah das Jaz nichts anhatte, verging ihr das Grinsen.
„Was wird das?“, fragte sie und hob misstrauisch die Brauen.
„Zieh dich aus und komm her.“, befahl Jaz. Seine funkelnden Augen entgingen Keyra nicht. Sie neigte den Kopf und spielte dann mit der Kordel an ihrer Bluse.
„Sag bloß, dich hat diese Geschichte scharf gemacht!“
Der Adler schnaubte.
„Ich kann nicht leugnen, dass mich ihr Verhältnis neidisch gemacht hat.“, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme und streckte die Hand nach der Frau aus. Diese gab nach. Während sie es sich auf ihm bequem machte, blickte sie ihn nachdenklich an.
„Wir sollten übrigens vorsichtiger werden.“
„Warum?“, murmelte Jaz und strich ihr die Haare aus dem Nacken. Keyra blieb ernst und ließ sich nicht ablenken.
„Zum einen glaube ich, dass die anderen etwas planen. Und zum anderen habe ich auch das Gefühl, dass Shira immer gefährlicher zu werden scheint. Sie scheint es nicht einmal mehr zulassen zu wollen, uns in ihre Nähe zu lassen.“
Der Mann schloss für einen Moment die Augen.
„Was die anderen angeht, hast du wahrscheinlich recht. Vor allem Vorago und Ragnar ziehen sich immer mehr zurück. Glaubst du, die beiden planen etwas?“
„Wäre möglich. Wir sollten einfach aufmerksam bleiben.“, erwiderte Keyra. Jaz begann, mit ihren Haaren zu spielen.
„Und was Shira betrifft.“, murmelte er. „Sie war schon als kleines Kind nicht zu unterschätzen und wahrscheinlich gehört sie zu den gefährlichsten Gestaltwandlerfrauen aber was ihr Verhalten betrifft, würde ich mir keine Gedanken machen. Sie verhält sich schließlich immer so, oder?“
Keyra beließ es bei einem „Hm“.
Sie würde sich später, wenn sie alleine war, noch einmal ausgiebig Gedanken darüber machen.
17
„W-Was hast du vor?“, flüsterte Shira und ließ sich von Sin an einem Baumstamm gelehnt absetzen.
„Ich werde deinen Hunger stillen.“, hauchte er ihr ins Ohr und küsste sie dann auch. Sie wusste nicht was das heißen sollte und es war ihr in diesem Moment auch völlig egal. Sie konzentrierte sich nur auf den innigen und leidenschaftlichen Zungenkuss, in den Sin sie gerade verwickelte. Doch dieser Kuss war anders als sonst. Er genügte ihr nicht. Sie wollte mehr, viel mehr! Und Sin schien es ihr geben zu wollen. Er wurde drängender, drückte sie gegen den Baumstamm und begann mit seinen Händen, ihren Körper zu erkunden. Sie stellte fest, dass es sich gut und richtig anfühlte. Sie packte Sin am Hemdkragen und zog ihn näher an sich heran.
Mehr!, dachte sie, um den Kuss nicht zu unterbrechen.
Sollst du haben, Süße., kam es zurück. Erst zog er sie aus, langsam und genießend, ihren Körper bewundernd. Dann zog er sich selbst aus, hastig, damit er ihre Wünsche erfüllen konnte.
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, flüsterte Shira zwischen den Küssen. Sin wurde aufmerksam. Sein Mädchen hatte so viele Geheimnisse, natürlich wurde er deswegen nun aufmerksam.
„Ich habe dich doch am Anfang beobachtet.“, setzte sie grinsend fort. Sin streifte mit seinen Lippen ihre, worauf sie ihm in die Lippe biss.
Geduld!, flüsterte sie in seinen Gedanken und strich ihm mit den Fingern über seine Bauchmuskeln.
„Ich glaube...ich war schon von Anfang an scharf auf dich! Die Katze in mir wollte sofort mit dir spielen und deine Muskeln haben mich beeindruckt.“, flüsterte sie. Sin lachte leise und strich Shira einige schwarze Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Wie es der Zufall will, war ich dir ebenfalls vom ersten Moment an verfallen.“
So rührend Shira das auch fand, darüber würde sie später noch einmal mit ihm sprechen.
„Nicht aufhören.“, hauchte sie dann und sah ihn flehend an.
„Natürlich nicht.“, grinste er und küsste sie wieder. Während er das tat glitten seine Finger immer tiefer, schoben den zarten Stoff ihrer Unterwäsche beseite und berührten sie schließlich da, wo es niemand sonst getan hatte. Shira vergrub ihre Fingernägel in Sins Oberarmen und hoffte, es würde ihn nicht all zu sehr stören.
„Deine Finger werden nicht ausreichen, Sin!“, keuchte sie und rieb sich katzenhaft an ihm.
„Das habe ich mir schon gedacht.“, erwiderte er an ihren Lippen. Er zog seine Hand aus ihren Höschen heraus und öffnete dann ihren BH.
„Shira?“
Aufmerksam verfolgte sie seine Bewegungen. Er grinste selbstgefällig.
„Glaub nicht, dass du nur entspannen und genießen kannst! Du hast auch einiges zu erledigen.“, raunte er.
„Ich glaube, damit kann ich leben.“, flüsterte sie heißer und packte seine Hand um ihm zu zeigen, was sie wollte.
„Sie ist uns gegenüber verdammt misstrauisch, vielleicht sollten wir eine Lösung dafür finden?“, murmelte Ragnar nachdenklich.
„Wie meinst du das?“, hakte Vorago aufmerksam nach. Der Schneeleopard grinste.
„Vielleicht sollten wir sie für uns arbeiten lassen damit sie anfängt, uns zu vertrauen?“, schlug er vor
„Die Idee ist zwar gut...“, erwiderte Vorago. „...aber sie würde sich weigern, für uns irgendwelche Aufgaben zu erledigen. Und selbst wenn wir sie doch dazu kriegen würden, sie wird uns dennoch misstrauen.“
Ragnar schnaubte. Sie wie er Vorago kannte, würde er gleich eine seiner brillianten Ideen vorschlagen. Dieser Mann war ein wahres Genie darin, sich unauffällig in den Vordergrund zu schieben.
„Wenn wir sie ungefährlich machen wollen, müssen wir zuerst an ihren kleinen Freund herankommen.“, meldete Vorago sich auch schon zu Wort.
„Eigentlich ist er uns noch etwas schuldig.“, fügte er leise und gefährlich grinsend hinzu.
„Hör auf, mich anzustarren.“, brummte Sin mit geschlossenen Augen.
Trotz seiner Worte starrte sie ihn weiter an. Dann küsste sie ihn. Erst auf die Stirn, dann auf die Wange und zum Schluss auf den Mund.
„Entschuldige, mir ist nur endlich klar geworden wie...viel du mir eigentlich bedeutest.“, flüsterte sie und beobachtete, wie sich Sins Augen schlagartig öffneten und sie anstarrten.
„Was?“, hauchte er entsetzt und fassungslos und tat so, als hätten ihre Worte eine schlechte Bedeutung.
„Ich weiß noch immer nicht mit was ich Liebe vergleichen soll aber ich glaube das Wort Liebe trifft das, was ich für dich empfinde am besten.“
Sin küsste sie so plötzlich und stürmisch, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken fiel. Sie umschlang seinen Hals mit den Armen, damit er den Kuss nicht unterbrach.
Shira., hauchte er zärtlich in ihren Gedanken. Sie lauschte aufmerksam.
Ich habe zurvor noch nie eine Frau geliebt und nie richtige Liebe empfunden aber bei dir...hat sich das geändert!
Tränen stiegen ihr in die Augen.
Und das gibst du mal eben so zu?, dachte sie gerührt.
Ich habe halt keine Probleme damit jemandem meine Gefühle zu beichten., kam es von ihm amüsiert zurück. Sie verpasste ihm einen leichten Schlag, hielt den Kuss aber aufrecht. Als Sin sich zurückzog, musterte Shira ihn ausgiebig.
„Und? Hunger gestillt?“, grinste er. Shira grinste zurück.
„Für den Moment, ja. Aber lass dir gesagt sein, dass wir das wiederholen werden, und zwar sehr oft!“, hauchte sie. Sins Grinsen wurde breiter und auch wenn er nicht sagte, sein frohes Grinsen war Antwort genug. Shira sah sich um, ihre Augen verengten sich.
„Wir sollten uns anziehen und von hier verschwinden, so schön der Moment auch ist.“, murmelte sie und ließ den Blick noch einmal schweifen.
„Kann es sein, dass du dich beobachtet fühlst?“, flüsterte Sin und griff nach ihren Klamotten, die er ihr dann in die Hand drückte.
„Seitdem Keyra hier aufgetaucht ist, habe ich ein komisches Gefühl.“, murmelte sie leise und zog sich rasch an. Sin tat es ihr nach.
„Ich weiß, dass du dem Rat nicht traust, Shira aber...“, sagte er, konnte seinen Satz aber nicht vervollständigen.
„Das ich sie nicht mag und ihnen nicht traue hat nichts damit zu tun, Sin!“, widersprach Shira. Fragend sah Sin sie an, worauf sie fortfuhr.
„Ich hätte Keyra eigentlich bemerken sollen, noch bevor sie uns erreicht hat aber wahrscheinlich war ich wegen dir abgelenkt. Das bereitet mir Sorgen, weißt du? Was, wenn sie uns ständig beobachten und wir es nicht mitbekommen? Vielleicht wirkt es ja deshalb so, als ob sie über uns Bescheid wüssten?“
Sins Augen blitzten.
„Bist du dir sicher?“, hakte er nach. Shira zog eine Braue in die Höhe. Ihr Gefühl hatte sie noch nie groß betrogen und das würde auch so bleiben!
„Lass uns einfach von hier verschwinden, okay? Und von nun an, werde ich besser aufpassen...“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zur Villa.
„Sie hat es also doch gemerkt.“, murmelte Jaz und beobachtete vom Wipfel des Baumes aus, wie sich die beiden Richtung Anwesen aufmachten. Scheinbar konnte Shira ihn spüren, denn sie sah sich immer wieder um. Und das nicht gerade unauffällig. Sin schien sie beruhigen zu wollen, denn er nahm immer wieder ihre Hand, die sie ihm nach kurzer Zeit aber wieder entzog. Plötzlich blieb das Mädchen stehen.
„Jaz!“, brüllte sie und drehte sich dabei in seine Richtung. Er schluckte.
„Na toll...“, murmelte er dann und schwang sich in die Lüfte, um dann einige Meter von ihr entfernt wieder zu landen und sich zu verwandeln. Kalt und ausdruckslos sah er sie an.
„Was soll dieser Scheiß? Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe?“, fauchte Shira und trat fast unmerklich auf ihn zu. Jaz neigte den Kopf. Keyra schien recht gehabt zu haben, Shira war aggressiver als sonst. Der Adler beschloss, diese Frage von ihr nicht zu beantworten.
„Warum regst du dich eigentlich so auf? Wir sind nicht eure Feinde und gehören zum Rat, es ist uns überlassen wo wir uns aufhalten und was wir dort machen.“
Shiras Augen verengten sich.
„Findet Ihr das lustig?“, brüllte Shira drauf los und fletschte die Zähne.
„Vorsicht, Kind! Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, mich anzugreifen?“
Jaz blieb vollkommen ernst und kalt. Die Entwicklung dieses Mädchens gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Junge schien ihr gezeigt zu haben, welch Gefühle sie eigentlich besitzt. Und so wie sie anfing ihn zu mögen, fing sie an den Rat zu hassen. Shira trat schnaubend und hinterhältig grinsend einen Schritt zurück.
„Euch angreifen? Nein, wohl kaum. Das wäre zu langweilig!“
Auch diese Worte von ihr gefielen ihm nicht. Sie plante doch nicht etwa was?
„Pass auf was du sagst, meine Liebe! Noch wissen die anderen nichts, Keyra und ich sind also die einzigen. Und das könnte auch so bleiben.“
Shira schüttelte bei seinen Worten den Kopf.
„Ich vertraue Euch nicht, wie oft denn noch? Wenn Ihr alle Infos habt, die Ihr wolltet werdet Ihr sicher einen Nutzen daraus ziehen!“
Das waren iher letzten Worte, ehe sie sich umdrehte, Sins Hand packte und ihn mitzog.
„Ich warne Euch, Jaz!“, fauchte sie plötzlich und sah über ihre Schulter.
„Wenn ich Euch, oder Keyra, noch einmal bemerkte, dann werde ich mich nicht zurückhalten!“
Dann war sie mit dem Jungen zwischen den Bäumen verschwunden. Der Adler schnaubte.
„Das könnte zum Problem werden.“
18
„Shira, alles okay?“
„Nein.“, sagte sie kurz und schwieg dann wieder. Also hatte sie recht gehabt, die ganze Zeit schon hatten die beiden sie und Sin beobachtet. Natürlich passte ihr das nicht! Sie wollte nicht das der Rat sah, wie harmlos sie doch sein konnte. Sie wollte weiterhin diejenige sein, die den Ältesten Sorgen und Probleme bereitete. Schon als sie ein kleines Kind war, hatte sie dem Rat Ärger gemacht. Nun allerdings wurde es gefährlich. Durch Sin war sie nämlich verwundbar geworden.
„Ich glaube, wir sind in eine gefährliche Situation geraten.“, murmelte Sin, was Shira seufzen ließ.
„Ja, Sin, dein Gefühl täuscht dich nicht. Wir werden tatsächlich noch Probleme bekommen. Erst recht wenn Vorago mitbekommt, wie ich mich verhalten habe.“, erwiderte die Leopardin. Sin grinste, wenn auch nur schwach.
„Du hast dich ihnen gegenüber schon immer respektlos verhalten, oder?“, fragte er. Shira lachte leise, verstummte nach wenigen Augenblicken aber wieder.
„Ja, stimmt. Aber nie so aggressiv wie eben. Und genau das könnte mir zum Verhängnis werden...“
Mit folgenden Worten von Sin hätte sie nie gerechnet, weshalb sie auf der Stelle stehen blieb.
„Gab es eigentlich schon jemanden der versucht hat, jemanden aus dem Rat zu töten?“
„Sin!“, flüsterte Shira, trat an ihn heran und presste ihre Hand auf seinen Mund.
„Wenn du schon solche Fragen stellen musst, dann bitte an einem Ort wo wir alleine sind und nicht in der Öffentlichkeit!“, zischte sie leise. Sie liefen die wenigen Meter zum Haus und verschlossen die Tür, kaum waren sie angekommen.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete Shira nun. „Wenn ja, dann hat der Rat dafür gesorgt, dass es niemand erfährt.“
Sin schwieg, Shira verschränkte die Arme.
„Der Rat an sich ist eigentlich eine gute Sache. Wenn es sie nicht gäbe, würde jeder Gestaltwandler machen was er wollte. Chaos würde ausbrechen und Heimatlose würden mein Revier übernehmen. Vermutlich würden sie auch versuchen, mich zu töten. So gesehen bin ich dann doch froh darüber, dass die Ältesten für Ordnung sorgen.“
Sin lief auf eine große Tür zu, die in die Bibliothek führte. Er bedeutete Shira ihm zu folgen.„Aber du misstraust ihnen.“, stellte der Junge verwirrt fest. Shira nickte.
„Natürlich misstraue ich ihnen. Oder würdest du jemandem wie Vorago ein Geheimnis anvertrauen?“
„Nein.“, antwortete Sin ohne zu zögern. „Aber was ist mit Keyra und Jaz? Die beiden sind doch eigentlich in Ordnung.“, sagte er dann. Shira verzog das Gesicht.
„Sie gehören auch zum Rat, Sin. Und das nicht ohne Grund!“
Sin musste nachgeben und ihr glauben, er hatte schließlich keine Ahnung vom Rat. Kannte sie gerade mal seit gut einer Woche, wenn überhaupt!
„Entschuldige das ich versucht habe, dir zu widersprechen. Ich weiß, dass du recht hast. Du kennst sie lange genug um zu wissen wie sie ticken und ich vertraue dir, also...wird alles, was du über sie sagst stimmten.“
Sin wies auf einen Sessel, in dem sich Shira niederließ.
„Gab es je einen Machtwechsel?“, fragte er dann und ließ sich ebenfalls in einem Sessel nieder. Shira schüttelte den Kopf.
„Nein. Jeder hat Angst vor ihnen, weshalb sich keiner traut sich ihnen in den Weg zu stellen.“, erklärte sie inzwischen wieder ganz gelassen.
„Was ist mit dir? Hast du Angst vor ihnen?“, fragte Sin leise. Der rechte Mundwinkel des Mädchens zuckte.
„Angst? Wohl kaum! Dennoch frage ich mich was sie mit mir machen würden, wenn ich mich gegen sie auflehne.“
Nachdenklich aber dennoch lächelnd starrte sie an die Decke der Bibliothek.
„Versprich mir, dass du nicht versuchen wirst es herauszufinden!“, sagte Sin eindringlich. Shira schwieg erst, machte aber dann doch den Mund auf.
„Ich werde mich ihnen öfters widersetzen und auch das ein oder andere mal herausfordern, Sin, das wird sich nicht verhindern lassen. Ich will mich von ihnen nicht ausnutzen lassen, verstehst du?“
Für einen Moment herrschte Schweigen. Es war kein unangenehmes Schweigen, nein im Gegenteil. Shira genoss die Ruhe die hin und wieder zwischen ihnen herrschte. Sin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Tja, wenn du ihr Feind bist dann bin ich es auch!“
Shira lachte leise und krümmte den Finger, damit Sin zu ihr kam. Er zögerte nicht und stützte sich mit den Armen am Sessel ab, um sich dann zu Shira hinunter zu beugen. Erwartungsvoll verharrte er mit seinen Lippen vor ihren.
„Ohne dich wäre mein Leben langweilig, Sin!“, hauchte sie und zeigte ein Lächeln. Der Junge erwiderte ihr Lächeln mit einem Grinsen.
„Ich steh drauf, wie du meinen Namen aussprichst.“, raunte er ihr ins Ohr und küsste sie dann stürmisch.
Gibt es eine Möglichkeit, sich dem Rat zu entziehen?, führte er in Gedanken ihr Gespräch fort.
Sie schüttelte sacht den Kopf.
"Nein.“, sagte sie zwischen den Küssen. „Sie finden einen, egal wo man sich versteckt und genau deswegen...muss ich mich ihnen immer wieder stellen.“
Sin wich einige Zentimeter zurück.
„Du hast schon einmal versucht, dich vor ihnen zu verstecken?“, murmelte er neugierig und streichelte über ihre Wange. Sie nickte ernst.
„Ja.“, flüsterte sie. „Dummerweise haben sie mich nie aus den Augen gelassen, weswegen ich Keyra einmal in der Stadt begegnet bin. Grinsend hat sie mich gegrüßt.“
Sin kam immer mehr durcheinander.
„Was soll das heißen, sie haben dich nie aus den Augen gelassen?“
Shira seufzte und lehnte sich im Sessel zurück.
„Das ich früher so viele Kämpfe ausgetragen habe, ist nicht unbemerkt geblieben. Der Rat wurde auf mich aufmerksam und hat mich im Auge behalten. Mir passte das natürlich gar nicht, weshalb ich untergetaucht bin aber wie schon gesagt, das half auch nicht. Seitdem provoziere ich sie des Öfteren.“
Nun verstand Sin allmählich.
„Das du mich kennengelernt hast scheint deine Feindseligkeit zwar abgeschwächt zu haben, allerdings bist du nun aggressiver. Das scheint ihnen nicht zu gefallen...“
Shira sah den Jungen eindringlich an.
„Ich weiß, ich widerspreche mir manchmal selbst. Aber wenn mir etwas wirklich wichtig ist, dann würde ich alles dafür tun um es zu beschützen. Ich würde selbst mein Leben geben, und das ohne zu zögern!“
Sins Blick wurde liebevoll und er ergriff ihre Hand.
„Und was ist dir wichtig?“
Bevor sie antwortete, küsste sie ihn.
„Du!“, hauchte sie. „Und meine Freiheit.“, fügte sie dann hinzu. Sin wusste, dass er sich auf dünnes Eis begeben würde, doch er hatte begriffen das Shira erst glücklich wäre, wenn vom Rat keine Gefahr mehr ausging.
„Es muss eine Möglichkeit geben, den Rat auseinander zu reißen.“, sagte er leise.
„Begib dich meinetwegen nicht in Lebensgefahr, hörst du?“, fauchte sie und packte ihn an den Schultern.
„Bei ihnen kommt man mit Körperkraft und Wissen nicht weit. Man muss so denken können wie sie. List und Täuschung ist ihr Erfolg!“
Sin verdrehte bei ihren Worten die Augen.
„Irgendwie muss man doch gegen sie ankommen. Wir finden schon eine Lösung.“, murmelte er.
„Das bezweifle ich.“, flüsterte Shira. Sie wollte Sin wirklich glauben, doch sie konnte einfach nicht. Zu oft hatte der Rat bewiesen, dass sie um Längen besser waren als der Rest. Sie waren die ältesten Gestaltwandler der Welt, hatten sämtliche Kathastrophen überlebt und etliche Lebewesen auf dem Gewissen. Gerade deswegen hatte alle Angst vor ihnen. Doch so toll waren sie gar nicht. Auch sie hatten viele Gräueltaten begangen, ebenso wie Shira. Aber solche Dingen werden bei ihnen immer unter den Teppich gekehrt. Shira wusste durchaus, dass der Rat viele dunkle Geheimnisse hatte und sie überlegte schon lange ob sie nicht versuchen sollte, diese Geheimnisse zu lüften. Nur hatte sie keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Sie wusste ja nicht einmal ob es Gestaltwandler gab, die für die Ältesten arbeiteten. Sie schloss die Augen. Das würde wohl eine schlaflose Nacht werden.
Ragnar und Vorago tauschten einen Blick aus.
„Na, das hört sich doch interessant an.“, murmelte Ragnar. Jaz und Keyra waren gerade an ihnen vorbei gekommen, hatten sie aber nicht bemerkt. Sie standen schließlich im Schatten. Kaum waren der Adler und die Fledermaus verschwunden, traten die beiden aus dem Schatten hervor.
„Die beiden sind also ein Paar.“, wiederholte Vorago unnötigerweise.
„Also bitte, das war doch zu erwarten.“, mischte sich Aminael ein, die nun dazu stieß. Argwöhnisch sahen die beiden Männer sie an.
„Ich nehme an, ihr wollt euch das zu Nutze machen.“, sagte sie dann grinsend.
„Schlaues Mädchen.“, brummte Ragnar, worauf Aminael ihm einen bösen Blick zuwarf.
„An was habt ihr denn gedacht?“, fragte sie dann und wandte sich an Vorago. Dieser zog die Stirn in Falten.„Genau das, ist das Problem. Wir haben nicht die geringste Ahnung. Allerdings haben wir uns darauf geeinigt, uns über den kleinen Bengel an Shira heranzuwagen. Ich nehme an, dass er zu ihrer Schwachstelle geworden ist.“
Aminael grinste böse.
„Kein Problem, darum kümmere ich mich. Und glaubt mir, das wird eine Kleinigkeit!“
Voragos Augen verengten sich.
„Du hast also eine Idee?“
„Allerdings.“, erwiderte Aminael und zog sich in den Schatten zurück.
19
„Ist ein merkwürdiges Gefühl, so durch die Schule zu laufen.“, murmelte Shira leise und beobachtete, wie die Schüler sie alle interessiert und geschockt beobachteten. Oft warfen ihr die ganzen Mädchen einen bösen Blick zu, doch die ignorierte sie wie sonst auch.
„Lass sie gucken, die sind bloß neidisch.“, hauchte Sin ihr ins Ohr und küsste sie dann.
„Ich bin es nicht gewohnt im Mittelpunkt zu stehen, Sin, also rück uns gefälligst nicht so in die Öffentlichkeit!“, flüsterte sie zurück.
„Seit wann bist du so schüchtern?“, grinste Sin, packte sie und drehte sie so, dass er sie problemlos küssen konnte. Wieder ertönten geschockte Laute, genauso wie zu dem Zeitpunkt als er sie das erste Mal geküsst hatte. Shiras Lippen verzogen sich unter dem Kuss zu einem Lächeln. Sollte es ihr doch egal sein wenn alle guckten, den Gefühlen Sin gegenüber war das egal.
„S-Sin?“
Der Junge ließ von Shira ab und drehte sich um. Bane stand vor ihnen und sah die beiden ungläubig an.
„Ich habe mich schon gefragt, wo dein kleiner nerviger Freund steckt.“, sagte Shira feindselig und zog eine Augenbraue in die Höhe. Sin lachte fies und sieß Shira leicht an.
„Sei nicht so gemein, Süße. Er braucht Aufmerksamkeit.“
Shira hätte am liebsten laut gelacht, doch sie erhielt die Maskerade aufrecht. Ihre Mundwinkel zuckten dennoch. Bane schnaubte.
„Scheint als wärst du wieder der Alte.“
„Willst du was?“, meldete Shira sich wieder zu Wort und neigte den Kopf. Bane zeigte Zähne.
„Naja, da Sin am Anfang keine Eier in der Hose hatte um dich anzusprechen, dachte ich, ich schau mal wie's läuft.“
Er zuckte mit den Schultern. Sin wollte bereits antworten, doch Shira hob die Hand um ihm zu signalisieren, dass sie das übernehmen würde.
„Tja, während du Zuhause rumgesessen hast und dir den Kopf über deinen Freund zerbrochen hast, hatte dieser ein paar wundervolle Nächte. Aber unheimlich süß von dir, dass du dir Sorgen um ihn gemacht hast!“
Sin kicherte und hielt sich dann die Faust vor den Mund, um nicht vollends in Gelächter auszubrechen. Bane schnaubte, kam allerdings nicht dazu etwas zu erwidern.
„Bane? Lässt du dich schon wieder auf schlechtes Niveau herab?“
Eine weibliche Stimme ertönte einige Meter hinter dem kleinlichen Jungen und erhaschte somit die Aufmerksamkeit der drei. Hinter Bane kam ein Mädchen mit stahlenden blonden Locken zum Vorschein. Ihre braunen Augen blitzten.
„Na sieh mal einer an, du hast eine Freundin?“, schmunzelte Sin. Shira drückte Sins Hand, ihre Augen verengten sich.
Halt dich zurück, Sin! Irgenetwas stimmt mit diesem Mädchen nicht., dachte sie warnend.
„Noch sind wir nicht zusammen aber...vielleicht ändert sich das ja noch?“, erwiderte die Blondine grinsend.
„So, dein Freund und diese Shira sind nun also zusammen.“, sagte sie dann. Sin sah Bane an.
„Scheint, als hättest du ein bisschen mit deinem Mädchen geplaudert.“, stellte er fest.
Du hast recht., dachte er gleichzeitig, um mit Shira zu sprechen. Etwas stimmt nicht. Bane ist nicht der Typ, der solche Dinge weitererzählt.
„Schatz, wir kommen zu spät.“, mischte sich Shira ein und zog Sin von den beiden weg. Mit blitzenden Augen sah sie jedoch noch einmal zurück. Das Mädchen starrte sie an.
„Wahrscheinlich steckt der Rat dahinter. Sie wollen wohl irgendwie an uns heran kommen.“, murmelte Shira im Weggehen. Sin schwieg, weshalb das Mädchen ihn vorsichtig ansah.
„Wie viel bedeutet dir dieser Junge, Sin?“, fragte sie leise.
„Ich weiß nicht...Ich habe ihn zwar als Freund angesehen aber...ob das wirklich so war, kann ich nicht sagen. Es gibt eigentlich nichts, was uns miteinander verbindet.“
Shira drückte wieder seine Hand.
„Wenn wir ihn aus dem Weg schaffen, hat dieses Mädchen keine Informationsquelle mehr.“
„Was heißt bei dir, aus dem Weg schaffen?“, hakte Sin aufmerksam nach. Shira zog die Schultern hoch.
„Naja...Es gäbe mehrere Möglichkeiten aber nur sehr wenige, die wirklich sicher sind.“, hauchte sie und bog mit ihm in ein Klassenzimmer ein.
„Es bereitet dir keinerlei Probleme, andere aus dem Weg zu räumen, oder?“, flüsterte Sin.
„Nein.“, antwortete Shira kalt. Nach einigen Sekunden sah sie allerdings zu Sin auf.
„Nimm mir das bitte nicht übel.“, fügte sie hinzu.
„Würde ich nie tun.“, grinste der Junge und küsste sie kurz.
„Diese Kaltherzigkeit ist ein Anhängsel meiner Vergangenheit.“, flüsterte sie und ließ sich an einen Tisch in der hintersten Reihe nieder. Sin setzte sich neben sie.
„Das ist manchmal sicher vom Vorteil.“, erwiderte Sin leise. Das Mädchen wurde todernst und so sah sie ihn auch an.
„Von der Art und Weise einmal abgesehen, erlaubst du mir Bane aus dem Weg zu räumen?“, hauchte sie. Innerhalb weniger Sekunden war sie wieder zum Raubtier geworden. Sin glaubte jedoch, sich verhört zu haben.
„Du fragst ernsthaft um meine Erlaubis? Süße, du bist ein Raubtier, welches sich nichts sagen lässt.“
Sie stieß ihn an.
„Es handelt sich bei Bane um deinen Freund, deswegen frage ich nach deiner Erlaubnis.“, zischte sie.
„Dann hast du meine Erlaubnis.“, flüsterte er. Schweigend nahm Shira seine Antwort zur Kenntnis. Sin wusste nicht, ob seine Antwort die richtige Entscheidung gewesen war. Er würde es früher oder später herausfinden.
„Und, wie lief's?“
Das Mädchen mit den blonden Locken zeigte keine emotionale Regung.
„Sie sind zwar ein Paar aber das ist alles, was ich herausfinden konnte. Sie ist sehr misstrauisch, ich bezweifle das ich an sie herankomme.“
Ein tiefes Knurren ertönte.
„Verstehe. Dann werde ich mich wohl selbst darum kümmern müssen.“
„Verzeih mir, Herrin. Ich habe schlechte Arbeit geleistet.“
Das Knurren verschwand zwar, doch die angespannte Situation blieb.
„Mach dir keine Vorwürfe, Selene. Du hast es ja versucht.“, erklang es aus der Dunkelheit. Dann wusste Selene, dass Aminael nicht mehr da war.
„Mir scheint, als würden wir nicht voran kommen.“
Vorago war irgendwie schlecht gelaunt, wie Ragnar feststellen musste. Allerdings konnte er nicht sagen ob es an Fräulein Cygni lag oder an den Gefangenen, die vor ihnen in Ketten lagen. Aminael hatte sich nicht blicken lassen und genau deswegen hatte Vorago diesen Kommentar abgelassen.
„Halt gefälligst die Schnauze, Vorago!“, fauchte plötzlich jemand hinter ihnen. Ragnar drehte sich schlagartig um, Vorago sah lediglich leicht über ihre Schulter. Solch schroffe Worte überraschten ihn nicht.
„Ich sagte doch, ich kriege das hin!“, zischte Aminael.
„Und, was gibt’s Neues?“, fragte er spöttisch und zog eine Braue hoch.
„Stör mich gefälligst nicht!“, fauchte Aminael und steuerte auf die beiden zu. „Warum seid ihr hier unten?“, fragte sie nun gelassen und neugierig.
„Wir statten dem Löwen einen kleinen Besuch ab, was dagegen?“, meldete Ragnar sich zu Wort.
„Er lebt noch?“
Ragnar lächelte bei den Worten der Wölfin.
„Wir waren neugierig und wollten wissen, wie viel er aushält.“, erklärte er. Vorago meldete sich ebenfalls zu Wort.
„Wir wollten ihn noch ein wenig leiden lassen, ehe er abtritt.“, war seine Erklärung. Aminael war neugierig geworden und trat an die Zelle heran, in der der Löwe angekettet auf dem Boden lag, und zwar in seinem eigenen Blut. Jeder andere hätte sich bei seinem Anblick übergeben, doch Aminael grinste schadenfroh. Ja, sie war schon immer blutrünstig gewesen und das zeigte sie auch in diesem Moment. Ohne zu zögern betrat sie die Zelle. Amüsiert sah sie auf den schwer verwundeten Löwen herab. Gestaltwandler hatten keine Selbstheilungskräfte, weshalb der Mann noch immer verrenkt, mit offenen Brüchen und tiefen Fleischwunden vor ihr lag. Einige Teile seines Körpers waren völlig deformiert, einige Stellen sahen nicht mehr menschlich aus. Lachend hob die Frau das Bein, um dem Gestaltwandler die Hand zu zertrümmern. Doch der Mann war so geprägt von seinen Verletzungen, dass er nicht einmal mehr einen Schrei heraus bekam. Er litt stumm vor sich hin, niemand würde ihm helfen. Ob das grausam war? Ja, vielleicht. Aber dies war nun mal seine Strafe dafür, dass er sämtliche Gestaltwandler in Gefahr gebracht hatte.
„Na, tut das weh?“, kicherte die Frau als sie sah, dass der halbtote Löwe die Augen aufriss.
„Fahr zur Hölle, du Bastard!“, fauchte sie dann und jagte ihm zum Abschied noch den Pfennigabsatz ihres High Heels in den Magen. Er keuchte.
„So freundlich und liebenswert wie immer.“, murmelte Ragnar, als Aminael aus der Zelle herauskam.
„Hast du was gesagt?“, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln, worauf Ragnar den Kopf schüttelte.
„Wollt ihr ihn ausbluten lassen oder zu Tode foltern?“, wandte sie sich dann an Vorago.
„Ich weiß noch nicht.“
Er sah in die Zelle und lächelte schwach.
„Das kommt ganz drauf an...wie ich gelaunt bin.“
20
Müde lief er die steinigen Stufen hinauf. Er hätte schon längst Zuhause sein sollen, doch seine Eltern waren ihm egal. Spätestens fünf Minuten nachdem sie ihn angeschrien hätten, würde er eh wieder abhauen. Also was spielte es für eine Rolle, wann er Zuhause ankam? Er seufzte. Selene war verdammt neugierig gewesen, doch er machte sich keine weiteren Gedanken darüber, schließlich hatte er sie schon so kennengelernt. Doch...Sie schien eifersüchtig gewesen zu sein, und zwar auf Shira und Sin! Er biss sich auf die Lippe. Er gab ja zu das Shira verdammt hübsch war und Sin ebenfalls gut aussah. Aber gemeinsam waren die beiden mehr als nur eine grausame Kombination. Außerdem war ihm nicht klar, was noch interessant an ihnen sein sollte. Er schnaubte. Warum war er eigentlich mit Sin befreundet? Dieser Typ sprach kaum, ging auch nie mit ihm feiern aber...Weiber bekam er trotzdem zu Genüge! Ein leises Fauchen riss ihn aus den Gedanken. Er sah sich um, konnte jedoch kein Tier entdecken von dem dieses Fauchen hätte stammen können. Wieder ein Fauchen, dieses Mal lauter. Langsam drehte er sich um. Goldene Augen blitzten in der Dunkelheit auf.
„Bane.“, schnurrte Shira und trat auf den Jungen zu. Ein Schauer überlief ihn. Sie war definitiv nicht freundlich gestimmt.
„Shira?“, fragte er verwirrt.
„Na, wie heißt deine kleine Freundin?“
Die Leopardin kam gleich zur Sache. Sie durfte keine Zeit verlieren, vielleicht plante der Rat ja schon den nächsten Angriff?
„Warum willst du das wissen?“, fragte Bane misstrauisch und kniff die Augen zusammen.
„Entweder du beantwortest die Frage oder...“
Sie trat dicht an ihn heran und fasste sein Kinn.
„Oder wir beide kriegen ein echtes Problem miteinander.“
Sehr zu ihrem Bedauern ließ er sich keine Angst einjagen. Er stieß sie einfach zurück und kehrte ihr den Rücken zu. Gut drei Sekunden später sprang ihm eine Raubkatze vor die Füße und diese stieß ein Brüllen aus.
„I-Ihr Name ist S-Selene.“, keuchte Bane, im Glaube Shira stand noch hinter ihm. Doch als er sich hastig umsah konnte er niemanden entdecken. Der schwarze Panther vor ihm bleckte die Zähne. Moment mal! War das nicht der Panther aus dem Wald? Genau genommen war ihm das egal. Es schien nämlich, als wolle dieses Tier ihn angreifen. Es trat einen Schritt auf ihnen zu.
„I-Ich habe sie in einer Bar kennengelernt. S-Sie ist sehr neugierig u-und wollte etwas über Shira Cygni und Sin Accel erfahren. I-Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht.“, stotterte Bane und stolperte einige Schritte zurück. Er wollte sich aus dem Staub machen, doch als er dem Tier den Rücken zukehrte, stand plötzlich wieder Shira vor ihm.
„Wohin des Weges? Du kommst mit mir, Bane!“, grinste sie und funkelte ihn amüsiert an.
„Was willst du von mir?“, fauchte der Junge und wich wieder einen Schritt zurück.
„Das wirst du schon noch früh genug erfahren.“, murmelte Shira, packte den Jungen und schlug ihn bewusstlos. Schlecht gelaunt und leise fluchend schmiss sie sich Bane über die Schulter.
Sin seufzte und sah aus dem Fenster. Shira war noch nicht lange weg, doch ohne sie war es verdammt ruhig. Und langweilig! Ja, er liebte sie. Er hatte es sich eingestanden, doch ihr gerade heraus zu sagen „Ich liebe dich“ wäre wohl zu viel für sie. Damit würde sie höchstwahrscheinlich nicht umgehen können,. Doch das machte nichts. Er wusste, dass sie Gefühle für ihn hatte und sie wusste, das auch er Gefühle für sie hatte. Sie waren zusammen, alles andere war unwichtig. Sin sah sich im Raum um. Warum hatte er das Gefühl beobachtet zu werden?
„Suchst du jemanden?“
Er drehte sich um und entdeckte auf dem Sofa Aminael, die ein langes, wallendes Kleid trug. Es war weiß und leicht durchsichtig womit offenbart wurde, dass sie nichts drunter trug. Sins Augen verengten sich. Was hatte diese Frau hier zu suchen? Aminael kicherte und erhob sich.
„Da du bisher immer nur mit Jaz und Keyra zutun gehabt hast dachte ich, ich bringe mal ein wenig Abwechslung in dein Leben.“
Nach einigen Augenblicken stand sie schließlich grinsend vor ihm.
„Die beiden sind ziemlich fasziniert von dir, deswegen wollte ich dich auch ein wenig besser kennenlernen.“, kicherte sie und legte ihm die Hände auf die Brust. Sin blieb misstrauisch. Was plante diese Frau?
„Und ich muss sagen...Gut aussehen tust du jedenfalls.“, hauchte Aminael dann. Sin hätte beinahe geschmunzelt. Shira hätte ihn nun sicher weggezerrt, wäre sie denn hier gewesen.
„Ich sollte mich wohl für dieses Kompliment bedanken.“, murmelte er. Es schien, als käme sie ihm immer näher, wobei sie sich schon an ihn lehnte.
„Mir ist da was zu Ohren gekommen, Sin und ich würde gerne wissen, ob das stimmt!“
Diese Worte gefielen ihm ganz und gar nicht, doch er kam nicht dazu etwas zu sagen, denn Aminael presste ihre Lippen auf seine. Er wollte sich zurückziehen, doch sie ließ ihn nicht. Naja, gut küssen konnte sie, wie er feststellen musste, doch was sollte das? Gerade in diesem Moment öffnete sich die Tür und Shira betrat den Raum.
Shira zog die Brauen hoch. Diesen Anblick musste sie ernst einmal verarbeiten. Spöttisch grinsend ließ Aminael von Sin ab.
„Respekt, Shira. Dein Freund ist ein wirklich guter Küsser!“
Ein tiefes Knurren stieg in Shiras Kehle auf. Was sollte sie davon halten?
„Na na, darüber brauchst du dich doch nicht aufzuregen. Freu dich doch darüber!“, lächelte Aminael. Shira zögerte keine Sekunde. Sie verwandelte sich und machte einen Satz auf Aminael zu, der sie dann die Zähne in den Arm grub. Die Wölfin schrie auf und versuchte verzweifelt sich den Kiefern des Panthers zu entziehen, vergeblich. Durch diesen Versuch riss sie sich, durch Shiras Reißzähne, nämlich den gesamten Unterarm auf. Es dauerte nicht lange, da schimmerten an einigen Stellen auch schon die Knochen durch. Mit einem Brüllen verwandelte Aminael sich in ihre Wolfsgestalt, doch das half ihr auch nicht weiter...Shira ließ nicht locker. Nach ein paar Minuten Gerangel ertönte plötzlich ein leises Knacken. Shira biss fester zu, dann war der lange Knochen im Bein der Wölfin durchtrennt. Ein Schauer überlief Sin, der regungslos am Rande stand. Diesen Anblick würde er wohl nie wieder in seinem Leben vergessen! Die Leopardin schnaubte. Von nun an würde diese Frau mit nur einem Arm leben müssen. Sie wusste selbst, dass sie zu weit gegangen war weshalb sie sich zurück verwandelte.
„Raus hier. Sonst kann ich für nichts garantieren!“, flüsterte sie mit hasserfülltem Blick und beobachtete, wie die Wölfin ohne zu zögern mit drei Beinen aus dem Anwesen floh.
„Shira.“, hauchte Sin und legte seinem Mädchen die Hand auf die Schulter. Nun hatte er einen Grund besorgt zu sein. Mit blutverschmiertem Mund stand sie vor ihm. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts, lediglich ihre goldenen Augen verrieten, wie viel Hass sie in diesem Moment empfand.
„Was sollte das?“, flüsterte sie, ohne Sin anzusehen. Dieser ergriff ihr Kinn, damit sich das änderte.
„Ich weiß es selbst nicht. Sie stand auf einmal vor mir und...hat mich geküsst!“, murmelte er und sah ihr mit aufrichtigem Blick in die Augen.
„Das kam nicht von mir aus, Shira! Glaub mir, ich wollte das nicht aber sie hat nicht zugelassen, dass ich sie wegschiebe.“
Shira wollte das alles gar nicht hören. Sie wusste doch das ihn keine Schuld traf! Sin war verwirrt, denn auf einmal schmiss sie sich ihm in die Arme und schmiegte sich an ihn. Dabei verdrückte sie sogar ein paar Tränen.
„Du verstehst das nicht, Sin.“, flüsterte sie und sah zu ihm auf. „Wir müssen sofort weg von hier! Wenn jemand aus dem Rat verletzt wird setzen sie alles daran die Person, die das getan hat unschädlich zu machen. Sie werden ab sofort hinter mir her sein!“
Schlagartig packte Sin sie und zog sie mit, raus aus dem Anwesen. Für Sachen packen blieb nun keine Zeit mehr.
„Aber ich dachte, man kann sich nicht vor ihnen verstecken?“, sagte er und sah über seine Schulter zu ihr zurück.
„Kann man auch nicht.“, kam es von ihr zurück. „Ab sofort werden wir immer auf der Flucht sein.“
Sin schluckte. Natürlich gefiel ihm das nicht, doch es würde sich schon eine Möglichkeit finden. Hoffte er zumindest.
„Vielleicht sollten wir uns dem Rat einfach stellen? Bei ihnen auftauchen und ihnen drohen, damit sie uns in Ruhe lassen?“, schlug Sin vor. Shira schüttelte jedoch sofort den Kopf.
„Sie werden mich sofort töten, Süßer.“
„Nicht, wenn es sich nicht irgendwie verhindern lässt.“, waren Sins letzte Worte, ehe sie in den Wald hineinrannten.
Im Unterschlupf des Rates angekommen, stieß Aminael ein lautes Jaulen aus, um somit auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte nicht lange, da befanden sich sämtliche Mitglieder im Saal. Und was sie sahen ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Aminael kauerte, im Wolfsgestalt auf dem Bode. Statt vier Pfoten entdeckten sie aber nur drei. Ihr Fell war blutverschmiert, langsam aber sicher bildete sich eine Lache aus dieser dickflüssigen und klebrigen Substanz um sie herum aus. Es würde nicht mehr lange dauern und der enorme Blutverlust würde sich bemerkbar machen. Keyra schluckte. Sie wollte gar nicht wissen, wie diese Verletzung in ihrer menschlichen Gestalt aussah.
„Wir müssen ihr helfen!“, keuchte sie stockend. Das musste sie nicht zweimal sagen. Gut eine halbe Stunde später lag Aminael schlafend in ihrem Bett. Wer wusste schon, wie lange sie brauchen würde um wieder zu Kräften zu kommen? Nun saßen alle anderen im Saal.
„Wer glaubt ihr, ist dafür verantwortlich?“, rief Vorago in die Runde. Angespanntes Schweigen.
„Vielleicht hat sie wieder einen ihrer Kämpfe ausgetragen?“, schlug Jaz vor, doch er wusste, das dies unwahrscheinlich war. Nie wäre eines ihrer Opfer stark genug gewesen, Aminael ernsthaft zu schädigen. Vorago funkelte ihn wütend an.
„Glaubst du das wirklich, Jaz?“, brummte er.
„Bei Aminael weiß man nie.“, sagte Jaz schulterzuckend. „Aber um ehrlich zu sein, vermute ich etwas anderes.“
Vorago anzulügen hätte nichts gebracht...
„Vielleicht sollten wir Shira töten?“, schlug Ragnar vor. Nun brachte er Namen ins Spiel. Es war sowieso klar, dass sie dahinter steckte.
„Ein Ratsmitglied anzugreifen ist schon verboten, es dann aber auch noch schwer zu verletzen!“
Keyra mischte sich nervös ein.
„Sie wird Aminael nicht ohne Grund angregriffen haben. Wir sollten abwarten bis unsere Prinzessin aufgewacht ist und uns alles erklärt hat. Ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, dass Aminael es mal wieder übertrieben hat!“
Ragnar und Vorago tauschten einen Blick aus. Shira durfte auf keinen Fall damit durchkommen und genau das war ihr Ziel!
„Ganz egal wessen Schuld es war, ein Ratsmitglied anzugreifen ist und bleibt ein Verbrechen!“, sprach Ragnar ungewöhnlich ruhig. Vorago wusste ganz genaz was Ragnar vorhatte, doch er musste nachgeben. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Wenn er sich jetzt auf Ragnars Seite stellen würde, wäre alles vergebens.
„Wir werden abwarten. Nachdem Aminael uns alles erzählt hat, werden wir uns Shira vornehmen. Aber ihne Aminael!“
21
„Vielleicht wollen sie dich gar nicht töten? Sie wissen ja nicht einmal was passiert ist.“, versuchte Sin sie zu beruhigen. Shira atmete tief durch und drehte sich dann nach ihm um.
„Sin! Ein Ratsmitglied zu verletzen ist ein Schwerverbrechen! Völlig egal was ich ihnen erzähle, Aminael wird es ins falsche Licht rücken und so tun, als hätte ich keinen Grund gehabt sie anzugreifen.“
Der Junge ergriff wieder ihre Hand.
„Dann werde ich ihnen eben sagen, was wirklich passiert ist. Mach dir keine Gedanken, hörst du?“
Shira murmelte wütend etwas vor sich hin vom dem sie dachte, er hört es nicht, doch sie hatte sich geirrt. Sein Gehör war nun so empfindlich wie das einer Katze, dementsprechend konnte er also auch hören.
„Mir keine Gedanken machen?“, knurrte sie. „Ist der bescheuert? Mein Leben steht auf dem Spiel und er sagt, ich soll mir keine Gedanken machen? Ich glaube es hakt!“
Sin lächelte verständnisvoll, sagte aber nichts. Er hatte es schließlich geschafft sie zu überreden, sich auf den Weg zum Rat zu machen, um dort dann alles zu klären. Jetzt zu flüchten hätte nur den Eindruck gemacht, sie wäre tatsächlich schuldig und würde sich deshalb aus dem Staub machen. Allerdings musste er zugeben, dass auch er Zweifel hatte. Sin hatte begriffen, wie gefährlich diese Gestaltwandler wirklich waren!
„Sin?“, flüsterte Shira plötzlich. Der Junge sah auf.
„Ich habe Angst.“, gab sie flüsternd zu, worauf Sin ihre Hand kurz drückte.
„Wenn sie dich wirklich töten wollen fliehen wir, in Ordnung, Süße?“
Sie nickte. Angst stand ihr in den Augen geschrieben, doch zum umkehren war es jetzt zu spät. Sie standen schon vorm Sitz des Rates.
Als Aminael aufwacht war, hätte sie am liebsten jemanden gefoltert! Dieses Kind hatte es tatsächlich gewagt, ihr den Arm...
Sie konnte nicht zu Ende denken, sie musste einen Blick auf ihren Arm werfen. Oder besser gesagt, auf den Stummel. Sie stand kurz davor in Tränen auszubrechen. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihr solch eine schwerwiegende Verletzung zuzufügen. Dafür würde dieses Kind bezahlen, soviel war sicher! Ein leises Klopfen machte sich an ihrer Zimmertür bemerkbar. Man hatte also gemerkt, dass sie aufgewacht war. Wurde sie überwacht?
„Aminael?“, ertönte es von draußen. Klang nach... Die Tür ging auf und Jaz kam zum Vorschein.
„Du bist also aufgwacht.“, stellte der Mann fest und kam auf sie zu.
„Findet Shira und tötet sie!“, schrie Aminael ohne jegliche Vorwarnung drauf los und sprang auf. Schwindel überkam sie, doch den ignorierte sie gekonnt. Jaz zog die Brauen hoch, hinter ihm kam Vorago zum Vorschein.
„Aminael, was ist passiert?“, fragte Letzterer. Aminael brüllte weiter.
„Dieses Miststück hat mich ohne Grund angegriffen und mir den Arm abgerissen! Sie hat herumgebrüllt das wir aufhören sollen, sie auszuspionieren. Völlig verrückt dieses Weib!“
Jaz' Augen verengten sich. Er wusste ganz genau, dass Shira niemals jemanden ohne Grund angreifen würde, weshalb er Aminael keinen Glauben schenkte. Außerdem war Shira hier aufgetaucht und hatte erklärt, was vorgefallen war. Und das schon vor einigen Stunden! Jaz glaubte dem Mädchen, allerdings war er sich ziemlich sicher, dass Vorago sich auf Aminaels Seite schlagen würde, ebenso wie Ragnar.
„Komisch. Shira hat uns nämlich etwas ganz anderes erzählt.“, sagte er deshalb. Aminael machte wütend einen Satz.
„Was? Dieses Miststück ist hier? Die mache ich fertig!“
Die beiden Männer tauschten einen Blick aus. Na, das sah ja vielversprechend aus. Jaz drängte die Frau zurück.
„Du brauchst nicht gleich auf sie loszugehen. Reicht, dass sie das mit dir gemacht hat.“
Dennoch, dass die beiden gleich aufeinander trafen würde sich nicht verhindern lassen. Shira stand nämlich noch immer im Saal, und zwar zusammen mit Sin.
„Aminael, du wirst mitkommen. Jetzt.“, meldete sich Vorago zu Wort, ehe Aminael es tun konnte. Die Frau schnaubte und sprintete zum Kleiderschrank, um sich in Windeseile umzuziehen.
„Bringen wir's hinter uns, damit ich mich in Ruhe ausruhen kann.“, murmelte sie wütend und verließ zusammen mit den beiden Männern das Zimmer. Zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Saal, in dem schon so manch anderer ungeduldig wartete.
Shira musste an sich halten, um nicht loszubrüllen und zu fauchen. Aminael starrte sie wütend an, zeigte jedoch kurz zuckende Mundwinkel. Beim Anblick ihres Armstummels hätte sie jedoch beinahe zufrieden gelächelt. Sie hatte gute Arbeit geleistet. Alle Blicke lagen nun auf der Wölfin, die leise knurrte.
„Seid ihr blind? Sie hat mir den Arm abgerissen!“, fauchte sie dann laut, weil keiner etwas sagen wollte. Shira kam es so vor, als würde diese Frau nach Aufmerksamkeit lechzen.„Nicht ohne Grund.“, murmelte Sin, der Shiras Hand hielt und darauf achtete, dass sie nicht wieder zum Angriff übergehen würde. Bisher war sie erfolgreich ruhig geblieben.
„Du wusstest ganz genaz, dass ich eifersüchtig werden würde, Aminael.“, sagte Shira leise. Sie war vor Wut ganz heiser, jeder hier bemerkte es. Aminael grinste hinterhältig und Shira bereute es, nicht ihr Gesicht entstellt zu haben anstatt ihren Arm. Das wäre Aminael weitaus näher gegangen, schließlich fand sie sich selbst unglaublich hübsch.
„Eifersüchtig? Woher hätte ich denn wissen sollen, dass du Gefühle für diesen Knaben hast?“, sagte Aminael laut. Die Leopardin bemühte sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte schon genug Schaden angerichtet.
„Du weißt doch schon längst, dass Sin und ich zusammen sind, Aminael. Ihr alle wisst es, dank Jaz und Keyra!“
Zum Ende hin wurde Shira dann doch lauter. Ihre Worte hallten von den hohen Wänden wider. Keyra sprang auf.
„Was soll das? Jaz und ich haben niemandem etwas gesagt, oder Jaz?“
Die Frau sah zum Adler, dieser nickte.
„Keyra hat recht, Shira.“
Kräftig schüttelte die Pantherin den Kopf.
„Und woher wissen es dann die anderen? Sie müssen gehört haben wie ihr über uns gesprochen habt! Es wäre niemals soweit gekommen, wenn ihr uns in Ruhe gelassen hättet!“
Sin presste Shira seine Hand auf ihren Mund, denn nun schrie sie schon. Sie würde es sicher noch bereuen, so frech gewesen zu sein. Wobei er ihre Reaktion nachvollziehen konnte. Aminael war mehr als nur hinterlistig. Keyra sah geschockt zu den Männern in der Runde.
„Ihr habt uns belauscht?“, fauchte sie entsetzt. Vorago fletschte die Zähne.
„Was fällt euch eigentlich ein, uns solche Sachen zu verheimlichen?“, knurrte er. Keyra zog die Schultern ein. Nun hatte sie ein Problem! Shira zog Sins Hand von ihrem Mund.
„Ich wollte, dass sie mich in Ruhe lassen, nachdem ich ihnen das gesagt habe, habe ich sie nicht mehr gesehen. Danach ist allerdings Aminael aufgetaucht. Was spielt es überhaupt für eine Rolle, ob Sin und ich zusammen sind?“, sagte sie. Sie war ein wenig ruhiger geworden, was man auch bemerkte. Jaz mischte sich ein.
„Sie hat recht. Völlig egal ob wir es wussten oder incht, was spielt es denn für eine Rolle?“
Einige der Gestaltwandler knurrten. Auch Vorago und Ragnar. Letzterer sprang wutentbrannt auf.
„Könnten wir nun zum Thema zurückkommen? Aminael muss sich ausruhen.“
Jaz seufzte, doch plötzlich meldete sich Gaspar, ein Jaguar zu Wort.
„Shira, du hast Aminael also aus Eifersucht angegriffen?“, sprach er monoton. Vorago biss die Zähne zusammen. Gaspar war unparteiisch, das könnte zum Problem werden... Shira nickte und senkte den Blick.
„Ja, Aminael hat ihn geküsst, da bin ich einfach ausgerastet...“
Gaspar sah zu Aminael.
„Ich nehme an du wusstest, dass die beiden zusammen sind und hast Sin deshalb geküsst? Um Shira eifersüchtig zu machen?“
Aminael verzog das Gesicht. Nie und nimmer würde sie das zugeben! Vorago und Ragnar wussten es allerdings.
„Aminael!“, zischte Gaspar nun in drohendem Tonfall. Die Frau zog die Schultern ein.
„Ja.“, wisperte sie schließlich. Shira stieß ein tiefes Knurren aus. Gaspar blieb kalt.
„Nun gut, dann wäre das ja geklärt.“
Sein Blick richtete sich auf Shira.
„Du hättest ihr jedoch nicht gleich den Arm abreißen müssen.“
Shira nickte leicht.
„Ich weiß. Aber in diesem Moment hat einfach mein Verstand ausgesetzt. Es tut mir leid und ich bereue es. Ich muss lernen, mich unter Kontrolle zu halten. Und ich weiß, dass meine Entschuldigungen Aminaels Arm auch nicht zurückbringen werden...“
Sin strich über ihren Arm. Er wusste wie schwer es ihr gefallen war, sich zu entschuldigen, deshalb war er stolz auf sie. Gaspar lächelte, jedoch äußerst schwach.
„Du scheinst es ernst zu meinen, sonst wärst du nämlich vorlaut und frech.“
Shira blieb ernst und ließ sich nicht anmerken wie egal es ihr war, dass Aminael einen Arm verloren hatte.
„Natürlich meine ich es ernst! Glaubt ihr etwa ich wüsste nicht, dass mein Verhalten euch gegenüber unangemessen ist?“
Sie blieb sachlich, auch wenn sie am liebsten lauter geworden wäre. Sie hing an ihrem leben und würde es nicht einfach so wegschmeißen!
„Tja, und was machen wir nun mit dir?“, murmelte Ragnar und musterte sie eingehend. Shira wusste nicht wirklich, was sie von seinem Tonfall halten sollte. Es klang nach...nichts!
„Ganz einfach, wir nehmen ihr den Arm!“, fauchte Aminael. Alle anderen wussten, dass sie das Mädchen am liebsten getötet hätte, dich allen war klar, dass die Todesstrafe ein zu hartes Urteil war. Gaspar schüttelte den Kopf.
„Nein, sie empfindet Reue, deswegen sollten wir genau überlegen, wie hart ihre Strafe wirklich ausfallen sollte.“, sprach er geduldig. Für lange Zeit herrschte eisiges Schweigen im Saal. Jaz wedelte schwach mit der Hand.
„Wir rufen euch, wenn wir ein Urteil gefällt haben.“, sprach er an Shira und Sin gewandt. Unsicher nickten die beiden, dann verließen sie den Saal.
„Meiner Meinung nach läuft es ziemlich gut.“, gab Sin seine Gedanken preis und lächelte Shira aufmunternd zu. Diese verzog jedoch die gesamte halbe Stunde, in der sie nun hier standen das Gesicht.
„Ich weiß nicht. Wer weiß, was für eine Strafe sie sich ausdenken werden.“
Der Junge drückte, wie so oft ihre Hand.
„Jetzt hör endlich auf dir Gedanken zu machen!“
Fauchend entriss Shira ihm ihre Hand. Genau in diesem Augenblick erschien Keyra in der Tür, um die beiden in den Saal zu rufen.
„Verdammt.“, murmelte sie leise, worauf die beiden einen Blick austauschten. Sie folgten. Im Saal angekommen werden sie von unzähligen Augenpaaren angestarrt.
„Mir scheint, als hättet ihr eine Lösung gefunden.“, murmelte Shira aufmerksam. Jaz zeigte ein schwaches Lächeln.
„Ja. Genau genommen hast du aber nichts zu befürchten. Naja, fast nichts.“, erwiderte er ruhig. Gaspar erhob sich von seinem Platz und wies mit der Hand auf einen Tisch, der im Saal stand. Das Leopardenmädchen folgte der Aufforderung und trat an den Tisch heran.
„Leg deine Hand auf den Tisch, Shira Cygni.“, befahl er nun. Sie tat es, ohne zu zögern. Sin beobachtete misstrauisch und voller Sorge das Geschehen. Er fragte sich angespannt, was sie nun vorhatten. Shira schien auf jeden Fall nicht beunruhigt zu sein. Vielleicht ahnte sie ja etwas? Sin ging zu ihr und nahm ihre andere Hand um ihr zu zeigen, dass sie bei ihr war und sie sich keine Sorgen um das machen musste, was kommen würde. Sie sah ihn zwar nicht an, doch sie drückte seine Hand.
„Spreize deine Finger, Shira.“, befahl Gaspar mit rauer Stimme. Sie streckte die Finger auseinander. In Gaspars Hand blitzte etwas metallenes auf. Sin sah es. Ein Messer? Ein Dolch? Er hätte am liebsten die Augen geschlossen, doch er konnte nicht. All das kam ihm so unglaublich fremd vor. Shira jedoch war noch immer die Ruhe selbst. Sie schien keinerlei Angst zu haben, wie Sin feststellen musste. Noch bevor Sin seinen nächsten Gedankengang beenden konnte, zuckte Shiras Körper neben ihm zusammen. Sein Blick fiel auf ihre Hand und das erste was er sah, waren Unmengen von Blut. Da wo eigentlich Shiras Ringfinger sein müsste, steckte nun ein schmales Messer in der Tischplatte. Shiras Finger einige Zentimeter Abseits. Erstaunlicherweise hatte das Mädchen keinen Ton von sich gegeben und noch immer war anhand ihres Gesichtsausdruckes nichts zu erkennen. Bis auf Sin hatten damit schon alle gerechnet. Gaspar entfernte sich von den beiden, doch an dessen Stelle trat nun Keyra, die Shiras neue Wunde versorgen wollte.
„Alles okay?“, flüsterte sie leise. Shira nickte und zeigte ein schwaches Lächeln. Rasch kümmerte Keyra sich um die Wunde, dann entfernte auch sie sich von den beiden. Vorago starrte das Mädchen finster an.
„Ihr könnt gehen. Aber lasst euch gesagt sein, noch so ein Fehltritt und ihr werdet nicht so glimpflich davon kommen!“
Shira nickte, dann zog sie Sin mit. Wenigstens hatte sie das nun hinter sich. Doch sie war sich sicher, dass noch mehr Ärger auf sie zukommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit...
22
Sin traute sich nicht etwas zu sagen. Was hätte er auch sagen sollen? Shira grinste in sich hinein. Scheinbar war ihm der Anblick ihres abgetrennten Fingers nicht bekommen.
„Warum so ruhig?“, schmunzelte sie. Ein wenig verblüfft starrte der Junge sie an.
„Macht es dir nichts aus, einen Finger verloren zu haben?“, fragte er leise. Liebevoll lächelte sie ihn an.
„Es ist nur ein Finger, Sin! Ich gebe zu, es war nicht sonderlich angenehm aber ich kann mich wirklich glücklich schätzen, nur solch eine kleine Strafe auferlegt bekommen zu haben!“
Sin schluckte, doch wenn sie das sagte würde es auch so sein. Wieder fiel sein Blick auf ihre Hand.
„Das soll also noch harmlos sein?“, murmelte er. Sie kicherte wieder.
„Sag mal, was ist denn los mit dir? Ich habe Aminael den Arm abgerissen, da hast du auch nichts gesagt.“
Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Bei Aminael hat es mir nichts ausgemacht. Bei dir stört es mich!“
Shira kicherte und beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.
„Du bist süß!“, hauchte sie. Von da an schwiegen sie wieder.
Bane keuchte. Er hatte damit gerechnet, dass dieses verrückte Weib ihn umbringen würde, doch o Wunder, er lebte noch. Allerdings wäre ihm der Tod in diesem Moment lieber gewesen, denn die Schmerzen die er hatte waren unerträglich! Gefoltert hatte sie ihn, solange bis er geschworen hatte, nie wieder auch nur ein Wort zu sagen! Natürlich hatte er es geschworen, denn das war seine einzige Möglichkeit gewesen, um am leben zu bleiben. Bane kam in einer großen Halle an. War das eine Eingangshalle? Er sah sich um und entdeckte mehrere große Türen und eine riesige Treppe, die ins Obergeschoss führte. Scheinbar hatte sie ihn im Keller untergebracht...
Gerade in diesem Moment öffnete sich die große Eingangstür. Zum Vorschein kamen Shira und Sin, die leise lachten. Shira bemerkte ihn als erstes. Dann starrte auch Sin ihn an.
„Shira? Du hast ihn ernsthaft hier im Anwesen untergebracht?“, murmelte er fassungslos. Bane verzog das Gesicht. Kein Wort zu seinen Verletzungen? Shira sah ihren Freund kalt an.
„Hätte ich ihn mit diesen Verletzungen etwa in der Gasse liegen lassen sollen? Dann hätten sie mir aber mehr als nur einen Finger genommen!“
Sin neigte den Kopf.
„Hm, stimmt wohl. Aber ich dachte, du wolltest ihn umbringen?“
Shira zuckte mit den Schultern.
„Er hat geschworen nie wieder ein Wort zu sagen. Das ist, denke ich einfacher, als seinen Tod zu vertuschen.“
Sin hielt sich die Hand vor den Mund, um leise zu lachen.
„Im ernst? Er spricht nicht mehr? So etwas musste ja von dir kommen.“
Bane brummte leise, womit er die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte.
„Und was machen wir jetzt mit ihm?“, hakte Sin nach. Wieder ein Schulterzucken von dem Mädchen.
„Entscheide du. Er ist dein Freund.“
Sin seufzte. Er hatte keine Ahnung wa er nun tun sollte. Mit diesen Verletzungen konnte er Bane unmöglich in die Öffentlichkeit entlassen. Doch so wie der Junge aussah, würde er wahrscheinlich nie wieder vollkommen genesen. Doch welche Möglichkeiten blieben dann noch? Könnte er seinen Freund einfach so töten? Vielleicht war dies die einfachste Lösung, doch war es auch die richtige?
„Meinetwegen tötet mich. Es gibt sowieso nichts, was mich noch hält.“, krächzte Bane plötzlich. Die beiden tauschten einen Blick aus.
„Bane, was redest du da?“, fragte Sin verwirrt. Bane lächelte schwach.
„Wir waren zwar Freunde, Sin, aber du wusstest nichts über mich und ich wusste auch nichts über dich. Vielleicht waren wir ja deshalb befreundet?“, murmelte er.
„Da hast du wohl recht.“, erwiderte Sin.
„Entschuldigt, wenn ich mich einmische. Aber ich glaube, ich habe dich falsch eingeschätzt, Bane. Bist du dir wirklich sicher? Was ist denn mit deinen Eltern?“, meldete sich Shira zu Wort. Bane machte eine kurze Geste mit der Hand, das war alles was er hinbekam.
„Meine Eltern scheinen nicht einmal mehr zu wissen, dass ich existiere, mach dir um die also keine Gedanken!“
Shira schwieg.
„Na gut, wenn du es so willst.“, murmelte Sin und wechselte wieder einen Blick mit Shira.
„Würdest du...“
Doch er konnte seinen Satz nicht zu Ende formulieren, denn Shira hob bereits abwehrend die Hände, um ihn zu unterbrechen.
„Vergiss es, Sin! Mir macht so etwas nichts mehr aus, dir schon. Das muss sich ändern! Ich überlasse es dir. Wenn du mich suchst, ich bin im Bad.“
Ein wenig überfordert sah Sin ihr nach. Jetzt hatte sie ihn tatsächlich mit Bane alleine gelassen, damit er ihn töten konnte! Sin sah zu dem Jungen.
„Tut mir leid, dass es so kommen musste.“, murmelte er. Bane zuckte mit den Schultern.
„Du kannst ja nichts dafür. Im Übrigen freut es mich, dass du und Shira nun zusammen seid.Wenn ich bedenke wie zimperlich du am Anfang warst...“
„Danke.“, sagte Sin leise. „Aber ich muss gestehen, dass wir am Anfang ziemliche Probleme hatten. Was Gefühle angeht hat Shira so ihre Probleme.“
Bane lachte, was aufgrund seiner Verletzungen gar nicht mal so einfach war.
„Das habe ich gemerkt. Aber ich glaube, ihr passt ganz gut zusammen.“
Sins Gesichtsausdruck veränderte sich.
„Genug über mich geredet. Was ist mit dir? Hast du nur so viel und gerne geredet und gefeiert, weil du sonst alleine warst und niemanden hattest?“
Der Junge nickte.
„Ja. Es hat sich nie jemand für mich interessiert, deswegen habe ich mich auch so aufgeregt, als du nur noch auf Shira geachtet hast. Tut mir leid, falls ich mich dumm verhalten haben sollte.“
„Schon okay.“, sagte Sin.
„Tja, dann wäre ja alles geklärt.“, sagte Bane dann. Er hustete und hielt sich deshalb die Hand vor den Mund, doch nach einigen Sekunden fiel ihm auf, dass seine Hand voller Blut war.
„Sin.“, ertönte es vom oberen Ende der Treppe. Shira stand dort und warf ihm plötzlich etwas zu. Verwirrt fing er es auf. Er musste feststellen, dass es eine 357er Magnum war.
„Erweise ihm die Ehre und bereite ihm ein schnelles und schmerzloses Ende.“, ertönte ihre Stimme kalt und gnadenlos. Noch bevor er etwas sagen konnte, war sie wieder verschwunden.
„Na los, bringen wir es endlich hinter uns.“, murmelte Bane und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sin starrte auf die Waffe in seiner Hand. Bane lachte leise und schwach.
„Diese Frau hat mehr Mumm als du, Sin! Sie würde mich ohne zu zögern abknallen und du zögerst selbst jetzt noch, mit einer Waffe in der Hand.“
Sin verzog das Gesicht. Er machte sich ernsthaft selbst jetzt noch darüber lustig? Er machte einen Schritt auf Bane zu und reichte diesem dann die Hand.
„Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Bane. Wirklich!“, sagte er.
Bane erwiderte den Händedruck.
„Gleichfalls, Sin. Gleichfalls.“
Vorago stieß ein tiefes Brummen aus.
„Würdest du bitte endlich aufhören zu heulen?“
Aminael fauchte ihn an, ihre Tränen waren noch immer nicht versiegt.
„Warum habt ihr nicht auf eine härtere Strafe bestanden? Ich habe nur noch einen Arm, verdammt!“, brüllte sie und schlug mit der Faust auf ihre Matraze. Ragnar seufzte.
„Gott, jetzt beruhige dich doch. Es gibt sicher auch noch andere Möglichkeiten die beiden aus dem Weg zu schaffen.“, sagte er tonlos. Vorago verschwand unbemerkt aus dem Zimmer. Wenn es denn nur so einfach wäre...Shira war keinesfalls dumm. Es würde dauern bis sich eine neue Möglichkeit fand. Vorago machte sich auf den Weg in die alten Katakomben. Vielleicht würde Darian ja helfen können?
23
„Sin, wach auf! Es ist schon spät.“
Sin spürte wie sich etwas warmes und weiches auf seine Lippen drückte. Doch er wollte nicht aufstehen. Er war erschöpft von der Jagd in der Nacht. Und er hatte einen Alptraum, dank des Schusses der Bane getötet hatte.
„Jetzt steh schon auf, mein Süßer. Wir müssen zur Schule.“, hauchte Shira ihm ins Ohr und strich ihm über die Wange.
„Heute nicht.“, murmelte Sin und zog an ihrem Handgelenk, um sie zu sich ins Bett zu ziehen.
Sie stieß einen Laut der Überraschung aus und landete schließlich auf seinem Bauch. Shira musterte ihn und musste feststellen, dass Sin mehr als nur müde aussah. Er hatte tiefe und dunkle Augenringe und seltsamerweise schien seine Augen leer zu sein.
„Du hast schlecht geschlafen.“, stellte sie flüsternd fest und legte ihm die Hand an die Wange.
„Mach dir keine Gedanken, Süße, es geht mir gut.“
Sie wusste ganz genau das er log, doch sie blieb still.
Gut zwei Stunden später saßen die beiden doch in der Schule. Allerdings waren beide irritiert als sie sahen, dass sie einen neuen Schüler bekommen hatten.
„Kurz vor den Prüfungen bekommen wir einen neuen Schüler? Das gefällt mir nicht...“, flüsterte Shira Sin zu.
„Und mir gefällt nicht, dass du mich gezwungen hast hierher zu kommen...“, brummte der Junge, worauf die Leopardin lächelnd mit den Schultern zuckte.
„Du musst auf andere Gedanken kommen. Welcher Ort wäre besser dafür, als die Schule?“, erwiderte sie in unschuldigem Tonfall. Sin seufzte. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich gezwungen hatte mit ihr zu kommen. Dabei hatte er Schule gar nicht nötig. Naja, Shira eigentlich auch nicht. Er fragte sich, warum sie überhaupt hier saß und schielte unauffällig zu ihr hinüber. Darauf, dass vorne ein ziemlich komischer Junge stand, konnte er sich gar nicht konzentrieren. Shira dafür umso mehr. Auffällig bewegten sich ihre Augen hin und her, so als versuchte sie, die Umgebung zu analysieren. Irgendetwas schien ihr nicht zu gefallen. Sin stieß sie leicht und unauffällig an. Vorsichtshalber sprach er in Gedanken mit ihr.
Nicht so voreilig, Süße. Wir warten ein paar Tage ab und sollte dieser Typ sich auffällig verhalten, kannst du gerne zum Angriff übergehen.
„Worauf du dich verlassen kannst.“, hauchte Shira und beobachtete unauffällig, wie sich der Neuankömmling in die gegenüberliegende Ecke des Klassenzimmers zurückzog und sich dort an einem Tisch niederließ. Kurz nachdem sie den Blick abgewandt hatte spürte sie, wie sie angestarrt wurde.
Der Junge ließ den Blick schweifen. Die Gestaltwandler saßen auf der Wiese, das Mädchen auf dem Schoß des Jungen, hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und küsste ihn grob und herausfordernd. Der Bursche ließ sich darauf ein und verkrallte sich in ihren schwarzen Haaren, um sie zu dominieren.
„Hey.“, unterbrach er selbst ihre traute Zweisamkeit. Außer Atem ließen Sin und Shira voneinander ab, um ihm anzustarren.
„Ihr scheint mir die vernünftigsten hier zu sein. Wie tickt unsere Klasse so?“
Die beiden jungen Erwachsenen tauschten einen kurzen Blick aus.
„Willst du dich nicht erst einmal vorstellen, ehe du uns belästigst?“, sagte Shira ausdruckslos und kalt. Der Junge mit den dunkelblonden Haaren ihr gegenüber grinste frech und machte eine Geste mit der Hand.
„Entschuldige, ich bin dir wohl zu unhöflich. Meine Name ist Darian. Und wenn ihr wirklich so beliebt seid, müsst ihr Shira und Sin sein.“
Shira verdrehte die Augen und wandte ihren Blick ab.
„Schlaues Bürschchen.“, murmelte sie. Sin meldete sich zu Wort.
„Geh und misch dich unter die normalen Menschen. Wir sind ein schlechter Umgang für dich.“, erklärte er ebenfalls ausdruckslos. Die Mundwinkel des Jungen zuckten belustigt.
„Ich gebe zu euer Verhalten reizt mich. Aber glaubt mir, so macht ihr euch eine Menge Feinde!“
Er wandte sich bereits ab, hörte aber wie Shira sagte: „Das macht es doch viel interessanter, oder nicht?“
Leise lachend verschwand Darian im Schulgebäude.
Zeit für die Berichtserstattung. Vorago hörte sich geduldig an, wie der Junge von wenigen Kleinigkeiten berichtete. Mit einem „Bleib dran.“, entließ Vorago den jungen Mann. Um ehrlich zu sein hatte er mehr erwartet. Gerade von ihm! Doch Vorago würde sich wohl gedulden müssen. In alle den Jahren seiner Existenz wusste er nur zu gut, dass Zeit unglaublich wichtig war und auch eine große Rolle spielte. Er stieß ein Seufzen aus, worauf Aminael ihn schief ansah.
„Wenn ich es nicht geschafft habe, dann wird dieser Typ es auch nicht schaffen.“, murmelte sie schlecht gelaunt. Vorago war von ihrer Laune inzwischen genervt, blieb aber wie immer ruhig.„Ich weiß, dass du mit deiner Niederlage nichtzurecht kommst, Aminael. Deswegen brauchst du mir aber nicht auf die Nerven zu gehen.“
Die Wölfin fauchte, ließ es aber gut sein. Fürs erste zumindest...
„Er scheint mir ganz normal zu sein.“, murmelte Sin und sah sein Mädchen nachdenklich an.
„Er erinnert mich ein wenig an dich.“, gestand Shira. „Am Anfang warst du genauso.“, erklärte sie, als sie seinen verwirrten Blick bemerkte. Sin schwieg daraufhin, weshalb Shira schwach den Kopf schüttelte und ihn entschuldigend ansah.„Verzeih mir, Sin. Ich bin so verdammt misstrauisch geworden, das geht dir sicher auf die Nerven.“
Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn.„Es stört mich nicht, Süße. Es ist nachvollziehbar. Du kannst ihn auch gerne weiterhin im Auge behalten.“
„Ich gehe nun mal kein Risiko ein.“, erwiderte Shira und ließ den Blick über das Schulgelände schweifen. Bisher war Shira die einzige Gestaltwandlerin hier gewesen und somit auch die einzige Schülerin, die sich so zurückgezogen hat. Nun allerdings kam Sin dazu. Sie hoffte, niemand würde Verdacht schöpfen, denn einige Schüler hier waren verdammt schlau und aufmerksam! Würde Shira nicht wundern, wenn auch dieser Darian gefährlich wäre! Sin seufzte.
„Wir sollten uns so langsam auf den Weg zur Sporthalle machen, sonst kommen wir zu spät und den Ärger würde ich mir gerne ersparen.“
Shira schmunzelte. Dafür das Sin keine Lust zur Schule gehabt hatte, war er erstaunlich motiviert.
„Ich dachte du hast keine Lust auf Schule?“, kicherte sie. Der Junge warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Hab ich auch nicht. Und auf Ärger auch nicht.“
Händchen haltend machten sich die beiden auf den Weg zur Sporthalle. Dort angekommen wandte Shira sich von Sin ab.
„Dann geh ich mich mal umziehen.“, sagte sie. Sin bekam sie jedoch noch am Arm zu fassen.
„Brauchst du dabei vielleicht Hilfe?“, raunte er ihr ins Ohr. Sie kicherte und stieß ihn dann mit schelmischem Grinsen im Gesicht zurück.
„Vergiss die anderen Mädels nicht, Süßer! Sie wären nur eifersüchtig.“, fügte sie hinzu, ehe sie in der Umkleide verschwand. Lächelnd sah Sin ihr nach. Nur wenige Minuten später zog Sin sich sein Hemd aus. Sins Blick fiel auf Darian, der sich Abseits der anderen Burschen umzog.
„Darian.“, rief Sin kalt, worauf der Junge mit den blauen Augen über seine Schulter sah.
„Die Prüfungen stehen kurz bevor, warum kommst du gerade jetzt an diese Schule?“, fragte Sin über die anderen Jungen hinweg und zog sich zeitgleich sein Trikot über den Kopf.
„Ich hätte nicht erwartet, dass jemand wie du mich nach meinem Privatleben fragt.“
Mit dieser abweisenden Reaktion verschwand Darian aus der Umkleide. Nicht sehr viel später kam Sin in der Sporthalle an, wo Shira schon in knapper Kleidung wartete. Mit verschränkten Armen stand sie mitten in der Halle, alle anderen standen verstreut in kleinen Grüppchen herum.
„Eins steht fest, der Junge ist nicht sehr gesprächig.“, sagte Sin leise zu Shira, nachdem er bei ihr angekommen war. Fragend sah das Mädchen ihn an.
„Er wollte mir nicht sagen, warum er so kurzfristig vor den Prüfungen die Schule gewechselt hat.“, fügte er wie beiläufig hinzu.
„Das war zu erwarten.“, murmelte Shira. Aus schmalen Augen heraus beobachtete sie, wie die anderen Mädchen begannen, sich an den Jungen heranzuschmeißen. Offensichtlich genoss der Junge seinen neu erworbenen Ruhm.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er uns Probleme machen wird.“, murmelte Sin. Shira und er tauschten einen Blick aus. Täuschte das Mädchen sich oder war ihr Freund tatsächlich neidisch auf Darian?
„Hey!“, sagte sie leise, worauf er sie sofort ansah.
„Du bist immer noch der sexieste hier, also vergiss diesen Schleimer!“
Er lächelte. Damit hätte er rechnen müssen.
„Und du bist das heißeste Weib hier!“, gab er grinsend zurück.„Ich weiß.“, flüsterte Shira und zwinkerte ihm dabei zu. Sin lachte leise.
24
Sin knurrte leise. Ja, er war neidisch. Es störte ihn, dass die Weiber sich nicht mehr für ihn interessierten, sondern für diesen dürren Bengel! Zugegeben, dafür das er so schmächtig war hatte er Muskeln. Aber Darian war ihm schon nach wenigen Minuten unsympathisch gewesen. Er schnaubte als er sah, dass die Mädels völlig aus dem Häuschen waren. Dabei war er besser als dieser Typ! Nach einigen Sekunden stieß er ein Seufzen aus. Wenn Bane jetzt hier gewesen wäre hätte er sicher etwas gesagt wie: „Du hast deinen Reiz verloren, Alter. Du bist jetzt schließlich vergeben!“
Shira hatte schon längst gemerkt, wie sehr Sin sich über die Situation aufregte. Genau deswegen legte sie sich noch mehr ins Zeug, als sonst. Auch zeigte sie weitaus mehr Haut als normalerweise. Sie wollte die Jungs auf sie aufmerksam machen, was auch wunderbar funktionierte. So wie sonst auch. Mit dieser Aktion wollte sie Sins Stolz erwecken. Doch das musste sie gar nicht. Sin war auch so stolz darauf, eine Frau wie sie zu besitzen! Und über ihre Flirts mit den ganzen Jungs konnte er auch nur lachen. Es war einfach zum brüllen wie verfallen die Burschen ihr waren, trotz ihres Beziehungsstatus. Ja, sie munterte ihn tatsächlich auf. Aber das wohl eher unbewusst. Sie war dabei zu verschnaufen als Sin sah, wie Darian plötzlich auf sie zuging. Augenblicklich wurden seine Augen schmal. Was hatte er vor? Sin konnte nicht hören, worüber sie sprachen, doch er hätte sich beinahe verwandelt als er mit ansehen musste, wie der Kerl sie küsste. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Alle Blicke richteten sich auf Sin, der widerrum erstarrte zur Salzsäule. Weil er ruhig blieb richteten sich die Blicke wieder auf Shira. Die stieß Darian grob zurück und holte mit der Faust aus. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck beobachtete Mrs Heather, wie das Mädchen Darian die Nase brach. Wenn dieses Mädchen wütend war, mischte man sich besser nicht ein. Selbst als Erwachsener nicht! Sin schaffte es, sich zu beherrschen. Mit undurchschaubarer Miene ging er zu Shira, der er dann den Arm um die Hüfte legte und sie an seine Brust drückte.
„Du solltest aufpassen, Darian! Ich bin der einzige den sie an sich heranlässt. Alle anderen werden mit Fäusten auf Abstand gehalten.“
Shira fauchte leise, worauf Sin sie leicht zwickte. Der Leopard kam zum Vorschein. Darian trat, trotz blutiger Nase, selbstbewusst vor Sin und baute sich dann vor ihm auf.
„Glaubst du wirklich, du kannst mir Angst einjagen, Sin?“, knurrte er leise. Nur Shira und er konnten es hören, alle anderen wurden ignoriert. Sin packte Darian, dann lag Letzterer auch schon auf dem Boden. Sin über ihm, die Faust drohend erhoben.
„Ich bin der harmlose von uns beiden. Glaub nicht, dass ich nicht trotzdem gefährlich werden kann!“, hauchte er, ließ die Faust aber wieder sinken. Er hatte schon eine gebrochene Nase, dann wollte er ihm nicht auch noch den Kiefer brechen. Plötzlich wurde er von Shira zurückgerissen.
Sei still! Was er auch sagt oder tut, wir verschwinden!
Sin verstand kein Wort, folgte Shira jedoch als sie sich umdrehte und aus der Sporthalle schlenderte.
„Zum Teufel, Shira, was ist los?“, flüsterte Sin und musterte die junge Frau. Jeder Muskel in ihr schien angespannt zu sein.
„Verstehst du es nicht?“, erwiderte sie, sah ihn aber nicht an.
„Nein, tut mir leid. Nicht das Geringste.“
Shira packte ihn erneut und zog ihn unbemerkt in die Umkleide der Mädchen.
„Es war Absicht!“, zischte sie leise. Ein irres Funkeln war in ihre Augen getreten. Sin konnte nicht sagen was es war. Wut vielleicht. Aber auch Fassungslosigkeit oder Verwirrung. Leider kam er noch immer nicht mit. Shira seufzte genervt und gestikulierte wild mit den Händen, während sie fortfuhr.
„Er wollte, dass wir so reagieren, Sin! Es war seine volle Absicht uns zu reizen, es geht ihm dabei gar nicht nur um dich.“
Okay, diese Erklärung hatte er verstanden.
„Aber was bezweckt er damit?“, hakte er sofort nach.
„Um etwas gegen dich in der Hand zu haben.“, flüsterte Shira. Nun hatte auch Shira begriffen, was wirklich los war. Sie sah Sin an.
„Der Rat muss ihn geschickt haben, um uns auszutricksen. Wahrscheinlich haben sie gehofft, wir würden nach seiner Aktion einen Fehltritt machen. Vielleicht wäre das ihre Chance gewesen, uns aus dem Weg zu räumen.“, murmelte sie.Sin fletschte die Zähne, Shira hätte es ihm ab liebsten gleich getan.
„Was haben die eigentlich gegen uns?“, knurrte er.
„Es passt ihnen nicht, dass ein ehemaliger Mensch in das Geheimnis der Gestaltwandler eingeweiht ist. Wobei wir, glaube ich, durchaus bewiesen haben, dass du deine Klappe halten kannst.“, erwiderte das Mädchen und begann, auf und ab zu laufen.
„Zieh dich um. Wir verschwinden. Es muss eine Möglichkeit geben den Rat eine Lektion zu erteilen. Ich werde mich mal unter den Gestaltwandlern umhören, um etwas über diese Mistkerle in Erfahrung zu bringen. Und Aminael wird wohl noch mehr verlieren, als nur einen Arm.“
Sin wollte protestieren, doch Shira schmiss ihn regelrecht aus der Umkleide, um sich selbst umzuziehen.
Elyra neigte den Kopf. Seit einigen Tagen schon begegneten ihr die beiden immer wieder. Und jedes Mal machten sie einen fast schon verzweifelten Eindruck. Das Mädchen schien impulsiv zu sein, dennoch immer klug und bedacht. Und sie schien ziemlich kalt zu sein. Der Junge hingegen war gelassener. Ließ wohl alles auf sich zu kommen und blieb immer ruhig und gelassen. Elyra war noch etwas aufgefallen. Die beiden schienen Stress mit dem Rat zu haben! Immer wieder schlich einer von ihnen in ihrer Nähe herum, das Mädchen bemerkte es aber scheinbar immer und zog sich dann schlagartig mit dem Jungen in den Schatten zurück. Gerade in diesem Moment saßen sie in einer Bar, so wie sie selbst auch. Die beiden diskutierten heftig miteinander und es machte den Eindruck, als würde das Mädchen gleich mit Gegenständen um sich schmeißen. Elyra beschloss, ein kleines Risiko einzugehen.
„Verzeiht mir, falls ich euch störe aber darf ich euch eine Frage stellen?“
Angriffslustig sah das Mädchen mit den goldenen Augen sie an, doch es blieb ruhig.
„Nur zu, setz dich.“, sprach der Junge ruhig und wies auf einen freien Platz in der kleinen Runde.
„Danke. Mein Name ist Elyra.“, sagte sie uns ließ sich auch schon nieder. Sie sah die beiden an.
„Ihr habt ein Problem mit dem Rat, stimmt's?“, fragte sie ohne zu zögern und beobachtete, wie goldene Augen sich verengten. Der Junge wurde einen Ticken leiser.
„Ich bin Sin. Und vielleicht solltest du dich erst einmal vorstellen, ehe Shira dich mit dem Feind verbindet.“
Elyra riss überrascht die Augen auf.
„Shira? Shira Cygni? Kein Wunder, dass ständig jemand aus dem Rat um euch herum schleicht. Ich habe einiges von dir gehört.“, sagte sie gedämpft.
„Mein Ruf eilt mir mal wieder voraus.“, murmelte Shira und schüttelte schwach den Kopf.
„Ja, mag sein das ich eine Menge Mist angestellt habe. In letzter Zeit allerdings bin ich unschuldig. Du scheinst Sin und mich einige Male gesehen zu haben, wenn du Ratsmitglieder bemerkt hast.“
„Ja. Aufgrund dieser Leute seid ihr mir sofort aufgefallen. Sind sie hinter euch her? Wenn ja, nicht ohne Grund, nehme ich an.“, erwiderte Elyra. Das Ganze konnte interessanter werden, als gedacht. Sie hatte schon lange nichts aufregendes erlebt, vielleicht war es mal wieder an der Zeit für ein kleines Abenteuer. Außerdem wäre das die Gelegenheit, jemandem einen kleinen Besuch abzustatten...
„Du besitzt Hintergrundwissen, nicht wahr?“, hauchte Shira und musterte die Frau. Diese grauen Augen erinnerten sie an jemanden, allerdings konnte sie nicht sagen an wen. Die hellbraunen Haare reichten ihr in sanften Wellen bis an die Taille. Elyra neigte geheimnisvoll den Kopf.
„Ja, ich bin im Besitz wertvoller Informationen des Rats.“, sagte sie leise und weckte somit die Neugier von Shira und Sin.
„Arbeitest du für sie oder wie kommt das?“, hakte Shira aufmerksam nach. Elyra zögerte, ehe sie mit der Wahrheit herausrückte.
„Naja.“, nuschelte die Frau. „Vorago ist mein Bruder.“
Beinahe hätte Shira sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt und auch Sin hätte niemals damit gerechnet. Nun wusste die Leopardin auch, warum ihr diese Augen so bekannt vorkamen. Vorago hatte die gleichen!
„Ihr scheint euch aber nicht sehr ähnlich zu sein. Im Wesen zumindest nicht.“, stellte Sin aufmerksam fest.
„Ist das so offensichtlich?“, erwiderte Elyra. Nun war sie überrascht. Sie wusste ja, dass sie und ihr Bruder kaum eine Gemeinsamkeit hatten, doch dass das für andere so offensichtlich war, war ihr dann doch neu. Shira und Sin starrten sie geradezu an, weshalb sie seufzte und fortfuhr.
„Ja, ich weiß schon. Vorago ist unglaublich grausam und kaltblütig. Ich hingegen bin fast schon liebevoll und fürsorglich. Wir könnten unterschiedlicher nicht sein aber das war schon immer so. Er schmiedet ständig irgendwelche Pläne, meistens ziemlich böse, weshalb ich versuche diese Pläne zu vereiteln. Manchmal klappt es, ohne das er etwas bemerkt. Das ist auch der Grund, warum ich mich euch zu erkennen gegeben habe. Ich ahne schon, dass Vorago hinter euren Schwierigkeiten steckt.“
Es vergingen noch einige Minunten, dann beschloss die Leopardin Elyra alles zu erzählen.
Irritiert kniff Vorago die Augen zusammen.
„Elyra.“, murmelte er und auch die anderen Ratsmitglieder beobachteten fasst schon geschockt, wie die Frau taumelnd und mit Wunden übersät den Saal betrat.
„Bruder.“, keuchte sie und fiel nach einigen Metern auf die Knie. Vorago blieb auf seinem Platz sitzen. Diese Frau war zwar seine Schwester, die Gefühle für sie hielten sich jedoch in Grenzen.
„Dich hier zu sehen überrascht mich. Was treibt dich her?“, sprach er mit monotoner Stimme.
„Du hattest recht, Bruder! Ich kriege das nicht hin. Ich wollte selbstständig sein aber ich schaffe es nicht! Bitte, nehmt mich unter eure Obhut!“, hustete Elyra und drückte sich die Hand auf eine offene Wunde, die in ihrem Bauch klaffte. Vorago war wirklich überrascht. Elyra war nie sonderlich stark gewesen, in einem Kampf verließ sie sich deswegen immer auf ihren Verstand. Es schien, als wäre sie dieses Mal auf jemanden getroffen, der genauso klug war wie sie. Vielleicht sogar noch klüger! Tja, es gab halt für alles ein erstes Mal.
„Du bist meine Schwester, Elyra. Natürlich findest du hier Zuflucht.“, ertönte wieder die Stimme des Mannes, mit den stahlgrauen Augen.
„Lavinia, kümmere dich um meine Schwester. Ich schaue später nach euch.“
Lavinia, ein weiteres Ratsmitglied trat auf Elyra zu. Die Augen der geheimnisvollen Frau waren milchig, beinahe weiß weshalb es schien als wäre sie blind, doch so war es nicht. Lavinia sprach nicht. Das tat sie nie. Doch sie selbst glaubte daran, dass sich das noch ändern würde.
Mit einer Handbewegung bedeutete sie Elyra, ihr zu folgen. Keuchend und nach Atem ringend kam sie wieder auf die Beine. Vorago sah den beiden nach.
25
Sin konnte nicht anders, er musste einfach lächeln. Den ganzen Tag über war Shira am grinsen und das bereitete auch ihm gute Laune. Sie waren war nur ein kleines Stück weitergekommen, doch es machte die junge Frau dennoch glücklich. Und wenn sie glücklich war, dann war er es auch.
„Warum lächelst du?“, fragte sie ihn plötzlich, während sie durch den Garten liefen.
„Zu sehen das du gute Laune hast und nicht mehr so beunruhigt zu sein scheinst, macht mich glücklich, Süße! Du glaubst gar nicht wie schmerzhaft es ist mit ansehen zu müssen, wie du leidest und Angst hast.“
Mit gemischten Gefühlen sah Shira zu ihm auf. Teils wütend und verärgert, teils berührt.
„Niemand außer dir würde sich trauen, mit das Gefühl Angst zu unterstellen.“, erwiderte sie mit hochgezogenen Brauen.
„Du liebst ja auch nur mich.“, erwiderte Sin darauf und küsste sie auch schon.
Wohl war., dachte sie.
„Glaubst du, Elyra geht es gut?“, wechselte Sin das Thema, nachdem er den Kuss beendet hatte. Shira nickte.
„Nachdem, was sie gesagt hat müsste dem so sein. Vorago ist ihr Bruder und auch wenn er nichts für sie empfindet, so kommt er dennoch seinen Verpflichtungen als großer Bruder nach. Sie werden ihr Zuflucht bieten, somit läuft alles nach Plan.“
Sin griff nach ihrer Hand.
„Bisher habe ich dich nie so siegessicher erlebt. Ich vertraue dir, Shira. Ich würde dir sogar mein Leben anvertrauen!“
Sprachlos sah Shira zu ihm auf.
Elyra hätte beinahe gelächelt, doch sie biss sich kraftvoll auf die Zunge, um dies zu verhindern. Nachdem Lavinia sie in einen Versorgungsraum gebracht und die Tür verschlossen hatte, richtete Elyra sich zu ihrer vollen Größe von einen Meter sechzig auf. Somit war sie gut fünf Zentimeter größer als Lavinia, die ihr gegenüber stand.
„Lavinia, bevor Ihr auf die Idee kommt jemanden herzuholen, möchte ich Euch bitten mir für einen Augenblick zuzuhören.“
Die kleine Frau zog die Brauen zwar hoch, sagte nichts und rührte sich auch nicht.
„Ich weiß, Euch solch eine Frage zu stellen gehört sich nicht aber...wie steht Ihr zu Shira und Sin?“
Lavinias Augenbrauen hoben sich noch ein Stückchen mehr. Plötzlich öffnete sich ihr Mund.
„Ich mag die beiden. Und ich bewundere sie.“, hauchte die Frau leise. Elyra riss die Augen auf.
„Ihr sprecht!“, war alles was sie vor Verblüffung heraus bekam. Klar, sie hatte sie zwar etwas gefragt, doch mit einer verbalen Antwort hatte sie nicht gerechnet. Niemand hätte das. Lavinia nickte, worauf Elyra ein Lächeln zeigte.
„Habt vielen Dank, Lavinia! Nun, wo ich mit Euch reden kann, zögere ich auch nicht, sofort zur Sache zu kommen.“
Lavinia verschränkte die Arme und beschloss sich das, was Elyra zu sagen hatte anzuhören.
„Mein Bruder scheint irgendetwas auszuhecken. Wisst Ihr etwas davon?“, fuhr die Brünette ohne Umschweife fort. Einen Augenblick lang dachte Lavinia nach.
„Ich kann nicht leugnen, dass er etwas zu planen scheint. Er mischt sich erstaunlich viel in diese Sache ein, wobei er sich meistens nicht einmal bei einer Versammlung blicken lässt.“, antwortete sie schließlich und sah Elyra wieder an. Erwartungsvoll erwiderte diese den Blick, worauf die kleine Frau endlich mit der Wahrheit herausplatzte.
„Ich weiß nicht wieso aber es scheint ihm irgendwie nicht zu gefallen, dass wir Sin in einen Gestaltwandler umgewandelt haben, dabei war er es doch, der darauf bestanden hat.“
Auf Elyras Stirn bildeten sich Falten.
„Seid Ihr euch sicher, dass es nicht an Shira liegt? Sie scheint mir viel eher ein Dorn in meines Bruders Augen zu sein, als dieser Junge.“, erwiderte sie. Lavinia seufzte. Eine ungewohnte Reaktion.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hast du es als seine Schwester nie bemerkt aber er ist unglaublich schwer zu durchschauen. Liege ich richtig mit der Annahme, dass du dich hier eingeschleust hast, um mehr darüber herauszufinden?“
Elyra nickte, ertappt fühlte sie sich aber nicht.
„Stimmt. Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir helfen.“
Lavinia lächelte. Noch eine Sache, die nie jemand zu Gesicht bekam.
„Ich glaube, die wirst du nicht nur von mir bekommen. Jaz und Keyra stehen auch auf deiner Seite. Ich werde den beiden so schnell wie möglich alles erzählen.“
Sie wandte sich ab, sah jedoch noch einmal zurück.
„Eine Frage habe ich aber noch.“
Elyra neigte den Kopf.
„Hast du dir voller Absicht diese üblen Wunden zufügen lassen?“
Sin keuchte. Er hatte ja keine Ahnung, das der Paarungsversuch von Raubkatzen so...berauschend war! Das tiefe Grollen in seiner Brust bewies, dass ihm das noch immer nicht genügte.
„Das genügt mir nicht, Shira!“, knurrte er und packte die junge Frau an den Hüften, um sie wieder auf sich zu ziehen. Shira lachte leise und beugte sich vor.
„So, der Sex in tierischer Gestalt war also nur der Vorgeschmack?“ und strich mit den Händen über seine nackte Brust.
„Süße, mir wird es niemals genügen!“, brummte der Junge und grinste schelmisch.
Gerade in diesem Moment sah Shira mit gefletschten Zähnen auf.
„Shira! Sin!“
Als Keyra zwischen den Bäumen hervor trat und die beiden entdeckte, drehte sie sich augenblicklich wieder um.
„Verzeihung, ich komme ungelegen.“, murmelte sie.
Shira griff nach einem Stück Stoff und erwischte Sins Hemd.
„Ich hasse es.“, flüsterte sie. Nachdem die beiden nicht mehr vollkommen nackt waren, traten sie auf Keyra zu.
„Warum bist du hier?“, meldete sich Sin zu Wort. Vorsichtig drehte die Frau sich um.„Elyra ist vor knapp zwei Tagen bei uns eingetroffen.“, verkündete sie leise. Noch zeigten Sin und Shira keine emotionale Regung. Konnte ja sein, dass etwas nicht geklappt hatte.„Das Jaz und ich auf eurer Seite sind, steht völlig außer Frage. Aber überraschenderweise hat Elyra auch Lavinia überzeugen können. Sie redet jetzt sogar!“
Shira zog die Stirn kraus.
„Lavinia spricht? Ist das wahr?“
Keyra kicherte.
„Ja, sie spricht tatsächlich! Ich weiß auch nicht, wie Elyra das angestellt hat. Aber das ist jetzt völlig egal. Wir sind auf jeden Fall auf euer Seite, ihr könnt also auf unsere Unterstützung hoffen.“
Shira atmete erleichtert auf.
„Gut, es hat also funktioniert. Ich hab schon befürchtet, ich hätte es mit den Verletzungen übertrieben. Was genau hab ihr unter euch ausgemacht?“
Keyra grinste.
„Ihr zwei könnt euch getrost entspannen. Wir werden ein Auge auf Vorago und die anderen werfen. Falls es irgendwelche Pläne gibt, werden wir es herausfinden. Sobald wir etwas gefunden haben, melden wir uns bei euch.“
Shira nickte, Sin bedankte sich. Es dauerte nicht lange, da saßen die beiden Gestaltwandler entspannt im Anwesen.
Elyra schluckte. Sie wusste, dass sie sich keinen Fehltritt erlauben durfte. Wenn ihr Bruder sie erwischen würde, wäre es aus. Er würde sofort wissen, warum sie eigentlich hergekommen war.
Doch sie wollte sich auch nützlich machen. Vielleicht würde sie ja zufällig einige Informationen aufschnappen? Sie humpelte also durch die Gänge, als sie plötzlich leise Schritte hinter sich hörte. Elyra blieb stehen und drehte sich dann um. Ihr Bruder fiel in ihr Blickfeld.
„Mit diesen Verletzungen solltest du dich ausruhen und nicht hier herumstreunen.“, sagte er tonlos und musterte seine Schwester ausgiebig. Elyra grinste ihn frech an.
„Mein Instinkt zwingt mich dazu, mich hier mal ein bisschen umzusehen, entschuldige.“, erwiderte sie mit zuckersüßer Stimme, behielt aber ihre geduckte Haltung weiter bei.
„Du solltest dich hinlegen, Elyra. Du siehst blass aus.“, sagte Vorago nun und ging auf die kleine Frau zu.
„Es geht mir gut, Bruderherz. Außerdem habe ich noch nie auf dich gehört. Und daran wird sich auch nichts ändern.“
Sie wollte sich von ihm abwenden, doch sein Blick wurde stechender.
„Wer hat dir diese Verletzungen eigentlich zugefügt?“
„Mach dir keine Gedanken, Brüderchen. Du weißt doch, wie sehr ich es mag zu spielen.“, erwiderte sie leise lachend. Insgeheim hoffte sie, dass er es nicht durchschauen würde. Vorago schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei.
„Du bist und bleibst ein Kind, Elyra. Ich hatte gehofft, dass du den Drang zu spielen irgendwann ignorieren würdest.“
Elyra lachte lauter.
„Wie schrecklich wäre es, wenn ich genauso abgestumpft wäre wie du?“
Die Frau folgte ihm.
„Wir haben schon lange nicht mehr gesprochen. Ist irgendetwas interessantes passiert?“
Vorago seufzte.
„Und neugierig bist du auch immer noch.“
Elyra kicherte erneut und rechnete nicht mit einer Antwort, doch dann...
„Ja, es gibt etwas Neues. Sagt dir der Name Shira Cygni etwas?“
Mit geweiteten Augen sah seine Schwester zu ihm auf.
„Shira Cygni? Du meinst dieses Terrormädchen vor dem jeder so Respekt hat? Bruder, natürlich sagt mir dieser Name etwas! Dieses Mädchen ist Teil der Geschichte von uns Gestaltwandlern!“
Elyra lobte sich heimlich selbst. Ihre schauspielerischen Fähigkeiten waren noch immer nahezu perfekt! Vorago antwortete nicht, weshalb sie erneut das Wort ergriff.
„Was ist denn mit ihr? Hat sie schon wieder eine Bluttat begangen?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Nein, eben nicht! Sie ist viel ruhiger geworden. Bereitet fast keinen Ärger mehr...“
Elyra unterbrach ihn.
„Was heißt denn fast?“
Vorago erzählte ihr, was passiert war. Das Shira besitzergreifend geworden war, Aminael deswegen den Arm abgerissen hatte und unglaublich launisch war. Eben alles, was in den vergangenen Wochen vorgefallen war. Am Ende seiner kleinen Erzählung schüttelte Elyra ungläubig den Kopf.
„Ist nicht wahr!“
Vorago warf ihr einen Seitenblick zu. Misstrauen blitzte in seinen Augen auf.
„Das Ganze scheint dich sehr zu interessieren.“
„Verzeih mir meine Neugier, Bruder.“, murmelte die Frau. „Aber ich habe dieses Kind aufgrund ihrer Taten nie gemocht. Willst du gegen sie vorgehen?“
„Glaub nicht, dass ich das schon nicht versucht hätte. Aber wie gesagt, sie hat Aminael den Arm abgerissen, ich glaube das spricht für sich.“
Elyra verkniff es sich zu grinsen. Ihr Bruder sprach tatsächlich mit ihr! Mal sehen, wie viel sie noch aus ihm heraus bekam.
26
Shira drehte sich um, denn ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Rücken machte sich bemerkbar. Blaue Augen funkelten sie amüsiert an.
„Na, heute mal ohne deinen kleinen Freund?“, lachte Lysander, worauf Shira erst die Zähne fletschte, dann aber grinste.
„Weißt du eigentlich, was mit deinem Freund dem Löwen passiert ist?“
Lysander stieß ein Fauchen aus.
„Du hast ihm den Rat zum Fraß vorgeworfen!“
Shira schüttelte den Kopf und blieb ernst.
„Es war ein Befehl. Möchtest du etwas oder warum bist du hier?“
Lysander trat näher an sie heran.
„Warum hast du den Befehl nicht verweigert, so wie sonst auch?“
Shiras Blick trübte sich.
„Hör zu, bevor wir uns darüber streiten, möchte ich dir etwas erzählen. Oder besser gesagt, dich um einen Gefallen zu bitten.“
Die Augen des Geparden wurden schmal. Shira Cygni wollte ihn um etwas bitten? Was war hier los? Lysander verschränkte die Arme. Er war bereit zuzuhören, ob er sich überzeugen ließ war jedoch eine andere Sache.
„Der Rat hat sich einige Dinge geleistet, die mir überhaupt nicht gefallen und vermutlich hattest du auch schon Probleme mir ihren Handlungen. Ich will den Rat auseinanderreißen aber alleine schaff ich das nicht. Ich habe es geschafft einige aus dem Rat davon zu überzeugen, sich gegen ihre eigenen Kameraden zu stellen. Die Informationsbeschaffung wäre also abgehackt. Also was ist, kann ich mich auf dich und deine Leute verlassen?“
Shira konnte Lysanders Blick nicht deuten, doch sie wartete einfach so lange ab, bis sie eine Antwort bekam.
„Du meinst es tatsächlich ernst, oder?“, hauchte der Gepard schließlich.
Shira nickte und sah sich unauffällig um. Sie wusste das es nicht so war, doch das Gefühl beobachtet zu werden hatte sich in ihrem Kopf verankert.
„Hilfst du mir nun, oder nicht?“, murmelte sie. Lysander verlagerte das Gewicht.
„Du willst also den Rat auseinander reißen, schön und gut. Aber hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, welche Konsequenzen das hätte? Totales Chaos würde ausbrechen.“
Shira lehnte sich gegen die steinerne Hauswand.
„Darüber mache ich mir schon die ganze Zeit Gedanken. Ich wäre für eine Anarchie. Aber völlig egal, was danach kommt. Mag ja sein, dass der Rat für Recht und Ordnung sorgt aber fast alle von ihnen haben ihre Macht schon einmal missbraucht! Ständig beobachten sie mich und ich weiß ganz genau, dass sie mich aus dem Weg schaffen wollen, dabei will ich nur in Frieden leben, so wie alle anderen auch.“
Langsam aber sicher schien sie Lysander zu überzeugen, denn die Feindseligkeit war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Stimmt, sie haben ihre Macht tatsächlich das ein oder andere mal missbraucht. Auch sind ihre Strafen oft viel zu hart und grausam. Also gut, ich bin dabei. Was soll ich tun?
Auf Shiras Lippen breitete sich ein Lächeln aus.
„Trommel alle deine Leute zusammen und postiere sie in der Nähe des Sitzes des Rats. Haltet euch bereit, das ist alles. Ich schicke jemanden, der sich bei dir meldet und alles weitere klärt.“
Shira drückte dem Mann ein Handy in die Hand.
„Es ist mit einem GPS-Sender ausgestattet. Wir wissen also, wo du dich befindest.“
Lysander nickte, dann zog er sich in die Dunkelheit zurück.
„Hallo?“
Elyras Stimme ertönte am anderen Ende der Leitung.
„Sin, ich bin es, Elyra. Ist Shira in der Nähe?“
„Nein, sie hat das Anwesen verlassen. Was gibt’s denn?“
Elyra klang arlamiert und sprach leise. Scheinbar hatte sie nicht viel Zeit, denn sie sprach zudem noch schnell.
„Shira ist meinem Bruder ein Dorn im Auge. Er überlegt verzweifelt, wie er sie beseitigen soll. Sie soll auf sich aufpassen und es wäre mir lieb, wenn du auch ein Auge auf sie werfen würdest. Mein Gefühl sagt mir, dass er jede noch so kleine Chance ergreifen wird.“, ertönte es.
Sins Mundwinkel zuckten, auch wenn seine Laune gesunken war.
„Ich passe immer auf sie auf, Elyra, keine Sorge.“
„Ich muss los.“, zischte die Frau. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Mit ernstem Gesichtsausdruck sah Sin aus dem Fenster. Er hatte keine Ahnung was Shira vorgehabt hatte. Sie war einfach abgehauen, ohne etwas zu sagen. Sorgen hatte er sich bis jetzt keine gemacht. Er wusste ja, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Doch das er nun eine Bestätigung dafür hatte, dass Vorago ihr an die Gurgel wollte, beunruhigte ihn zutiefst!
„Ich glaube es wäre besser, wenn du dich beeilst, Shira.“, murmelte er.
Ein Schauer überlief Shira. Irgendetwas stimmte nicht, sie musste nur noch herausfinden, was das war. Dennoch zufrieden machte sie sich auf den Weg, zurück zum Anwesen. Sie hatte keine Ahnung wie groß Lysanders heimatloses Rudel war, doch es würde sicherlich reichen. Sie wollte ja nicht in den Krieg ziehen. Wobei diese Ansicht gar nicht mal so unrealistisch war. Wer wusste schon, was passieren würde? Shira würde einen Krieg nicht ausschließen, doch den Teufel wollte sie nicht an die Wand malen.
Sie zog sich immer mehr in ihre Gedanken zurück...
Nicht zu fassen, dass ich mit diesem Geparden arbeiten werde., dachte sie.
...Und bemerkte nicht, wie Darian sich an sie heranschlich.
Sin zuckte kurz zusammen, ohne das er wusste wieso. Er horchte auf, konnte aber nichts feststellen. Nichts ungewöhnliches zumindest. Schon seit Stunden war Shira weg, weshalb er anfing sich Sorgen zu machen. Langsam erhob er sich. Vielleicht sollte er sich auf die Suche nach ihr machen? Gedacht, getan. Nach einer halben Stunde Suche nahm er plötzlich Witterung auf. Er kam dem Rande der Stadt immer näher, und somit auch Shiras unverwechselbarem Geruch. Nach geschätzten hundert Metern drang auf einmal ein lautes Brüllen an seine Ohren. Alarmiert beschleunigte er seine Schritte. Schließlich kam er in einer dunkeln Gasse an, in der ein schwarzer Leopard versuchte, mit der Pranke eine Kobra zu erwischen.
Shira?, dachte er irritiert und zugleich amüsiert. Ja, er war aufgrund dieses Anblicks amüsiert. Wann bekam man so etwas denn mal bitte zu sehen? Die Kobra zog sich einige Meter zurück und verschwand schließlich im Schatten. Erst da bemerkte Sin, dass Shira eigenartig taumelte. Sofort war er bei ihr, um sie rechtzeitig auffangen zu können, bevor sie in ihrer menschlichen Gestalt auf dem Boden aufprallte.
„Süße, was ist los?“, knurrte er leise aber besorgt.
„D-Das war Darian.“, keuchte Shira. „Mein Bein!“, fügte sie hinzu, worauf Sin sofort die Bisswunde an ihrem Schenkel bemerkte.
„Verdammt!“, fluchte er. Sanft legte er sie ab, dann ging alles ganz schnell. Er zog sich sein Hemd aus um ihr Bein abbinden zu können, dann riss er ihre leichte Hose ein Stück weit auseinander. Seine Lippen legten sich auf ihren Schenkel, dann begann er das Gift aus der Wunde zu saugen. Er hoffte nur, dass es sich noch nicht weit in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Nach fünf Minuten setzte Shira sich langsam auf.
„Mir ist komisch. Bring mich zum Anwesen und versuche, Keyra zu holen. Sie kennt sich mit Giften und Gegengiften aus.“, murmelte sie und sah sich völlig desorientiert um. Sin widersprach nicht, natürlich nicht, un hiefte sie auf seinen Rücken.
„Beeil dich.“, hauchte sie noch, dann übermannte sie die Müdigkeit.
Als Shira aufwachte war das erste was sie wahrnahem, die dröhnenden Kopfschmerzen. Stöhnend und gegen das Licht blinzelnd sah sie sich um. Sin saß schlafend in einem Sessel, direkt neben dem Bett in welchem sie lag. Ein paar Meter weiter hinten standen Jaz und Keyra, sie sich leise unterhielten.
„Hört auf, euch über mich zu unterhalten. Ich bin wach.“, meldete sie sich mit krächzender Stimme zu Wort, worauf die beiden sich zu ihr umdrehten.
„Oh Gott, endlich bist du aufgewacht.“, rief Keyra aus und stürzte auf das Bett zu. Doch Shira ließ ihr gar keine Zeit Fragen zu stellen.
„Wie lange war ich nicht bei Bewussstsein?“, krächzte sie und rieb sich die Schläfen.
„Zwei Tage.“, antwortete Keyra und neigte den Kopf.
„Warum fragst du?“
Sofort war Shira wieder bei vollem Verstand. Sie sprang auf, lief zum Schreibtisch und griff nach das Laptop, von dem sie Lysanders GPS Daten empfangen konnte. Sie rieb sich schnell den Schlaf aus den Augen und warf Keyra dann einen kurzen Blick zu.
„Einen halben Kilometer südwestlich vom Sitz eures Anwesend entfernt, wartet eine Truppe. Geh und erkläre ihnen, was Sache ist. Sprech mit einem Geparden, er hat auch ein Handy, mit dem ihr mich erreichen könnt. Mach dich sofort auf den Weg!“
Die Frau ihr gegenüber nickte und lief aus dem Zimmer.
„Ihr habt also ein Gegengift gefunden.“, stellte Shira nun fest und wandte sich somit an Jaz. Dieser nickte.
„Sin hat uns alles erzählt. Eine Sache bereitet mir jedoch Sorgen. Das Gift einer Kobra ist eigentlich viel harmloser, als es in deinem Falle war. Deine Nerven wurden angegriffen, normalerweise hätte das Gift deine Lunge lahmlegen müssen. Wir hätten dich intubieren können, hätte deine Lunge nicht mehr funktioniert aber gegen tote Nerven hätten wir nichts ausrichten können. Du hast Glück gehabt, Shira.“
Shiras Augen verengten sich.
„Das war ein Anschlag.“, murmelte sie und sah aus dem Fenster, in die Ferne.
„Wer glaubst du, könnte dafür verantwortlich sein?“, wandte sie sich dann wieder an Jaz. Dieser sah vom einen Moment auf den anderen nachdenklich aus.
„Vorago, vielleicht?“, schlug er vor. Shira schüttelte nach wenigen Sekunden den Kopf.
„Nein, wohl kaum.“, erwiderte sie. Sie glaubte nicht, dass Elyras Bruder dahinter steckte. Er würde sich etwas weitaus grausameres ausdenken. Sein Anschlag wäre noch hinterlistiger gewesen, wobei dieser es durchaus gewesen war. Shira war sich sicher, dass eine Frau dahinter steckte. Ein Mann wäre niemals darauf gekommen, einen anderen eifersüchtig zu machen. Für manche war das jetzt vielleicht verwirrend... Darian hatte sie geküsst, um Sin somit eifersüchtig zu machen. Somit hatte Darian gehofft, der Junge würde einen Fehltritt machen. Dadurch hätte der Rat etwas gegen ihn in der Hand gehabt. Ein Mann konnte sich so etwas nicht ausdenken. Es war sicher eine Frau gewesen. Und Shira hatte auch schon eine in der Verdacht.
„Aminael steckt sicher dahinter.“, meldete Sin sich plötzlich zu Wort. Shira und Jaz drehten sich um. Sin jedoch ignorierte das und ging zu Shira, um sie dann in seine Arme zu ziehen.
„Wie fühlst du dich?“, murmelte er noch immer verschlafen.
„Erschöpft. Aber mach dir keine Gedanken, es geht mir gut.“, erwiderte sie und küsste ihn, um ihre Worte zu untermauern.
„Du glaubst also wirklich, dass Aminael dahinter steckt?“, sagte Jaz plötzlich, worauf die beiden ihn ansahen. Sin nickte und auch Shira mischte sich wieder ein.
„Ich bin ebenfalls der Meinung, dass Aminael dafür verantwortlich ist. Sie ist doch diejenige, die Rache will. Dabei ist sie selbst Schuld, dass ich ihr den Arm abgerissen habe. Sie wusste ganz genau, dass ich Sin als mein Eigentum betrachte.“
Sin sagte nichts dazu. Es stimmte, er gehörte ihr, daran würde sich auch nichts ändern.
„Aminael hat sich in keinsterweise merkwürdig oder verdächtig benommen. Sie hat sich auch nicht zurückgezogen.“, erklärte Jaz. Shiras Mundwinkel zuckten.
„Sie ist gut, Jaz. Sie findet immer eine Möglichkeit. Außerdem ist Darian eine Schlange. Das passt doch zu ihr, oder nicht?“
Der Adler wandte sich ab.
„Ich werde mich im Anwesen mal umsehen. Ich melde mich.“
Schon war er verschwunden. Sin legte Shira die Hand an die Wange.
„Geht es dir wirklich gut? Du bist blass.“
Das Mädchen seufzte.
„Ja, es geht mir gut, Süßer. Aber ein wenig Schlaf würde nicht schaden.“
Sie grinste frech, Sin erwiderte es aber nicht. Genau deswegen wurde sie wieder ernster.
„Weck mich, wenn's etwas Neues gibt.“, sagte sie monoton. Sie zog sich noch um, dann legte sie sich schlafen. Sie fühlte sich einfach nur beschissen!
27
Er klopfte an die massive Holztür, worauf ein leises „Herein“ ertönte. Ohne zu zögern betrat er das riesige Zimmer der Frau.
„Darian.“, stellte Aminael lächelnd fest. Die Schlange grinste breit.
„Selbst ein Panther ist nicht in der Lage, sich gegen eine Kobra durchzusetzen.“, sagte er leise. Aminael neigte den Kopf, worauf der Junge Mann seufzte.
„Leider musste ich mich mit einem Biss begnügen. Dieser Junge kam dazwischen.“
Die Frau erhob sich und ging zum Fenster, durch das das Licht der aufgehenden Sonne fiel.
„Ein Biss von dir genügt dennoch, habe ich recht, Darian?“
Er nickte bestätigend. Naja, zumindest hoffte er das.
„Du bist verletzt,“, stellte Aminael plötzlich fest, obwohl sie ihm den Rücken zukehrte.
„Nur ein paar Kratzer. Sie hat mich einige Male mit ihren Pranken erwischt.“, stellte der Schlangenjunge kar und rieb sich unbewusst über die tiefen Furchen in seinem Arm.
„Ich rieche dein Blut, Darian.“
Dem Jungen kroch ein eisiger Schauer in die Gliedmaßen. In diesem Moment war die Frau verdammt beängstigend! Er antwortete nicht, beobachtete sie lediglich dabei, wie sie auf ihn zukam. Raubtierhaft grinsend wies sie auf seinen Arm.
„Das sind für doch also nur ein paar Kratzer? Darian, das sind tiefe und gefährliche Fleischwunden. Glaubst du nicht es wäre besser, wenn sich die jemand mal ansehen würde?“
Aminaels Stimme war nun nicht mehr, als ein Schnurren. Darian wandte sich ab um zu veschwinden, doch sie griff nach ihm und zog ihn zurück.
„Hiergeblieben, mein Freund. Wir sind noch nicht fertig hier!“
Dann küsste sie ihn auch schon.
Irritiert beobachtete Lysander, wie Keyra direkt auf ihn zusteuerte. Er hatte es gar nicht glauben wollen als Shira sagte, einige Ratsmitglieder hätten eine kleine Wendung gemacht. Doch nun, wo Keyra direkt auf ihn zukam, musste er es glauben. Doch...vielleicht war das ja auch nur ein ziemlich ausgefuchster Plan, Shira zu beseitigen? Er würde abwarten müssen.
„Nehmt es mir nicht übel aber Euch hätte ich hier nicht erwartet.“, sagte Lysander und erhob sich von dem Baumstumpf, aus dem er saß. Keyra blieb ernst.
„Wir haben keine Zeit zum plaudern, Lysander. Gib mir das Handy.“, erwiderte sie tonlos und streckte fordernd die Hand aus. Lysander gab ihrem Wunsch, oder besser gesagt Befehl, ohne zu zögern nach. Sofort klappte sie es auf und tippte eine Nummer ein.
„Ich bin's, Keyra. Gib mir Shira.“, sagte sie dann ziemlich zügig. Es folgte ein leichtes Seufzen von der Frau, dann ging es weiter.
„Okay, hör zu. Ruf Elyra an und frage nach aktuellen Informationen und Aufenthaltsorten der anderen. Danach rufst du mich zurück. Um den Rest kümmere ich mich.“
Wieder eine Pause, dann klappte sie das Handy zu.
„Okay, wir warten ein wenig und nach dem Anruf sehen wir weiter.“, verkündete sie und ließ sich auf dem Baumstumpf nieder, auf dem bis eben noch Lysander gesessen hatte.
„Dein Gesicht kommt mir bekannt vor, Gepard. Du hattest nicht zufällig etwas mit diesem toten Löwen zutun?“
Der Gepard verzog das Gesicht.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass Shira den Befehl ihn euch auszuliefern ausgeführt hat.“, brummte er. Keyra neigte den Kopf.
„Der Befehl wurde von Vorago erteilt, Lysander. Es wäre mehr als unklug gewesen diesen Befehl zu missachten.“
Lysander erwiderte nichts darauf. Diese Frau hatte wohl recht. Wieder mal war abwarten angesagt.
„Nochmals vielen Dank, dass ihr mich dabei sein lasst.“, sagte Elyra möglichst aufrichtig. Aminael grinste.
„Aber nicht doch. Du bist Voragos Schwester, wir vertrauen dir!“
Das war zwar gelogen, doch selbst wenn Elyra etwas im Schilde führte, würden sie dahinter kommen. Und dann hätte diese Frau nichts mehr zu lachen. Alle Blicke richteten sich nun auf Darian, der auf die Knie fiel.
„Ich bitte um Vergebung.“, hauchte er, worauf Aminael schlagartig ernst wurde.
„Es scheint, als hätte men Gift nun keine Wirkung mehr auf Shira Cygni!“
Aminael schnappte entsetzt nach Luft.
„Was? Wie ist das möglich?“
Darian schüttelte verwirrt den Kopf. Er wusste selbst nicht, wie das möglich war! Er überlegte einen Moment, dann begann er leise und noch immer völlig durcheinander zu sprechen.
„Sie war auf den Beinen, zwar blass aber munter. Sie oder ihr Freund, muss ein Gegenmittel gemischt haben. Eigentlich gibt es kein Gegenmittel gegen mein Gift.“
Aminael fauchte laut. Darian war das perfekte Ergebnis nach über Jahrzehnten genetischer Forschung und unzähligen Experimenten. Es hatte natürlich seinen Grund, warum es für sein Gift kein Gegenmittel gab. Er war nur zum töten geboren worden und das wusste er auch! Er durfte sich jeden Spaß erlauben, konnte alles haben was er wollte. Alles was er dafür tun musste, war zu gehorchen. Man konnte es Dummheit nennen. Oder er war einfach nur unglaublich gerissen. Ragnar fletschte die Zähne.
„Dieser Junge kann dieses Mittel unmöglich gemischt haben! Mag sein, dass er klug ist aber bisher hat es niemand geschafft, sich gegen Darian zur Wehr zu setzten. Erst recht kein ehemaliger Mensch!“
Ein lautes Knurren ging durch den Saal.
„Ich kann mir denken, wer dahinter steckt.“, brummte Ragnar und sah alle der Reihe nach bedeutsam an.
„Du meinst...“
Er ließ Aminael gar nicht erst aussprechen.
„Ja. Niemand sonst kennt sie so gut mit Heilmitteln aus. Ist sie hier?“
Aminael schüttelte den Kopf.
„In ihrem Zimmer war sie nicht. Keine Ahnung, ob sie hier im Anwesen ist. Suchen wir sie.“
Der Befehl wurde ohne zu zögern ausgeführt.
Genervt lief Sin auf und ab. Er konnte Elyra einfach nicht erreichen. Wahrscheinlich war Vorago bei ihr und sie konnte sich deshalb nicht melden. Doch das Risko enttarnt zu werden, war für sie verdammt hoch! Vorago war nicht dumm, Elyra allerdings auch nicht. Alle paar Sekunden warf Sin einen Blick aufs Handy.
„Durch das Anstarren wird es nicht klingen, Sin.“, meldete Shira sich zu Wort.
Sie war ein wenig genervt, was der Junge nun erst bemerkte.
„Glaubst du, Vorago hat es gemerkt?“, murmelte er und sah zu ihr hinüber. Sie stand in der Tür, die Arme verschränkt und zuckte nun mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Das wissen wir, wenn einer aus dem Rat hier auftaucht und uns die Hölle heiß macht. Oder Elyra tot hier abgeliefert wird.“
Sin schnaubte.
„Deine Grausamkeit ist mir noch immer unbegreiflich.“
Sie grinste kurz, kam dann aber auf ihn zu und riss ihm das Handy aus der Hand.
„Ich wette, ein paar andere sind gerade genauso ungeduldig wie du.“
Keyra stieß ein Fauchen als, als sie das Handy aufklappte.
„Na endlich. Was hat das denn so lange gedauert?“
Am anderen Ende der Leitung ertönte ebenfalls ein Fauchen, allerdings nicht ganz so aggressiv.
„Bitte etwas freundlicher. Hör zu, wir können Elyra nicht erreichen. Entwedern hat sie keine Gelegenheit dazu sich zu melden oder jemand hat sie erwischt. Aber völlig egal was da los ist, ihr werdet euch gedulden müssen.“
Keyra schloss seufzend die Augen. Wenn sie geahnt hätte das Shira dran ist, hätte sie sich nicht so ruppig zu Wort gemeldet.
„Vielleicht sollte ich mal nachsehen, was da los ist. Wir kennen ja alle Vorago und Ragnar.“, schlug sie nun ruhiger vor und warf Lysander einen Blick zu. Dieser hatte den Kopf geneigt. Wusste er überhaupt, worum es hier überhaupt ging? Die ganze Zeit über schon, hatte er sich über Shira aufgeregt. Er mochte sie nicht, das war offensichtlich. Blieb die Frage warum er sich dann dazu bereit erklärt hatte, ihr zu helfen. Worum genau ging es eigentlich? War das nicht die entscheidende Frage? Keyra war gegen die Brutalität des Rates, schon viel eher hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie alle schon den ein oder anderen Fehler gemacht hatten. Jaz ging es ähnlich. Doch was würde passieren, wenn sie offen über ihre Ansichten sprechen würden? Wahrscheinlich wären die Mitglieder, so wie Vorago oder Ragnar, völlig dagegen. Sie liebten es Macht zu haben. Sie gewannen immer die Oberhand, egal worum es ging. Doch dieses Mal sollte es anders sein. Vielleicht würde es Krieg geben. Doch vielleicht würde dieses Opfer den Frieden geben...
„Nein, Jaz ist schon unterwegs um nach Hinweisen zu suchen. Bleibe du mit Lysander auf Posten.
Apropos Lysander. Kommst du klar?“, erklärte Shira nun ebenfalls ruhig. Keyra kicherte, schnaubte dann aber. Sie wusste selbst nicht was für eine Wirkung das auf andere hatte und genau genommen war es ihr auch egal.
„Nicht zu fassen, dass du mir Befehle erteilst. Aber gut, ich werde hierbleiben. Der Gepard? Der hört nicht auf, sich über dich aufzuregen. Aber sonst benimmt er sich.“
Ein Lachen ertönte, welches auch für den Geparden zu hören war.
„Das war zu erwarten.“
„Sonst noch etwas?“, erwiderte Keyra und sah auf, Richtung Anwesen. Hoch oben, auf einem Hügel befand sich die Burg, die schon seit Jahrtausenden für Angst und Schrecken sorgte. Nun, in dieser Situation, wirkte sie fast noch beängstigender.
„Nein. Ich melde mich, wenn ich etwas von Elyra gehört habe. Ihr bleibt wo ihr seid.“
Wieder ein Seufzen von der Fledermaus.
„Alles klar.“
„Danke.“, sagte Shira noch, dann hatte sie auch schon aufgelegt. Keyra zog die Brauen hoch. Hatte sich die Leopardin gerade tatsächlich bedankt? Ein Rascheln ließ sie aufmerksam werden. Sie sah zu einem dichten Gestrüpp, aus dem plötzlich Kenai trat. Keyra stieß einen Laut der Überraschung aus. Der Alligator war ebenfalls im Rat tätig, stand jedoch nicht gerne im Mittelpunkt und meldete sich auch nicht sehr oft zu Wort. Doch er war für seine überragenden Kampfkünste berühmt und ebenso gefürchtet. Hatten sie verdacht geschöpft?
„Keyra Assrance, hiermit verhaften wir dich aufgrund von Hochverrats am Rat!“
Die Frau riss die Augen auf und trat ein paar Schritte zurück.
„Unmöglich! Warum?“
Mit gefählichen großen Schritten kam Kenai auf sie zu.
„Shira müsste tot sein, Keyra. Sie lebt noch. Deinetwegen!“
Innerlich fluchte die Frau. Sie hatten es tatsächlich herausgefunden? Sie überlegte. Wahrscheinlich hatten sie Darian geschickt um herauszufinden, ob sein Gift gewirkt hatte. Verdammt noch mal, Darian war in ihrem Anwesen gewesen, ohne das es jemand gemerkt hatte! Irgendjemand musste das Shira doch sagen!
„Ich verstehe nicht...“, murmelte sie gespielt und sah hastig hin und her. Ihre Nervosität war jedoch echt.
"Du bist die einzige die in der Lage ist, für Darians Gift ein Gegengift herzustellen. Leugnen ist demnach also zwecklos."
Sie konnte sich nicht rühren, denn er stand schon vor ihr. Hinzu kam, dass er auch noch um einiges größer war als sie. Lysander stellte sich schützend vor die Frau, auch wenn das nicht seine Art war und es eigentlich nie seine Absicht war, sich gegen ein Ratsmitglied zu stellen.
"Gibt es dafür auch Beweise?"
Kenai kniff die Augen zusammen.
"Geh mir aus dem Weg, Gepard."
Lysander schluckte, trat aber zur Seite und gab den Blick auf die Frau somit wieder frei.
Hilflos musste der Mann mit ansehen, wie der Frau Handschellen angelegt wurden.
Doch er schaffte es noch, ihr das Handy abzunehmen. Nun hatten sie ein Problem.Und zwar ein großes!
28
Sin kam ins Bad gestürmt, worauf Shira ihm einen giftigen Blick zuwarf. Der Junge hielt kurz inne und ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. Leider war für solche Dinge gerade keine Zeit.
„Keyra wurde fest genommen! Sie wissen, dass sie Gegengift für dich hergestellt hat.“, erklärte er hastig und hielt ihr das Handy an. Ihre Augen weiteten sich, wenige Sekunden später riss sie ihm das kleine Gerät aus der Hand.
„Lysander? Was ist passiert?“
Am anderen Ende der Leitung erklärte Lysander, was genau vorgefallen war.
„Scheiße!“, rief Shira schließlich fluchend aus.
„So eine Kacke! Was machen wir denn jetzt?“, brüllte sie ins Handy. Sin legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Doch er konnte sie verstehen. Ihm ging es gerade ziemlich ähnlich.
„Wir müssen auf Elyra warten. Und auf den Bericht von Jaz.“, sprach er leise und sah sie eindringlich an. Shiras Augen schlossen sich. Als sie sich wieder öffneten, hätte sie nicht entschlossener aussehen können.
„Bleibt wo ihr seid, Lysander. Ich mache mich auf den Weg.“
Nachdem Elyra die Soldaten verständigt hatte, lief sie aus dem Zimmer. Die Truppen würden um das Anwesen herum auf ihre Posten gehen. Sobald Elyra das Signal gab, würden sie angreifen. Blieb nur zu hoffen, dass Keyra bis dahin am leben blieb! Natürlich hatte sie bemerkt, dass Keyra fest genommen wurde. Doch nie hätte sie damit gerechnet, dass so etwas so schnell passieren würde. Als sie in der großen Halle ankam sah sie, wie Keyra auf die Knie gestoßen wurde. Direkt vor die Füße von Vorago.
„Habe ich was verpasst?“, fragte sie lachend und tänzelte auf ihren Bruder zu. Dieser warf ihr nicht mehr, als einen kurzen Blick zu. Elyra gesellte sich an die Seite ihrs Bruders und sah mitleidvoll zu Keyra hinab. So unauffällig wie möglich, natürlich!
„Sie hat uns verraten.“, sagte Vorago nun so kalt, dass es jedem der Anwesenden einen Schauer über den Rücken jagte.
„Was hat sie getan?“, hakte Elyra neugierig nach.
„Sie hat Shira Cygni am leben gelassen, dabei sollte sie schon längst tot sein.“
Niemand wagte es, auch nur ein Wort zu sagen. Zu viel Angst hatten sie in diesem Moment vor Vorago. Wenn dieser Mann Shira tot sehen sollte, dann würde sie sterben. Nichts und niemand würde das verhindern können. Schon gar nicht mit Worten. Glaubte Vorago zumindest. Elyra sah geschockt zu Keyra hinab, blieb aber still. Von nun an hielt sie die Klappe. Jedes weitere Wort wäre ein Risiko gewesen. Ihr Bruder erhob sich anmutig und blickte mit hasserfülltem Blick auf die gefesselte Frau am Boden nieder.
„Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Keyra?“
Die Frau am Boden spuckte ihm direkt vor die Füße.
„Fahr zur Hölle, Vorago! Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen. Glaube nicht, dass du der Anführer der Gestaltwandler bist! Ich gehöre ebenfalls zum Rat also was fällt dir ein, meine Entscheidungen infrage zu stellen?“
Angewidert verzog der Mann das Gesicht. Am liebsten hätte er sie nun getötet, doch er machte sich die Hände nicht ihretwegen schmutzig.
„Ich muss zugeben, dass du mich gerade beeindruckst. Schließlich hast du es noch nie gewagt, dich mir in den Weg zu stellen.“
Sein hähmisches Grinsen gefiel Keyra nicht. Sie wollte es zwar nicht zugeben, doch ein wenig Angst hatte sie schon. Jedoch hauptsächlich vor diesem Mann. Sie wusste ja nicht einmal, welche tierischen Gene er besaß! Gerade das machte ihn gefährlich. Doch sie war sich ziemlich sicher, dass dieses Geheimnis bald gelüftet werden würde.
„Sonst traut sich ja niemand.“, murmelte sie und beobachtete dann mit großen Augen, wie er ein Schwert zog und es seiner kleinen Schwester überreichte. Keyra vertraute Elyra. Sie hatte sicher einen Plan, dennoch wurde es nun brenzlig. Für einen kurzen Augenblick schweifte sie mit den Gedanken ab. Sie fragte sich, was Shira eigentlich vorhatte. Ob sie wohl auch noch hier auftauchen würde? Hoffentlich. Sie war nämlich eine Kriegerin, im Gegensatz zu Keyra selbst. Und auf Sin wäre sicherlich auch Verlass.
„Töte sie.“, befahl Vorago seiner Schwester.
Für einen kurzen Moment entglitten dieser die Gesichtszüge, dann grinste sie jedoch.
„Mit Vergnügen.“, hauchte sie und schritt langsam auf Keyra zu. Genau in diesem Augenblick drückte sie auf den kleinen Sender, der den Befehl zum Angriff gab.
Shira rannte weiter. Dabei war es ihr völlig egal ob Sin rief, sie solle stehen bleiben. Lysander hatte zwar alle seine Leute zusammen getrommelt, doch das reichte ihr nicht. Sie hatte es geschafft, noch einige Gestaltwandler mehr aufzutreiben. Nun konnte man sie fast schon als kleine Armee betrachten. Shira hatte ein komisches Gefühl. Ein sehr schlechtes, um genau zu sein. Völlig egal wie es jetzt im Inneren der Burg aussah, sie würden diese nun stürmen. Und zwar mit der Leopardin an der Front! Mit einigen hundert Metern Abstand folgten die Gestaltwandler ihr. Schon beim näherkommen des Anwesens bemerkte die junge Frau die Soldaten im Schutz der Bäume. Ein unauffälliges Signal von einem der Männer gab ihr zu verstehen, dass sie auf ihrer Seite waren. Scheinbar war das Elyras Werk. Nur wenige Sekunden später stürmten die Männer die Burg. Shira kniff misstrauisch die Augen zusammen. Scheinbar war etwas passiert. Sie wurde schneller. Im Anwesen angekommen musste sie sich kurz orientieren.
„Übernimm du das Kommando.“, murmelte sie und warf Sin einen kurzen Blick zu. Dann verschwand sie in einem, der vielen Gänge. Nun war es also soweit. Der Rat wurde angegriffen. Sie bewegte sich auf den großen Saal zu, aus dem Voragos Gebrüll hallte. Scheinbar waren diese Soldaten schon auf ihrem Posten. Shira hoffte, dass es Keyra und Elyra soweit gut ging. Sich selbst hatte sie aber nicht vergessen! Natürlich würde sie Rache an Darian nehmen. Und Aminael würde mehr verlieren, als nur ihre Gliedmaßen! Sie atmete noch einmal tief durch, dann trat sie die Tür zum Saal auf.
Elyra wusste gar nicht, worauf sie sich zuerst konzentrieren sollte. Keyra kniete noch immer auf dem Boden und sie selbst fühlte das Schwert schwer in ihrer Hand liegen. Ihr Bruder stieß immer wieder ein Brüllen aus. Oh ja, er war mehr als nur wütend! Immerhin war er von den stärksten Gestaltwandlersoldaten umstellt, die es auf der Welt gab. Ja, Elyra hatte sich reichlich Mühe gegeben. Es war auch nicht einfach gewesen, die alle aufzutreiben. Scheinbar wusste Vorago nicht wie er reagieren oder handeln sollte, denn er sah sich hektisch um. Das war für Keyra die Chance, sich zu befreien. Sie zerstörte die Fesseln und kam rasch wieder auf die Beine. Die Waffen der Soldaten richteten sich auf Vorago und auch Elyra hielt die Klinge des Schwertes in seine Richtung.
„Es ist aus, Vorago. Deine Spielchen haben nun ein Ende!“, fauchte sie. Keyra ging neben ihr in Stellung, doch Vorago fing nur an zu lachen. Er schnippte mit den Fingern, dann betrat plötzlich ein Mann den Saal. Keyra keuchte, denn neben diesem Unbekannten kam Jaz zum Vorschein, der mehr tot als lebendig war. Den Frauen wurde schlecht. Hautfetzen hingen ihm vom Leib, ein Augen war brutal herausgerissen worden und in seinem Bauch klafften Wunden die so tief waren, dass sie den Blick auf seine Gedärme freigaben.
„Jaz!“, kreischte Keyra. Sie wollte zu ihm, doch Elyra hielt sie mit einem Kopfschütteln zurück.
„Was wollt ihr bitteschön gegen mich ausrichten?“, lachte Vorago. Keyra stiegen die Tränen in die Augen. Nicht einmal in ihren Träumen hatte sie geahnt, wie schlimm das Ganze einmal werden würde. Stand nun doch ein Krieg bevor? War er nicht schon längst mit den Händen zu greifen?
Als plötzlich ein lautes Krachen ertönte richteten sich alle Blicke auf die Tür des Saals, die soeben gewaltsam aufgetreten worden war. Zähnefletschend kam Shira Cygni zum Vorschein. Allen, bis auf Vorago, lief ein Schauer über den Rücken. In diesem Moment war sie genauso beängstigend wie Elyras Bruder. Vorago brach jedoch nur in Gelächter aus.
„Sag bloß, du bist alleine gekommen?“, schnaubte er amüsiert. Shira antwortete nicht darauf und stolzierte mit großen Schritten in die Halle hinein.
„Muss ich dir dein Lachen aus dem Gesicht schlagen oder hörst du auch von alleine auf?“, knurrte sie leise und bedrohlich und kam ihm dabei immer näher. Der Mann jedoch rührte sich keinen Millimeter. Lediglich ein Schnauben war von ihm zu hören.
„Ich werde euch töten für das, was ihr den Gestaltwandlern angetan habt!“, hauchte sie. Vorago hätte mit einem Faustschlag gerechnet, doch das war eine Fehleinschätzung. Sie verwandelte sich und kaum hatte sie ein lautes Brüllen ausgestoßen, betraten auch Sin und Lysander den Saal. Sin verwandelte sich ebenfalls und sprang an Shiras Seite, um seine Unterstützung somit allen zu signalisieren. Lysander befehligte die restlichen Gestaltwandler, dann brach Chaos aus.
Um Vorago würde sie sich später kümmern, zuerst waren Darian und Aminael an der Reihe. Shira entdeckte die Schlange hinter einem der Thronstühle. Überraschenderweise hatte er sich nicht verwandelt. Wahrscheinlich wusste er, dass er in seiner tierischen Gestalt keine Chance hatte. Innerlich grinsend schlich sie sich unbemerkt an ihn heran. Sie gab ihm gar nicht erste eine Chance. Erst brachte sie ihm mit der rechten Pranke zu Boden, dann verbiss sie sich in seiner Kehle, um ihn erst einmal ordentlich durchzuschütteln. Das Schädeltrauma das er dadurch erlitten hatte war aber nicht die Ursache für seinen Tod. Sie verwandelte sich zurück und zückte einen langen, spitzen Dolch, den sie ihm mehrere Male durch den Schädel stieß. Qualvoll schrie er auf, doch Shira grinste nur. Dieser Krieg war die Gelegenheit, den gesammelten Frust und Ärger abzubauen, der sich über all die Jahre in ihr gestaut hatte. Noch bevor Darians Herz aufgehört hatte zu schlagen, war sie wieder in tierischer Gestalt. Ihr war völlig egal, dass in dieser Halle gerade ein Massaker angerichtet wurde. Nun konzentrierte sie sich nur auf Aminael, die in Wolfsgestalt schon direkt auf sie zugelaufen kam. Brüllend und mit ausgefahrenen Krallen sprang der Panther in die Luft. Die beiden Raubtiere trafen in der Luft aufeinander, dann war nicht mehr zu erkennen, wer wen verletzte. Blut spritzte Meter weit, Zähne waren zu sehen, von den Pranken mal ganz abgesehen. Shira brüllte als die Wölfin ihr einige Sehnen und Muskeln im Arm zerfleischte. Wie lange es wohl dauern würde, bis das verheilt war? Shira nutzte ihr gesamtes Gewicht um Aminael zu Boden zu ringen. Dann begann sie, an ihren Pfoten zu nagen. Schmerzerfüllt jaulte die Wölfin auf. Schon nach wenigen Minuten blitzten Knochen im Fleisch auf. Fast schon amüsiert riss Shira der Frau schließlich alle Gliedmaßen ab. Nun konnte sie sich nicht mehr bewegen. Shira konnte mit ihr also machen, was sie wollte. Wieder verwandelte sie sich zurück. Den Dolch dieses Mal allerdings in der anderen Hand. Ihren rechten Arm konnte sie zwar noch bewegen, doch sie wollte ihn schonen. Nur für den Fall der Fälle... Grinsend ließ sie die Klinge im Licht aufzublitzen.
„Niemand kommt Sin zu nahe! Nicht einmal du!“, knurrte sie.
Dann begann die grausame Prozedur. Sie schnitt ihr die Ohren ab, die Zunge, die Augen durften natürlich auch nicht an Ort und Stelle bleiben. Wimmernd und winselnd lag die Frau schließlich unter ihr. Shira lächelte kurz, dann schnitt sie Aminael die Kehle durch.
Mit blutdurchtränkten Kleidern richtete sie sich auf. Ihr Arm schmerzte, doch sie hatte jetzt ganz andere Sorgen. Sie ließ den Blick schweifen. Überall war Blut. Der Boden war zudem noch voll von Gedärmen und Gehirnen, die noch schlagenden Herzen nicht zu vergessen. Viele der Soldaten waren tot, doch auch Ratsmitglieder hatte es erwischt.
Sie hustete, wobei sie Blut spuckte. Sin konnte sich locker auf den Beinen halten, ebenso wie Keyra und Elyra, was sie beruhigte. Was Jaz und Lysander jedoch betraf...Sie bezweifelte, dass die beiden lebend aus diesem Kampf herauskamen. Vorago hatte sich zurückgezogen. Shira fragte sich, warum er sich nicht verwandelt hatte. Und warum seine Schwester das ebenfalls nicht getan hatte. Blut lief Shira langsam über die Wange. Es war nicht ihres, doch sie kümmerte sich nicht darum es wegzuwischen.
Warum glaubst du, haben sich die beiden nicht verwandelt?, meldete Sin sich plötzlich in ihren Gedanken.
Keine Ahnung. Aber wir werden es früher oder später herausfinden., erwiderte sie und beobachtete, wie sich ihr Freund zurückverwandelte. Langsam reihten sie sich in einer Reihe auf. Sin, Shira, Keyra und Elyra. Sie alle standen nun Vorago gegenüber, der als einziger übrig geblieben war.
„Was willst du nun tun, Vorago?“, knurrte Keyra drohend.
Vorago beachtete sie nicht und wandte sich an seine Schwester.
„Was fällt dir eigentlich ein, dich gegen deinen eigenen Bruder zu stellen?“, brüllte er mit angsteinflößendem Unterton in der Stimme.
„Du bist in all den Jahren noch grausamer geworden, Bruder. Ich kann nicht zulassen, dass du noch mehr Fehler machst!“, war ihre simple und trockene Antwort. Vorago schnaubte.
„Noch mehr Fehler? Kleines, ich habe so viele Fehler begangen, dass sie mir inzwischen völlig egal sind! Ich habe Mutter und Vater nicht ohne Grund umgebracht!“
Elyra liefen die Tränen bereits über die Wangen. Sie war nie über den Tod ihrer Eltern hinweg gekommen. Shira blieb ruhig, auch wenn ihr diese Situation ganz und gar nicht gefiel.
„Ich werde dir das nie verzeihen, Vorago! Glaub nicht, dass ich nicht versuchen werde dich zu töten!“, zischte Elyra.
„Ziemlich große Worte, für eine kleine Frau wie dich.“, erwiderte Vorago und kam langsam auf die vier zu. Shira, Sin und Keyra gingen in Position, lediglich Elyra trat einige Schritte vor. Irritiert beobachteten die anderen drei, wie die Luft zu flimmern begann.
„Sag bloß...sie verwandeln sich!“, hauchte Keyra fassungslos. Die Fledermaus konnte nicht verhindern, dass sie auf die Knie sank. Sie konnte nur in ihrer menschlichen Gestalt kämpfen, doch sie war ihren Verletzungen in diesem Moment ausgeliefert. Sie war nicht in der Lage weiterzumachen, das merkte sie nun. Es war schon ein Wunder, dass sie noch bei Bewusstsein war. Shira und Sin schenkten ihr zwar keine Beachtung, doch sie nahm es ihnen nicht übel. Sie mussten sich auf die Dinge vor ihnen konzentrieren.
29
Atemlos beobachtete Shira, wie Elyra und Vorago sich vor ihren Augen in zwei unglaublich monströse Kreaturen verwandelten. Sie musste wieder husten, doch auch wenn das Blut schon aus ihrem Mund lief, es kümmerte sie nicht! Scheiße noch mal, diese Schmerzen raubten ihr fast den Verstand, doch sie konnte nichts anderes tun, als diese zwei riesigen Drachen anzustarren!
Der eine rot, Elyra, der andere schwarz, Vorago. Unruhig wanderte ihr Blick zwischen den beiden hin und her. Drachen. Es gab sie wirklich! Fassungslos begann Shira einige Schritte rückwärts zu taumeln.
„Wir müssen hier raus!“, hauchte sie und packte Sin an der Hand. Das er unglaubliche Schmerzen haben musste, da seine Hand zertrümmert gewesen war, war dem Mädchen in diesem Moment ebenfalls egal. Sein Leben war alles, was ihr je wichtig gewesen war.
„Shira, was...“
Sie zog ihn mit, immer weiter Richung Ausgang. Um Keyra, die sie soeben zurückgelassen hatten konnte sie sich keine Gedanken machen. Sie hatten ja eigentlich überhaupt nichts miteinander zutun.
„Wenn die beiden gegeneinander kämpfen, legen sie die gesamte Burg in Schutt und Asche!“, schrie die Leopardin. Wahrscheinlich hatten Elyra und Vorago das gehört, doch darüber würden sie sich genauso wenig Gedanken machen sie selbst. Ihre Worte schienen Sin einzuleuchten, denn er passte sich ihrem Tempo an, welches sie inzwischen selbst nur noch schwer halten konnte.
„Bist du sicher, dass Elyra klar kommt?“, hakte er besorgt nach, weshalb Shira die Augen verdrehte.
„Sie ist ein Drache!“, brüllte sie.
Während sie liefen zog sie sich in ihre Gedanken zurück. Sie musste mich geschlagen geben, dies hier war nicht mehr ihr Kampf, sondern Elyras. Sie hatte ihre Rache bekommen, auch wenn nur zwei Personen darunter gelitten hatten. Doch sie fühlte sich besser. Was ihre Verletzungen anging... Noch sorgte das Adrenalin dafür, dass sie den Schmerz nicht so deutlich verspürte, doch sobald sie aufhören würde zu laufen ginge es los. Shira warf Sin einen Blick zu. Er wirkte konzentriert. Der jungen Frau gelang ein Lächeln. Ja, sie war glücklich! Seinetwegen. Keine Ahnung ob das zwischen ihnen für immer halten würde, doch die Zeit würde Antworten liefern. Es hatte ihr am Anfang nicht gefallen, dass er die DNS eines bengalischen Tigers in sich trug, doch inzwischen fand sie es sogar ausgesprochen sexy! Shira sah über ihre Schulter zurück zum Saal.
Viel Glück, Elyra!
Elyra hatte bisher keinen Kampf ausgetragen. Sie wollte sich ihre gesamte Kraft für Vorago aufheben. Sie hatte geahnt, dass sie in solch eine Situation geraten würde. Nun standen sie sich gegenüber, in ihrer wahren Gestalt. Sie hatten den Schock in Shiras Augen gesehen woraus sie schloss, dass die Leopardin nicht gewusst hatte, dass Drachen tatsächlich existierten. Elyra musterte ihren Bruder ganz genau. Er hatte einige Schussverletzungen, die von den Soldaten herrührten, und auch einige offene Fleischwunden, die ehrlich gesagt ziemlich übel aussahen. Doch er ließ sich weder Schmerz noch Erschöpfung anmerken. Sie schluckte. Seine grauen kalten Augen waren unaufhörlich auf sie gerichtet und es wunderte sie, dass er nicht schon längst angegriffen hatte. Elyra wollte ihn nicht angreifen. Er musste den ersten Schritt machen, damit sie seine Art zu kämpfen analysieren konnte. Doch diesen Gefallen wollte er ihr scheinbar nicht tun. Elyra holte tief Luft, dann schoss eine Flamme auf ihren Bruder zu. Dieser machte einen gewaltigen Satz zur Seite um auszuweichen, wobei die gesamte Burg zu beben schien.
Vielleicht tat sie das ja, wer konnte das schon sagen? Vorago war durch das Feuer einen Moment lang abgelenkt, weshalb Elyra ihre Chance sah und sich ebenfalls nach vorne wagte. Mit ihrer riesigen Klaue holte sie aus und verpasste ihm tiefe Fleischwunden. Danach schnappte sie nach ihm und biss ihm in den langen, schuppigen Hals. Sie brüllte auf als sein langer und spitz zulaufender Schwanz sie traf und gegen die Wand warf, die bei dieser enormen Krafteinwirkung sofort nachgab. Staub wirbelte auf uns Trümmerteile flogen durch die Luft. Elyra brüllte erneut auf als ihr Bruder mit einer seiner Pranken plötzlich auf ihren Brustkorb trat. Schlagartig wurde die Luft aus ihren Lungen gepresst. Ihr Bruder brüllte laut und senkte seinen gehörnten Kopf herab. Moment mal! Er wollte ihr doch nicht etwa den Kopf abreißen? Sie beschloss es ihm nachzutun und schlug mit ihrem Schwanz so lange hin und her, bis sie ihn schließlich erwischte und er mit seinem enormen Gewicht ebenfalls eine Seite des Saals völlig zum Einsturz brachte. Wieder bebte der Boden. Elyra kam wieder auf die Beine. Wenn sie so weiter machten, würden sie sehr bald unter den Trümmern der Burg begraben werden. Erneut rollte eine Feuerwalze auf Vorago zu, dieses Mal hatte er aber keine Gelegenheit auszuweichen. Die Flammen erwischten ihn am Hals und an der Brust, verursachten dank der Schuppen aber leider keinen all zu großen Schaden. Noch ein Beben. Die Decke stürzte ein, Elyra wich den Trümmerteilen aber aus. Vorago hatte weniger Glück. Eine Steinplatte fiel direkt auf seine Hinterläufe. Elyra breitete die großen Flügel aus und erhob sich in die Lüfte, um von dort aus im Sturzflug auf Vorago zuzustürzen. Mit ihren Hörnern erwischte sie ihn im Hals, leider ein paar Zentimeter Abseits der Halsschlagader. Wieder wirbelte Staub auf als Vorago es schaffte, sich von den Trümmerteilen zu befreien. Mit der Klaue schlug er nach ihr. Er erwischte sie direkt im Gesicht, wodurch auch ihr Auge in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das würde mehrere Narben geben. Sie kniff das Auge zusammen, weshalb ihr Sichtfeld nun eingeschränkt war. Ihr Bruder nutzte das natürlich aus, er sprang an ihre Seite, ohne das sie es sehen konnte und stieß sie mit voller Wucht voran, wodurch sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Es folgte ein lautes Brüllen. Innerlich schrie sie laut auf. Vorago hatte ihr soeben ein Stück Fleich aus der Seite herausgebissen. Sie hatte darauf vertraut, dass die dicken Schuppen sie vor solchen Dingen schützen würden, doch anscheinend war dem nicht so. Das Blut sammelte sich um sie herum und ihre Sicht auf dem gebliebenen Augen verschwamm. Sie durfte sich nicht von ihrem Bruder unterkriegen lassen! Vor Wut bebend kam sie wieder auf die Beine. Feuer wurde mit Feuer bekämpft, das war schon immer so. Also stieß sie mit ihren Hörnern nach ihm, entstellte ebenfalls sein Gesicht durch ihre Klauen und schlug ihn mehrere Male mit ihrem Schwanz. Nach mehreren Minuten fiel er schnaubend um, nach Luft ringend. Er wollte sich erheben, doch nun war Elyra diejenige die ihn zu Boden drückte und ihm schließlich den Brustraum aufschlitzte. Als ob das nicht schon genug wäre biss sie ihm ebenfalls einige Stücke Fleisch aus der Brust. Sein Brüllen verursachte ein erschreckend lautes Piepen in ihren Ohren, doch diese Kleinigkeit machte ihr gerade ziemlich wenig aus. Nun konnte sie sich wieder auf eine Stufe mit ihm stellen. Beide würden nach einiger Zeit aufgrund des Blutverlustes zusammenbrechen. Es war halt nur eine Frage der Zeit. Elyra erstarrte als sie sah, dass Vorago sich zurückverwandelte.
„Elyra.“, keuchte er unter ihrem Gewicht.
Aus glanzlosen Augen sah er zu ihr hinauf, die Lider halb geschlossen. Sie verwandelte sich ebenfalls zurück und sah ihn aufmerksam an. Sie spürte seinen schwachen Herzschlag unter sich, doch Mitleid hatte sie keines für ihn übrig. Auch wenn er ihr Bruder war.
„Wieso tötest du deinen...eigenen Bruder?“
Er atmete schwer, sprach leise und mit kratziger Stimme. Beider Kleidung war zerfetzt und blutdurchtränkt.
„Du hast Mom und Dad getötet.“, hauchte das kleine Mädchen mit Tränen in den Augen.
„Und du hast zu viele Fehler in deinem Leben begangen, Bruder.“
Voragos Augen schlossen sich, öffneten sich nach einigen Sekunden aber wieder.
„Weißt du eigentlich...was sie dir angetan haben?“, sprach er stockend weiter.
Sie konnte es spüren. Nicht mehr lange und auch der Rest seines Lebens würde aus ihm weichen.Elyra schwieg. Was auch immer er sagen wollte, sie würde es sich anhören. Doch sie verstand nicht genau, was hier gerade eigentlich passierte. Warum rastete er nicht aus und stand vor Wut wieder auf, so wie er es sonst tat? Nie hatte sie ihn so gesehen. Verletzt, keuchend, schwach, halb tot unter ihr, mit Reue in den Augen. Und was tat sie? Mit kalten Augen starrte sie ihn an. Sollte sie ihn nicht bei der Hand nehmen und sich dafür entschuldigen, dass sie ihm das angetan hatte?
„Sie haben uns misshandelt, Elyra. Haben dich geschlagen und links liegen gelassen. Sie wollten dich nicht. Und wenn ich dich beschützt habe, haben sie auch auf mich eingeschlagen. Glaubst du, ich wäre ohne Grund so, wie ich jetzt bin?“
Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben, weshalb ihr Bruder ein schwaches aber wehmütiges Lächeln zeigte.
„Sieh mich nicht so an, kleine Schwester.“, flüsterte er. „Du warst so klein, natürlich kannst du dich daran nicht erinnern. Ich weiß, ich hätte mit dir darüber sprechen sollen aber was hätte es geändert? Sie waren tot, die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Ich dachte du würdest mir nicht glauben, deswegen habe ich auch in der heutigen Zeit nicht mit dir darüber gesprochen. Ich hoffe du kannst mir verzeihen, Elyra.“
Die Tränen liefen über. Er sammelte seine letzten Kräfte nur, um ihr das zu sagen? Hastig schüttelte sie den Kopf.
„Warum hast du nichts gesagt, Vorago? In all den Jahren habe ich dich für einen abscheulichen Mann gehalten der dabei nichts anderes getan hat, als seine kleine Schwester zu beschützen! Was fällt dir eigentlich ein, mir das bis zu diesem Zeitpunkt zu verschweigen! Ich wäre nie so weit gegangen! Nicht einmal im Traum hätte ich dann daran gedacht, dich anzugreifen.“
Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich wegbrach.
Gerade so gelang es dem Drachen unter ihr den Arm zu heben und ihre Tränen wegzuwischen.
„Du bist so zerbrechlich, Elyra, auch wenn du es nicht wahr haben willst. Ich habe es verdient, Kleines. Ihr alle habt Recht, sogar Shira! Ich habe Fehler begangen und einige davon bereue ich sogar. Doch das ich hier nun liege beweist nur, was für eine starke Frau meine kleine Schwester doch geworden ist.“
Diese Worte ließen Elyra nun vollends schluchzen. Sie schloss das Auge, rieb sich mehrmals mit dem Arm darüber, doch die Tränen versiegten nicht. Als sie Vorago wieder ansah erkannte sie, dass es zu spät war.
„Nein!“, schrie sie und packte ihn an den Schultern. „Mach die Augen auf!“, brüllte sie und schüttelte ihn.
„Es tut mir doch so leid! Hör dir gefälligst an, was ich zu sagen habe!“
Doch so sehr sie auch schrie, er hörte nicht. Um sie herum wurde es ruhig. Nichts war zu hören.
Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, seine Lungen arbeiteten nicht mehr und seine Augen waren geschlossen.
„Ich liebe dich, Bruder.“, flüsterte sie, dann wurde alles um sie herum schwarz.
30
Als sie aufwachte warf sie sofort einen Blick aufs Handy. Wieder nichts. Drei Tage waren vergangen und Elyra hatte sich noch immer nicht gemeldet.
„Alles okay?“, hauchte Sin ihr ins Ohr und drückte sie fester an seine Brust. Shira drehte sich in seinen Armen und sah besorgt zu ihm auf.
„Elyra hat sich immer noch nicht gemeldet. Glaubst du Vorago hat...“
Sie verstummte. Seit drei Tagen waren sie nun schon wieder Zuhause. So schnell wie möglich waren sie vom Sitz des Rats verschwunden. Das war nicht gerade fair den anderen gegenüber, doch auch ihre Körper waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Shiras Arm würde Wochen benötigen um vollends wieder zu funktionieren. Sin hatte, Gott sei Dank, nur Prellungen und Quetschungen erlitten, welche schon so gut wie unsichtbar geworden waren. Statt sich auszukurieren kümmerte er sich also um Shira, die vor Alpträumen kaum noch schlafen konnte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es noch nicht vorbei war, doch Sin wollte sie nichts davon erzählen. Er würde sich nur wieder Sorgen um sie machen und das wollte sie verhindern, da er sie ohnehin schon bemutterte.
„Elyra hat bewiesen, dass sie mehr ist als nur eine schwache Frau. Ich bin sicher sie kommt klar.“, erwiderte Sin, doch seine Freundin wollte dies nicht so recht glauben. Sie sah das Gefühl in seinen Augen aufblitzen. Jenes, welches ihr Sorgen bereitete.
„Vielleicht wäre es besser, wir sehen uns die Burg mal an. Oder besser gesagt das, was von ihr übrig geblieben ist.“, schlug sie vor und stieg auch schon aus dem Bett. Sin verkniff es sich zu seufzen. Begeistert war er von dieser Idee zwar nicht, doch wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, wäre daran nichts mehr zu ändern. Widerwillig erhob er sich also auch, um sich ebenfalls anzuziehen und ihr zu folgen. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr der Anblick der vielen Leichen nicht bekommen würde. Ihm allerdings auch nicht...
Am Schlachtfeld angekommen trafen Keyra und Lysander mit Sin und Shira zusammen.
„Lysander, du lebst.“, stellte Shira leise fest.
Der Gepard nickte, doch die Verletzungen zeichneten ihn noch immer.
„Ja, gerade so.“, erwiderte er schwach lächelnd. Shiras Mundwinkel zuckten, doch sie wurde sofort wieder ernst.
„Was ist mit Jaz?“, flüsterte sie und sah zu Keyra, die mit glänzenden Augen den Kopf schüttelte.
„Tut mir leid.“, sagte Sin leise. „Wir wissen, wie sehr du ihn geliebt hast.“
Für einige Sekunden traute sich keiner etwas zu sagen. Sie alle ließen den Blick schweifen, über die unzähligen Leichen und das viele getrocknete Blut.
„Habt ihr etwas von Elyra gehört?“, meldete Shira sich dan zu Wort.
Doch die beiden antworteten nicht. Ein klares Nein. Nachdem alle vier das Schlachtfeld abgelaufen waren, rief Lysander plötzlich nach ihnen. Sie sammelten sich und hielten alle geschockt den Atem an. Vorago lag zerfleischt auf dem steinigen Boden, Elyra ebenfalls mit tödlichen Verletzungen über ihm. Shira ging in die Hocke und ließ die Hand über die Wange der Frau gleiten. Ihre Haut war eiskalt.
„Sieht so aus, als würden wir nie erfahren, was genau in den Leben der beiden alles passiert ist. Doch mir scheint, als hätten sie sich bis zum Ende geliebt.“, flüsterte sie und schloss unter Tränen die Augen.
„Vielleicht sind sie glücklicher gestorben, als wir vermuten.“, murmelte Keyra und wandte sich ab.
Überrascht sahen die anderen drei sie an. Sie alle hörten den Unterton in ihrer Stimme.
Shiras Stimmung trübte sich noch ein wenig mehr. Sie wusste ganz genau, dass Keyra Jaz nie gesagt hatte was sie empfand. Umso mehr konnte sie verstehen, was sie das gerade eben gesagt hatte. Keyra drehte sich plötzlich um und sah der Leopardin direkt in die Augen. Ertappt senkte Shira den Blick.
„Dein Gesicht verrät mir, dass du dir noch immer Sorgen machst. Worüber?“
Der verlangende Tonfall der Fledermaus hätte Shira beinahe schmunzeln lassen. Ihr Charakter zeugte noch immer von Führungsqualitäten.
„Sind alle anderen Ratsmitglieder tot oder nicht?“, murmelte sie und beobachtete somit Keyras Frage. Doch niemand verstand ihre Worte.
„Junge Dame.“
Der fordernde Unterton in der Stimme des Mannes blieb ihr nicht verborgen. Ohne etwas zu sagen drehte sie sich zu ihm um, dann folgte sie ihm in sein Arbeitszimmer.
„Ich habe einen neuen Auftrag für dich.“, sagte er barsch und ließ sich am Schreibtisch nieder.
„Was muss ich tun?“, sagte sie monoton.
Er grinste.
„Es geht um deine Schwester.“, verkündete er, worauf sich die Miene der Frau sofort verfinsterte.
„Soll ich sie dir ausliefern?“, hakte sie knurrend nach.
Er schüttelte den Kopf und sein Grinsen wurde breiter.
„Ich erteile dir die Erlaubnis mit ihr zu machen, was du willst. Und nun geh, Azura.“
Die Frau verneigte sich leicht.
„Wie Ihr befiehlt, Ragnar.“
„Du lächelst?“, hakte Sin erstaunt nach als er sah, dass Shira gut gelaunt aus dem Bad trat.
„Mein Arm macht wieder alles mit.“, verkündete sie lächelnd und bewies es ihm auch sogleich, mit ein paar Dehnübungen.
„Dann brauche ich ja keine Rücksicht mehr auf dich zu nehmen.“, schmunzelte der Junge und zog sie in seine Arme, um sie wild und ungestüm zu küssen.
„Bist du immer noch besorgt?“, murmelte er, nachdem er von ihr abgelassen hatte.
„Ja. Es gibt kein Beweis dafür, dass alle Ratsmitglieder tot sind.“, erwiderte Shira und trat ein paar Schritte zurück. Sin wusste das Shira recht hatte, doch er sprach es nicht aus.
„Vielleicht sollten wir Keyra einen Besuch abstatten. Möglicherweise gibt es Neuigkeiten.“, schlug er vor, worauf das Mädchen schwach nickte. Vielleicht hatte die Frau ja tatsächlich Neugikeiten?
Bei Keyra angekommen mussten Sin und Shira feststellen, dass es wirklich Neues gab. Nur hatten sie mit dieser Art von Nachricht nicht gerechnet.
„Lysander wohnt bei dir?“, hakte Shira nun schon zum dritten Mal nach. Keyra nickte erneut.
Sie verstand nicht, warum das Mädchen dies so ungewöhnlich fand.
„Keyra, gibt es noch andere Neuigkeiten?“, meldete Sin sich zu Wort und kam somit sofort zur Sache. Doch Keyra schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts. Niemand hat sich gemeldet deswegen gehe ich davon aus, dass alle Ratsmitglieder tot sind. Von euer Seite etwas Neues?“
Auch Sin schüttelte den Kopf.
„Ebenfalls nichts. Genau das bereitet Shira ja solche Sorgen.“
Beide warfen dem Mädchen einen Blick zu. Diese sah sich immer wieder um, weshalb Sin sogleich aufmerksam wurde.
„Stimmt was nicht, Süße?“, fragte er leise und sah sie mit tiefgründigem Blick an.
„Alles bestens. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beobachtet werden.“
Keyra bekam ihre kleine Unterhaltung mit und machte eine kurze Geste mit der Hand.
„Ach, mach dir keine Gedanken. Ich habe hier so viele Bediensteten, einer von denen hat dich immer im Blick. Ignorier das einfach.“
Die Fledermaus klang so zuversichtlich, dass Shira nur „Ich hoffe du hast recht.“, murmeln konnte.
Die drei tranken noch gemeinsam einen Kaffee und überlegten, wie es weitergehen sollte, dann machten Shira und Sin sich wieder auf den Weg.
Azura fletschte die Zähne. Shira sah sich immer wieder um, sie schien bemerkt zu haben, dass sie verfolgt wurden. Doch sie würde noch nicht aus ihrem Versteck herauskommen. Nein, sie würde dann angreifen, wenn dieses Mädchen nicht damit rechnen würde. Doch Azura musste zugeben, dass sie mit solch einer Art von jungen Frau nicht gerechnet hatte. Sie hatte sie schon einige Male gesehen, dieses Mädchen war mehr als nur brutal! Sie hatte mit einem verschüchterten Mädchen gerechnet, dadurch das sie ja so viel erlebt hatte, allerdings war sie ja das genaue Gegenteil davon.
Azura hasste Shira, auch wenn sie sie nie wirklich kennengelernt hatte. Schon das Äußere dieses Kindes ließ darauf schließen, wie sie so tickte. Azura schüttelte den Kopf um sämtliche Gedanken beiseite zu schieben. Sie hatte sich gefälligst zu konzentrieren!
31
Erst als Sin sie antieß bemerkte sie, dass er mit ihr gesprochen hatte.
„Hm?“
Gedankenverloren sah sie zu ihm auf.
„Du bist immer noch so komisch.“, stellte der Junge erneut fest. Shira senkte den Blick ein wenig und ihre Augen verengten sich.
„Wir werden immer noch beobachtet.“, antwortete sie leise, worauf sich nun auch Sin umsah. Es würde wohl noch daurern bis die Aufmerksamkeit des Tigers sich so weit gesteigert hatte, bis er solche Dinge endlich bemerken würde.
„Wer glaubst du, ist es?“, fragt er leise.
„Keine Ahnung.“, flüsterte Shira zurück und sah wieder über ihre Schulter.
„Vielleicht ein Überlebender des Rats.“, schlug sie vor.
Sin antwortete nicht, er hatte ja selbst keine Antwort darauf. Je näher die beidem ihrem Zuhause kamen, desto extremer wurde es.
„Es wird schlimmer.“, meldete sie sich deswegen zu Wort.
Sin musterte sein Mädchen. Sie war schon die ganze Zeit über so aufmersakm, dass sie ihn nicht ein einziges Mal angesehen hatte. Und das war mehr als nur gewöhnlich! Noch einige hundert Meter von ihrem Anwesen entfernt drehte sie sich plötzlich um.
„Jetzt komm schon raus.“, murmelte sie und ließ den Blick über jeden noch so kleinen Stein schweifen. Es dauerte gut fünf Minuten, dann stand eine schlanke und vollbusige Blondine vor ihnen. Sins Augen weiteten sich, als er die große Ähnlichkeit zwischen Shira und dieser Frau sah. Der einzige große Unterschied zwischen der beiden, war das wasserstoffblonde Haar der Frau. Dennoch war zu sehen, dass die beiden ein nicht gerade kleiner Altersunterschied voneinander trennte. Warum nur glaubte Sin, dass diese Frau Shiras Mutter sein könnte? Anscheinend hatte seine Freundin keine Lust auf ein Starr-Wettbewerb, denn sie öffnete selbstbewusst den Mund.
„Darf ich fragen wer du bist und warum du uns wie ein Köter hinterher läufst?“, zischte sie.
Die Blondine zog die Brauen hoch.
„Mir war klar, dass du frech sein würdest aber ein solch respektloses Kind hatte ich dann doch nicht erwartet.“, erwiderte sie tonlos.
Sin blinzelte. Trotz dieser Ausdruckslosigkeit konnte diese Stimme einen Kerl glatt verführen. Er fragte sich, ob Shira das ebenfalls bemerkt hatte. Scheinbar ja denn er stellte fest, dass sie den Kopf um ein paar Zentimeter geneigt hatte.
„Ich warte immer noch auf eine Antwort.“, sagte sie und stemmte nun auch eine Hand in die Seite.
Die Blondine fing plötzloch an breit zu grinsen, was den beiden sofort verdächtig vorkam.
„Ich, meine Liebe, bin Azura. Und du bist meine kleine Schwester!“
Sin ahnte, dass für Shira gerade eine Welt zusammenbrechen musste. Zu erfahren das sie eine Schwester hatte, dazu noch eine die wesentlich älter war als sie, war sicherlich nicht schön. Gerade für sie nicht. Doch überraschenderweise zeigte sich ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Das ich eine Schwester haben soll, ist mir neu.“, scherzte sie und wechselte einen Blick mit Sin. Doch dann begann die Frau, die ganze Geschichte zu erzählen.
„Weißt du, ich wurde schon viele Jahre vor dir geboren. Mom und Dad haben mich mit Liebe überschüttet und mir keinen Freiraum gelassen, weshalb ich abgehauen bin bevor du geboren wurdest. Ich hatte vermutet, dass sie dich an meiner Stelle so behandeln aber es kam ja dann doch anders, als erwartet. Wie dem auch sei, egal wie sie mich behandelt haben, ich habe sie geliebt. Ich kann nicht fassen, dass du sie getötet hast! Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich hasse?“
Azura wurde immer lauter, bis ihre Stimme in ein lautes Schreien überging. Shira zog perplex die Brauen hoch.
„D-Das zu glauben fällt mir gerade ausgesprochen schwer aber...wenn sie dich mit Liebe überschüttet haben, warum waren sie dann mit mir so überferdert?“, murmelte sie, worauf Azura ein spöttisches Schnauben ausstieß.
„Ich war geplant. Du, meine Liebe, hast die beiden regelrecht aus der Bahn geworfen.“
Shira griff nach der Hand ihres Freundes.
„I-Ich versteh das nich. Warum hat mir Vater nie etwas gesagt?“, hauchte sie.
Sin streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken.
„Spielt das denn jetzt noch eine Rolle, Süße?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, wahrscheinlich nicht.“
Kurz wanderten ihre Augen hin und her, dann richtete sich ihr Blick auf ihre Schwester, die die Arme vershränkt hatte.
„Aber...selbst wenn das stimmt, was willst du von mir? Ich will überhaupt nichts mit dir zutun haben und ich nehme an, das beruht auf Gegenseitigkeit.“, sagte sie dann und wartete, ebenso gespannt wie Sin, auf eine Antwort. Irgendetwas gefiel Shira hier nicht. Sie konnte es nicht definieren, doch das was sie gerade fühlte beunruhigte sie zutiefst. Azura machte einen Schritt auf die beiden zu.
„Ach komm schon, Schwesterherz. Du weißt doch ganz genau warum ich hier bin.“, sagte sie mit dunkler Stimme, worauf Shira die Hände zu Fäusten ballte. Das diese Frau sie hasste war nicht zu übersehen und Shira ahnte natürlich schon, was gleich kommen würde.
„Warum erst jetzt? Warum nicht schon damals, direkt nachdem ich sie getötet habe?“, fragte sie.
Am liebsten wäre sie einen Schritt zurückgetreten, doch sie riss sich zusammen.
„Weil ich nicht die Erlaubnis hatte.“, erwiderte die Blondine und zuckte mit den Schultern.
Sin neigte ebenfalls den Kopf.
„Du unterstehst also jemandes Befehl?“, hakte er vorsichtshalber noch einmal nach. Azura nickte.
„Leider ja. Doch glücklicherweise wurde mir erlaubt, mit meiner Schwester alles zu tun, was ich will.“
Die Augen der Leopardin schlossen sich kurz.
„Ich nehme an du bist nicht darauf aus, mit mir zu plaudern.“, murmelte sie.
Das schwache Lächeln der Frau verwandelte sich in ein raubtierhaftes Grinsen.
„Schlaues Mädchen! Ich bin hier um Rache auszuüben, Shira. Du hättest Mom und Dad nicht töten dürfen!“
„Ich wusste, dass es auf einen Kampf hinauslaufen würde.“, sagte Shira dann und verwandelte sich, um ihrer Schwester auszuweichen. Diese sprang nämlich mit gefletschten Zähnen auf sie zu.
Bitte halt dich raus!, dachte sie noch an Sin und zischte leise, als sich Azuras Reißzähne in ihre Flanke bohrten. Fauchend teilte sie mit ihren Pranken aus, damit ihre Schwester von ihr abließ. Nachdem die beiden einige Minuten lang miteinander gekämpft hatten stellte sich heraus, dass Shira die stärkere von den beiden war. Sie hockte schließlich auf Azura und drückte diese mit vollem Gewicht auf den Boden. Sie verwandelte sich zurück und hielt der Blondine ihren geliebten Dolch an die Kehle.
„Hör zu.“, begann Shira keuchend. „Ich habe nicht vor dich zu töten aber wenn du mir weiterhin nach dem Leben trachtest, werde ich unangenehm!“
Azura zappelte unter ihr, verwandelte sich aber nicht zurück. Shira drückte den Dolch fester gegen ihre Haut, bis Blut hervorquoll.
„Entweder du lässt mich in Ruhe oder du verlierst mehr, als nur dein Auge eben.“
Sin trat auf die beiden zu und zog seine Freundin von der zweiten Leopardin herunter. Ein dicker und tiefer Schnitt zog sich über Azuras linkes Auge. Allein diese schwere Verletzung stammte von Shiras Klauen.
„Sie wird es schon verstanden haben.“, hauchte er Shira ins Ohr.
„Hoffentlich.“, murmelte das Mädchen und wandte sich humpelnd ab. Erst ihr Arm, nun ihr Bein. Sie hatte es satt, sich immer schonen zu müssen.
Ragnar beobachtete irritiert, wie Azura schmollend und mit nur noch einem Augen, an ihm vorbei schlurfte. Die Frau war perplex. Wie konnte dieses kleine Kind stärker sein als sie, die jahrelang nur trainiert hatte?
„Hast du mir etwas über sie verschwiegen?“, drehte sie sich schließlich fauchend zu Ragnar um. Dieser schüttelte den Kopf und lächelte dann in sich hinein.
„Ich dachte es wäre klar, dass sie zu den stärksten Gestaltwandlern gehört?“
Azuras Augen weiteten sich.
„Was? Wieso...Warum...“, brüllte sie stockend. „Sie ist doch nur ein Kind!“
Der Mann zuckte lässig mit den Schultern.
„Wie gesagt, ich dachte es wäre klar. Sie hat sich schon als kleine Leopardin in einer Großstadt durchgebissen. Kein lebendes Elterntier würde dies zulassen. War doch klar, dass sie diese und ähnliche Erfahrungen stark machen würden.“
Azura neigte den Kopf. Sie fragte sich insgeheim, warum dieser Mann so viel über ihre Schwester wusste. Sicher, sie hatte durch das viele töten auf sich aufmerksam gemacht, doch sonst hatte sie sich nie etwas zu schulden kommen lassen. Am liebsten hätte sie den Kopf geschüttelt. Naja, vielleicht wusste er es auch einfach, weil er zum Rat gehört. Oder besser gesagt, gehört hat.
„Darf ich mir eine Frage erlauben, Azura? Warum siehst du so niedergeschlagen aus?“
Die Frau fauchte leise.
„Das geht dich gar nichts an!“
Daraufhin wandte Ragnar sich kommentarlos ab. Oh, er wusste ganz genau was passiert war, hätte sich diese Frage also sparen können. Ihm war sofort klar gewesen, dass Shira ihrer Schwester mit dem Tod drohen würde. Es war ein kleines Wunder, dass sie sie nicht schon längst getötet hatte. Doch bei Shira wusste man ja nie. Sie war nicht mehr so durchschaubar wie früher. Sehr zum Leidwesen von Ragnar und allen anderen Ratsmitgliedern, die allerdings eh nicht mehr am leben waren.
„Brauchst du vielleicht Hilfe?“, sagte er schmunzelnd und folgte der Frau dann einige Schritte.
„Hör auf, dich über mich lustig zu machen.“, fauchte sie mir schriller Stimme und ballte die Hände zu Fäusten.
„Sag mir lieber, wie ich sie qualvoller töten kann!“
Ragnar wurde ernst und distanzierte sich wieder von Azura.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dir meine Hilfe angeboten zu haben.“, brummte er scherzhaft und bedachte die Frau mit einem langen Blick. Fauchend wandte sie sich wieder ab. Natürlich fühlte sie sich nun gedemütigt. Was sollte das? Warum führte dieser Mann sie so vor?
„Ich werde sie umbringen. Und wenn es mich mein Leben kostet!“
Shira überlief ein Schauer.
„Alles okay?“, fragte Sin, weil er es bemerkt hatte.
„Mich überkam nur gerade so ein komisches Gefühl.“, flüsterte sie und beobachtete, wie Keyra und Lysander den Raum betraten. Die Fledermaus schluckte als sie die große, klaffende Wunde an Shiras Leiste sah.
„Was ist passiert?“, hakte sie automatisch nach. Die Leopardin schnaubte lediglich und starrte die Frau mit mörderischem Blick an, weswegen Keyra kurz zurückzuckte.
„Ui, da ist aber jemand schlecht gelaunt.“, bemerkte Lysander.
Sein Lächeln verschwand als sich des Mädchens Blick auf ihn richtete.
„Wie viel weiß der Rat über mich?“, fragte sie nun wieder in die Richtung von Keyra.
Diese zuckte mit den Schultern.
„So gut wie alles. Wieso fragst du?“, erwiderte sie gelassen.
„Was ist mit Azura?“, zischte Shira.
Ihre Augen verdunkelten sich und mit einem Mal schien die Luft um sie herum zu knistern. Nun stutzte Keyra.
„I-Ihr seid euch begegnet?“, stammelte sie.
Shira nickte nur und wartete still schweigend und erwartungsvoll auf eine Antwort. Keyra seufzte und ließ sich auf dem Sofa nieder.
„Also gut...Ja, natürlich wussten wir von deiner Schwester. Auch wenn sie ebenfalls abgehauen ist, sie ist dennoch nie auffällig geworden, deswegen haben wir sie nicht im Auge behalten, so wie dich. Wir alle dachten ihr würdet euch nie begegnen, deswegen haben wir sie in deiner Gegenwart nie erwähnt. Hat sie dir etwa diese Verletzung zugefügt?“
Nachdem die Fledermaus ruhig geworden war, mischte Sins ich ein.
„Sie will Shira töten, um somit ihre Eltern zu rächen.“, erklärte er, worauf sich Keyras geweiteten Augen auf Shira richteten.
„Ihr habt miteinander gekämpft? Lebt sie noch?“
Shira nickte leicht, schwieg aber. Doch dann entschied sie sich doch dazu, etwas zu sagen.
„Allerdings nicht mehr lange, wenn sie mich nicht in Ruhe lässt!“
Sin mischte sich wieder ein.
„Azura meinte, dass sie Befehle entgegen nimmt, du weißt nicht zufällig etwas, Keyra?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht wirklich. Wir haben diese Frau absichtlich in Ruhe gelassen. Allerdings könnte ich mir gut vorstellen, dass Vorago oder Ragnar sie dazu benutzt hätten um dich loszuwerden, Shira.“
Sin und Shira tauschten einen kurzen Blick aus.
„Das Vorago tot ist wissen wir aber...hat jemand Ragnars Leiche gesehen?“, sagte die Leopardin monoton, worauf Keyra zischte.
„Glaubst du, wir prägen uns jede Leiche ein? So nervig und schrecklich Ragnar auch sein konnte, er gehörte auch zum Rat!“
Shira schwieg. Sie würde sich nicht für ihre Worte entschuldigen!
„Dennoch bleibt die Möglichkeit...“, wollte sie fortfahren, doch Keyra sprang mit gefletschten Zähnen auf.
„Es reicht!“, brüllte sie. „Er ist tot! Alle sind tot und das nur, weil du dich mit deinem Leben nicht zufrieden geben konntest!“
Mit Tränen in den Augen hatte die Frau den Finger auf Shira gerichtet.
„Das alles wäre nie passiert, wenn wir diesen Bengel getötet hätten!“
Shiras Augen verengten sich und sie ergriff Sins Hand.
„Wir gehen wohl besser.“, murmelte sie und zog ihn mit.
Kurz sah sie über ihre Schulter.
„Sag Bescheid, wenn sie sich wieder beruhigt hat.“, sprach sie an Lysander gewandt und verließ mit Sin das Haus.
32
„Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.“, murmelte Ragnar, worauf der mit einem schiefen Blick bedacht wurde.
„Was soll das heißen?“
Ragnar erwiderte den Blick nur kurz.
„Shira wird Azula früher oder später töten. Wir müssen also einen anderen Weg finden, dieses Kind zu beseitigen.“, erklärte er kurz angebunden. Sein Gegenüber schnalzte mit der Zunge.
„Selbst Vorago hat das nicht geschafft. Glaubst du nicht, du solltest so langsam mal aufgeben?“
Der Schneeleopard sprang auf und schlug die Hände auf den Tisch.
„Ich entscheide selbst, wenn es an der Zeit ist aufzugeben! Hast du nun eine Idee oder nicht?“
Der Mann mit dem graumelierten Haar zuckte schwach mit den Schultern.
„Was ist mit den ganzen Experimenten? Sollten sie nicht stark genug sein?“
Ragnar schüttelte unentschlossen den Kopf.
„Die Hälfte von ihnen wird den Angriff aufs Anwesen genutzt haben, um zu fliehen. Die andere Hälfte wird tot sein. Höchstwahrscheinlich von den ganzen Trümmern erschlagen.“
Langsam ließ Ragnar sich wieder auf dem Stuhl nieder.
„Es ist ein Jammer, dass du nie Kontakt zu deiner Nichte hattest.“, sprach er nun ein wenig leiser.
„Der Ausdruck in deinen Augen gefällt mir nicht, Ragnar. Ich ahne etwas...“
Auf den Lippen des Leoparden breitete sich ein raubtierhaftes Grinsen aus.
„Geh und nehme Kontakt zu deiner Nichte auf, Vin.“
Vin erhob sich seufzend und verließ, nun schlecht gelaunt das Grundstück.
Spielerisch zwickter Shira Sin mit den Zähnen in den Hals.
„Vier mal? Willst du einen Weltrekord aufstelen?“, flüsterte sie ihm ins Ohr und erntete dafür leises Gelächter.
„Machst du dich etwa darüber lustig? Baby, du solltest froh sein, solch einen Hengst wie mich zu besitzen!“
Shira lachte, doch das Klingeln an der Haustür ließ sie nach wenigen Sekunden wieder verstummem.
„Vielleicht ist das Keyra, die sich entschuldigen will.“, schlug Sin leise vor und sah das Mädchen von der Seite her an. Doch sie schüttelte den Kopf.
„Wohl kaum.“, erwiderte sie. „Dafür ist sie zu stur.“
Sin steg aus dem Bett und beschloss sich darum zu kümmern, da Shira noch nackt war. Nur in Boxershorts und leicht genervt schlurfte er also zur Haustür, die er dann gereizt öffnete.
Zum Vorschein kam ein groß gewachsener Mann, dessen Augen verblüffende Ähnlicheit mit denen von Shira hatten.
„Und Sie sind...?“
Entspannt und mehr als nur befriedigt schlüpfte die Leopardin in ihre Klamotten. Duschen könnte sie auch später noch, mit Sin zusammen. Erst einmal galt herauszufinden, wer sie da nun wieder störte.
„Shira?“
Der laute Ruf ihres Freundes irritierte sie. Warum setzte er ein Fragezeichen hinter ihren Namen? Eilig lief sie aus dem Zimmer, durch den Flur, die große Treppe hinab. Da fielen auch schon zwei Männer in ihr Blickfeld. Einer davon war Sin. Den zweiten kannte sie zwar nicht, doch er kam ihr äußerst bekannt vor. Und dann diese große Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr selbst. Sie neigte den Kopf, denn ein komisches Gefühl überkam sie. Wer war dieser Mann?
„Wie viele deiner Verwandten sind noch am leben?“, meldete Sin sich zu Wort und beobachtete seine Freundn aufmerksam und forschend. Verwirrt zuckte sie mit den Schultern.
„Keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich will nichts mit ihnen zutun haben.“, erwiderte sie tonlos und wahrheitsgemäß. Sin zog die Brauen hoch und richtete seinen Blick wieder auf den Mann in der Tür.
„Dann schlag ich deinem Onkel mal die Tür vor der Nase zu.“, murmelte er.
Shira hörte es und war in Windeseile an der Tür.
„Hast du gerade Onkel gesagt?“, hakte sie wispernd nach.
Er nickte. Der Blick der Leopardin blieb am Fremden hängen. Erwartungsvoll zog sie die Brauen hoch. Der Mann in der Tür lächelte und verneigte sich leicht.
„Gestatten, Vin mein Name. Mit war danach, meine Nichte aufzusuchen.“
Völlig perplex starrte Shira ihn an.
„Wenn das so weitergeht, werd ich jemanden umbringen.“, murmelte sie dann nach einigen Sekunden und blinzelte mehrmals. Vin wirkte verwirrt und wandte sich deshalb an Sin, der direkt neben der Frau stand.
„Verzeihung, aber ich weiß nicht, was...“
Er kam gar nicht dazu seinen Satz zu beenden.
„Raus.“, hauchte Shira und stieß den großen Mann zurück. Mit einem lauten Knall schlug sie die Tür zu, dann rannte sie zurück ins Schlafzimmer, in dem sie vorher noch gewesen war.
„Ich muss mich für Shira entschuldigen. Nehmen Sie es ihr nicht übel, sie hat in letzter Zeit einiges erlebt.“, erklärte Sin, blieb insgeheim aber misstrauisch. Shira hatte überreagiert, ja. Doch Sin konnte es verstehen. Momentan war alles zu einem riesigen Haufen angewachsen, der beiden gleichermaßen zu schaffen machte. Der Junge war verwirrt. Dann war dieser Mann eben Shiras Onkel, schön und gut. Aber schwer vorstellbar, dass dieser Mann nur seine Nichte kennenlernen wollte. Irgendetwas stimmte nicht, doch Sin musste ein kleines Risiko eingehen um herhauszufinden, was das war. Vin nickte.
„Ich nehme es ihr nicht übel, ich habe sie schließlich ziemlich überrumpelt. Allerings verstehe ich nicht, aus welchem Grund sie so überreagiert hat.“, erwiderte der Mann, der ihm gegenüber auf dem Sofa saß.
„Sie hat ihre Gründe.“, fuhr Sin fort und neigte den Kopf. „Darf ich fragen, warum Sie erst jetzt Kontakt zu ihr aufnehmen wollen und nicht schon vor Jahren, wo sie jemanden wie Sie gebraucht hätte?“
Für einen kurzen Augenblick sah Vin hilflos aus und wirkte unsicher. Jedoch verbannte er diese Reaktionen sofort wieder.
„Leider habe ich viele Geschäfte zu erledigen und ich habe auch erst Jahre später vom Tod ihrer Eltern erfahren. Wäre ich im Land gewesen, wäre wohl einiges anders verlaufen. Ich mache mir deswegen noch immer Vorwürfe.“, murmelte er.
Sin blieb aufgrund dieser Worte erst recht misstrauisch. Ja, mit diesem Mann stimmte in der Tat etwas nicht. Unauffällig sah Sin zur Treppe, die in den oberen Teil der Bibliothek führte.
Shira verkniff es sich, fauchend aufzuspringen. Diese Heuchelei des Mannes kotzte sie an. Sie kauerte am oberen Ende der Treppe und da Vin mit dem Rücken zu ihr saß, blieb sie ihm verborgen. Nie hätte sich jemand um sie gekümmert. Erst recht nicht, nachdem sie ihre Eltern umgebracht hat!
Schon die ganze Zeit über machte sie sich Gedanken darüber, was er wohl von ihr wollen könnte.
Genauso misstrauisch wie Sin hatte sie beobachtet, wie ihr Freund den Mann ins Haus gebeten hatte. Hoffentlich würde ihnen das nicht zum Verhängnis werden. Dies hier war schließlich ihr Zuhause. Shira bemerkte, wie Sin in ihre Richtung schielte, weshalb sie mit der Hand wedelte und ihm somit bedeutete, dass er fortfahren sollte.
„Was, wenn sie kein Interesse daran hat, Kontakt mit ihnen aufzunehmen? Sie musste sich schließlich fast ihr ganzes, bisheriges Leben lang alleine druchschlagen.“, sagte Sin und wurde leiser, weshalb das Mädchen auf der Treppe sich vorbeugte.
„Deswegen möchte ich mich ja bei ihr entschuldigen. Dieses arme Kind hat viel zu viel erlebt, um damit vernünftig umzugehen. Ich wette, sie hat das alles noch immer nicht verarbeitet.“
Ein leises Knurren stieg in Shiras Kehle auf und sie hoffte, der Mann würde es nicht hören.
„Verzeihen Sie, aber ist Ihnen klar, wie das gerade klang?“, brummte Sin.
Auch er war nur verärgert. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich dabei?
Vin stutzte. Er wusste nicht so recht, was er jetzt sagen sollte, weshalb Sin sich bedrohlich vorbeugte und ein tiefes Knurren hören ließ.
„Das klang gerade, als würden sie behaupten, meine Frau sei geistig nicht zurechnungsfähig!“
Vins Nackenhaare richteten sich auf. Er hatte diesen Jungen für harmlos gehalten, doch dieses Knurren und dieser Unterton ließen ihn klar werden, dass er genauso gefährlich sein konnte wie Shira! Entschuldigend und abwehrend hob er die Hände.
„Ich bitte um Verzeihung, so war das natürlich nicht gemeint! Ich meine bloß, dass sie noch immer sehr jung ist und es vielleicht besser wäre, wenn sie sich auf einen Erwachsenen verlassen könnte.“
Sin verzog das Gesicht. Er kaufte ihm diese Nummer nicht ab und Shira offensichtlich auch nicht, denn sie kaum aus ihrem Versteck hervor und polterte sichtlich wütend die Stufen hinunter.
„Mir wäre es lieber gewesen, du hättest ihn draußen stehen lassen, Süßer. Von seinem Geheuchel wird mir nämlich schlecht!“, knurrte sie laut und kam einen Meter von den beiden entfernt zum Stehen. Von sprang auf und ging in eine abwehrende Haltung. Wieder hob er die Hände.
„Was soll das? Heuchelei? Ich bitte dich, Shira, wovon sprichst du? Ich bin dein Onkel, ist es mir verboten die Tochter meines Bruders zu suchen und mit ihr in Ruhe über Vergangenes zu sprechen?“, verteidigte er sich, doch er stieß auf taube Ohren. Bei beiden.
Shira trat näher an ihn heran und fletschte die Zähne.
„Was interessiert es mich, ob du mein Onkel bist oder nicht! Nie hatte ich etwas mit meiner Familie zutun und ich hatte nicht vor, etwas daran zu ändern!“, brüllte sie. „Reicht schon, dass Azura mich tot sehen will! Habt ihr denselben Auftraggeber? Sag schon, wer hat dich hergeschickt?“
Vins Augen blitzten auf. Er war überrascht. Dieses Kind war ziemlich scharfsinnig. Gespielt entrüstet zog er die Brauen hoch.
„Azura? Sie hat sich bei dir gemeldet? Ich weiß nicht, wovon du sprichst, mein Kind. Ich war Jahrelang in Australien, wieso sollte mich jemand herschicken? Und vorallem, wer? Es tut mir leid was geschehen ist, warum willst du nicht glauben, dass ich die Wahrheit sage?“, versuchte er sich zu verteidigen. Shira fauchte laut.
„Verschone mich mit deinen Lügen, bitte! Mach, dass du hier raus kommst, ehe ich die Geduld verliere.“, erwiderte sie und wies mit dem Finger auf die Tür.
Vin schnaubte.
„Gut, wie du willst. Aber solltest du mal wieder in Schwierigkeiten geraten, werde ich mich nicht für dich einsetzen!“, knurrte er leise und machte auf dem Absatz kehrt.
„Mal wieder?“, murmelte Shira, nachdem sie die Tür hatte knallen hören. Sie sah zu Sin.
„Ich dachte er war in Australien? Ich bezweifle, dass meine Taten sich bis auf einen anderen Kontinent herumgesprochen haben.“
„Und?“
Er seufzte.
„Sie ist scharfsinnig. Und zu kalt um auf so etwas hereinzufallen.“
Ragnar hatte schon damit, oder etwas ähnlichem, gerechnet.
„Ich dachte, das wäre klar? Azura hat auch mit einem normalen Mädchen gerechnet, so wie du scheinbar auch. Du hast es vermasselt, nicht wahr?“, brummte der Schneeleopard und stierte den Mann ihm gegenüber an.
„Sie scheint durchschaut zu haben, dass ich keinen Wert auf Familie lege. Und sie weiß, dass Azura und ich unter deinem Kommando stehen. Im Übrigen sollten wir ihren kleinen Freund nicht außer Acht lassen. Mir scheint nämlich, er kann genauso gefährlich werden wie Shira.“, erklärte Vin, worauf Ragnars Züge sich noch mehr verdunkelten.
„Hast du wirklich geglaubt, es würde einfach werden?“
Er sprang auf und warf die Hände in die Luft.
„Verdammt noch mal, jetzt muss ich mir schon wieder etwas Neues ausdenken!“, brüllte er.
Vin zog die Schultern ein. Ragnar wäre nun nicht so drauf, wenn sein Täuschungsversuch funktioniert hätte.
„Kannst du mir mal sagen, was ich nun tun soll?“, brüllte der Mann vor ihm weiter.
Vin schwieg. Was hätte er auch sagen sollen?
„Vin und ich können uns gemeinsam um sie kümmern.“
Die beiden Männer sahen zur Tür, in der Azura stand. Vin verkniff es sich, etwas zu sagen. Und widersprechen würde er erst recht nicht! Diese Frau war momentan mit einem Vulkan vergleichbar, da ließ man sie besser in Ruhe.
„Ach, und wie wollt ihr das anstellen?“, hakte Ragnar mit hochgezogenen Brauen hoch. Die Frau verschränkte die Arme.
„Lass das mal unsere Sorge sein.“
Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte ging sie zu Vin, griff nach seinem Arm und zog ihn mit in ihr Schlafgemach.
„Du hast einen Plan?“, hauchte Vin fassungslos und betrachtete Azura forschend. Diese schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich. Aber auf Ragnars Launen habe ich keine Lust. Du etwa?“, zischte sie.
Auch der Leopard schüttelte mit dem Kopf.
„Wir finden schon eine Lösung aber zuerst muss Ragnar sich wieder beruhigen.“, fügte die Frau hinzu. Vin nickte. Na, das konnte ja was werden.
Lysander musterte Keyra, die noch immer außer sich auf ein Kopfkissen einschlug. Der Gepard traute sich gar nicht erst es auszusprechen, doch er selbst gab Shira recht. Es gab keinen Beweis dafür, dass Ragnar tot war. Keiner von ihnen hatte seine Leiche schließlich gesehen. Lysander hatte schon versucht die Frau vor ihm zu beruhigen, doch er konnte ihre Wut natürlich verstehen. Sie hatte Jahrzehnte lang mit diesen Leuten zusammengearbeitet und Jaz sogar geliebt. Natürlich tat es ihr im Herzen weh, was nun passiert war.
„Lysander, geh und erledige dieses Mädchen!“, fauchte Keyra plötzlich und starrte ihn an.
Lysander zog die Brauen hoch. Man merkte, dass diese Frau im Rat tätig war.
„Aber warum denn, Keyra? Shira hat Recht, wir haben keine Beweise dafür, dass...“
Die Fledermaus sprang auf.
„Du bist tatsächlich auf ihrer Seite? Wie kannst du es wagen?“
Tränen traten ihr in die Augen, weshalb Lysander sich seufzend auf ihrem Bett niederließ und ihr bedeutete, sich neben ihn zu setzen. Sie tat es.
„Hör zu, Keyra. Es tut weh mit anzusehen, wie du unter dem Verlust deiner Kollegen leidest und du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du dich so langsam mal beruhigst. Ich bin nicht auf Shiras Seite und auch nicht auf deiner aber wenn Ragnar noch lebt, dann könnte er euch beide umbringen. Und das wollen wir doch nicht, oder?“
Langsam und sachte ließ Lysander seine Finger über Keyras Wange gleiten. Nur langsam versiegten ihre Tränen.
„Glaubst du wirklich, Ragnar lebt noch?“, flüsterte sie.
Lysanders Züge wurden weicher.
„Keiner von uns hat seine Leiche gesehen, Süße. Geh und entschuldige dich bei Shira, damit ihr weiter zusammen arbeiten könnt.“
Mit großen Augen sah die Frau ihn an.
„Ich soll mich bei ihr entschuldigen?“
Der Mann nickte.
„Du hast Sin und ihr die Schuld an allem gegeben, du hast sie verletzt.“
Keyra schluckte.
„Okay. Aber glaubst du, sie ist wütend auf mich?“, fragte sie nun noch leiser.
Lysander verkniff es sich jetzt zu lächeln.
„Ein wenig vielleicht aber mach dir keine Gedanken, sie wird dir verzeihen.“
33
„Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.“, fauchte Shira und blickte stur aus dem Fenster. Wieder hatte es an der Tür geklingelt und wieder hatte Sin sie im Zimmer alleine gelassen um nachzusehen, wer denn diesmal störte. Wenn es ein weiteres Familienmitglied war, würde sie sofort zum Angriff übergehen!
„Shira.“
Als sie ihren Namen hörte drehte sie sich überrascht zur Tür um. Lysander stand im Türrahmen und lächelte sie an. Perplex zog sie die Brauen hoch.
„Lysander? Was machst du hier?“, hauchte sie.
Der Gepard deutete mit dem Kopf auf den Flur.
„Keyra will mit die sprechen. Kommst du?“
Erstaunt nickte sie und folgte dem Mann durch die Gänge, hinunter ins Wohnzimmer, wo Sin gegenüber von Keyra auf dem Sofa saß. Sin schien ebenfalls überrascht zu sein, denn er sah hilflos zu Shira hinüber.
„K-Keyra, was machst du hier?“, murmelte die Leopardin.
Keyra sah zu ihr. Sie fühlte sich zugegebenermaßen ebenfalls verdammt hilflos, doch sie ließ es sich nicht anmerken.
„Shira, ich...“, begann sie zögernd und beobachtete, wie Shira sich gegenüber von ihr niederließ.
„Ich muss mich bei euch entschuldigen, Shira.“, fuhr Keyra fort.
Beinahe hätte Shira sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt.
„H-Hast du dich gerade entschuldigt?“, hauchte sie und sah die Frau mit geweiteten Augen an.
Keyra nickte.
„Ja. Hör zu, ich wollte euch nicht verletzen und es tut mir leid, dass ich die Kontrolle verloren habe. Ich hätte euch nicht die Schuld an allem geben dürfen.“
Sin und Shira wechselten einen Blick miteinander.
„Wir wissen deine Entschuldigung zu schätzen, Keyra. Wäre dann wieder alles okay?“, sagte Shira. Ihr Blick war erwartungsvoll. Keyra nickte.
„Ja, alles okay. Danke, dass ihr Zeit für dieses Geplänkel hattet.“
Shira nickte auf ihre Worte hin.
„Ihr scheint viel Zeit zu haben, wenn ihr euch mit solchen Kleinigkeiten beschäftigen könnt.“
Alle fuhren zum Fenster herum und endeckten Azura und Vin, die mit lässiger Haltung die Konversation beobachtet hatten. Sofort war die Leopardin aufgesprungen. Ein bedrohliches Fauchen stieg in ihrer Kehle auf. Auch Sin war nun auf den Beinen. Er stellte sich vor Shira, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam und ein Blutbad anrichtete. Auch Keyra war sofort in Alarmbereitschaft.
„Azura! Vin! Was habt ihr hier zu suchen?“, zischte sie.
Azuras Blick war stur auf ihre Schwester gerichtet.
„Meine kleine Schwester und ich haben noch eine Rechnung zu begleichen. Nichts weiter, als eine Familienangelegenheit. Du kannst dich also raushalten, Keyra.“, erwiderte sie kalt.
Keyras Fauchen wurde lauter.
„Solch ein Verhalten verbitte ich mir, Azura! Auf wessen Befehl seid ihr hier?“
„Ich wüsste nicht, was dich das zu interessieren hat.“, erwiderte Azura fauchend. Shira drängte sich gegen Sin.
„Dann können wir es ja endlich zu Ende bringen.“, zischte sie, doch Sin hielt sich noch immer zurück.
„Den Teufel werdet ihr tun!“, brüllte Keyra und sah beide Frauen nacheinander an.
„Der Rat existiert nicht mehr, meine Liebe! Du bist nicht mehr in der Lage uns Befehle zu erteilen.“, knurrte Shira düster und fletschte die Zähne. Keyras Kiefer mahlten. Dieser Ton gefiel ihr ganz und gar nicht, doch ausnahmsweise war sie machtlos. Hilflos mussten sie und Sin mit ansehen, wie Shira, Azura und Vin nach draußen verschwanden.
„Wehe, dieser Kerl mischt sich ein.“, knurrte Sin und trottete ebenfalls nach draußen.
Ihm war klar, dass Shira nicht zu lassen würde das er sich einmischte, doch Vin hatte in diesem Kampf ebenfalls nichts zu suchen. Also hieß es Mann gegen Mann und Frau gegen Frau.
Als er draußen ankam stürzten Shira und Azura bereits aufeinander zu.
Zunächst sah man nur ein großes, buntes Fellknäuel. Reißzähne blitzten auf und ständig ertönte ein Fauchen und ein Brüllen. Prankenhiebe wurden ausgetauscht, bis plötzlich eine Leopardin mit goldgelbem Fell zähnefletschend auf den Boden gedrückt wurde. Blut spritzte als der schwarze Panther ein Stück Fleisch aus dem Körper des anderen riss.
Shira verwandelte sich zurück und kauerte auch weiterhin über ihrer Schwester, die sich ebenfalls zurückverwandelte. Shira drückte ihre Fingernägel in ihre Kehle.
„Du bist mir unterlegen. Ich könnte dich jederzeit töten, also warum lässt du dich auf einen Kampf mit mir ein?“, fauchte sie.
Vin fauchte leise. Er hatte sich immer gut mit Azura verstanden und hatte immer mit ihr gelitten, wenn sie gedemütigt worden war. Dementsprechend war er auch jetzt wütend. Er sah, dass Tränen in die Augen seiner Nichte getreten waren.
„Du hast Mom und Dad getötet! Und dabei bist du meine eigene Schwester. Ich kann dir nicht vergeben. Egal, wie aussichtslos die Situation auch erscheinen mag, ich gebe nicht auf. Ich werde sie rächen.“
Sin sah, wie Shira schluckte. Scheinbar ging ihr das nahe, auch wenn sie sich das nicht anmerken lassen wollte.
„Warum bist du damals nicht eingeschritten, Schwester?“, hauchte sie plötzlich und lockerte ihren Griff etwas.
„Du hättest ihnen doch helfen können, mit mir fertig zu werden. Du hättest sie aufbauen können, ihnen sagen das sie das schaffen, so wie bei dir auch. Du selbst hättest dich um mich kümmern können aber nie hast du dich blicken lassen. Und dann gibst du mir die Schuld, wenn ich wegen Mutter und Vater verbittert werde und mich an ihnen für alles rächen will? Sollte ich dich nicht auch töten, dafür das du deine eigene Schwester im Stich gelassen hast?“
Sin ging zu ihr, legte ihr erst die Hand auf die Schulter und zog sie dann von dem schwer verletzten Leoparden herunter. Es war zu spät. Die alten Wunden waren wieder aufgerisen. Nun schimmerten auch in Shiras Augen die Tränen. Ihre Worte schienen Azura nachdenklich gestimmt zu haben, denn sie schwieg und starrte vor sich hin ins Leere. Aus den Schnittwunden in ihrem Gesicht sickerte Blut und die Fleischwunde in ihrem Bauch schien immer mehr Blut auszuspucken. Keyra trat an die beiden Frauen heran.
„Ihr seid beide von euren Eltern verletzt worden. Du, Azula hast zu viel Aufmerksamkeit bekommen, du Shira hingegen zu wenig. Also hört endlich auf euch zu bekriegen und vertragt euch. Entweder ihr versöhnt euch oder ihr lasst euch in Ruhe und geht getrennte Wege. Aber hört auf euch gegenseitig töten zu wollen. Ihr musstet euch schließlich beide alleine durchschlagen und auch wenn ihr das nicht wahr haben wollt, verbindet das.“Azura senkte beschämt den Blick.„Nein, ich war nicht immer alleine im Gegensatz zu meiner Schwester. Jemand...hat mich unter seine Fittiche genommen.“, hauchte sie und schloss die Augen. Eine Träne rann über ihre Wange.
Shira atmete tief durch und leckte sich dann das Blut von den Fingern.
„Ist dieser jemand derjenige, der dich befehligt?“, fragte sie leise.
Sie klang nun nicht mehr ganz so feindselig. Ihre Schwester nickte zwar, doch es schien nicht als wolle sie mit der Sprache herausrücken.
„Azura, ich...“, begann Shira, worauf die Frau sie ansah. Shira hatte keine Ahnung wie sie es formulieren sollte, weswegen sie noch einmal zögerte und anders anfing.
„Zwingt dich dieser jemand, das zu tun was er verlangt? Wirst du genötigt, oder...“
Wieder verstummte sie. Azura verstand nicht ganz worauf sie hinauswollte, weshalb sie erst einmal schwieg. Auch Vin fragte sich, was genau Shira vorhatte. Plante sie etwa was? Er konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass sie einfach nur aus Sorge heraus fragte.
„Ich war dankbar dafür, dass er mich gefunden hat. Ich hatte endlich ein Zuhause aber er wollte etwas für seine Güte. Hat angefangen mir Befehle zu erteilen und mir gedroht aber irgendwann war mir das egal. Er duldet keinen Widerstand aber solange ich das tue was er sagt, ist alles gut.“
Angespannt hörte Shira ihrer Schwester zu. Er? Es war ein Mann, der sie in der Hand hatte?
„Warum befreist du dich nicht aus seinen Fängen?“, sagte Shira leise und kniete sich wieder vor ihre Schwester.
Weil er mich sofort und ohne zu zögern töten lassen würde. Wahrscheinlich sogar von Vin.
Der schwarze Panther hielt inne. Für gewöhnlich stand man sich nahe, wenn man per Gedanken miteinander sprach. Bei ihrer Schwester allerdings war es ein recht beunruhigendes Gefühl.
Dennoch neigte sie mitfühlend den Kopf.
Ich habe schon geahnt, dass ihr denselben Auftraggeber habt. Was kannst du mir über unseren Onkel sagen? Er ist bei mir aufgelaufen und hat einen auf besorgter Onkel gemacht. Ich nehme an, das entspricht nicht ganz der Wahrheit., erwiderte sie. Am Rande nahm sie war das die anderen um sie herum ein Gespräch miteinander führten, doch nun konzentrierte sie sich lediglich auf Azula.
Diese stimmte zu.
Du hast recht. Ich weiß nicht all zu viel von ihm aber wenn ich etwas weiß, dann das ihm seine Familie egal ist.
Nachdenklich sah Shira ihre Schwester an.
Naja., dachte sie zögernd. Ich...würde dir gerne helfen dich zu befreien aber ich habe keine Ahnung wie ich das machen soll, ohne das Vin etwas davon mitbekommt.
Perplex starrte Azura sie an.
Du willst mir helfen? A-Aber wieso?
Ein Rinnsal aus Blut lief Shira aus der Nase, weswegen sie es mit dem Handrücken wegwischte.
Wir hatten zwar nie etwas miteinander zutun aber du bist immer noch meine Schwester. Vielleicht...hat es ja doch eine Bedeutung?
Eine Weile lang starrten sie sich stumm an.
„Lass uns gehen. Du bist verletzt.“
Sin fasste Shira am Arm und zog sie von ihren zwei Familienmitgliedern weg. Ohne zurück zu blicken richtete Shira ihre Gedanken an ihre Schwester.
Wenn du Zeit hast, komm zu mir. Alleine. Dann können wir uns eine Lösung überlegen.
Ihre Schwester stimmte zu, dann hatten sie sie zurückgelassen.
Sin versorgte Shiras Verletzungen und musterte sie dabei eingehend. Seit dem Kampf war sie total in Gedanken versunken. Irgendetwas beschäftigte sie, so viel war klar.
„Shira, was ist los?“, fragte er und hörte auf, die Wunde an ihrer Schläfe zu desinfizieren. Sie antwortete nicht und sah ihn auch erst an, als er sie groß abstieß.
„Hm?“
„Du sollst mir sagen, was los ist.“, verlangte er.
Sie zögerte erst, dann seufzte sie.
„Ich glaube, wir sollten Azura helfen.“, murmelte sie nachdenklich.
Sin war skeptisch. War ihre Schwester nicht eigentlich der Feind? Shira nahm ihm liebevoll das Tuch aus der Hand und sah ihn eindringlich an.
„Ich habe mit ihr in Gedanken gesprochen. Alleine kann sie sich nicht von dieser Person befreien. Sie sagt er würde sie töten lassen, wahrscheinlich sogar von Vin. Sie wird noch einmal vorbei kommen, allerdings alleine. Wir wollen überlegen, wie wir ihr helfen können.“
Der Tiger blieb misstrauisch.
„Sie haben also denselben Auftraggeber. Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“
Sein Mädchen schüttelte den Kopf und dachte nach.
„Sie hat gesagt, er lässt ihr freie Hand bei mir. Vielleicht hat der werte Herr schon einmal versucht, mich loszuwerden?“, sagte sie und sah ihn an.
„Wir werden also darauf warten müssen, was deine Schwester zu sagen hat. Aber lass dir gesagt sein, dass ich ihr nicht traue. Vielleicht will sie dich immer noch töten?“
Shira zeigte ein schwaches Lächeln.
„Ich glaube sie hat begriffen, dass sie gegen mich keine Chance hat. Ich habe keine Hemmungen sie zu töten, sie sollte es also nicht zu weit treiben.“
Sins Blick fiel auf Keyra, die am andere Ende des Wohnzimmers am Fenster stand. Seitdem sie wieder hier waren hatte sie kein Wort gesagt. Wahrscheinlich machte auch sie sich Gedanken über etwas. Doch keiner sprach sie darauf an. Gut möglich das sie die Beherrschung verlor, wenn man etwas falsches sagte.
Während Sin Keyra betrachtete, betrachtete Shira Sin. Sins Gesicht war so makellos wie immer, doch der besorgte Ausdruck wollte nicht weichen. Lächelnd drehte sie sein Gesicht wieder in ihre Richtung, dann küsste sie ihn rasch.
„Mach dir nicht so viele Sorgen, Süßer. Das bekommt dir nicht.“
Er vergrub seine Hände in ihrem Haar und zog sie an sich heran.
„Ständig hast du neue Verletzungen, das ertrage ich nicht. Erst recht nicht, wenn deine Familie Schuld daran hat.“, hauchte er, worauf sie ihn fassungslos ansah.
„Ich wusste nicht, dass du dir so viele Gedanken darüber machst.“, flüsterte sie und strich über seine Wange.
„Schon gut.“, murmelte er und schob ihre Hand weg. „Es gibt schließlich schlimmeres.“
Shira schüttelte den Kopf und ergriff seine Hände.
„Nein, nicht gut.“, sagte sie. „Wenn du dir so viele Gedanken darüber machst, werde ich versuchen vorsichtiger zu werden.“
Nun war Sin fassungslos. Nie hätte er damit gerechnet, dass sie ihm so entgegen kommen würde.
Ihm gelang ein Lächeln.
„Hättest du dir vorstellen können, solche Worte je auszusprechen?“
Das ließ auch Shira schmunzeln.
„Nein. Hättest du dir vorstellen können, je mit einem Leopardenweibchen zusammen zu sein?“, erwiderte sie belustigt. Er schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Genauso wenig, wie selbst einmal ein Gestaltwandler zu sein.“
Nachdem er geantwortet hatte, küsste sie ihn wieder.
„Wir haben uns ganz schön verändert, nicht?“, hauchte sie.
„Nur aufgrund des anderen.“, bekam sie von ihm als Antwort.
Plötzlich ertönte ein Fauchen vom anderen Ende des Raumes.
„Das ist ja widerlich! Könntet ihr euch woanders unterhalten?“
Es war Keyra, die die beiden wütend anstierte.
„Wieso gehst du nicht zu Lysander? Dann bist du in deiner eigenen Schnulze.“, erwiderte Shira mit hochgezogenen Brauen und fasste Sin an der Hand.
„Komm.“, hauchte sie lächelnd und zog ihn aus dem Raum. „Gehen wir ins Schlafzimmer.“, fügte sie zwinkernd hinzu.
Es hatte gedauert und war auch gar nicht so einfach gewesen, doch nun hatte sie es geschafft. Sie war aus dem Anwesen gekommen, ohne verfolgt oder beobachtet zu werden. Blieb zu hoffen, dass niemand davon Wind bekam. Sie hatte sich natürlich schon öfter draußen herum getrieben, doch nie hatte sie etwas angestellt, wofür sie bestraft werden könnte. Nun zu ihrer Schwester zu flüchten war allerdings ein Grund, sie zu töten. Sie seufzte. Wenn Ragnar davon erfuhr war Vin sicher der erste, der sich dafür anbieten würde ihr die Kehle durchzuschneiden. Azura fühlte sich unwohl. Sie wollte ihre Schwester töten und ihre Eltern rächen, dennoch hatte sie sich dazu bereiterklärt ihr zu helfen. Vielleicht sollte sie selbst sich einsichtig zeigen? Sie hatte sich nie die Mühe gemacht ihre Schwester besser kennenzulernen, vielleicht war der Mord aus ihren Augen berechtigt? Zugegeben...vielleicht hätte sie auch sauer auf ihre Eltern sein sollen, schließlich hatten sie sich nie für ihr Verhalten entschuldigt. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht sie zu suchen, nachdem sie abgehauen war. Sie seufzte, dieses Mal etwas lauter. Ein bisschen Verständnis hatte sie aber. Sie war die Erstgeborene, natürlich war das eine Herausforderung für die zwei gewesen. Dennoch blieb eine Frage, auf die sie bis heute keine Antwort hatte. Ihre Eltern waren überfürsorglich gewesen, hatten sie nie aus den Augen gelassen, also warum zum Teufel hatten sie sich nie auf die Suche nach ihr begeben? Sie musste an ihre Schwester denken. Mit ihren Eltern schien etwas nicht zu stimmen. Warum hatten sie Shira so grausig behandelt? Azura blieb stehen. Sie hatte versucht ihre kleine Schwester zu töten, doch war es nicht berechtigt gwesen ihre Eltern umzubringen? Sie hatten ihnen schließlich so einiges angetan. Die Frau verschränkte die Arme und nickte entschlossen. Es war an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Sie würde sich bei Shira entschuldigen und noch einmal ganz von vorne anfangen. Vorausgesetzt sie würde sich aus Ragnars Fängen befreien können. Ihr kam eine Idee. Shira gehörte definitiv zu den gefährlichsten aller Gestaltwandlern. Wenn sie sich miteinander verbünden würden, wären sie nicht mehr so schnell unterzukriegen. Sie glaubte nicht das Shira Wert auf Familie legte, doch Azura tat das eigentlich auch nicht. Sie wusste ganz genau, dass ihre Schwester sie ohne zu zögern töten würde, allerdings nur wenn sie sich etwas zu Schulden kommen lassen würde. Und das hatte sie eigentlich nicht geplant. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Vielleicht, aber nur vielleicht würde ja doch noch alles gut werden? Ehe Azura sich versah, stand sie auch schon der Keyras Residenz. Sie atmete tief durch, dann drückte sie auf den Klingelknopf. Lautes Geläut ertönte und es dauerte einige Zeit, bis jemand die Tür öffnete. Es war Sin, der schließlich vor ihr stand.
„Azura, da bist du ja.“, begrüßte er sie.
Trotz seines einigermaßen freundlichen Tonfalls, bemerkte sie sofort das Misstrauen in seinen Augen. Ob man Shira so etwas wohl auch ansehen konnte?
„Komm rein.“, sagte er und trat zur Seite.
„Danke.“, murmelte sie und nestelte am Saum ihres Shirts.
„Ist...meine Schwester da?“, fragte sie dann.
Er nickte und führte sie ins Wohnzimmer, wo er ihr einen Platz auf dem Sofa anbot.
„Ja. Warte hier, ich werde sie holen.“
Dann hatte er sie auch schon alleine gelassen. Aufmerksam sah sie sich um. Dieser Raum war riesig und dazu noch voller Gemälde. Scheinbar war Keyra gar nicht hier, Azura konnte sie weder hören noch riechen. Sah ganz so aus, als hätte sie ein gutes Timing. Plötzlich vernahm sie Stimmen.
„Warum hast du mich geweckt?“, fragte eine Frauenstimme. Es war Shira.
„Das wirst du gleich sehen.“, murmelte dann ein Mann. Sin.
Dann betraten sie beiden auch schon das Wohnzimmer. Schira blinzelte beim Anblick ihrer Schwester, die auf dem Sofa saß und das, ohne eine Regung zu zeigen.
„Azura.“, begann sie und zeigte den Ansatz eines Lächelns.
„Wie ich sehe hast du es geschafft, ohne Begleiter her zu kommen.“
Die Anspannung verflog und auch Azura lächelte nun.
„Es war zwar nicht ganz einfach aber wie du siehst, habe ich es geschafft.“, antwortete sie und machte eine Geste mit der Hand. Shira wandte sich an ihren Freund.
„Macht es dir etwas aus, uns alleine zu lassen? Ich glaube es wäre besser, wenn wir unter vier Augen miteinander sprechen.“
Sin nickte, küsste sie und ließ die Geschwister dann alleine.
„Ist komisch dich so zu sehen, wo du doch sonst so herzlos und brutal bist.“, murmelte Azura und beobachtete, wie sich ihre Schwester gegenüber von ihr niederließ.
„Ich habe mich seinetwegen verändert.“, war alles, was Shira dazu sagte.
Es entstand eine Stille, die Azura unangenehm war.
„Ich...muss mich bei dir entschuldigen, Shira. Nicht nur unsere Eltern haben Fehler gemacht, sondern auch ich. Ich hätte dich nicht im Stich lassen dürfen und...vielleicht haben unsere Eltern den Tod wirklich verdient. Sie haben alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann und das ich davon gelaufen bin, hat das Ganze auch nicht besser gemacht.“
Shira hörte sich in Ruhe an was ihre Schwester zu sagen hatte. Sie war erstaunt über diese Einsicht. Schließlich ging sie zu Azura hinüber und legte ihr die Hand auf den Arm.
„Mach dir bloß keine Vorwürfe! Du hast sicher genauso sehr gelitten wie ich aber diese Zeiten sind jetzt vorbei! Das du weggelaufen bist, kann ich verstehen. Wenn ich gewusst hätte das ich eine Schwester habe, hätte ich höchstwahrscheinlich nach dir gesucht. Ich frage mich, warum sie mir nie etwas von dir erzählt haben...“
Nun war Azura es, die ihrer Schwester die Hand auf die Schulter legte.
„Unsere Eltern haben alles falsch gemacht und ich glaube wirklich, dass sie nicht dazu geschaffen worden sind Eltern zu sein. Das wir nie miteinander zutun hatten ist wirklich schaden, denn wie ich feststellen muss würde ich wirklich gerne mehr über dich erfahren.“
Shira sah Azura an. Sie wusste immer noch nicht was sie davon halten sollte, plötzlich eine Schwester zu haben. Hätte sie das damals gewusst, hätte sie sie gesucht in der Hoffnung, endlich die Liebe zu kriegen, die sie zuvor nie bekommen hatte. Heute allerdings sah das Ganze etwas anders aus. Sie wollte kein schwaches Mädchen mehr sein und sie wollte auch nicht, dass sie so jemand zu Gesicht bekam. Sie glaubte nicht daran, dass zwischen Azura und ihr noch eine Verbindung entstehen würde. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das überhaupt wollte. Zu sehr war sie verletzt worden, zu groß der Ruf den sie zu verlieren hatte. Allerdings musste sie zugeben, dass auch sie neugierig war. Sie würde auch gerne etwas über ihre Schwester erfahren.
„Wie alt bist du?“, platzte es auch schon aus ihr heraus.
Azuras Augen flackerten kurz auf.
„Sechsunszwanzig.“, antwortete sie.
Shira entging nicht, dass ihre Mundwinkel zuckten. Shira nickte, doch plötzlich wurde ihr Gesicht ganz ernst.
„Wer hat dich in der Hand, Azura?“
Die Frau erstarrte. Da war sie wieder. Die junge Frau mit dem Herzen aus Eis.
„Ich weiß nicht ob es eine gute Idee ist, dir das zu sagen...“, murmelte sie, worauf sie angstoßen wurde.
„Ich versuche das richtige zu tun, Azura. Ich möchte dir helfen aber dazu muss ich wissen, wer dir diese Befehle erteilt.“, fauchte Shira.
Sie bemerkte selbst, welchen Tonfall sie benutzt hatte weshalb sie versuchte, sich zu beruhigen.
Azura atmete tief durch ehe sie antwortete: „Es ist Ragnar.“
Shiras Blickfeld trübte sich. Azura musste mit ansehen, wie ihre Schwester aufsprang und die Vase auf dem Tisch zerschmetterte.
„Ich wusste es!“, brüllte sie und ballte die Hände zu Fäusten.
„Was ist denn?“, fragte Azura verunsichert.
Die Leopardenfrau dachte immer sie sei selbstbewusst, doch nun wo sie ihrer kleinen Schwester gegenüber saß musste sie feststellen, dass das nichts im Vergleich zu ihr war.
„Azula, hast du gehört was mit dem Rat passiert ist?“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme.
Sin betrat den Raum.
„Nein. Sollte ich denn etwas gehört haben?“, antwortete sie misstrauisch.
„Fast alle Ratsmitglieder sind tot.“, fuhr der Tiger fort. „Keyra hat geglaubt alle seien tot aber Shira hat geahnt, dass es Überlebende gibt. So wie es aussieht, hatte Ragnar das Glück auf seiner Seite.“
Perplex sah Azura von einem zum anderen.
„Ihr macht Witze, oder?“, hauchte sie.
„Nein.“, mischte Shira sich wieder ein. „Selbst Vorago ist tot.“
Azuras Augen weiteten sich.
„Das war also gemeint als du zu Keyra gesagt hast, der Rat existiert nicht mehr.“, murmelte sie.
Shira begann, auf und ab zu laufen.
„Ich wette, er wiegt sich in Sicherheit. Kein Wunder, dass er dir freie Hand gelassen hat. Du musst wissen, dass er mich loswerden will. Da kamen ihm deine Rachgelüste gerade recht.
Azura wusste nicht so recht, was sie nun sagen sollte.
„Azura.“, riss Shira sie aus den Gedanken. „Was würde assieren, wenn du nicht mehr zurückkehrst?“
Ernst erwiderte die Frau ihren Blick.
„Er würde jemanden nach mir schicken. Mich suchen lassen. Ruhe würde er keine geben.“, antwortete sie, nachdem sie einen Augenblick lang darüber nachgedacht hatte.
Ein hinterhältiges Lächeln breitete sich auf Shiras Lippen aus.
„Und wenn du tot bist?“
Sin schien zu verstehen worauf sie hinaus wollte. Azura kam allerdings nicht mit.
„Wie meinst du das?“, hakte sie nach.
„Ganz einfach.“, begann Shira und machte eine Geste mit der Hand. „Wir simulieren deinen Tod. Danach hältst du dich hier versteckt und wir können uns in Ruhe überlegen, wie wir gegen ihn vorgehen wollen.“
Azura hatte keine Ahung, was sie davon halten sollte. Einerseits war es eine gute Idee, da Ragnar nicht mehr nach ihr suchen würde, andererseits könnte sie das Haus nicht mehr verlassen, weil sie befürchten musste gesehen zu werden. Es war ganz allein ihre Entscheidung. Sie musste entscheiden, ob es ihr das Wert war. Die Minuten vergingen in völliger Stille, bis Azura schließlich nickte.
„In Ordnung, ab sofort verweile ich nicht mehr unter den Lebenden.“
Shira und Sin lächelten, bis am Ende auch ihre eigenen Mundwinkel zuckten.
34
Gedankenverloren starrte der Schneeleopard aus dem Fenster. Seit fast zwei Wochen hatte er schon nicht mehr von der Leopardin gehört. Es interessierte ihn brennend ob sie ihre Schwester schon gefunden hatte. Schließlich würden beide von ihrem Tod profitieren. Dennoch fand er es seltsam, dass sie sich bisher noch nicht gemeldet hatte. Das swar eigentlich nicht ihre Art. Sie hatte sich sonst immer als sehr zuverlässig erwiesen. Er fragte sich, ob wohl etwas passiert war. Er schweifte mit den Gedanken ab. Ragnar konnte noch immer nicht begreifen, was passiert war. Sie alle waren tot! Selbst Vorago. Dabei war er doch der mächtigste unter ihnen gewesen, oder etwa nicht? Keiner hatte überlebt. Keiner, außer Keyra und ihm selbst. Er wusste ganz genau, dass Keyra sich nun nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen würde, dafür war sie zu sensibel. Er hingegen hatte Pläne. Im Gegensatz zu allen anderen Ratsmitgliedern, hatte er keine Schwachstelle. Er würde die Gestaltwandler auch weiterhin regieren, allerdings alleine. Oh ja, er hatte Pläne. Große Pläne! Lächelnd starrte er aus dem Fenster, als plötzlich die Tür seines Büros aufgerissen wurde. Vin betrat den Raum, mit einem Paket in der Hand. Er hatte es bereits geöffnet und sein blasses Gesicht ließ erkennen, dass es sich definitiv nicht um eine Torte handelte. Ragnar rechnete schon mit dem schlimmsten, doch als er dann den Inhalt des Päckchens sah, blieb ihm für einen Moment die Luft weg. Er nahm den zusammengefalteten Zettel, der unter das blutige Herz geklommen war. Stumm las er.
Deine kleine Prinzessin hat das Reich der Toten bertreten.
Mein Beileid.
Anonym
Mit einem Brüllen schmiss Ragnar das Päckchen, samt Inhalt gegen die Wand. Mit einem leises Platschen landete das Herz auf dem Boden. Sie war tot. Deswegen hatte er nichts von ihr gehört.
„Glaubt Ihr, Shira hat sie getötet?“, fragte Vin leise.
Nur langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
„Vermutlich.“, murmelte der Schneeleopard und ließ sich in seinen Sessel fallen.
„Sicher sein können wir uns allerdings nicht. Sie hat vorher kein Anzeichen gezeigt sie töten zu wollen, oder täusche ich mich?“
Vin neigte den Kopf.
„Nein, Ihr habt Recht. Sie hat sich erstaunlicherweise sehr friedlich ihrer Schwester gegenüber gezeigt.“, war seine monotone Antwort.
„Vielleicht hat jemand herausgefunden, dass sie unter Eurem Befehl steht und sah dies als Chance, Euch eins auszuwischen.“, schlug er dann vor.
Ragnar sah ihn eine Weile lang stumm an. Er könnte Recht haben. Vin hatte schon immer einen so scharfen Verstand gehabt, vielleicht war an diesen Worten was dran? Ragnar wedelte mit der Hand.
„Geh und finde heraus, was dahinter steckt.“, befahl er.
Vin gehorchte und verließ das Büro.
Tief durchatmend ließ Shira sich aufs Bett fallen. Eine Woche war vergangen, in der Sin und sie ganz schöne Arbeit geleistet hatten. Ihnen war zu Ohren gekommen, das Vin sich in der Gegend herum trieb. Sie alle konnten sich denken warum und hatten deshalb eine falsche Fährte gelegt. Von nun an führte die Spur nämlich zu Vin selbst. Der Jäger war zum gejagten geworden. Dennoch war Azura alles andere als glücklich mit der momentanen Situation. Solange Vin hier sein Unwesen trieb, musste sie im Keller unterkommen, denn nur so ließ sich ihr Geruch verbergen. Sin und sie hatten so einiges getan, damit man ihren Geruch von außen nicht mehr wahrnahm. Nun allerdings war Azura in Sicherheit. Sin betrat das Schlafzimmer und betrachtete amüsiert Shira, die ausgestreckt auf dem Bett lag. Sie war kurz davor einzuschlafen.
„Ich war eben bei deiner Schwester.“, verkündete er und schlenderte zum Bett.
„Morgen klären wir, wie wir ab nun vorgehen.“
Shira brummte leise, zu einer anderen Reaktion war sie im Moment nicht fähig. Sin legte sich zu ihr und zog sie zwischen seine Beine.
„Deine Schwester scheint ganz in Ordnung zu sein. Ich glaube, was damals passiert ist tut ihr wirklich leid.“, sagte er leise.
Shira kuschelte sich an ihn. Das Sin ihr gegenüber nicht mehr so misstrauisch war, war ein gutes Zeichen. Nun glaubte Shira daran, dass alles wieder gut werden würde.
„Ich liebe dich.“, flüsterte Sin ihr ins Ohr.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief Shira ein.
Schlecht gelaunt machte er sich auf den Weg, zu Keyras Residenz. Schon seit Tagen hatte er versucht herauszufinden, was genau mit Azura passiert war. Er glaubte nicht, dass Shira sie auf dem Gewissen hatte, dafür war sie viel zu neugerig auf ihre Schwester gewesen. War die Frage, wer dann noch alles übrig blieb. Vin hatte sich lange genug umgehört. Er konnte nicht glauben, was er zu hören bekommen hatte. Angeblich sei er es gewesen, der sie ermordet hatte! Er, der doch die ganze Zeit über in Ragnars Versteck geblieben war. Doch Vin war sich ziemlich sicher, dass der Schneeleopard den anderen Gestaltwandlern Glauben schenken würde, statt ihm. Er war schon immer misstrauisch gewesen. Vin schüttelte den Kopf. Irgendjemand behauptete, er habe Azura getötet. Er musste so schnell wie möglich herausfinden, wer dahinter steckte! Bei Keyra angekommen drückte er ohne zu zögern auf den Klingelknopf. Es dauerte nicht lange, da öffente sich die große Tür und Shira kam zum Vorschein.
„Na, wenn das nicht mein lieber Onkel Vin ist.“, murmelte sie.
Allerdings alles andere als erfreut.
„Freut mich auch, dich zu sehen.“, erwiderte Von. „Darf ich rein kommen?“
Shiras Augen verengten sich als sie zur Seite trat.
„Nur ungern, aber bitte.“
Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sich schließlich beide aufs Sofa fallen ließen.
„Hast du mal wieder etwas von deiner Schwester gehört?“, begann Vin und sah sich um.
Nichts, aber rein gar nichts deutete darauf hin, dass Azura mal hier gewesen war. Dabei hatte er damit gerechnet, dass sie noch einmal versuchen würde Shira zu töten.
„Nein. Ich nehme an, du stellst mir diese Frage nicht ohne Grund.“, antwortete die Leopardin ihm gegenüber und sah ihn misstrauisch an.
„Hast du eine Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte?“, fragte Vin dann.
Shira zog die Brauen hoch.
„Was meinst du damit?“
Vins Gesicht wurde ausdruckslos als er sagte: „Sie ist tot.“
Interessiert beobachtete er ihr Mienenspiel.
„Was soll das heißen, sie ist tot?“, murmelte sie.
Vin sah, dass sie versuchte sich zusammen zu reißen und sich nichts anmerken zu lassen, doch es war offensichtlich, dass sie das ein Stück weit traf.
„Gibt es irgendwelche Hinweise?“, sagte sie nun tonlos.
Schien, als hätte sie sich wieder gefasst. Vin schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte.“, erwiderte er.
Nun sah man der Frau an, wie misstrauisch war.
„Woher weißt du überhaupt, dass sie nicht mehr am leben ist? Ich vermute, sie ist eine Streunerin also warum sollte sie nicht einfach außerhalb der Gegend herumlungern?“
Sie neigte den Kopf und Vins Blick verdüsterte sich.
„Man hat uns eine Paketsendung zukommen lassen. Der Inhalt war ein Herz. Der Zettel der beigelegt war hat klar gemacht, um wessen Herz es sich handelt.“
Shira zeigte auf seine Worte hin keine Regung, wobei sie sich innerlich ins Fäustchen lachte.
Sie waren also tatsächlich darauf hereingefallen! Vin versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen.
Sowas zu hören war sicher nichts neues für sie.
„Und nun hoffst du, ich könnte etwas wissen oder dir weiterhelfen?“, murmelte sie, fast schon gelangweilt.
„Ich habe in der Tat gehofft, dass du etwas wissen würdest aber wie mir scheint, ist das nicht der Fall.“, erwiderte er und erhob sich auch schon. Mit zwei Schritten war er bei mir, dann drückte er ihr eine Karte in die Hand.
„Wenn du etwas erfahren solltest, melde dich bitte.“, sagte er leise und sah sie eindringlich an.
Shira zog herausfordernd die Augenbrauen in die Höhe.
„Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich mich bei dir melden würde? Das ist doch nicht mein Problem, oder täusche ich mich. Schade um die Frau, ja aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass mich das dazu bewegt mich auf deine Seite zu stellen.“, knurrte sie leise und zeigte ihm dann den Vogel. Mit verurteilendem Blick sah Vin sie an.
„Ich hätte erwartet, dass du wenigstens ein bisschen Ehre deiner toten Schwester zukommen lässt aber wie ich sehe, habe ich zu viel in dich hinein interpretiert.“, war seine monotone Antwort.
Shira zuckte nicht einmal mit der Wimper. Es war ein leichtes, ihn für dumm zu verkaufen wie sie nun feststellte. Es konnte allerdings auch sein, dass er ihr Spielchen durchschaut hatte und absichtlich so tat, als würde er nichts bemerken.
„Ich glaube es wird Zeit, dass du verschwindest.“, sagte sie kalt und wies mit dem Kopf auf die Tür. Vin stieß ein Schnaufen aus, sagte aber nichts mehr dazu. Als er auf die Tür zu ging, öffnete er den Mund dann aber doch noch.
„Ich hatte dich für eine ehrenwerte Frau gehalten.“, murmelte er, dann war er weg.
Shira zog die Brauen hoch. Sollte er doch denken, was er wollte.
„Sie glauben es.“, verkündete Shira, als sie den Raum betrat. Sin und Keyra saßen auf dem Sofa und unterhielten sich leise miteinander. Als die Leopardin näher kam, sahen beide auf.
„Was?“, hauchte Keyra.
Sie wirkte etwas neben der Spur wie Shira feststellte, doch im Moment war ihr das egal.
„Ragnar glaubt, Azura ist tot. Ich gehe eben zu ihr runter.“
Sin nickte, Keyra reagierte gar nicht. Die Leopardin beschloss, später ihren Freund danach zu fragen. Nun stiefelte sie in den Keller hinab.
„Azura.“, rief sie.
Nach einigen Augenblicken trat ihre Schwester aus dem Schatten des Kellers.
„Was gibt’s?“, sagte sie und verschränkte neugierig die Hände ineinander.
„Unser Onkel war gerade hier.“, verkündete Shira und zeigte ein raubtierhaftes Grinsen.
Auch in Azuras Augen zeigte sich nun ein Funkeln.
„Verstehe. Dachte er, du bist diejenige die mich auf dem Gewissen hat?“, erwiderte sie lachend.
Shira wurde ernst.
„Er schien nicht zu glauben, dass ich dich „getötet“ habe. Er wollte wissen, ob ich etwas von dir gehört habe und wenn ich mich nicht täusche, wollte er austesten wie ich auf deinen Tod reagiere.“
Azura lachte und stieß Shira an.
„Hätte nie gedacht, dass ich das mal sage aber mit dir zusammen zu arbeiten, wird sich noch amüsanter zeigen als gedacht.“
Shiras Augen verengten sich.
„So gut wir uns auch verstehen mögen, interpretiere nicht zu viel in unsere Beziehung zueinander hinein.“, murmelte sie und wandte sich ab.
„Du wollst gar keine Schwesterbeziehung zu mir aufbauen, oder?“, hauchte Azura.
Nur zögernd erwiderte Shira ihren Blick.
„Scharf bin ich eigentlich nicht darauf, nein.“, murmelte sie.
Azuras Blick trübte sich.
„Verstehe.“, sagte sie leise und verschränkte die Arme. „Was Ragnar und unseren Onkel betrifft, wie wollen wir nun vorgehen?“, wechselte sie dann das Thema.
Schon veränderte sich Shiras Gesichtsausdruck wieder. Ein wenig ratlos sah sie Azura an.
„Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Du müsstest doch einige wenige Schwachstellen von Ragnar kennen, hast du keine Idee?“, war ihre leise gemurmelte Antwort.
Um ehrlich zu sein hatte Azura damit gerechnet, dass ihrer Schwester sofort eine Idee kommen würde. Nachdenklich rieb Azura sich das Kinn.
„Naja, alles was mir einfällt, wäre sein Stolz. Ist der verletzt, dürfte er leicht aus der Reserve locken zu sein.“, erwiderte sie nachdenklich.
Doch ihre Schwester schien gar nicht zugehört zu haben.
„Du könntest und auch zu seinem Versteck führen. Wir lenken ihn irgendwie ab und schauen uns dann ein bisschen da um. Glaubst du, das würde klappen?“
Neugierig sah der schwarze Panther sie an, worauf sie mit den Schultern zuckte.
„Wenn ihr erst seine ganzen Bediensteten ausschaltet? Sein ganzes Versteck ist voll von diesen Leuten. Solange sie da sind dürfte es unmöglich sein, unbemerkt ins Anwesen zu gelangen.“
Shira zeigte ein Lächeln, wobei Reißzähne aufblitzten.
„Das dürfte kein Problem sein. Ich kenne genug Leute, die mir dabei helfen würden. Hast du noch mehr gute Ideen?“
Stumm schüttelte Azura den Kopf.
„Im Moment nicht, nein.“
Shira zeigte ein schwaches Lächeln, dann wandte sie sich von ihrer Blutsverwandten ab.
Sie wollte so schnell wie möglich wieder hier weg, doch daraus wurde leider nichts.
„Äh...Shira.“, riss Azura sie auch schon aus den Gedanken.
Sie seufzte in sich hinein und drehte sich langsam wieder um.
„Was gibt’s?“, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Sie hatte keine Ahnung ob Azura ahnte das dieses Lächeln unecht war und es war ihr auch egal.
„Das mit Sin und dir...was genau ist das? War er nicht ein Mensch?“
Shira horchte auf. Woher wusste Azura bitte, dass ihr Freund mal ein Mensch gewesen war?
Scheinbar erahnte ihre Schwester ihre Gedanken. Sie begann von einem Fuß auf den anderen zu treten und druckste ein wenig herum. Für einen Sekundenbruchteil kam Shira auf den Gedanken, dass ihre Schwester Angst vor ihr hatte.
„Naja, kann sein das Ragnar es mal erwähnt hat...“
Sie verschränkte die Hände ineinander und Shira zog die Brauen hoch.
„Irgendwie hätte ich ja damit rechnen müssen.“, murmelte Shira.
Sie kehrte ihrer Schwester wieder den Rücken zu.
„Sin ist mein Freund.“, sagte sie lediglich, dann hatte sie den Keller verlassen.
Nachdenklich sah Azura ihr nach.
35
„Was ist los, Süße?“, fragte Sin und zog das Mädchen auf seinen Schoß.
„Wir werden Ragnar wohl einen kleinen Besuch abstatten.“, verkündete sie und schmiegte sich nachdenklich an ihn. Sie spürte, wie sich die Muskeln unter seiner Haut anspannten.
„Eine Erkärung wäre ganz nett.“, murmelte er und schnüffelte an ihrem Hals.
Oh, wie er ihren Geruch liebte!
„Meine Schwester wird uns zu seinem Versteck führen. Um den Rest müssen wir uns selbst kümmern.“, war ihre Zusammenfassung.
Nachdenklich sah er auf sie herab.
„Hältst du das für eine gute Idee? Azura so sehr zu vertrauen und sie uns dorthin führen lassen, wo es für uns am gefährlichsten ist?“
Das er Einwände, oder zumindest Zweifel haben würde war Shira von vorne herein klar gewesen. Und sie wusste, dass er gar nicht mal so unrecht hatte. Doch für den Moment musste sie ihrer Schwester Vertrauen schenken. All zu viele Möglichkeiten hatten sie schließlich nicht. Und diese kam ihr sinnvoller vor, als nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas passierte.
„Ich kann dich verstehen, Sin aber was sollen wir sonst tun? Abwarten und Tee trinken? Du weißt genauso gut wie ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Du wolltest, dass wir gegen den Rat vorgehen, schon vergessen? Und noch haben wir es nicht zu Ende gebracht.“
Sin seufzte. Sie hatte ja Recht. Er konnte noch immer nicht fassen, worauf er sich da nur eingelassen hatte. Doch genau genommen war er bisher ganz zufrieden mit sich und ihren Leistungen. Der Rat war bereits untergegangen, lediglich ein ehemaliges Mitglied galt es noch unschädlich zu machen. Das ließ ihm allerdings klar werden, dass es noch eine Frage zu klären galt.
Wer kümmerte sich um all die Gestaltwandler, wenn der Rat nicht mehr existierte?
Würde Shira wieder Recht behalten? Würde Chaos über all diese Wesen herrschen? Irgendjemand müsste doch über sie herrschen...Aber wer?
„Wann geht es los?“, fragte Sin nach einiger Zeit völliger Stille.
„Wann immer wir dazu bereit sind. Ich will noch mit ein paar Leuten sprechen, laut Azura hat Ragnar viele Bedienstete, die es auszuschalten gilt. Zu zweit würden wir das vielleicht nicht schaffen.“, war ihre Eklärung.
Sins Mundwinkel zuckten.
„Du willst also auf Nummer sicher gehen.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, weshalb Shira gar nicht erst darauf antwortete.
Sie würde sich noch einige Minuten in den Armen ihres Freundes gönnen, dann würde sie sich wieder an die Arbeit machen. Noch war es nicht vorbei.
Mit gemischten Gefühlen lief Ragnar durch die Gänge. Vin hatte ihm schon vo Tagen Bericht erstattet. So wie es aussah hatte Shira wirklich nichts mit Azuras Tod zutun. Vin hatte auch ihre Reaktion beschrieben. Scheinbar wusste die Leopardin auch nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte. Dennoch würde er sie im Auge behalten. Ragnar war noch immer davon überzeugt, dass dieses Mädchen Unfug treiben würde wenn es denn die Chance dazu hatte. Seufzend blieb er stehen. Was sollte er nun tun? Er konnte nicht einfach so zu ihr gehen und ihr die Kehle durchschneiden. Das barg viel zu viele Risiken! Naja...eigentlich hatte er nichts gegen ein kleines Risiko aber hin und wieder ging er auch gerne mal auf Nummer sicher. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Er hatte nicht die geringste Ahnung wie er nun vorgehen sollte. Doch dann kam ihm ein Gedanke. Vielleicht würde er ja gar nicht darüber nachdenken müssen? Shira wollte die meisten Ratsmitglieder schon immer tot sehen. Sie würde sicher auch noch nach ihm jagen, jetzt wo ja eh schon fast alle tot waren. Ob sie auch Keyra erledigen würde? Er wusste es nicht. Und es war ihm auch egal. Diese Frau konnte ihm sowieso nicht mehr gefährlich werden, jetzt, wo sie ihren Liebhaber verloren hatte. Während er nachdachte fiel ihm plötzlich auf, wie leer es im Anwesen war. Stand sonst nicht an fast jeder Tür einer seiner Bediensteten? Bewachten seine Gemächer und seine Schätze? Er schüttelte den Kopf und vertrieb die Gedanken voller Misstrauen. Sicher hatten sie sich wieder irgendwo versammelt, um sich darüber aufzuregen was für ein widerlicher Mistkerl er war. Er schmunzelte. Das taten sie öfter. Sich im Geheimen über ihn auskotzen. Doch es sollte ihm egal sein. Er musste sich um andere Dinge kümmern. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Ein kleines Rinnsal Blut, eine hauchfeine Spur, die über die gräulichen Fliesen verlief und um die Ecke des Ganges verschwand. Ein leises Knurren stieg in seiner Kehle auf. Hatten etwa wieder zwei Dummköpfe eine Prügelei begonnen? Das kam öfter vor, weswegen Ragnar so gut wie nie einschreitete. Doch in letzter Zeit wurden die Burschen immer schlimmer. Und vor allem brutaler. Wahrscheinlich würde er dazwischen gehen müssen. Rasch setzte der Schneeleopard sich in Bewegung. Er lief einige Meter, bog dann scharf um die Ecke und blieb dann aprubt stehen, um sogleich wieder einige Schritte zurückzutaumeln. Ihr dreckiges Grinsen wurde breiter als sie sah, wie sich die Augen des Mannes weiteten. Shira hielt Maca an der Kehle gepackt und hielt in wenige Zentimeter über dem Boden in der Luft. Sie drückte so fest zu, dass sich ihre Finger bereits in sein Fleich gruben. Macas Augen traten hervor.
„Lass ihn auf der Stelle los!“, keuchte Ragnar voller Entsetzen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er zwang sich, ein Pokerfacce aufzusetzen.
Shira entblößte ihre Reißzähne und ließ ein leises Knurren hören.
„Nur, wenn du stattdessen herkommst.“, hauchte sie.
„Na, da sag ich doch nicht nein.“, erwiderte der Mann feindselig und ließ heimlich ein Messer in seine Hand gleiten. Shira stieß den Jüngling fort, worauf er gegen die Wand prallte und bewusstlos zu Boden sank. Die Leopardin fletschte wieder die Zähne. Sie hatte die Klinge in Ragnars Hand schon längst bemerkt, weshalb sie mit Leichtigkeit auswich als er damit nach ihr zielte.
„Warum bist du Teufelsweib hier?“, brüllte er und versuchte immer wieder, sie mit dem Messer zu erwischen. Fast schon lachend sprang sie immer wieder zur Seite.
„Ich bin hier, um dich zu töten!“, flüsterte sie mit einem Mal todernst. Das Lachen war verschwunden und sie machte einen Schritt, um den Mann an der Kehle zu packen.
Mit Leichtigkeit hob sie ihn in die Luft, so wie sie es auch mit Maca getan hatte.
„Was fällt dir eigentlich ein, weiterhin die Gestaltwandler regieren zu wollen? Es wird keinen König geben, hast du verstanden?“
Shiras tödliches Wispern verwandelte sich in ein lautes und beständiges Brüllen. Ragnar verzog das Gesicht. Ob vor Wut oder Angst konte die junge Frau nicht sagen.
„Du bist nicht dazu instande mich zu töten, du Kind!“, krächzte Ragnar.
Dann grub sich die Klinge in ihren Bauch. Keuchend ließ Shira den Schneeleoparden fallen.
„Das werden wir gleich sehen.“, knurrte sie und verwandelte sich.
Besorgt behielt der Tiger die beiden im Auge. Shira war nicht damit einverstanden, doch Sin hatte ungefragt geschworen, dass er einschreiten würde sollte es für seine Frau gefährlich werden. Er selbst war eigentlich nicht damit einverstanden, Ragnar so direkt anzugreifen, doch Shira war stur. Knurrend hatte sie jedoch hingenommen, sich von ihm beschützen zu lassen. Nun beobachtete er, wie der schwarze Panther und der Schneeleopard über einander herfielen. Das bereits eine Wunde in Shiras Bauch klaffte, störte Sin nicht. Er wusste ganz genau, dass sie sich von dieser Verletzung nicht unterkriegen lassen würde. Dafür war sie unter anderem zu stur. Dennoch wartete er nun in tierischer Gestalt darauf, dass er eingreifen müsste. Denn genau das würde passieren. Shira würde eine Niederlage einstecken müssen. Sein Gefühl sagte ihm das. Doch er wollte den Teufel nicht an die Wand malen. Für gewöhnlich war Shira diejenige, die so pessimistisch dachte. Doch er machte sich Sorgen um sie. Mit bis zum zerreißen angespannten Muskeln beobachtete Sin, wie Shira mit ihren Klauen direkt auf Ragnars Kehle zielte. Sie erwischte ihn punktgenau, worauf erst mal eine wahre Fontäne aus Blut sein Mädchen besudelte. Sin schluckte. Er hätte vorher auf die Jagd gehen sollen, denn nun überfiel ihn der Hunger. Mit Entsetzen stellte er fest, in welche Richtung seine Gedanken gingen. Ragnars Leiche fressen? Um Gottes willen, war er wirklich schon so weit gesunken? Oder waren das einfach nur seine Instinkte? Er schüttelte den Kopf und beobachtete weiter den Kampf. Shira hatte, so wie der Schneeleopard einiges einstecken müssen. Ihr schwarzes Fell war von dem ganzen Blut bereits verklebt und sie war sogar schon einige Male ausgerutscht, so rutschig war der Boden durch das ganze rote Zeug. Hinzu kam, dass Ragnar bereits mehr tot als lebendig aussah. Sein Kopf schien lediglich durch ein paar Sehnen auf dem Torso gehalten zu werden. So sah es zumindest aus. So genau wollte er es eigentlich auch gar nicht wissen... Dennoch schien sich die junge Frau richtig abzumühen. Plötzlich musste sie einen kräftigen Schlag einstecken. Sie taumelte. Und ging zu Boden. Mit einem triumphierenden und hysterischen Lachen taumelte Ragnar, nun in Menschengestalt, auf Shira zu. Die sah auf, mit einem irren Funkeln in den Augen. Doch scheinbar gelang es ihr nicht wieder auf die Beine zu kommen. Augenblicklich sprang Sin dem Mann vor die Füße. Ebenfalls in Menschengestalt.
„Du wirst sie nicht anrühren!“, fauchte er bedrohlich.
Er würde sein Mädchen nicht anrühren! Nicht, wenn er es verhindern konnte. Nun begann ein neuer Kampf.
Ein wenig geschockt sah Shira dabei zu, wie sich Sin unerschrocken in den Kampf mit Ragnar stürzte. Der Schneeleopard war bereits so weit geschwächt, dass ihr Freund ein leichtes Spiel hatte.
Mehrere Schläge und Tritte und Sin hatte dem Mann bereits die Hände an den Kopf gelegt. Er war nur noch einen Handgriff davon entfernt...
„Sin.“, hauchte Shira, worauf der Junge augenblicklich inne hielt. Er sah über seine Schulter zu ihr zurück.
„Was gibt’s, Baby?“, hauchte er.
„Töte...ihn nicht.“, flüsterte sie. „Nicht alleine.“
Sie schritt auf ihn zu, langsam, um zu realisieren was hier geschah. Lächelnd entblößte Sin seine Reißzähne.
„Dann komm her, Engel.“, sagte er leise und machte ihr Platz, damit sie an seine Seite treten konnte, und sie diesem Leben gemeinsam ein Ende bereiten konnten. Zufrieden knurrend legte auch Shira ihre Hände an Ragnars Kopf. Ein Gurgeln ertönte aus dem Halse des Schneeleoparden. In den Ohren des Paares klang es wie „Das könnt ihr nicht machen!“, doch genau genommen war es ihnen egal.
„Bereit?“, hauchte Sin, worauf das Mädchen nickts. Ein Knirschen ertönte, dann ein Knacken und ein Reißen und das Plätschern von Blut ertönte. Fassungslos starrte Shira auf den Kopf in ihren Händen, der ihren Blick mit vor Schreck geweiteten Augen erwiderte.
„Irgendwie...war das Ganze doch zu einfach.“, hauchte sie.
Sin ließ den Blick schweifen. Insgeheim gab er ihr Recht. Es war zu ruhig. Doch er wollte ihr nicht von seinem Verdacht erzählen. Vielleicht, aber nur vielleicht war es ja doch noch nicht vorbei?
Erst einmal galt es zu klären, wie es nun mit den Gestaltwandlern weitergehen sollte. Shira schmiss den Kopf über die Schulter und rieb sich die vor Blut tropfenden Hände an der Hose ab.
„Lass uns nach Hause gehen.“, murmelte sie und sah mit wässrigen Augen zu Boden.
Sin legte fürsorglich einen Arm um sie und führte sie aus Ragnars Anwesen. Keiner kam ihnen dabei in die Quere.
36
Keyra lief im Wohnzimmer auf und ab, als sie plötzlich zwei Schatten im Flur vorbei huschen sah. Augenblicklich lief sie aus dem Zimmer, um zu schauen wer genau gerade zurückgekehrt war. Sie erhaschte noch einen kurzen Blick auf Sin, der lautlos mit den Lippen „Ich bin gleich bei dir.“ formte. Mit einem Nicken lief Keyra in den Keller. Azura saß leise summend im Schneidersitz auf ihrer Pritsche.
„Ich glaube, du kannst dich wieder frei im Haus bewegen.“, verkündete Keyra nachdenklich.
Die Frau sah auf.
„Wie kommst du darauf?“, hakte sie aufmerksam nach.
„Ragnar ist tot.“, kamen dann die entscheidenen Worte von Sin. Er kam gerade die Treppe herunter, als Azura aufsprang.
„Was?“, kreischte sie, packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn kräftig durch. Seufzend befreite Sin sich aus ihrem Griff und sah sie eindringlich an.
„Ja, er ist tot. Shira und ich haben ihn getötet. Und das Ganze hat sich als einfacher erwiesen als gedacht.“
Fassungslos taumelte die Frau erst mal einige Schritte zurück.
„I-Ihr habt...konntet ihn einfach so töten? Das klingt, als hätte ich ihm selbst den Kopf abschlagen können.“, hauchte sie.
Sin ließ sich auf ihrer Pritsche nieder.
„Naja...“, begann er. „Shira hat sich einen brutalen Kampf mit ihm geliefert aber irgendwann konnte sie nicht mehr, deswegen bin ich für sie eingesprungen. Er war bereits so weit geschwächt, dass ich leichtes Spiel hatte. Am Ende haben wir ihm gemeinsam den Kopf abgerissen.“
Die Geschichte des Jungen ließ auch Keyra erst mal stutzten.
„Das soll es gewesen sein? Sieht mir ganz nach dem Fall „große Klappe, nichts dahinter“ aus.“, murmelte sie und verschränkte nun die Arme.
„Wie geht’s Shira?“, fragte sie nun, freundlicher.
„Ich hab ihr gesagt, sie soll sich ausruhen. Sie schläft jetzt. Ich hoffe, dass bleibt die nächsten Stunden auch so. Shiras Schwester fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Langsam realisierte sie es.
„Was machen wir mit Vin? Wollt ihr ihn auch töten?“
Vollkommen ernst sah sie zu ihm hinab. Er zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube durchaus, dass er noch zum Problem werden könnte aber ihn einfach töten? Genau genommen hat er uns ja gar nichts getan.“
Keyra und Azura sprachen unisono die gleichen Worte aus.
„Tötet ihn!“
Die beiden Frauen wechselten einen Blick miteinander, dann fuhr Keyra fort.
„Shira wäre sicher unserer Meinung. Er war ihr schließlich von Anfang an nicht geheuer und das, obwohl er so freundlich war.“
Der Blick des Tigermännchens wurde nachdenklich.
„Wahrscheinlich habt ihr Recht. Also gut, ich werde Shira danach fragen sobald sie aufgewacht ist. Sonst noch etwas, das es jetzt zu klären gilt?“
Mit hochgezogenen Brauen sah er die beiden Frauen abwechselnd an.
„Was wird denn nun aus den ganzen Gestaltwandlern?“
Sin seufzte.
„Das habe ich mich auch schon gefragt aber darum müssen wir uns später kümmern. Ich muss mich ausruhen.“
Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Keller, ohne zurückzublicken.
Als Shira aufwachte erblickte sie Sin, der zusammengerollt neben ihr lag und schlief. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Nicht zu fassen, wie unschuldig er aussah! Dabei hatte sie schon erleben dürfen, wie grausam dieser junge Mann sein konnte. Ragnar zu töten hätte auch weniger brutal ablaufen können. Ein Genickbruch hätte gereicht. Oder eine Klinge in seinem Herzen. Aber Sin hatte den Moment voll ausgekostet und dem Mann, mit seinem Mädchen zusammen, den Kopf abgerissen. Shira gähnte. Vielleicht waren es auch einfach nur seine Instinkte. Na, genau genommen war es ihr egal. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Shira inspizierte schnell ihren Körper, dessen Wunden alle versorgt worden waren. Sie schmunzelte. Sin hatte sich also um sie gekümmert. Nun musterte sie ihren Freund. Er schien keine ernsten Verletzungen davon getragen zu haben. Aber so tief wie er schlief, schien er wirklich erschöpft gewesen zu sie. Sie streichelte ihn sacht. Alle aus dem Rat waren tot. Außer Keyra. Was bedeutete das für die Gestaltwandlerin? Würde jemand Neues regieren? Das galt es noch zu klären. Doch bis dahin würde sie sich gemeinsam mit Sin ausruhen. Plötzlich kam ihr ihre Schwester in den Sinn. Ruckartig setzte sie sich auf, als plötzlich ihr Arm ergriffen wurde. Es war ihr Freund, der sie anlächelte. Scheinbar hatte er ihre Gedanken gelesen.
„Keine Sorge, ich habe deiner Schwester und Keyra schon alles berichtet. Also ruh dich aus.“, sagte er leise. Ein wenig beruhigt lehnte sich das Mädchen an den Jungen.
„Danke.“, flüsterte sie. „Für alles!“
Sin küsste sie auf die Stirn.
„Aber nicht doch. Wir kümmern uns zusammen um alle Probleme. Kein Alleingang, hast du verstanden?“
Die Leopardin nickte. Nachdem beide eine Weile stumm geblieben waren, seufzte Sin tief.
„Shira, hör mal...“
Sie lauschte.
„Keyra und Azura würden es besser finden, wenn wir Vin auch töten. Was hältst du davon?“
Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach.
„Ich traue ihm nicht. Und möglicherweise macht er uns noch Ärger. Vielleicht ist das also keine schlechte Idee.“, war schließlich ihre Antwort.
„Mir war klar, dass du ihn ohne zu zögern töten würdest.“, murmelte Sin und schloss, immer noch müde die Augen.
„Ich kenne ihn nicht. Also warum sollte mir das etwas aus machen?“, erwiderte Shira und kuschelte sich an den Jungen.
„Genug geredet.“, hauchte Sin und küsste sie erneut. „Schlaf jetzt. Du bist noch nicht ausgeruht.“
Ausnahmsweise sagte sie nichts und tat, was er sagte.
Fassungslos starrte der Leopard auf seine blutigen Hände. Warum hatte man ausgerechnet ihn gebeten, die Leiche Ragnars zu entsorgen. Noch immer konnte Vin es nicht glauben. Ragnar war tot! Einfach so. Und er war frei! Doch obwohl ihm klar war was das bedeutete, konnte er sich trotzdem nicht wirklich freuen. Wenn sich die Nachricht verbreitete, würde Chaos ausbrechen. Jeder Gestaltwandler auf der Welt würde sein eigener Herr werden, sollte er erfahren das der Rat nicht mehr existierte. Irgendwie musste man das doch verhindern können, oder? Ihm kam eine Idee. Und genau deswegen versammelte er alle Leute im Anwesen, um etwas zu verkünden.
„Glaubst du, er ist abgehauen?“, fragte Sin und sah Azura an.
Die erwiderte vollkommen ernst seinen Blick.
„Wohl kaum. Als ob er dieses prunkvolle Anwesen einfach so verlassen würde.“
Der Junge neigte den Kopf.
„Wie meinst du das?“
Azura warf ihm einen schiefen Blick zu.
„Er hat Ragnars Reichtum genossen und definitv ausgenutzt. Ich bin mir nicht mal sicher ob Ragnar es bemerkt hat. Ich bezweifle, dass er einfach so den Komfort aufgibt.“
Das leuchtete ein.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“, schaltete Shira sich ins Gespräch ein.
Beide sahen sie an.
„Vielleicht glaubt er, jetzt da Ragnar und du, Azura, ja tot sind, dass wir es jetzt auf ihn abgesehen haben und versteckt sich deswegen jetzt?“
Sin dachte einen Augenblick lang nach. Bei Vin konnte er sich das durchaus vorstellen.
Dieser Mann wirkte keinesfalls so, als suche er die Konfrontation.
„Du könntest Recht haben. Aber glaubt ihr wirklich, er versteckt sich im Anwesen? Schließlich wurde Ragnar genau dort getötet.“
Shira blieb stehen und sah ihren Freund einen Augenblick lang eindringlich an.
„Guter Einwand.“
Sie atmete tief durch und setzte sich wieder in Bewegung.
„Also gut.“, fuhr sie fort. „Wir sehen uns einfach im Anwesen um und wenn er nicht da sein sollte, sage ich ein paar meiner Leute, dass sie die Augen offen halten sollen. So einfach ist das.“
Sin zuckte lediglich mit den Schultern. Sollte ihm recht sein. Zu dritt machten sie sich also auf den Weg zu Ragnars Anwesen.
„Vielleicht haben sich die ganzen Bediensteten längst aus dem Staub gemacht.“, dachte Azura laut nach. Eine Weile lang malten sie sich sämtliche Situationen aus, doch wie es am Ende dann wirklich war, ließ ihnen dann doch die Spucke weg...
„Hier wären wir also.“, murmelte Azura und legte den Kopf in den Nacken, um das ganze Gebilde im Auge zu behalten. Natürlich hatte sich nichts verändert. Als Azura den Blick wieder snkte sah sie, dass Shira und Sin schon dabei waren das Anwesen zu betreten.
„Warum Zeit verschwenden, hm?“, murmelte sie und folgte den beiden.
Kaum hatten sie das steinerne Gemäuer betreten, blieben sie auch schon stehen.
„Wo geht’s lang?“, murmelte Sin und ließ den Blick schweifen.
Mehrere Flure zogen sich vor ihnen in die Länge, alle in eine andere Richtung.
Shira zögerte keine Sekunde lang.
„Hier lang.“, befahl sie und ging einfach gerade heraus. Ihre Schwester und ihr Freund folgten ihr. Allen drei fiel auf, wie verdächtig ruhig es hier war.
„Irgendetwas stimmt doch hier nicht.“, hauchte Shira.
Sin trat an ihre Seite, sah aber auch zu Azura zurück.
„Riecht ihr das auch?“, fragte er leise.
„Du meinst die etlichen Gestaltwandler, die sich hier irgendwo versammelt haben? Ja, das ist mir nicht entgangen.“, mischte Azura sich ein.
„Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“, hauchte Shira , blieb stehen und bog dann nach links ab.
„Hier.“, sagte sie schließlich und blieb vor einer großen, hölzernen Tür stehen. Noch bevor jemand irgendwelche Einwände erheben konnte, stieß die junge Frau die Tür auf.
Sins und Azuras Augen weiteten sich und ausnahmsweise konnte man auch Shira ansehen, wie sehr dieser Anblick sie überraschte. Die gesamte Gemeinde der hier anwesenden Gestaltwandler hatten sich in diesem riesigen Saal versammelt und sich vor Vin auf die Knie geworfen.
„Hab ich irgendwas verpasst?“, murmelte Shira und ließ den Blick schweifen.
Vin saß oberhalb eines Podest, mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht.
„Von wegen Angst...“, brummte Sin und rieb sich die Schläfen. Sah ganz so aus, als hätte der Leopard Ragnars Tod genutzt und sich selbst nun zum Herrscher der Gestaltwandler erklärt. Diesen Gedankengang schien auch Shira gehabt zu haben, denn sie sprach es laut aus.
„Sag bloß, du bildest dir ein diese ganzen Leute hier anführen zu können.“, sagte sie laut, worauf sich alle Blicke auf sie richteten. Sin ließ den Blick schweifen. Manchen der Gestaltwandler schien es überhaupt nicht zu passen sich Vin zu unterwerfen, doch scheinbar hatte er so seine Methoden um sie gefügig zu machen. Andere hingegen schienen mit Vin Vorlieb zu finden. Naja, bei Ragnars ehemaliger Herrschaft wunderte das den Jungen nicht. Vins Grinsen wurde breiter und er machte eine ausladende Handgeste.
„Sehen diese Tiere hier etwa so aus, als wollen sie fliehen?“, erwiderte er selbstsicher. Shiras Blick wanderte ebenfalls kurz umher. Sie stieß ein leises Seufzen aus.
„Die meisten leider nicht, nein. Aber wer weiß, wie du sie gefüfig machst. Glaubst du nicht, die Ära der Herrschaft sollte vorbei sein? Wir sollten drei sein und uns nicht von jemandem unterdrücken lassen.“
Azura und Sin sahen das Mädchen an. Ein solch ruhiger Ton, in solch einer Situation? Wie ungewöhnlich für Shira. Doch ihr Onkel lachte nur leise.
„Also ich kann mich über die jetzige Situation nicht beschweren.“
Sin verdrehte genervt die Augen.
„Klar, du darfst dir ja auch alles rausnehmen.“
Bei diesen Worten ließ der neue „König“ ein leises Knurren hören. Scheinbar gefielen sie ihm gar nicht.
„So, du findest also, das hier sollte ein Ende haben.“, wandte er sich wieder an Shira. „Dann sag mir mal, wie es dann weitergehen soll. Ich erinnere mich daran das du gesagt hast, es würde Chaos ausbrechen sollte keiner regieren.“
Shiras Miene verfinsterte sich. Sie hatte noch immer keine Lösung gefunden, doch so wie es jetzt war durfte es nicht bleiben. Auch Keyra war dieser Meinung gewesen.
„Wir würden schon noch eine Möglichkeit finden.“, antwortete Sin an Shiras Stelle.
Vin neigte den Kopf, pflegte aber die Klappe zu halten was Sin die Chance gab, das Wort an die anwesenden Gestaltwandler zu richten.
„Wollt ihr euch wirklich von diesem Idioten da unterdrücken lassen?“, rief er laut in die Runde. Interessiert sah Shira ihren Freund an. Was hatte er vor?
„Hört euch meinen Vorschlag an! Mein Name ist Sin, ich war mal ein Mensch. Nun allerdings bin ich so wie ihr ein Gestaltwandler, dank des Rates, der mich zu einem von euch gemacht hat. Ich weiß wie schwach die Menschen sind und wie einfach es wäre sie zu unterdrücken, damit wir, die Gestaltwandler regieren könnten. Aber so funktioniert das nicht. Ein paar Regeln des Rates waren gut, sie haben dafür gesorgt das alles funktioniert. Ich bin dafür das wir Vin erledigen. Wir, das gesamte Volk der Gestaltwandler suchen uns mehrere Personen aus, am besten die Stärksten und die Klügsten von uns, damit die wenigen Regeln die bestehen bleiben auch eingehalten wären. Sollte es solche Personen nicht geben, würde jeder jeden töten und das darf nicht sein. Also wer von euch, ist noch dieser Meinung?“
Überrascht musterte Shira den Jungen. Soetwas hätte sie ihm gar nicht zu getraut. Nur einige wenige der hier Anwesenden hob zögerlich den Arm. Selbstsicher trat Shira an Sins Seite und ergriff seine Hand. Sie lächelte ihn an.
Du bist ein guter Redner., dachte sie.
Als sie sah das immer mehr den Arm hoben wusste sie, dass sie das Schlimmste überstanden hatten.
Sin hustete und zeigte mit dem Finger auf seine Freundin.
„Im Übrigen habt ihr es Shira Cygni zu verdanken, dass Ragnar tot ist.“
Erschrockene Blicke waren zu sehen, doch auch das Lächeln einiger. Mit einer einfachen Handbewegung tat Shira diese Tatsache ab.
„Na und.“, murmelte sie.
Brüllend sprang Vin auf.
„Das könnt ihr vergessen!“, brüllte er und ballte die Hände zu Fäusten. „Denkt an eure Familie! Glaubt nicht, dass ich es nicht schaffen würde an sie heranzukommen.“
Shira zog eine Braue hoch.
„Es ist mir wirklich ein Rästel, warum man vor dir Angst haben sollte.“, sagte sie und sah ihrem Onkel unverwandt in die Augen. Mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen verwandelte sie sich. Dann trottete sie auf den Mann zu.
„Entweder helft ihr meinem Mädchen oder ihr verschwindet jetzt. Es dürfte ein wenig blutig werden.“, wandte Sin sich wieder an die anderen Gestaltwandler. Azura fasste Sin am Arm.
„Da ich weiß, dass Shira das durchaus alleine schafft mache ich mich aus dem Staub. Ich muss meine neu errungene Freiheit ausnutzen.“, sagte sie und zwinkerte. Der schwarze Panther sah zurück und stieß ein zustimmendes Schnauben aus. Dann blitzten Reißzähne auf.
„Ich wünsch dir alles gute, Azura. Lass von dir hören, ja?“
Sin lächelte die Frau an, worauf diese nickte und dann auch schon verschwunden war.
Shira war sicher kein großer Freund von großen Verabschiedungen, Sin war sich sicher das Azura bereits einiges über ihre Schwester wusste so wie genau das auch. Der Junge richtete seinen Blick wieder auf die Masse der Gestaltwandler, die zu überlegen schien ob sie gehen oder bleiben sollen. Eine junge Frau und ein Mann der ihr Bruder zu sein schien kamen schließlich auf ihn zu.
„Wir danken euch beiden dafür, dass ihr etwas unternommen habt. Wir waren entfernt mit dem Rat tätig und versprechen euch, uns darum zu kümmern das man sich bei euch meldet. Wir werden schon eine Lösung finden, keine Sorge. Allerdings würden wir nun gerne verschwinden. Wir haben viel von Shira Cygni gehört, sie wird diesen Widerling hier sicher schnell erledigt haben.“
Sie junge Frau, die diese Worte ausgesprochen hatte warf einen Blick auf Shira und Vin, dann wieder auf Sin, der sie mit einem sympathischen Blick bedachte.
„Wir kommen zur Zeit bei Keyra unter, ihr könnt jederzeit vorbei schauen.“, sagte er und reichte den beiden kurz die Hand. Es stand außer Frage um welche Keyra es sich handelte. Fast alle Gestaltwandler waren bereits verschwunden, lediglich ein paar hart gesottene Schaulustige, hauptsächlich männliche, waren noch anwesend. Vin knurrte und verwandelte sich ebenfalls. Sin war erstaunt. Für einen Leoparden hatte der Mann eine ziemliche ungewöhnliche Fellmusterung. Statt der gewöhnlichen Tupfen die solch ein Fell normalerweise aufzuweisen hatte, zierten Vin in die Länge gezogene Tupfen. Sie wirkten fast schon wie kleine Streifen. Leicht schüttelte der Junge den Kopf. Solche Gedankengänge waren unwichtig. Er wechselte ebenfalls in seine tierische Gestalt, nur für den Fall.
Und so begann der Kampf...
37
Brüllend machte Shira einen Satz. Mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Krallen sprang sie auf ihren Onkel. Sie wunderte sich warum er nicht ausgewichen war, Zeit hatte er jedenfalls gehabt, doch genau genommen war es ihr egal. Sie verkrallte sich mit ihren Krallen in seinem Fleisch und vergrub ihre Zähne so tief es eben ging in den Hals des Mannes. Der Leopard unter ihr brüllte laut und versuche sie abzuschütteln. Vergebens. Shira durchtrennte Sehnen, Muskeln und zerriss Fleisch, doch nie kam sie gut an sein Genick heran. Dafür setzte er sich zu stark zur Wehr.
Dann hatte er sie auch schon abgeworfen. Zähnefletschend stürzte Vin sich auch schon auf das Mädchen. Sie zögerte allerdings keine Sekunde lang und setzte augenblicklich ihre Pranken zur Gegenwehr ein. Unter lautem Fauchen, Knurren und Brüllen konnte man schließlich nur noch ein einziges Bündel erkennen. Beide veruschten sich gegenseitig zu Boden zu bringen, so heftig, dass Blut spritzte und hin und wieder schmatzende Geräusche ertönten die davon zeugten, dass sich wieder jemand im Fleisch des anderen verbissen hatte. Sin hatte inzwischen erkannt, dass Vin seinem Mädchen körperlich überlegen war. Er war einfach kräftiger als Shira.
Doch Shira war eine gerissene Taktikerin. Immer wieder hielt sie sich zurück, um einschätzen zu können was ihr Onkel als nächstes tun würde. Außerdem galt es herauszufinden, ob und welche Schwachstellen er besaß. Hin und wieder wich sie zurück, das Ganze geschah inzwischen öfter was Sin Grund zur Sorge gab. Offenbar hatte sie Schwierigkeiten sich auf den Beinen zu halten.
Ich übernehme das. Ruh dich kurz aus., verkündete Sin, preschte los und drängte sich zwischen die beiden. Shira schwieg und ließ zu, dass ihr Freund sie ablöste. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Sie verschnaufte, leckte sich rasch die Wunden und ließ Vin von da an nicht mehr aus den Augen.
Du hast kaum Kampferfahrung..., dachte sie besorgt und richtete ihren wachsamen Augen auf Sin.
Aber ich bin stärker als du. Vielleicht hilft das., kam es von ihrem Freund augenblicklich zurück.
Und es half tatsächlich. Ein wenig zumindest. Vin war bereits stark angeschlagen, dank Shira natürlich, was Sin eine große Hilfe war. Er stürzte sich mit Leichtigkeit auf den Leoparden und rang ihn zu Boden. Natürlich. Als Tiger besaß Sin eine weitaus größere Körpermasse. Mehr Fleisch, mehr Muskeln, mehr Kraft. Nun war klar, wer diesen Kampf gewinnen würde.
Doch Sin und Shira hatten die Rechnung ohne Vins Wendigkeit gemacht. In einem unachtsamen Moment von Sin sprang der Leopard zur Seite und verpasste dem Tiger mithilfe seiner Pranken eine tiefe Wunde in der Flanke. Unter lautem Fauchen knickte Sins Bein ein. Doch das brachte ihn glücklicherweise nicht aus der Ruhe. Shira schnaubte. Sie hatte sich genug ausgeruht und beschloss, nun wieder einzuschreiten. Doch das sollte nicht heißen, dass nun Sin verschnaufen konnte.
Im Gegenteil, gemeinsam wären sie Vins Untergang. Während ihr Freund Vin also beschäftigte schlich sie sich von hinten heran und wartete auf einen günstigen Moment, in dem ihr Onkel einigermaßen still halten würde. Ein paar Sekunden lang musste sie ausharren, dann ging sie in die Knie und sprang. Mit ihren scharfen Krallen verbohrte sie sich in den Flanken des Leoparden, dann biss sie ihm beherzt in die Wirbelsäule. Vin jaulte laut auf. Normalerweise waren Angriffe aus dem Hinterhalt nicht ihr Ding, doch sie hatte sich diesen Trick bei den Löwen abgeguckt. Um einen Feind niederzustrecken war es hilfreich, ihn von hinten auf die Wirbelsäule zu attakieren.
Sie biss kräftiger zu, dann lag Vin auch schon unter ihr. Sin schnaufte zufrieden und trat den Rückzug an. Den Rest wollte er seiner Freundin überlassen.
Mit einem intensiven Blick sahen sich die beiden an. Dann richtete Shira ihre Aufmerksamkeit wieder auf das, so gut wie tote Tier unter sich. Sie biss ihn hier und da, bis er Schwierigkeiten hatte sich zu bewegen. Sie überlegte. Entweder beendete sie es nun mit einem Genickbruch oder sie nutzte die Chance und folterte ihn noch ein wenig. Die Zuschauer die noch vorhanden waren schienen es angebracht zu halten ihn zu quälen, denn sie riefen ihr zu ihm das zu geben, was er verdient hatte. Für sie war das eindeutig.
Zufrieden grinsend verwandelte sie sich zurück.
„Er ist mein Onkel aber sein Leben bedeutet mir nichts. Wenn ihr wollt, könnt ihr Vergeltung an ihm üben. Ich bin hier fertig.“, sprach sie laut.
Ihre kratzige Stimme jagte Sin einen Schauer über den Rücken. Natürlich lehnten die Gestaltwandler Shiras Angebot nicht ab. Sie stürzten sich auf ihn wie die Geier und quälten ihn.
Während Sin sein Mädchen beiseite nahm und sich um deren üblen Verletzungen kümmerte, beobachtete sie wie vier Männer den Körper des am Boden liegenden Leoparden verstümmelten.
Blut spritzte als sie ihm das Fell bei lebendigem Leibe abzogen, ihm nacheinander erst Darm, dann Magen, Leber, Lunge und Herz entfernten und ihn schließlich auch köpften.
„Sieh gefälligst nicht dahin!“, knurrte Sin leise und stieß sachte an.
„Ich bin ein Raubtier Sin. Mir macht dieser Anblick nichts. Dir etwa?“, erwiderte sie flüsternd.
Sie konnte ihren Blick gar nicht abwenden. Solch ein Anblick hatte sich ihr schon lange nicht mehr geboten.
„Ich glaube, die muss genäht werden.“
Shira zog die Brauen hoch.
„Was?“, fauchte sie.
Bei Vin würde sich sicher nichts mehr zusammenflicken lassen.
„Deine Wunde, Süße. Die ist zu tief, als das sie so verheilen könnte.“
Sin drehte ihr Gesicht in seine Richtung und sah ihr eindringlich in die Augen.
„Sogar dein Gesicht ist blutverschmiert. Merkst du das nicht?“, sagte er leise und wischte den Blutstropfen weg, der dabei war über ihre Lippen zu laufen. Shira schüttelte leicht den Kopf, dann fiel ihr Blick auf seine Lippen. Sein Mund war ebenfalls blutverschmiert. Doch das war nichts Besonderes, sie hatten sich eben noch im Fleisch des Leoparden verbissen. Sie strich ihm über die Wange und küsste ihn dann.
Lass uns von hier verschwinden., dachte sie und warf einen letzten Blick auf die verstümmelte und kopflose Leiche ihres Onkels.
Epilog:
Als der schwanzlose und auf einem Auge blinde Hund den Saal betrat, standen ihm fünf Gestaltwandler gegenüber. Sie alle sahen ihm voller Hass entgegen. Außer einer Person.
Der Blick der Frau war ausdruckslos, was ihn verblüffte. Sollte sie ihn nicht auch so feindselig anstarren, wie die anderen vier auch? Der Bär hinter ihm stieß ihn auf die Knie.
„Es hat gedauert aber hier ist er.“, verkündete er und ließ den verängstigten Hund auch schon alleine. Die riesige Tür hinter ihm fiel mit einem lauten Knarren ins Schloss. Von nun an hieß es, zu überleben.
„Bitte, ich flehe euch an! Lasst mich am leben!“, bettelte der Hund und sah voller Reue zu den Fünf auf. Die Frau zog die Augenbrauen hoch.
„Wie kommst du darauf, dass wir dich töten wollen?“, fragte sie mit tonloser Stimme. Verwirrt betrachete der Hund jeden von ihnen.
„Der Rat ist tot. Seit fünf Jahren. Und nun regiert ihr!“, murmelte er verwirrt. Die Frau trat vor und ging vor dem verletzten Mann in die Hocke.
„Mein Name ist Shira Cygni, das hinter mir sind Sin, mein Mann, Azura, meine Schwester, Keyra, die mal dem Rat angehörte und Lysander, ihr Gatte. Das Volk der Gestaltwandler hat uns fünf ausgewählt um dafür zu sorgen, dass die Gesetze der Gestaltwandler eingehalten werden. Wir regieren nicht, wir sorgen nur für Ordnung. Und nun verrate mir wie du heißt und wie die Gesetze lauten.“
Das war ein Befehl, keine Bitte. Das wusste auch der Hund.
„M-Mein Name ist Zodiak. Die Gesetze? Erstens: Zeige keinem Menschen dein wahres Gesicht. Zweitens: Töte keine Menschen. Drittens: Bringe keine Schande über die Gestaltwandler.“
Shira zeigte ein schwaches Lächeln und richtete sich wieder auf.
„Welches der Gesetze hast du missachtet, Zodiak?“, fragte sie leise.
„I-Ich habe e-einen Menschen getötet.“, flüsterte er und senkte den Blick.
Er hatte das doch nicht gewollt!
„Wieso hast du einen Menschen getötet, Zodiak?“, war ihre nächste Frage. Er erschauderte beim Klang seines Namens.
„E-Er hat mich provoziert und...da habe ich die Beherrschung verloren. Ich wollte das nicht! Er hat einfach nicht aufgehört!“
Der Mann fing an zu schluchzen und rieb sich mit dem Arm über die Augen.
„Ich habe das wirklich nicht gewollt!“
Seufzend sah Shira zurück zu ihren Freunden.
„Und was machen wir nun mit dir?“, murmelte sie und sah auf den Mann herab.
Sie verschränkte die Arme und fragte die anderen gar nicht erst nach ihrer Meinung. Sie half dem Hund auf die Beine und sah ihn dann streng an.
„Also gut, Zodiak, hör zu. Du hast innerhalb der nächsten fünf Monate in der Stadt zu bleiben.
Solltest du die Stadt verlassen oder dir auch nur eine Kleinigkeit zu Schulden kommen lassen, wirst du mit mir rechnen müssen. Ich lasse dich beobachten und sollte ich hören, dass du dich nicht angemessen verhältst werde ich dir auch noch das Licht auf deinem anderen Auge nehmen, haben wir uns verstanden?“
Ihre Stimme duldete keinen Widerstand und Zodiak hatte auch gar nicht vorgehabt, sich aus der Sache zu winden. Hatte er nicht echtes Glück gehabt? So glimpflich davon gekommen zu sein?
Er nickte und verbeugte sich ehrfürchtig. Er würde jedem Gestaltwandler raten sich zu benehmen, diese Frau hier war mit ihrer ausdruckslosen Art unheimlicher als Vorago und Ragnar es je hätten sein können! Dafür, dass diese Frau selbst mal ein echter Problemfall war, war sie verdammt gerecht!
„Ihr werdet nichts von mir hören, Shira Cygni, Ehrenwort!“
Seufzend deutete Shira mit dem Kopf auf die Tür.
„Dann hau endlich ab, bevor ich auf dumme Gedanken komme.“
Mit dieser Drohung, oder besser gesagt diesem Versprechen, rannte der Mann aus dem Saal.
So schnell würden sie den nicht mehr wiedersehen.
„Du bist viel zu gutmütig.“, hörte sie Keyra sagen.
Sie erwiderte nichts darauf. Sie wollte nicht, dass man sie als den Ersatz des Rates betrachtete.
Sie wollte auch nicht so grausam sein, wie der Rat es war. Natürlich würde sie durchgreifen sollte sie sehen, dass ein Gestaltwandler seine Tat nicht bereute und sie würde auch ohne zu zögern jemanden enthaupten, doch solange sie dafür sorgen konnte das die Gestaltwandler friedlich miteinander lebten war sie zufrieden. Es sollte keine Hierarchie geben. Nur Ordnung. Und Frieden mit den Menschen.
„So, wie sie die ganze Sache handhabt ist es völlig in Ordnung.“, sagte dann Sin, der dann auch schon hinter ihr stand und die Arme um sie legte.
„Nicht wahr, Eheweib?“
Sie kniff ihn, lächelte jedoch.
„Lass uns anstoßen.“, sagte Sin und überreichte mir ein Glas Sekt.
Wir standen auf dem Dach, die Sonne ging gerade auf.
„Worauf?“, fragte ich ausdruckslos und suchte nach Wolken, die ich jedoch nicht fand.
„Darauf, dass von nun an Frieden herrschen wird.“, erwiderte mein Mann.
Nicht überzeugt nahm ich das Glas entgegen.
„Und warum haben wir das nicht schon vor fünf Jahren getan?“, murmelte ich.
„Weil sie uns erst jetzt akzeptiert haben.“, flüsterte er mir ins Ohr. Die Rede war von den Menschen. Sie wussten wer wir waren. Und die Gestaltwandler hatten akzeptiert, dass wir fünf diejenigen waren, denen sie das alles zu verdanken hatten.
„Lass uns reingehen. Es ist kalt.“
Sin fasste meine Hand und zog mich mit.
Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf die Stadt.
Auf die Welt, die sich uns zu Füßen gelegt hatte...
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2013
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