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Ein Tag wie jeder anderer



Es ist sehr zeitig am Morgen. Diana, meine Schwester und ich liegen noch im Bett, neben einander gekuschelt.
Sie ist das Gegenstück zu mir, blonde, lockige Harre, sehr schmal und zierlich. Etwa einen halben Kopf größer als ich. Meist ist Diana die ausgeglichenere von uns beiden, im Gegensatz zu mir. Immer auf Achse, möchte ich beschäftigt werden, immer auf der Suche nach etwas neuem. Mit meinem rundlichem Gesicht, den dunklen, kurzen Haaren wirke ich eher wie ein Junge, der das Abendteuer sucht. Eben ganz anders als meine ein Jahr ältere Schwester Diana.
Und doch sind wir fast jeden Tag zusammen, schlafen zusammen in einem Bett, essen zusammen unsere Mahlzeiten (wenn wir denn eine bekommen), sind einfach unzertrennlich.

So liegen wir also in unserem Bett und ich überlege mir bereits wieder, was ich als nächstes anstellen könnte. Diana beziehe ich selbstverständlich immer mit ein, ohne sie macht das ja alles keinen Spaß. Wir beschließen, einfach mal die Seiten im Bett zu tauschen. Sie kriecht auf meine Seite nach links und versteckt sich unter der Bettdecke und ich mache dasselbe und husche auf ihre Seite. Kichernd und flüsternd warten wir gespannt auf unserer Mutti, die jeden Moment herein kommen muss, um uns zu wecken.
Wir vernehmen Schritte auf der Treppe unter uns, die, wie es scheint, nur schwer vorwärts kommen. Langsam werden diese lauter und man hört mit jedem weiteren Schritt, der die Treppe hinauf führt, eine Pause zum nächsten, der darauf folgt. Eine Pause, die von Mal zu Mal länger erscheint.

Die Spuren der Zeit sind nicht zu überhören. Die Dielen lassen ihre Altersschwäche laut vernehmen, wenn man ausversehen ihre wunden Stellen trifft. Die Kanten der Türen schleifen sie ab, ohne dass diese es wollen und verwunden sie mit jedem Mal neu. Die Klinken klicken laut beim herunterdrücken und des Öfteren kommt es einem so vor, als hätten sie nicht die geringste Lust, zu arbeiten.
Wir schlafen in einem kleinen Zimmer unter dem Dach.
Auch hier hat die Zeit genagt. Die Fenster bräuchten dringend einen neuen Anstrich, man muss aufpassen, dass man sich an den porösen Stellen nicht verletzt. Um frische Luft ins Zimmer zu lassen, muss man sie eigentlich nicht öffnen, der Spalt zwischen Fensterbrett und Fenster ist so groß, dass ich schon fast hindurch schauen kann. Gardinen haben diese Fenster schon lange nicht mehr gesehen.
Die Tapeten kommen schon herunter, der Teppich hat auch schon bessere Tage durchlebt. Überall ziehen sich abgenützte Stellen durch den Raum, Flecken zeigen die Stellen an, wo wir am meisten toben und spielen.
In der Mitte des Raumes steht ein großes Bett an der Wand, so groß, dass man denkt, zwei Erwachsene schlafen darin. Die Matratzen leiden an Altersschwäche, in der Mitte bildet sich eine große Kuhle, so, dass ich den Rest meiner Bettseite schon gar nicht mehr brauche. Diana und ich schlafen auf den blanken Matratzen, ein Betttuch haben wir nicht.
Gegenüber passt ein Schrank auf unsere wenigen Anziehsachen auf, die wir besitzen. Die Türen hängen schief und lassen sich nicht mehr ordentlich schließen. Diana hat die neueren Sachen; was ihr nicht mehr passt, bekomme ich. Oft beneide ich sie deswegen, bin auch ab und zu böse auf sie.
Letztens erst wieder bekam sie ein wunderschönes Kleid, dunkelgrün mit weißen Blumen darauf. Ich weine, weil ich auch so eins haben möchte, aber ich werde wohl warten müssen, bis meine Schwester heraus gewachsen ist und mein Interesse daran auch geschrumpft ist.

Ansonsten ist unser kleines Zimmer leer.

Die Schritte, die eben noch deutlich zu hören waren, sind nun verstummt. Knarrend und langsam geht nun die Tür auf.
Leere Augen, umgeben von einem bleichen Gesicht mit pechschwarzen Haaren suchen uns.
Wir kriechen unter der Bettdecke hervor und kichern wie zwei Teenager. Sie scheint gar nicht zu bemerken, dass wir uns einen Spaß mit ihr erlauben wollen. Die Stimme meiner Mutter klingt matt.
„Steht dann bitte auf und macht euch fertig!“, sagt sie und schließt wieder die Tür hinter sich zu. Enttäuscht krabbeln wir aus unseren Betten, wie Bergsteigen muss es sich anfühlen, so anstrengend ist es, ehe wir den tiefen Kuhlen der Matratzen entklommen sind.
Heute ist Montag. Ein Tag, der mir nicht gefällt. Diana auch nicht.
Wir müssen wieder in den Wochenkindergarten, in den wir beide nicht gerne gehen. Mutti sehen wir erst am Wochenende wieder, dann wenn sie uns Freitag am Nachmittag abholt. Manchmal kommt auch unsere Tante, die direkt unter uns wohnt. Oder unser Bruder, der schon erwachsen ist, und auf der derselben Etage wohnt, wie wir.
Ich mag die Erzieherin nicht leiden. Oft ist sie wütend auf mich, wenn ich nicht gleich das mache, was sie will.
Das letzte Mal habe ich mich nicht schnell genug vor dem zu Bett gehen gewaschen. Angeschrieen hat sie mich, „Was trödelst du nur wieder rum?! Hat eure Mutter euch nicht einmal beibringen können, wie man sich die Zähne putzt? Nicht einmal mehr dazu ist sie im Stande.“ Sie nimmt den nassen Waschlappen und knallt ihn mir direkt ins Auge.
Verstehen, warum sie das alles sagt und meine Mutter so beleidigt, kann ich das nicht. Und warum tut sie mir weh, wenn sie doch eigentlich böse auf meine Mutti ist? Denn wehgetan hat es. Am nächsten morgen gibt mir eine andere Erzieherin eine Augenklappe, damit die anderen Kinder mein blaues Auge nicht sehen. Jetzt fällt es erst so richtig auf. Wie ein Pirat fühle ich mich. Na ja, so hat die Sache ja doch etwas Gutes.
Außerdem bekommen wir fünf Mahlzeiten am Tag. Das gefällt mir am Wochenkindergarten am meisten. Zu Hause ist das meistens nicht der Fall, vielleicht eine oder zwei, und wenn, dann nur Brot mit Teewurst.
Leider sind Diana und ich die einzigen Kinder, die über Nacht bleiben müssen, alle anderen werden von ihren Eltern oder Großeltern geholt. Aber mittlerweile haben wir uns auch daran gewöhnt.

Wir gehen die Bodentreppe herunter, die mal wieder überhaupt keine Lust hat, uns tragen zu müssen.
Unsere Anziehsachen liegen noch vom Vortag verstreut in der Wohnung herum. Wir ziehen sie meistens mehrere Tage hintereinander an. Die Spuren meines Fußballspieles von gestern sind nicht zu übersehen. Auf meiner Jeans tummeln sich Grasflecken und andere, so unterschiedlich, dass es kaum möglich ist, sie alle aufzuzählen.
Es dauert eine Weile, dann haben Diana und ich unsere Sachen sortiert und uns angezogen. Gewaschen, Zähne geputzt und Haare kämmen gehört nicht unbedingt zum Alltag. Baden ist schon zur Ausnahme. Dann, wenn Diana oder ich zum Arzt müssen. Eine richtige Badewanne haben wir sowieso nicht. Auch unser Bad besteht eigentlich nur aus einer Toilette, die sich außerhalb der Wohnung befindet. Wenn wir uns waschen, findet das in der Küche statt. Diana und ich müssen auf einen kleinen Hocker steigen, damit wir über die Spüle reichen können.
Und die Haare in Ordnung bringen? Das hat bei mir ohnehin kaum Zweck. Meine Haare haben ihren eigenen Willen, die machen, was sie wollen. Heute habe ich überhaupt keinen Scheitel, meine Haare fliegen in alle Richtungen.

Als wir fertig sind, machen wir uns auch sogleich auf den Weg. Es ist jetzt vielleicht gegen 8.00 Uhr. Gefrühstückt haben wir nicht.

Mutti braucht scheinbar gar nichts zu Essen mehr. Meistens ist sie damit beschäftigt, irgendwelche, eklige und braune Brühe zu trinken. Sie hat uns mal kosten lassen, ich weis nicht, warum sie das Zeug so toll findet. Ich kann dem nichts abgewinnen. Abends ist es dann keine braune Brühe mehr. Es sieht aus, wie normales Wasser, schmeckt aber furchtbar. Ich stelle mir vor, dass Gift so schmecken muss, freiwillig jedenfalls kann man das nicht mögen.
Aber irgendeine Wirkung scheint es haben zu müssen, denn bevor meine Mutti es trinkt, sieht sie jedes Mal krank aus. Bleich ihr Gesicht, fahl wirken ihre Augen. Sie scheint Kopfweh zu haben, denn eine Hand hat sie meistens auf die Stirn gelegt. Sprechen kann sie kaum. Fast so, als hätte sie es verlernt. Ihre Beine scheinen sie gar nicht richtig vorwärts tragen zu wollen, die Füße sind wie angenagelt. Schlurfend taumelt sie dann regelrecht durch die Wohnung.
Es ist schon komisch, denn wenn sie ein bis zwei (meistens sind es zwei) Flaschen von dieser braunen Brühe am Morgen getrunken hat, scheint es ihr besser zu gehen. Ihr Gesicht bekommt eine leichte rötliche Farbe, in ihren Augen erwacht Leben, ihre Sprache klingt deutlich und ihre Schritte scheinen federleicht zu wirken.
Ich spüre dann, dass es ihr gut geht und kann das Zusammensein mit ihr richtig genießen.

Mein Magen knurrt. Aber bald werde ich frühstücken können. Die Erzieherinnen im Wochenkindergarten wissen ja, dass wir bald auftauchen.
Zu dritt laufen wir also die kleine Dorfstraße entlang. Bis vor an die Hauptstraße müssen wir, dort ist die Bushaltestelle. Wir müssen nicht lange warten bis der Bus kommt, und nach kurzer Fahrt sind wir auch schon da. Der Bus hält direkt vor dem Kindergarten. Mutti gibt uns beiden noch einen Kuss auf die Wange, dreht sich um und geht. Nun müssen wir wieder eine Woche Geduld haben, eher wir nach Hause dürfen.





Weihnachten



Draußen fallen die ersten großen Schneeflocken auf die Erde, bedecken sie mit einer wunderschönen weißen Decke. Sie bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu dem grauen Himmel, der tief und schwer über uns hängt. Man könnte geradezu meinen, er würde gleich auf uns herab stürzen. Würde unser Haus unter seiner hässlichen Grimmasse, die er uns zeigt, vergraben.
Es schneit heute zum ersten Mal und Weihnachten steht direkt vor der Tür.
Auf dem Marktplatz direkt in der Dorfmitte haben sie einen riesigen Weihnachtsbaum aufgestellt. Er leuchtet in allen erdenklichen Farben, die Lichter strahlen über das gesamte Dorf hinweg. Die Kugeln reflektieren den herrlichen Glanz genau dieser. Auch sie scheinen in den tollsten Farben: Leuchtend rot wie eine Rose auf welcher der Tau des Morgens liegt, so blau wie das Meer an seiner tiefsten Stelle, silbern wie eine hoch polierte Münze und golden wie die Sterne des Himmels.
Ich schaue fasziniert zu ihm hinauf, kann meinen Blick davon kaum abwenden.
Von den vielen Lichtern werde ich fast geblendet.
Aus dem Wochenkindergarten weis ich, dass alle Kinder einen Weihnachtsbaum zu Hause stehen haben werden. Natürlich nicht so groß, aber einige Kinder haben erzählt, dass der ihre fast bis zur Decke reichen würde.
Wir haben uns bei diesem Gesprächsthema raus gehalten. Nichts gesagt, weder, dass wir auch einen haben, noch, dass wir nie einen hatten. Zu peinlich ist mir das. Eigentlich halten wir uns aus allem raus. Ostern kenne ich als solches gar nicht, nur vom Ostereiersuchen im Kindergarten. Zur Fastnacht werden wir meist von den Erzieherinnen eingekleidet und müssen das nehmen, was gerade da ist, beziehungsweise, was uns passt. Die Geschenke an den Geburtstagen fallen meist spärlich aus. Diana bekam das letzte Mal eine Uhr geschenkt. Keine Armbanduhr, sondern so eine aus Pappe, wo man die Zeiger mit der Hand drehen muss. Sie soll die Zahlen lernen und auch schon die Uhr etwas lesen können. Mutti hat gesagt, dass sie sie mit mir teilen muss, damit auch ich etwas davon habe. Doch das tut sie nicht. Und irgendwie kann ich sie da sogar ein bisschen verstehen.
Und was ich an meinem letzen Geburtstag geschenkt bekommen habe, weis ich überhaupt nicht mehr. Es ist schon ziemlich lange her.
An Weihnachten sieht es meist genauso aus.
Deswegen reden wir nicht darüber. Unsere Mutti meint, wir hätten zu wenig Geld und wir sollten das akzeptieren. Wir müssen uns also damit zufrieden geben und so schlimm ist es am Ende auch gar nicht.
Die Kinder im Kindergarten fragen auch schon längst nicht mehr. Na ja, mit uns wird ohnehin wenig geredet, und wenn, dann wird derjenige meist ausgelacht und merkt sich das für die nächsten Tage ganz bestimmt.
„Werden wir auch einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer haben?“, frage ich meine Mutti, immer noch beeindruckt von der gewaltigen Größe und Schönheit jenes Baumes, der da vor mir die Wolken zu berühren scheint.
„Du weist, dass wie kein Geld haben und sparen müssen.“, bekomme ich zur Antwort. Im Prinzip war die Frage ohnehin nur ein kleiner Funken Hoffnung, der sogleich wieder in der Luft verpufft ist.
Also schenke ich meine Beachtung wieder dem Baum, der da so eindrucksvoll in die Höhe ragt.
„Bringt uns der Weihnachtsmann auch Geschenke?“, höre ich mich als nächstes fragen. „Wenn ihr artig wart und bis Weihnachten weiterhin artig seit, bekommt ihr sicherlich ein Geschenk.“ Das klingt ja mal richtig gut.
„Ich hab ein Auto, das nicht mehr richtig fährt. So ein weißes, mit dem ich immer so gerne spiele. Kann der Weihnachtsmann mir ein neues bringen?“, sprudelt es aus mir heraus.
„Da müssen wir mal schauen.“ Die Antwort meiner Mutter erscheint matt und müde. Irgendwie ist sie wohl genervt von meiner ständigen Fragerei.
Als wir wieder zu Hause sind, möchte meine Mutter mein schönes weißes Auto haben.
„Der Weihnachtsmann wird es abholen und zu seinen kleinen Helfern bringen, die es dann für dich reparieren. Aber nur, wenn du bis Weihnachten immer schön artig bist. Du weist doch, dass der Weihnachtsmann alles sieht und hört.“
In den nächsten Tagen bis zu Heiligabend möchte ich alles machen, was Mutti mir sagt und versuche nicht, ihr zu widersprechen oder sie zu ärgern.
Und dann ist der große Tag endlich da:
Schon früh bin ich und Sandra auf den Beinen aber wir warten ab, bis sie uns erlaubt, die Betten zu verlassen. Dann endlich ist es soweit, wir dürfen endlich aufstehen. Schnell anziehen. Mutti hat uns sogar einen Kakao gemacht.
Ich schaue aus dem Fenster und es schneit sogar. Einen Weihnachtsbaum haben wir nicht, aber wir gehen heute noch einmal auf den Dorfplatz. Da steht ja dieser gewaltige, wunderschöne Baum, der sowieso nicht in unser Wohnzimmer gepasst hätte. Den kann ich mir dann in Ruhe anschauen. Mutti möchte ein Weihnachtskonzert besuchen und danach kommt die Bescherung.

Doch dazu später mehr.




Mama

Und so gehe in eine Welt,
in der es dir besser ergehen mag, als in dieser.
Suche dein Glück in jener Galaxie,
in der es diesen einen Stern gibt,
der es nur vermag, für dich zu leuchten.
Wandle zwischen jenen Lichtern
und sende mir zu mancher Stunde eines,
damit ich weis,
dass es dir gut geht.
Denke nicht mehr daran,
welch Leid dir widerfahren ist
und lasse all deine schlechte Erinnerung hinter dir.
Lege all das ab, was dein neues Glück gefährden könnte.
Doch bedenke, dass ein Teil deiner Seele hier auf dieser Welt
gefangen sein wird.
Solange, bis ich bereit bin, sie freizugeben.


Mai 1951 – August 1996
Vorab möchte ich erwähnen, dass sie in meinem Leben eine außergewöhnliche Rolle spielte, auch wenn ihr Leben auf mehr oder weniger tragische Weise beendet wurde. Sie war (und ist es auch heute noch) ein Teil von mir, ihr Blut fließt noch heute durch meine Venen, ihre Augen schauen auch aus denen meiner, ihre Stimme klingt auch aus meinem Mund. Und vielleicht ziehen sich irgendwann einmal dieselben Fältchen durch mein Gesicht, wie sie auch bei meiner Mutter feine Linien zeichneten.
Und so lebt sie in mir weiter, nur die bloße Erinnerung an sie lässt sie wieder auferstehen und mich wissen, dass sie nie ganz weit weg ist…, lässt mich wissen, dass sie zwar in einer anderen fernen Welt lebt, aber mich noch sehen kann, genau so, wie ich sie noch fühlen kann.
Sei es auch noch so verwunderlich, nach all dem, was passiert ist, so wäre ich ohne sie nicht. Sie ist die jenige gewesen, die mir das Leben geschenkt hat, die mich die ersten Jahre meines Daseins begleitet hat.

Geboren wurde meine Mutter am 30. Mai 1951.
Die Umstände ihrer Kindheit, wie sie ihre Jugend erlebte und verlebte, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich weis eigentlich nichts darüber.
Das einzige, was mir diesbezüglich erzählt wurde, ist, dass sie bei ihrer Großmutter aufwuchs. Warum, wieso, weshalb – ich weis es nicht. Dennoch muss ihre Kindheit sehr behütet gewesen sein, die Keine, - das Nesthäkchen. Meine Tante wuchs mit ihr zusammen auf. Meine Mutter war genau wie ich später die jüngere Schwester, ein weiterer Teil, der mich mit ihr verbunden macht.
Mehr wollte meine Tante mir in späteren Jahren nicht erzählen, also lasse ich diesen Teil ihres Lebens offen und möchte nicht darüber spekulieren. Ihr Leben war ohnehin schon weitestgehend, na ja, sagen wir mal „verpfuscht“, - ich muss es nicht noch in ein schlechteres Licht rücken.
In ihrem frühen Erwachsenenalter lernte sie dann wohl ihre erste große Liebe kennen und die Konsequenz daraus ließ nicht lange auf sich warten: Mein Bruder Sven wurde geboren. Sie muss damals wohl so um die zwanzig gewesen sein.
Mehr weis ich auch über diese Beziehung nicht. Es muss irgendetwas Gravierendes vorgefallen sein, denn soweit mit bekannt ist, musste ihr damaliger Lebens(abschnitts)gefährte für mehrere Jahre ins Gefängnis. Damit fand die Beziehung ein jähes Ende.
Mir wurde gesagt, dass das der Anfang ihrer Odyssee in ein Leben von Abhängigkeit und Sucht gewesen war.
Vielleicht hat sie es nie verkraftet, vom wichtigsten Menschen in ihrem Leben im Stich gelassen worden zu sein. Eine weitere Parallele, die sich nicht wegreden lässt. Auch ich habe es nie verstanden, warum ausgerechnet wir, - Diana und ich – nur die zweite Rolle bei ihr spielten und wir am Ende überhaupt nicht mehr präsent waren.
Sie lernte dann einen anderen Mann kennen und suchte ihr Glück in der Ferne, in der großen Stadt, in Berlin. Dort bekam sie mit eben diesem Mann drei weitere Kinder. Dieses Mal drei Mädchen, - Janine, Antje und Franziska. Kennen gelernt habe ich sie nie. Alle drei sind wesentlich älter als ich und haben wahrscheinlich ihre Heimat noch nie verlassen. Telefonisch und schriftlich haben wir gegenseitig versucht, Kontakt und ein geschwisterliches Verhältnis aufzubauen, aber es hat nie ganz funktioniert. Bis ich es schließlich ganz ließ.
Dieser Mann verließ sie dann. Doch das war nicht alles: Er sorgte auch dafür, dass meine Mutter ebenfalls ein Gefängnis von innen sehen durfte. Wegen Vernachlässigung ihrer Kinder saß sie sechs Monate ein. Aus meiner Sicht entsprechend verständlich, wenn man bedenkt, dass sie auch noch Jahre später nicht daraus lernte und sich auch kaum um uns kümmerte. Aus ihrer Sicht war es sicherlich ein weiterer tiefer Einschnitt in ihrem Leben und auf „Zwangsentzug“ gesetzt, hätte sie es damals eigentlich schaffen können, nach ihrer Entlassung ein normales Leben zu führen.
Sven war zu dieser Zeit in einem Heim untergebracht, die drei anderen blieben bei ihrem Vater.
Nach ihrem Gefängnisaufenthalt ging sie zurück in ihre Heimat und nahm Sven wieder zu sich, der damals schon in einem Alter war, um zu begreifen, was alles vor sich ging.
Erneut lernte sie einen Mann kennen, Peter Reinert. Ihn heiratete sie, - am 11. Juni 1983 wurde dann meine Schwester Diana geboren, ein Jahr darauf, am 24. Juli 1984, ich. Mein Vater starb, da hatte ich wohl gerade den dritten Lebensmonat angebrochen.
Auch er konnte die Sucht nicht bekämpfen und verfiel dem Alkohol, diesem Gift, das deinen Verstand schrumpfen und dich selbst vergessen lässt.
Dieser Mann, der sich mein Vater nannte, führte meine Mutter erneut in diese scheinbar ausweglose Situation und so stand sie nach seinem Tod alleine mit uns da. Ein Sohn, der gerade in der schwierigsten Phase seines Lebens war und zwei kleine Kinder, die ihre volle Aufmerksamkeit forderten.
Fünf Jahre durfte ich sie kennen lernen, fünf Jahre, die mich geprägt haben und die mich heute noch auf die Suche nach mir selbst gehen lassen.
Dann verfiel sie dem Alkohol und wir kamen ebenfalls in ein Heim. Sven war zu dieser Zeit bereits so alt, wie meine Mutter, als sie ihn bekam.
Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie sich nicht mehr im Stande fühlte, sich um uns zu kümmern und den Weg ihrer Abhängigkeit wählte. Sie kam uns kaum noch besuchen, obgleich sie es telefonisch immer wieder zusicherte.
Irgendwann unterschrieb sie dann wohl die Entlassungspapiere, meine jetzigen Eltern meinen, all das wäre auf freiwilliger Basis geschehen, meine Tante hingegen behauptet, dass sie dazu gezwungen wurde. Wie dem auch sei, für uns war es sicherlich besser, egal, wie auch immer es dazu kam. Damals besaß ich diese Weitsicht nur leider noch nicht.
Was in den folgenden Jahren bis zu ihrem Tod geschah, kann ich nur schemenhaft berichten: Sie suchte immer mehr in den Weg in ihre Sucht, in der sie ohnehin schon gefangen war.
Die letzten Monate lebte sie bei einem Mann, der fast ihr Großvater hätte sein können.
Am 5. August 1996 erlag sie letztendlich dem Alkohol, ihre Leber zerfressen und ihr Gesicht gelb wie ein Zitrone. Von ihrer weiblichen Figur war nichts mehr übrig gewesen, die schlaffe Haut hing locker an ihren Knochen herunter.
Das alles weis ich nur durch Erzählungen von meiner Tante, die auch heute noch nicht richtig darüber reden kann. Zu mitgenommen hat es sie, zu sehr musste sie selbst unter ihr leiden.
Einsam und allein starb sie in einem kahlen Krankenhauszimmer, verlassen von den Menschen, die ihr einst so viel bedeuteten…
Sie ging in eine Welt, in der ich ihr nicht folgen kann, in der ich ihre Stimme nicht mehr hören kann, in der ich sie nicht mehr fühlen kann und in der meine vielen Fragen, die ich ihr noch hätte stellen wollen, unbeantwortet bleiben werden, in der die Erinnerung der größte anzunehmende Schatz sein wird, der mir hier auf Erden geblieben ist, in Hoffnung dessen, dass diese nicht zu schnell verblassen möge.
So werde ich all mein Gedenken an sie richten, wann immer ich mich in der Lage dazu fühle…

Meine Mutter entschied sich für den leichteren Weg:
Es war für sie einfacher, den Tod zu finden, als das Leben zu suchen.





Geprägt


1988 - 1989
Es war wohl dieses kindliche Gefühl von Hass, den ich verspürte wenn sie uns mal wieder im Stich ließ, wenn sie nicht da war, um uns zu trösten. Wenn niemand da war, der mich auffing, als ich das Gefühl hatte, zu fallen.
Oft war sie zwar anwesend, aber viel zu weit weg, um Dianas und meinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Aber sie war eben unsere Mama, sie und Diana waren meine kleine heile Welt. Mein Leben…, mein Sein, für das ich gerne und bestimmt auch oft zurücksteckte…
Meine Mutter, die doch eigentlich da war, um uns eine schöne Kindheit zu bereiten, die immer für uns da sein sollte, wenn wir sie brauchten, machte mir (und tut das auch noch heute) sehr viel Kummer. Doch heute, nach zwanzig Jahren ist es kein Hass mehr, den ich spüre. Meine Gefühle um sie und alles, was sich sonst noch darum drehte, wechselte sich in den vergangen Jahren sehr oft ab. Auch, als ich noch klein war.
Ich konnte nicht verstehen, warum sie uns Dinge versprach, die sie dann nicht hielt.

Es waren mehrere Ereignisse, die mein weiteres Leben und Erleben entscheidend prägten und mein Handeln beeinflussten, so weit, dass ich das Ruder aus der Hand gab und einfach automatisch Sachen tat, die damals zu weit gingen und die ich beizeiten irgendwann nicht mehr steuern konnte.
Heute weis ich das, sicherlich war es mir damals schon bewusst, dass etwas „falsch lief“, aber wie schon erwähnt, die Kontrolle über mein Verhalten hatte ich schon längst aus der Hand gegeben. Mir war in keinster Weise klar, dass ich die Menschen, die mir sehr viel bedeuten, eigentlich nur weg jage.
Ob es wirklich daran lag, dass gewisse Dinge mich so auf mein weiteres Leben prägten? Dass ich einerseits Verlustängste hatte (und auch noch heute habe) und auf der anderen Seite dafür sorge, jene, die mir wichtig sind, zu vergraulen? Dass ich so nach Anerkennung ringe und kämpfe, dass das Resultat davon ist, dass mich niemand mehr ernst nimmt? Ich kann es nicht sagen, noch weniger kann ich es verstehen…


„Doc“

Ich war gerade fünf geworden und meine kleine Welt war noch in Ordnung. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass schon vieles in anderen Bahnen lief, als es hätte sein müssen. Dass meine Mutter abhängig war, wusste ich noch nicht. Und überhaupt – was bedeutet abhängig? Dieses Wort hätte mir erst einmal jemand erklären müssen. Und ob ich es dann verstanden hätte, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Aber dazu später mehr.
Jedenfalls konnte sie uns oft nicht das geben, was wir eigentlich gebraucht hätten. Einen Vater hatten wir schon längst nicht mehr. Er war gestorben, als ich drei Monate alt war. Meine Schwester war ein Jahr älter als ich. Auch sie konnte sich nicht erinnern. Wir wuchsen eben ohne „Papa“ auf. Ich empfand das damals nicht als schlimm.
Dafür kannte meine Mutter andere Männer, viele, die, wie mir meine Tante später erzählte, sich regelrecht die Klinke bei uns zu Hause in die Hand gaben.
Nur ein Name ist mir im Gedächtnis geblieben… Und ich kann heute nicht mehr sagen, ob er jemals in unserer Wohnung war.
Ein vetnamnesischer Gastarbeiter. „Doc“ war sein Name, zumindest nannte ihn meine Mutter so.
Klein und schmal war er. Kantig sein Gesicht, die Augen schwarz und eng zusammenstehend. Seine Haare waren ebenfalls schwarz, meist zu einem feinen Seitenscheitel hinter den Ohren gekämmt.
Er bewohnte ein größeres Zimmer in der Fabrik, in der er arbeitete. Wenn man zur Tür hereinkam, sah man zur linken Seite einen Schrank, nicht viel größer als er und dahinter ein kleines vergilbtes Waschbecken. Zur Rechten standen dort ein kleiner Tisch und daneben zwei Stühle. Hinter dem Waschbecken wurde das Zimmer halbseitig durch eine Wand getrennt. Direkt hinter dieser Wand stand eine alte Couch. Sie gefiel mir schon damals nicht.
Oft gingen wir zu ihm, manchmal nach dem wir einkaufen waren und manchmal lieferte uns meine Mutti auch schon vorher ab, damit sie in Ruhe „ihre Wege erledigen konnte“. Wenn unsere Mutter aber mit dabei war, beschäftigten wir uns meistens mit Spielzeug, dass wir von zu Hause mitgebracht hatten. Oder wir sponnen uns irgendwelchen Blödsinn aus, malten Bilder oder tobten einfach nur herum.

Ich erinnere mich daran, dass sich Mutti eine Zigarette anzündete. Auf meine neugierigen Blicke hin fragte sie mich, ob ich nicht auch einmal probieren wollte.
„Ist ja eigentlich ganz einfach.“, dachte ich mir und nahm eifrig die Zigarette in die Hände, als sie mir entgegengestreckt wurde. Hastig nahm ich einen kräftigen Zug und merkte auch gleich, wie mir die Luft wegblieb. Nach mehrmaligem Husten erholte ich mich wieder, Mutti nahm die Zigarette wieder, lachte und meinte, „Wenn du etwas älter bist, darfst du noch einmal probieren.“ Damit war das Thema gut.
Mein Drang, so erwachsen zu sein und das auch zu können, war für`s erste erledigt.
Wenn sie gemeinsam da waren, gab es kaum einen Tag, an dem unsere Mutter nüchtern heimgegangen ist. Dann übertrieb sie es meistens bis ins Extreme. Sonst war es meistens so, dass sie ihren Pegel halten musste, um unbeschadet über den Tag zu kommen, nur am Abend, wenn wir mit ihr zusammen im Wohnzimmer waren, überschritt sie diesen regelmäßig.


Irgendwann kam dann jener Tag, an dem unsere Mutter wieder einen ihrer „Wege“ erledigen musste.
Sie brachte uns zu Doc, ging zur Tür, drehte sich noch einmal kurz um. „Seit artig, und macht, was Doc sagt. Ich möchte mich nicht ärgern müssen, wegen euch!“
Dann verschwand sie aus dem Zimmer.
Diana und ich saßen auf unseren gewohnten Plätzen, sie links vom Tisch, ich auf der rechten Seite. Auf dem Tisch zwischen uns lagen ein paar weiße Blätter und ein paar wenige Buntstifte.

Wir fangen an, zu malen, irgendwas, nur damit die Zeit vergeht und Mutti recht bald wiederkommt.
Doc steht vor dem Tisch, schaut uns zu. Das macht er öfters. Er schaut einfach zu, erst Diana, dann mir. Oder umgedreht. Er sagt auch nichts, sondern schaut einfach zu.

Aber heute stellt er sich direkt vor uns... Er nimmt mir das Licht weg, das ich doch so dringend zum Malen brauche.
Auf einmal kommt er mir so groß vor, so mächtig groß, obwohl er es gar nicht ist. Auch Diana schaut jetzt auf.
„Ich kenne ein besseres Spiel, was viel mehr Spaß macht.“, flüstert er, so dass ich genau hinhören muss, um ihn zu verstehen. Seine Stimme klingt kalt und hohl, mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken. Sein Echo dringt in meinem Kopf, sucht sich einen leeren Platz um dort für immer zu verweilen…
Er geht einen Schritt zur Seite, von mir weg und steht jetzt genau vor Diana, hockt sich dann vor ihr hin.
Seine Hand liegt auf ihrem Bein, streichelt es. Diana sagt nix, aber ich merke, dass sie sich unwohl fühlt, - Angst hat. Sie schaut an ihm vorbei. Hinüber zu dem Schrank gegenüber. Ob er genug Platz für uns beide hätte, um sich darin verstecken zu können, obwohl er so klein ist? Wir sind ja auch nicht die größten. Mir schießen alle möglichen Gedanken durch den Kopf.
Jetzt nimmt er ihre Hand und legt diese auf sein Bein. Er umklammert sie, als hätte er Angst, Diana könnte sie wegziehen. Unberechtigt ist diese Angst bestimmt nicht. Diana denkt wohl genau dasselbe in diesem Moment. Aber sie traut sich nicht.
Seine Stimme ist nun so leise, dass ich ihn nicht mehr verstehen kann. Sein Gesicht ist ganz nah an das von Sandras. Er flüstert ihr irgendwelche Sachen ins Ohr.
Ich möchte wegschauen. Möchte nicht sehen, was er da macht. Aber ich kann nicht. Ich muss hinsehen, nicht, weil er das sagt, sondern weil ich einfach nicht anders kann. Es ist, als würde jemand hinter mir stehen und mir mit aller Gewalt den Kopf fest halten, - mich zwingen, zuzuschauen. Aber hinter mir steht niemand.
Seine Hände führen die von Diana’ s auf seinen Oberschenkel entlang. Immer weiter nach oben und dann zwischen seine Beine. Ich kann spüren, wie er ihre Hand fester drückt, kann ihre Angst spüren – ihr Leid. Sie sagt keinen Ton und doch ist es, als würde sie Bände sprechen…
Dann steht er wieder auf. Er streicht Diana über ihre blonden Locken, ich höre nur ein tiefes Atmen. Es war nicht meine Schwester…
Sein Gesicht dreht sich in meine Richtung, seine Augen verengen sich wie die einer Katze, die im Abendgrauen eine Maus fangen will. Und so komme ich mir im Moment auch vor. Wie eine Maus, in eine Ecke gedrängt, der große schwarze Kater direkt vor mir, bereit, seine Krallen auszufahren und mich zu erhaschen.
Ich suche den Blick zu meiner Schwester. Aber sie sitzt nur regungslos und teilnahmslos da. Als würde sie krampfhaft versuchen wollen, nicht hinzuschauen. Das, was ich eben nicht konnte. Ihr scheint es besser zu gelingen, man könnte glauben, eine Wachsfigur säße da neben mir.
Er steht nun direkt vor mir, seine Augen immer noch verengt, fasst mit der Hand an meine Schulter. Es tut richtig weh, weil er so fest zudrückt. Dann beugt er sich zu mir herunter. Ich spüre seinen Atem so sehr, so sehr… Er haucht ihn mir ins Gesicht, dass ich gar keine weitere Luft bräuchte, - seine würde ausreichen, um mich am Leben zu erhalten. Sein Atem ist kalt, genauso, wie sich eben noch seine Stimme angehört hat. Er riecht nach Zigaretten und Bier.
Langsam lockert er den Griff an meiner Schulter – ich stelle mir vor, wie ein großer blauer Fleck in Form seiner Hand diese Stelle ziert.
Wenn ich mich abends ausziehe, um mich bettfertig zu machen, sehe ich sie dann jeden Abend im Spiegel und erinnere mich an den Tag, als er mir diesen verpasst hat. Zuerst schimmert er dunkelblau bis violett, dann bekommt er eine leichte grüne Farbe, dann gelb, bis er zuletzt ganz verschwunden ist. Vielleicht habe ich es ja bis dahin wieder vergessen…

Wie es aussieht, wenn ein blauer Fleck verblasst, kenne ich zur Genüge, so oft wie ich hingefallen bin, oder mich gestoßen habe, oder, wenn die Erzieherin im Wochenkindergarten mal wieder dafür gesorgt hat, dass ich eine Augenklappe tragen muss, wenn sie mir mit dem nassen Waschlappen ins Gesicht geschlagen hat. Ob ein blaues Auge nicht weniger auffällt als so ein Ding, das mich auf einen Schlag zum Piraten macht? Aber ein blauer Fleck auf der Schulter muss nicht mit einer Augenklappe kaschiert werden.

Seine Hand wandert jetzt über meinen Oberkörper – erst runter, dann wieder rauf. Ich möchte etwas sagen, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ein dicker Knoten im Hals lässt es nicht zu, dass ich auch nur ein Wort sage. Ich möchte ihm sagen, dass ich das nicht möchte, aber ich kann es nicht. Ich suche Dianas Blick, doch sie erwidert ihn noch immer nicht. Sie starrt noch immer auf den Schrank, und ihre Augen wenden sich nicht ab.
„Du bist ein liebes Mädchen! Denkt daran, was eure Mutti vorhin noch zu euch gesagt hat!“, keucht er mir ins Ohr.
Ob Diana ihn verstehen kann?
Aber er hat Recht: „Seit artig und macht, was er sagt. Ich möchte mich nicht ärgern wollen.“, hatte sie uns noch gepredigt, bevor sie gegangen ist. Wie lange ist es jetzt her, dass sie fort ist? Eine Stunde, vielleicht zwei? Bestimmt noch nicht so lange, aber mir kommt es so vor. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, dass sie uns hier alleine gelassen hat. Wenn ich zählen könnte, würde ich jetzt bei den Sekunden anfangen und dann bei den Minuten weitermachen.
Aber wenn sie sagt, wir sollen machen, was Doc sagt, dann wird das schon alles seine Richtigkeit haben. Er wird schon wissen, was er da macht.

Seine Hand ist jetzt wieder auf meiner Brust und gleitet langsam nach unten. Die andere hat er zwischen meinen Beinen, und öffnet diese leicht.

Ich frage mich, was das für ein Spiel ist, aber laut stelle ich die Frage nicht. Irgendwie möchte ich die Antwort dann doch nicht wissen. Und auf irgendeine Art und Weise komme ich mir auf einmal seltsam erwachsen vor und schon wieder möchte ich es gar nicht sein.

Nun ist die Hand, die eben noch am Oberkörper war, zwischen meinen Beinen, die andere greift nach meiner. Er führt sie genau so über seinen Körper entlang, wie er es eben noch mit seiner gemacht hat. Hin und her…
Ich möchte sie wegziehen, kann es jedoch nicht. Wenn ich sie anspanne, tut es richtig weh, also lasse ich locker, dann lässt es sich besser ertragen.
Meine Hand wandert jetzt in Richtung seiner Beine, er führt sie an der Innenseite der Oberschenkel entlang. Langsam wieder nach oben, langsam, ganz langsam…
Sie ist jetzt direkt zwischen seinen Beinen, und bleibt dort. Er drückt noch fester zu, es kommt mir so vor, als spüre er nix und will dies aber unbedingt erzwingen.
Seine Augen sind jetzt so klein und verengt, dass ich das Schwarze darin nicht mehr erkennen kann. Eigentlich möchte ich ihn auch nicht anschauen, also schaue ich jetzt auch auf diesen Schrank. Eine andere Wahl habe ich nicht, die Wände sind weiß und nackt, es hängen keine Bilder daran. Also stelle ich mir vor, wie ich den Schrank anmale, mit Pinsel und Farbe. Wie ich mit Diana die Hände in die Farbe tauche, und
unsere Abdrücke auf den Türen hinter lasse. Man könnte auch den Himmel darauf malen, - strahlend blau- und die Sonne, wie sie lachend auf eine wunderschöne grüne Wiese scheint, und die Gänseblümchen, die Tulpen und den Löwenzahn erst so richtig zum Blühen bringt.
Aber das alles spielt sich nur in meinen Gedanken ab. Wenn ich meinen Blick abwende, und wieder die kleinen, schwarzen Augen sehe, dann spüre ich, wie hilflos ich bin, dass ich keinerlei Gewalt mehr über meinen Körper habe.

Er gibt leise Töne von sich, seine Hand schlingt sich noch fester um die meine und drückt noch fester zu. Wie sich der blaue Fleck an meiner Schulter, den ich heute Abend ja im Spiegel begutachten möchte, wohl an meinem Handgelenk macht? Ich werde es bald wissen.
Ich spüre, wie mich sein Blick verfolgt. Dann schweift sein Blick langsam wieder zu Diana. Er stellt sich wieder vor den Tisch…, öffnet seine Hose, erst den Reisverschluss, dann den Knopf. Unentwegt schaut er dabei erst auf Diana, dann auf mich. Dann wieder auf Diana.
Kein einziges Wort sagt er während dieser ganzen Zeit. Nicht ein einiges. Er schaut uns nur immer abwechselnd an. Durchdringend ist sein Blick, vielleicht will er wissen, wie es in meinem Innersten aussieht?
Hoffentlich merkt er es nicht, ich glaube, das würde mich verraten und ihm auch noch Bestätigung geben.

Er hat jetzt seine Hose komplett geöffnet, geht zu Diana, uns lässt sie ein wenig herunter. Nur ein wenig.
Ich wusste bis jetzt nicht, wie ein Mann aussieht, DAS wusste ich nicht. Woher auch? Es gibt keinen Mann in unserer Familie, außer Sven, meinen Bruder. Und der ist meistens in seinem Zimmer, welches aber außerhalb unserer Wohnung ist. Ich sehe ihn nur dann, wenn er uns aus dem Wochenkindergarten abholt, oder wenn er uns mal wieder in seinem Zimmer einsperrt, nur um uns zu ärgern. Aber Sven hat sich noch nie vor uns ausgezogen.
Der Wochenkindergarten wäre mir momentan aber um einiges lieber.

Jetzt weis ich, wie ein Mann aussieht.
Er nimmt wieder ihre Hand.
Heute Abend können wir dann schauen, wer den größeren blauen Fleck hat…
Diana soll ihn dort anfassen, ihn dort streicheln. Warum kann ich nicht einmal wegschauen? Warum muss ich immer alles wissen? Eigentlich will ich das doch gar nicht. Aber es ist wie ein Zwang. Ich muss einfach hinschauen.
Diana tut dies alles, als würde man sie mit einer Fernbedienung steuern. Ein Knopfdruck, schon macht sie, was er will. Dianas Hand geht auf und ab, auf und ab und wieder auf und ab. Man könnte glauben, sie berührt ihn gar nicht, es sieht so aus, als streichele sie die pure Luft. Aber sie muss ihn wohl berühren, denn er gibt schon wieder so seltsame Töne von sich.
„Hoffentlich kommt er nicht zu mir.“, denke ich. Aber fehlgeschlagen. Ich spüre schon wieder, wie sich sein Blick an mir festkrallt, wie die Krallen eines hungrigen Tigers an seiner Beute, die er eben gefangen hat.
Nun steht er also vor mir, baut sich auf. Ich bin dran. Ich bin dran mit dem, was Diana bereits hinter sich hat. Er nimmt also wieder meine Hand, und führt sie an sich heran. Ich möchte sie wegziehen, aber ich kann es schon wieder nicht. Ich kann es einfach nicht.
Ich möchte ja auch machen, was meine Mutti sagt, - ich möchte artig sein.
Also fasse ich ihn an.
Hart fühlt es sich an, und größer als meine Hand ist es. Ob das normal ist? Irgendwie ekelt es mich an. Warum, weis ich nicht. Er lässt meine Hand los. Ich soll ihn jetzt streicheln. Na ja, aber streicheln ist dann doch etwas anderes. Er nimmt erneut meine Hand und „zeigt“ mir, wie es „richtig“ ist.
Rauf, runter – rauf, runter.
Warum mache ich das eigentlich?
Die Geräusche, die er von sich gibt, dringen tief in meinen Kopf, prägen sich ein. Es klingt, als täte ihm irgendetwas weh. Aber ich glaube nicht, dass dem so ist.
Er kneift jetzt die Augen fest zusammen. Ein Stöhnen lässt mich bis ins Mark erschauern. Meine Hand wird feucht, alles ist klebrig… Oh Gott, wie ist das eklig.
„Weitermachen!“, entfährt es ihm und der Ton, den er anschlägt, zwingt mich, nicht aufzuhören. Also schmiere ich dieses klebrige Zeug nur noch mehr auf der Innenseite meiner Hand breit. Auch auf ihm verteile ich es zwangsläufig, doch es scheint ihm keineswegs etwas auszumachen. Warum nicht?
Dann tritt er einen Schritt zurück und meine Hand greift ins Leere. Er schaut uns wieder abwechselnd an.
„Geh dir die Hände waschen!“, ist alles was er sagt, kramt ein altes Taschentuch heraus und wischt sich ab.
„Nichts lieber als das.“, denke ich, stehe auf und laufe zum Waschbecken. Die Hand weit weg von meinem Körper gestreckt, schaue ich auf sie, als würde sie gar nicht zu mir gehören.
Diana scheint ausgeschalten zu sein, ihr Blick ist steif wie eine Statue. Wohin sie genau schaut, kann ich gar nicht mehr sagen.
Was passiert jetzt?
Doch er zieht nur seine Hose hoch, macht erst den Knopf zu, dann den Reisverschluss.
„Es ist besser, ihr sagt eurer Mutter nicht, was wir heute gespielt haben, sonst ist sie noch böse auf euch, weil sie denkt, ihr wärt noch zu klein für so etwas. Ich werde euch nicht verpetzen!“, sagt er, dreht sich um, setzt sich auf seine alte, verschlissene Couch und starrt an die Wand.
Vielleicht sind wir für solche Spiele wirklich noch zu klein?! Aber das denke ich nur.

Als meine Mutter endlich wieder kam, - mir erschien die Zeit bis dahin unendlich lange, - hatte sie wieder diesen federleichten Gang, ihre Augen glänzten. Es war eigentlich offensichtlich, dass sie wieder dieses Gift genommen hatte.
Sie betrat das Zimmer, lief zielstrebig auf uns zu – ich kritzelte irgendetwas gedankenverloren auf ein Blatt Papier - und gab Diana und mir einen kurzen Kuss zur Begrüßung. Der Geruch, der bis zu mir durchdrang, als sie mich dabei anhauchte, war einzigartig, und zeichnete sie wohl am meisten (zumindest für mich) aus. „Ich hoffe, ihr wart artig und habt auf das, was euch Doc gesagt hat, gehört.“, waren ihre Worte. ich schaute sie nur kurz an und nickte und ich hätte schwören können, dass mir ein roter Schleier über das Gesicht huschte.
Diana dagegen gab nicht durch die kleinste Gestik oder Mimik preis, wie es in ihrem Innersten aussah. Noch immer starrte sie an diesen hässlichen alten Schrank, der ihr gegenüber stand.
Unsere Mutter schaute hinüber zu Doc, der ihr, ohne sie anzusehen, nur kurz angebunden meinte, „Alles wie immer!“
Damit war der vergangene Tag Geschichte. Zumindest für meine Mutter und sie überlegte wohl schon wieder, wie sie ihren nächsten Rausch begehen sollte.

Es ist nicht nur bei diesem einzigen Mal geblieben. Eins…, zwei…, drei…, vier…, fünf … Manchmal glaube ich, dass es ganz gut war, damals die Zahlen über fünf noch nicht gekannt zu haben, also habe ich bei der besagten Zahl aufgehört zu zählen.

Diana sprach an diesem ersten Tag kein einziges Wort mehr, und auch ich war relativ still, was eigentlich so gar nicht meine Art war. Doch es fiel unserer Mutter nicht weiter auf. Oder wollte es ihr nicht auffallen? Vielleicht war sie auch ganz froh darüber, dass wir auch mal still sein konnten. Lassen wir es dahin gestellt. Ich möchte sie nicht schlechter machen, als sie wirklich war.
Wir erzählten ihr nie etwas darüber, immer noch in dem Glauben, Doc hätte mit dem, was er da machte, Recht und alles müsste so sein.
Aber schon damals beschlich mich der leise Gedanke, dass wohl ich da Unrecht hatte.
Ich war fünf Jahre alt.
Auch untereinander sprachen wir nie darüber, jeder behielt seine Gefühle für sich, obwohl es bestimmt dieselben waren, die uns quälten.
Mit der Zeit, als sich diese Dinge häuften, gewöhnte ich mich daran und ich lebte damit. Es war zwar noch immer unangenehm und eklig, doch es gehörte dazu, wenn wir bei ihm waren, und es war immer gut, wenn uns Mutti wieder abholte und bis zum nächsten Mal wieder ein Stückchen Normalität einkehrte.


Im Stich gelassen

Ich werde wohl nie den Tag vergessen, an dem unsere Mutter uns im Stich ließ, wobei ich weiß, dass sie dies nie zulassen wollte. Sie wollte immer für uns da sein, doch sie konnte es nicht. Sie konnte es nicht, weil sie einen anderen Lebensmittelpunkt für sich gewählt hatte. Einen Mittelpunkt, in dem wir keinen Platz mehr fanden, um uns zu behaupten.

Es war ein Tag wie immer. Wir mussten nicht in den Wochenkindergarten. Also verbrachten wir die wenige Zeit, die wir mit Mutti verbringen hätten können, mal wieder bei Doc.
Unsere Wochenenden waren kaum ausgefüllt. Keine Ausflüge in Zoos, ins Schwimmbad, kein Gang auf den Spielplatz zum Rumtoben, oder auch nur mal eine Wanderung durch den Wald, vielleicht mit einem kleinen Picknick. Das alles kannten Diana und ich nicht. Wie eine Eisdiele von innen aussah, wussten wir nicht. Aber deswegen vermissten wir es auch nicht.
Wir hatten kaum mit anderen Menschen Kontakt, außer mit jenen, die wir tagtäglich um uns hatten. Meine Mutter eben, meine Schwester natürlich, meinen Bruder, meine Tante, Doc und vielleicht noch die Erzieherinnen und Kinder aus dem Wochenkindergarten. Aber selbst zu denen konnte ich nie einen richtigen Bezug aufbauen. Zu den Erzieherinnen nicht, weil ich es oft genug nicht verstand, warum sie uns vor der Gruppe immer so schlecht machten, und zu den anderen Kindern nicht, weil sie uns genau deswegen meistens ausgrenzten. Die meiste Zeit in diesen fünf Jahren verbrachte ich mit meiner Schwester.

Wir sind wieder zu dritt auf dem Weg in das alte Fabrikgelände zu Doc. Meine Mutter möchte einkaufen gehen, was das für Diana und mich bedeutet, weiß ich mittlerweile.
Wir bewohnen das letzte Haus in einer kleinen Seitenstraße. Also gehen wir diese kleine Seitenstraße vor und müssen dann eine weitere Nebenstraße überqueren, um zu einer Brücke zu gelangen, die wir hinter uns lassen. Unter dieser Brücke fließt ein kleiner Fluss. Ich trödele oft auf dieser Brücke, sehe zum Geländer hinunter, sehe den Enten dabei zu, wie sie ihre Köpfe ins Wasser tauchen und nach Futter suchen, oder schaue am Grund nach den Fischen, die sich zwischen den Steinen verstecken. Ab und zu werfe ich auch den einen oder anderen Stein hinein, um dann dabei zuzusehen, wie sie lustig über das Wasser tanzen. Mutti schimpft dann oft mit mir und sagt, ich solle mich endlich beeilen.
Wenn wir die Brücke überquert haben, gelangen wir zu der größten Straße im Dorf, der Hauptstraße. Hier fahren die meisten Autos entlang und wir müssen immer sehr aufpassen. Eine Verkehrsampel gibt es hier nicht. Also schauen wir erst nach links, nach rechts und dann nochmals nach links. Es kommt kein Auto, wir beeilen uns, damit wir recht schnell über die Straße kommen. Wir gehen jetzt noch ein kleines Stück auf dem Fußweg entlang, bis wir links auf einen kleinen Weg einbiegen. Er ist gerade breit genug, dass wir zu dritt nebeneinander laufen können. Gerade vor uns liegt der kleine Stadtpark, eingezäunt von unzähligen Bäumen, die uns in der senkenden Sonne Schatten spenden. Am Wegrand stehen Bänke, die einen regelrecht einladen, sich hinzusetzen und ein kleines bisschen zu verweilen. Lieber würde ich hier den ganzen Nachmittag verbringen, als wieder zu diesem Mann zu müssen, dem es gefällt, Spiele mit uns zu spielen, die mir weder gefallen, noch dass ich sie verstehe. Ich glaube, meiner Schwester geht es nicht sehr viel anders.
Aber wir laufen weiter durch den Park, ohne einen Mucks zu machen, ohne zu zögern. All diese Gedanken bleiben unausgesprochen.
Nach einem weiteren Stück verlassen uns die Bäume und die Bänke, und zur rechten Seite sehen wir ein großes Tor, durch das wir gehen. Hier ist nur ein kleiner Weg, der spärlich mit Sand ausgestreut ist. Auf beiden Seiten neben uns ist Wiese, auf der nicht eine einzige Blume zu sehen ist, das Gras sieht dürr aus und ragt nur widerwillig über die Erdoberfläche.
Man könnte glauben, man betrete eine andere Welt, von einer, in der es nur Sonne und Unbeschwert gibt, in eine andere, in eine Schattenwelt, wo es immer kühl zu sein scheint. Wo die Wolken sich so dicht türmen, dass man glauben mag, im Dunkeln der Nacht gefangen zu sein.
Wir haben die Fabrik nun direkt vor uns. Altes Mauerwerk zeigt sich und es grinst hässlich zu uns herüber. Unwillkürlich muss ich an Hänsel und Gretel denken. Aber selbst das alte Hexenhaus sah freundlicher aus, als das Ding, was da vor uns steht.
Um zu den Wohnungen der „Gastarbeiter“ zu gelangen, müssen wir um die Fabrik herum laufen. Dann kommen wir direkt zu einem Seiteneingang. Die Tür steht offen. Es ist so still, dass man meinen mag, die darin gähnende Leere würde uns rufen.
Mutti, Diana und ich gehen jetzt einen langen und schmalen Gang entlang. Links und rechts sieht man alte Türen. Von den Räumen, die sich dahinter verbergen (oder verstecken) hört man ab und zu Stimmen. Mal mehr, mal weniger laut.
An der Decke sorgen verschlissene Lampen für schummriges Licht, denn vom Tageslicht sieht man hier überhaupt nichts mehr.
Genau unter einer dieser verschlissenen Lampen, befindet sich die Tür, vor der ich am liebsten stehen bleiben würde. Ein großes Poster mit einer nackten Frau darauf ist zu sehen. Sie hat blonde, lange Haare und steht da, als hätte man ihr Draht um den Körper gewickelt. So kann ein normaler Mensch unmöglich lange stehen, ohne sich dabei alles auszurenken, was man an beweglichen Körperteilen besitzt.
Sonst hängen an dieser Tür Bilder in Postkartengröße, die um das Poster herum verteilt sind. Ob das einem Bilderrahmen gleichsam ist? Auf diesen Bildern stehen irgendwelche Sprüche. Ich möchte gar nicht wissen, was darauf steht, wenn ich die Zeichnungen, die daneben gekritzelt sind, sehe. „Nur gut, dass ich noch nicht lesen kann.“, macht sich schlagartig in meinem Kopf breit.
Mutti klopft nicht an, sie betritt ohne zu Zögern das Zimmer. Und wieder stehe ich mitten in dem Raum, mit diesem kleinen Schrank und der hässlichen Couch.
Dianas Augen blicken sich ängstlich um, bis ihr Blick auf mich trifft. Aber auch ich kann ihr nicht helfen. Auch mir wird wieder dasselbe passieren, und nur so kann ich ihre Schmerzen lindern – indem sie weis, dass ich dasselbe Leid teile, wie sie.
„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, - irgendwie ist da wohl wirklich etwas Wahres dran. Unsere Mutti sagte es einmal zu mir, als ich mir das Knie aufgeschürft habe und Diana mich getröstet hat.
Jetzt sagt sie es nicht. Sie weiß von all dem nichts. Niemand vermag mir zu sagen, was sie fühlt, wenn sie uns mit diesem Mann alleine lässt. Ich glaube fest daran, dass sie ihm vertraut, dass sie denkt, zu wissen, dass es uns gut bei ihm geht, Aber so ist es leider nicht, - leider.
Mutti lässt nur ihren üblichen Spruch verlauten: „Seit artig. Folgt und hört, was Doc euch sagt.“ Dabei steht sie bereits an der Tür, fertig, uns alleine zu lassen. Die Tür schließt sich und der Raum verschluckt uns fast mit seiner gefühlslosen Kälte. Nur die Gewissheit in mir tragend, dass unsere Mutti wiederkommt, um uns nach Hause zu holen, lässt es mich ertragen, was sich nicht vermeiden lässt. Es folgt das, was schon vorprogrammiert ist, das, was folgen muss….
Eine Gewissheit, die man zwar wegreden kann, die Tatsache, dass es passieren wird, aber nicht...
Heute fackelt er nicht lang. Er schaut uns auch nicht an und heute bin ich die erste. Er packt mich am Oberarm, und zerrt mich zu diesem alten Sofa, wo ich mich hinlegen muss. Flach auf den Rücken.
Diana hat sich auf den Stuhl an den Tisch gesetzt. Ich weis nicht, was sie jetzt denkt, ob sie erleichtert ist, dass sie noch nicht an der Reihe ist oder Angst hat, weil ihr das alles noch bevorsteht. Wahrscheinlich das Letztere.
Doc sitzt direkt vor meinen Füßen, führt seine Hand über meine Beine, und auch dazwischen. Sein Griff wird stärker, dabei habe ich ohnehin nicht vor, wegzulaufen. Er würde mich ja doch einholen. Und selbst wenn nicht, was wäre dann beim nächsten Mal? Würde er mich doppelt und dreifach bestrafen? Aber soweit will ich garnicht denken – ich muss es auch nicht, denn ich laufe ja nicht weg – ich liege ja hier auf diesem hässlichen und blödem Sofa und bin da. Ich blicke hinauf zur Decke. Die könnte auch mal wieder einen neuen Anstrich vertragen, der Putz löst sich schon und bröckelt ab.
Körperlich anwesend zu sein, ist kein großes Problem. In Luft auflösen, das kann ich ja nicht, auch wenn ich es im Moment gerne täte. Doch man könnte ja versuchen, seinen Geist verschwinden zu lassen – nur für einen kurzen Moment, nur so lange, wie das hier dauert. Sonst kann ich das ganz gut, in irgendeine Traumwelt abhauen, in eine Phantasiewelt, in der es sowas wie in dieser Welt nicht gibt. Aber irgendwie will es nicht so wirklich klappen. Ich bin hier gefangen und kann nicht mal in Gedanken woanders hingehen. Dafür ist das hier alles viel zu echt, viel zu real.
Er macht mit der anderen Hand meine Hose auf, zieht sie herunter. Er zieht mir den Slip aus, lässt ihn auf den Boden fallen. Er macht all das, was ich bereits kenne und doch widert es mich von Mal zu Mal mehr an. Er widert mich an. Seine Hand ist zwischen meinen Oberschenkeln. Ich kneife die Beine zu, doch was nützt mir das? Mit einigermaßen sanfter Gewalt drückt er sie wieder auseinander und schiebt seinen Finger in mich hinein. Es ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, es tut zudem auch noch weh.
Beim ersten Mal, als er das gemacht hat, habe ich danach geblutet. Ich glaube, Mutti hat es nicht mal gemerkt.
Ich zucke zurück, aber ihn stört es nicht. Er tut einfach so, als hätte er nichts mitbekommen und macht einfach weiter. Dann zieht er seinen Finger heraus, fährt mit der Hand über meinen Oberkörper. Erst der Bauch, die Brust zuletzt dann über den Hals und das Gesicht. Gleichzeitig soll ich ihn wieder streicheln, auch zwischen den Beinen. Er hält kurz inne – macht seine Hose auf, zieht sie ein Stück herunter. Er kniet jetzt auf dem Sofa dicht vor mir, sagt, ich solle mich hin setzen. Das tue ich. Ich soll ihn wieder dort anfassen, ihn streicheln. Mittlerweile weis ich, wie das geht und ich sträube mich auch nicht, um so schneller ist es vorbei. Entfliehen kann ich dem ganzen ja doch nicht...

Diana war dieses Mal nicht dran. Sie durfte die ganze Zeit sitzen bleiben.
Er hat sie nicht zu sich gerufen und ich merke ihr die Erleichterung an.
Böse bin ich deswegen nicht, denn es kam auch schon vor, dass er mich in Ruhe gelassen hat und Dianallein da durch musste.

Nach einer mir wieder endlosen Zeit ist alles vorbei, und er sitzt wieder auf diesem Ding, was man Couch nennen soll.
Beim ersten Mal hatte ich noch das Gefühl, er hätte darüber nachgedacht, was er da macht (Ob er es selber nicht wusste?), und hätte darüber gegrübelt, ob das alles wirklich so seine Richtigkeit hätte. Man könnte fast meinen, in ihm wäre das schlechte Gewissen hoch gekrochen.
Aber mittlerweile sitzt er da, als ob nichts geschehen wäre. Er weiß bestimmt schon längst, dass seine Drohung, die er uns zuteil hat kommen lassen, gefruchtet hat.
Sein Blick lässt die Genugtuung erkennen, die er sich eben bei uns geholt hat. Auch wenn ich noch nicht so richtig weiß, warum, ich bezweifele in keinster Weise mehr, dass das, was er da macht mit Sicherheit kein Spiel für eine fünf- und sechs- jährige ist.
Nun schlägt er nur noch seine Zeitung auf, und liest gelangweilt die Schlagzeilen. Hoffentlich kommt er heute nicht noch einmal auf die Idee, seine Langeweile mit uns zu vertreiben.
Aber dann fliegt auch schon mit einem lauten Scheppern die Tür auf. Sie knallt gegen die Wand. Ich glaube, sie fliegt gleich aus den Angeln.
Meine Mutter steht an der Schwelle, ihre Augen leerer als mein Magen, und der knurrt schon seit wir von zu Hause losgegangen sind.
Ihre Beine scheinen nicht mehr das machen zu wollen, was sie möchte und haben ihren eigenen Willen.
Sie stolpert in das Zimmer, einen Beutel in jeder Hand herein. Sie schafft es gerade noch, sich auf einem Stuhl fallen zu lassen, lallt irgendwas vor sich hin, - verstehen kann ich es nicht, die Beutel lehnen in gefährlicher Schräglage am Tisch. Sie rappelt sich wieder auf, wankt hin zum Sofa, wo Doc sitzt. Dort sackt sie endgültig in sich zusammen, wie ein Luftballon, dem die Luft zum Schweben genommen wird. Doc schaut sie nicht an, er scheint sie überhaupt nicht zu registrieren. Auch umgedreht ist es, als würde Mutti erst jetzt merken, dass da noch drei weitere Personen sitzen, mindestens zwei davon, die sehnsüchtig auf sie gewartet haben. Ein schwaches „Hallo“ entfährt ihr, ich muss genau hinhören und etwas rätseln, ehe ich es verstanden habe.
Ich weis, dass ich sie jetzt nicht anreden brauche. Eine Antwort würde ich sowieso nicht bekommen.
Wir bleiben jetzt noch eine ganze Weile, Diana hat sich bereits wieder ein paar Buntstifte und ein Blatt Papier geschnappt, ich glaube, sie möchte nicht, dass jemand merkt, wie sie sich fühlt, wie tief verletzt sie ist. Irgendwie denke ich, dass sie sich gepanzert hat. Mit einem großen Schild vor der Brust, wie ein Ritter, bereit in die Schlacht zu ziehen.
Also nehme ich auch mir jetzt ein Blatt und einen roten Buntstift. Was soll ich bloß malen. Mir fällt nichts Kreatives ein. Ich schmiere das ganze Blatt voll. Als ich fertig bin, weis ich selbst nicht mehr, was ich da zu Papier gebracht habe.
Irgendwann steht meine Mutter auf, - es scheint, als wollte sie endlich gehen – und wankt zur Tür, jedoch wesentlich trittsicherer, als noch vor ein paar Minuten. Ihr Blick schweift zu uns herüber. Sie muss nichts sagen, damit wir wissen, dass es endlich nach Hause geht.
Und so verlassen wir einmal mehr diesen Raum, der Diana und mir schon längst ein Dorn im Auge ist. Ich bin bereits wieder am Überlegen, wann es wohl das nächste Mal sein wird, dass wir hier her müssen. Ich habe keine Ahnung, dass heute der letzte Tag sein soll, an dem ich diesen Mann sehen muss. Ob das gut oder schlecht ist? Darüber mache ich mir erst viele Jahre später Gedanken…
Aber nun verlassen wir ihn, gehen durch die Tür, an der dieses Poster von dieser nackten Frau und die vielen Postkarten hängen. Wir gehen wieder durch diesen dunklen Gang und nur hin und wieder wirft einer der alten Leuchten ihr schwaches Licht auf uns.
Noch ein paar Schritte mehr und ich kann endlich das Tageslicht sehen. Mir geht es gleich wieder besser. Die Sonne kitzelt meine Haut, als wolle sie mir „Guten Tag“ sagen.
Nun gehen wir noch über das Fabrikgelände, bis wir wieder den Park erreicht haben, dessen Bäume seine Blätter mich mit ihrem Windspiel begeistern.
Diana und ich haben jeweils eine Seite meiner Mutter in Beschlag genommen. Gott, wie bin ich froh, dass sie wieder da ist. Wir helfen ihr mit den schweren Taschen. Wir nehmen jeweils einen Henkel und hoffen, dass Mutti dadurch nicht mehr so schwer tragen muss. Die Flaschen, die sie eingekauft hat, klirren mit jedem weitern Schritt.
Die Sonne brennt auf unsere Rücken und nur das leise Windgesäusel vermag uns leichte Abkühlung zu geben. Unter unseren Füßen knirschen weiße Kieselsteine. Der ganze Weg des Parks ist damit gestreut und gibt diesem kleinen Fleckchen dieser wunderschönen Landschaft den letzten Schliff. Ein idyllisches Gesamtbild, das sich in meinem Kopf eingebrannt hat.
Mutti wankt immer noch, sie muss ab und zu stehen bleiben, um Luft zu tanken und neue Kraft zu sammeln. Wenn wir zu Hause sind, wird sie sich bestimmt gleich ins Bett legen.
Aber meine Gedanken sind schon wieder viel zu weit vorangeschritten, denn das Unvorhergesehene, was jetzt passiert, übersteigt sogar meine Phantasie.
Mutti bleibt jetzt kurz stehen, ich merke es nicht gleich und laufe einfach weiter. Als ich es merke, ist es auch schon zu spät…
Ein dumpfes Geräusch zwingt mich dazu, mich umzudrehen.
Ich schaue ins Leere und mein Blick senkt sich. Die weißen Kieselsteine, die eben noch wie Edelsteine blitzten, sind nun von Blut getränkt, nichts Erinnert mehr an die Idylle, die hier eben noch geherrscht hat. Meine Mutti liegt dort auf diesem Weg, nimmt ihn ganz für sich ein. Ihr Gesicht ist seitlich in meine Richtung gedreht, die Augen sind fest geschlossen. Ihre dunklen Harre kleben an den Wangen. Unter ihrem Kopf macht sich eine riesige Blutlache breit. Die Arme angewinkelt, als hätte sie sich noch abstützen wollen und die Beine ausgestreckt.
„Was ist mit ihr?“ Was hat sie? So hilflos liegt sie da, wie ich es vorher noch nie erlebt habe. Hilfloser, als ich mich jemals gefühlt habe. Sie ergreift Macht über mich und zum ersten Mal kommen mir Zweifel, ob das wirklich alles so sein sollte.
Glasscherben liegen ringsherum verteilt und übernehmen nun den Teil, den eben noch die Kieselsteine hatten: Sie funkeln im Sonnenlicht wie Diamanten.
Schnelle Schritte höre ich jetzt hinter mir. Ein paar Frauen laufen geradewegs auf uns zu und rufen irgendwas zu uns herüber. Ob sie Mutti helfen wollen? Denn ich kann es nicht und Diana auch nicht. Sie starrt die ganze Zeit nur auf Mutti.
Schnell sind die Frauen da. „Nach Hause…, - Bruder…, -Krankenwagen...“
Was wollen die von mir? Und woher wissen denn die, dass wir einen Bruder haben?
Ich drehe mich noch einmal zu unserer Mutter um und laufe dann, wie sie es mir eben gesagt haben, nach Hause. Auf Diana achte ich gar nicht aber an ihren Schritten merke ich dass sie dicht hinter mir ist, auch sie scheint verstanden zu haben. Dies war kein Ort mehr, an dem sich zwei Kinder aufzuhalten hatten.
Wie gut, dass wir diesen Weg so oft gegangen sind, mittlerweile kenne ich ihn auswendig.
Wir stehen jetzt direkt an der Hauptstraße. Ob wir wirklich alleine darüber gehen sollen? Mutti hat es uns doch eigentlich verboten. Ich denke wieder daran: „Links schauen, dann rechts und nochmals links.“ Es ist weit und breit kein Auto in Sicht. Also renne ich los, Diana bleibt mir dicht auf den Fersen. Nun sind wir an der Brücke angelangt. Doch jetzt habe ich keine Zeit, den Enten bei der Futtersuche zuzuschauen. Von weitem höre ich die Sirene des Krankenwagens, der meine Mutti mitnimmt. Laut und schrill ist sie.
Ich renne immer noch, überquere die Nebenstraße und bin endlich auf dem Weg, auf dem ich unser Haus am Ende der Straße sehen kann. Nur noch ein paar Meter. Diana ist immer noch dicht hinter mir.
Ich weis, wo ich klingeln muss, jedenfalls nicht bei Sven, unserem Bruder. Ich läute bei meiner Tante, und als die Tür aufgeht schauen mich große Augen an und dann stammle ich: „Mutti…- hingefallen…- blutet… - Mutti tot… - tatütata…!
Tante Petra schaut uns erschrocken an, holt uns ins Haus und schließt eilig die Tür hinter sich ab.
Wir kommen endlich etwas zur Ruhe. Drei-, viermal ringe ich tief nach Luft, dann kann ich endlich erzählen. Wie wir bei Doc waren, (Das was dort passiert ist, lasse ich gekonnt weg), wie wir nach Hause gehen wollten, wie wir Mutti geholfen haben, die schweren Taschen zu tragen und wie sie dann auf einmal da lag, als wäre sie tot. (Vielleicht ist sie es ja? Bewegt hat sie sich jedenfalls nicht mehr.) Und ich erzähle weiterhin, dass da diese Frauen kamen, die uns nach Hause zu unserem Bruder geschickt hatten. Endlich kann ich die Frage stellen, woher sie das überhaupt wissen.
„Deine Mutter kennt viele Menschen.“
Wohl eher umgedreht, aber das wird mir erst einige Jahre später klar. Für` s erste jedoch reicht mir diese Antwort.
Diana hört indessen nur zu, als wäre sie gar nicht dabei gewesen. Wie spannend das alles für diejenigen klingen muss, die nicht dabei waren? Bestimmt wie ein Abendteuerfilm.
Die Frage, die sie mir eben noch beantwortet hat, bleibt der einzige Satz für die nächste halbe Stunde, den sie spricht. Sie schüttelt nur mit dem Kopf, dreht sich um, geht in die Küche und kommt mit zwei Gläsern Saft in der Hand wieder. Begierig greife ich danach und ohne Abzusetzen habe ich meins ausgetrunken. Der Weg hat mich durstig gemacht. „Mehr!“, entfährt es mir, also geht Tante Petra ein zweites Mal in die Küche.

Die nächsten Tage und Wochen verbrachten wir also bei ihr. Sie kümmerte sich so gut es konnte um uns, gab uns jeden Tag reichlich zu essen (ob wir so abgemagert aussahen?) und hielt unsere Hand beim zu Bett gehen. Das erste Mal erfuhr ich, wie es war, wenn uns jemand eine Gute – Nacht – Geschichte erzählte und wartete, bis wir endlich in den Tiefen der Traumwelt angekommen waren.
Ich kann mich erinnern, dass ich nachts oft aufwachte, schweißgebadet und in meinen Träumen unsere Mutter sah, wie sie dort lag, das Blut überall floss, - für mich war sie tot. Dann sah ich Tante Petra neben mir sitzen, - in einem alten Sessel zusammengesunken war sie gerade in einen leichten Schlaf gefallen -, wie sie wieder nach meiner Hand griff, mich streichelte und geduldig auf mich einredete, dass schon alles gut werden würde. Wir müssten nur noch etwas warten. Oh, wie mochte ich ihr Glauben schenken, doch trotzdem zweifelte ich jeden Tag, an dem Mutti nicht wiederkam, ein Stückchen mehr daran.
„Sie liegt noch im Krankenhaus, aber ihr geht es immer besser!“ Wie oft hatte sie in der Zeit, als wir bei ihr wohnten, diesen Satz in den Mund genommen. Zumindest war sie (noch) nicht tot. Und so blieb die Hoffnung trotz Zweifel an mir kleben, wie eine Fliege im Spinnennetz, dass sie wiederkommen würde.
Bald schlich wieder Normalität in unser Leben ein und nach einer Woche hörte ich auf, Fragen zu stellen, die mir unsere Tante ohnehin nicht beantworten konnte. Diana und ich genossen es, umsorgt zu werden, es tat einfach gut.

Doch so schön es auch war, so schnell war es auch wieder vorbei. Die Zeit kam, als wir uns von unserer Tante verabschieden sollten. Für immer? Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Meine Schwester und ich waren an einem Wendepunkt in unserem kurzen Leben angekommen, entscheidend für unser beider Leben, welches sich an jenem Tage in andere Bahnen lenkte…. Und so sehr ich mir auch wünschte, alles möge bald wieder normal sein , so sehr ahnte ich doch, dass mein Schicksal und das meiner Schwester einen anderen Weg gehen sollte, als uns vielleicht ursprünglich angedacht war und dass wir beide keinen Einfluss darauf nehmen konnten. Wir mussten die Dinge einfach passieren lassen und sehen, was kommen würde…

Ein Auto hielt an – direkt vor unserem Haus. Es war braun. Die Farbe gefiel mir schon damals nicht. Sie war so dunkel und an einem sonnigen Tag wie diesen wollte ich nur freundliche und strahlende Farben sehen.
Durch das Fenster konnte ich beobachten, wie ein Mann und eine Frau ausstiegen, und sich langsam dem Haus näherten. Die Frau war klein und schmächtig und hatte lange dünne Finger, die sie bedächtig vor ihrem Körper trug. Sie hatte kurze braune Haare, die ordentlich gekämmt auf ihrem viel zu klein wirkenden Kopf lagen. Man hätte denken können, sie würde eine Perücke tragen. Eine Brille saß auf ihrer großen spitzen Nase und ihre Augen waren klein und dunkel und es sah so aus, als ob sie ineinander laufen würden. Zusammengefasst, wirkte sie wie eine strenge Frau, die ihren Willen durchsetzte – komme, was wolle. Der Mann war von mittlerer Statue, ebenfalls braune Haare und ein Bart umwarb sein eckiges Gesicht. Vielleicht sollte er das Gesicht etwas rundlicher und damit freundlicher aussehen lassen? Sollte das das Vorhaben gewesen sein, so scheiterte er kläglich. Seine Augen fielen in seinem Gesicht gar nicht weiter auf. (Sind die Augen nicht der wichtigste Teil im Gesicht eines Menschen?) Insgesamt hatte er eigentlich gar keine Ausstrahlung, weder gut noch schlecht, weder freundlich noch übel gelaunt. Er war eben einfach mit dabei, aber man hätte ihn sich auch einfach wegdenken können, das wäre einfacher gewesen, als irgendeine Laune bei ihm feststellen zu wollen.
Beide kannte ich nicht. Es klingelte und unsere Tante ließ sie herein. Ich sah, dass Diana und ich jeder eine kleine Tasche vor der stehen hatte.
Sie waren wirklich nicht besonders groß, aber viel besaßen wir ja ohnehin nicht. Und die paar Habseeligkeiten, die in diesem Moment wichtig waren, passten locker hinein.
Petra musste unsere Sachen wohl heimlich gepackt haben, denn mitbekommen haben Diana und ich davon nichts.
Allgemein wirkte sie sehr gefasst, wenn man bedenkt, dass sie zum damaligen Zeitpunkt wohl bereits wusste, dass sie uns vielleicht nicht wieder sehen würde. Aber darüber habe ich erst in späteren Jahren nachgedacht.
Die Frau ging kurz mit ins Haus, der Mann brachte unsere Sachen zum Auto. Und dann war auch schon der Moment gekommen, an dem wir uns verabschieden sollten. Er war nicht sehr emotional, denn Diana und ich ahnten nicht, dass uns eine weite Reise bevorstand. Bisher hatten wir unser kleines Dorf nicht großartig verlassen, es sei denn, wir besuchten den Wochenkindergarten oder einer von uns beiden musste ins Krankenhaus, weil Mutti unter ihren Alkoholeskapaden nicht mehr für uns sorgen konnte.

Wie dieses eine Mal, als sie mehrere Pralinenschachteln in den Kachelofen warf, dieser dann verstopfte und die ganze Wohnung voller Rauch stand, weil er nicht abziehen konnte. Damals lag ich mit einer Rauchvergiftung eine Woche im Krankenhaus. Ich hatte keine Zeit mehr gehabt, mir Spielsachen mitzunehmen und so taten es am Ende drei Memorykarten, die ich mir eiligst vom Tisch nahm, als die Sanitäter mich abholten. Den Krankenwagen rief meine Tante, sonst hätte ich wahrscheinlich gar keinen Arzt zu Gesicht bekommen.
Meine Mutti kam damals nur ein einziges Mal ins Krankenhaus, nämlich, als sie mich abholte.
Vorfälle wie diesen gab es nicht nur einmal du wie oft ich letzten Endes im Krankenhaus war, kann ich heute nicht mehr sagen.
Oft waren es einfache Infekte, weil die Wohnung kalt war. Ich litt unter Mangelerscheinungen, weil wir jeden Tag dass Selbe Essen – wenn überhaupt- bekamen. Da war die kleinste Fieberattake schon gefährlich, da mein Immunsystem nur schwach ausgeprägt war.
Als ich drei Monate alt war, wurde ich mit Blaulicht eingeliefert, weil ich eine schwere Lungenentzündung hatte. Jahre später erfuhr ich, dass ich damals schon mit einem Bein im Sarg stand (sofern man mir drei Monaten stehen kann).
Aber alles habe ich heil überstanden und ich meine, dass ich heute dafür umso robuster bin…

So stiegen wir also in das Auto, nicht wissend, wo man uns hinbringen würde.
Landschaften zogen an uns vorbei, die ich vorher nie gesehen hatte. Straßen, von dicht bewachsenen Wäldern umringt, ließen wir hinter uns. Felder, die in voller Blüte steckten, rauschten an uns vorbei. Wie wenig wir doch bisher von der großen Welt gesehen hatten, und wie wenig Vorstellung ich dem Leben da draußen hatte, das doch unser kleines Dorf umgab.
Unendlich schien mir die Fahrt ins Nirgendwo, bis wir in eine große Stadt kamen…
Alles, was ich bisher gesehen hatte, wurde von den gigantischen Häusern, den vielen Autos, den bunten Geschäften (den einzigen Laden, den ich bis dahin kannte, war unser kleiner „Dorfkonsum“) übertroffen. Menschen liefen geschäftig auf und ab, kamen vielleicht gerade von der Arbeit oder gingen zu Freunden und Verwandten.(All das kannte ich nicht von zu Hause!)
Es war ein neues, ein anderes Leben, in das ich da geradewegs hinein fuhr.
Diana und ich wussten nicht, was uns dort erwartet, wussten nicht, wer uns dort erwartet. Es war ängstlich und spannend zugleich. Drückend wirkten die nächsten Minuten auf mich, jede Minute kam mir mindestens fünfmal länger vor. War es vielleicht doch nur Urlaub, so lange meine Mutter im Krankenhaus war? Oder sollte unser Zu Hause dauerhaft ein anders werden?
Die Frau vorne im Auto sprach kaum mit uns, sie stierte die ganze Zeit aus dem Fenster, über ihre Brille hinweg, als ob sie etwas suchen würde, bereit, es zu finden, sich darauf zu stürmen und erst wieder loszulassen, wenn sie das zu Suchende endlich niedergestreckt hatte, - endlich in ihrem Besitz hatte und keine Angst haben musste, dass es gleich wieder ins Nirgendwo hinein verschwindet…
„Da ist es.“, rief sie und der Mann, der so undurchdringlich wirkte, bog ein eine kleine Einfahrt rechts ab und parkte neben einigen anderen Autos vor einem mir riesig vorkommenden Gebäude.


Ende Teil 1


Impressum

Texte: Urheberrecht beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich all jenen Menschen, die mir zu einem glücklichen und erfüllten Leben verholfen haben und die mir auch heute noch zur Seite stehen. Die mich nicht im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihnen oft nicht dasselbe zurückgeben konnte, weil es mir in der jeweiligen Situationen nicht möglich war, an mein Umfeld – an jene Menschen, denen ich etwas bedeute – zu denken. All denen möchte ich sagen, dass ich ohne sie an meinem Innersten zerbrochen wäre. Heute geben sie mir die Kraft für meine Ziele ein zustehen und zu kämpfen, Frieden mit mir selber zu schließen und diesen tief in meinem Herzen zu bewahren. Ich widme dieses Buch auch meiner Mutter, die sich dazu entschieden hat, mich „freizugeben“ und mir dadurch ein anderes – ein besseres Leben zu ermöglichen. Sei es aus Einsicht, aus Scham, die noch in ihr hoch gekrochen ist, oder einfach nur, weil sie zum damaligen Zeitpunkt einfach nicht mehr konnte und ihr Leben in einer verhängnisvollen Sackgasse geendet ist. Auch für sie habe ich diese Zeilen geschrieben, in Gedenken an sie, an ihr Dasein, ihr Leben auf dieser Welt.

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